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ROT IST EINE SCHÖNE FARBE

Sonderangebot: Zwölf Stück zum Preis von sechs!, konnte man in grellen Farben auf einem Plakat lesen. Dieses war auf einem großen Gitterkorb, der im Papierwarengeschäft stand, befestigt. Gemeint mit diesem Sonderangebot waren Farbstifte, jeweils zu einem Dutzend verpackt. Der Preis der Farbstifte war wirklich günstig und nach wenigen Tagen waren alle bis auf eine Packung verkauft. Doch auch diese sollte ihren Käufer finden. Am Nachmittag nahm eine Frau die Stifte und brachte sie zur Kassa.
„Die Farbstifte sind für Andrea“, sagte die Frau zur Verkäuferin.
„Für Andrea?“, fragte diese verwundert. „Was soll sie damit anfangen?“
„Sie wird sich darüber freuen!“, meinte die Frau, zahlte und ging.
Zu Hause angekommen, rief sie: „Andrea, ich habe dir etwas mitgebracht, greif in meine Tasche! Vielleicht kannst du es erkennen?“
Das Mädchen griff in die Tasche und begann sehr vorsichtig mit ihren Fingerspitzen die Plastikhülle der Buntstifte abzutasten. Dann begann sie die Stifte auszupacken und zu befühlen.
„Mama, ich ... ich erkenne es!“, rief Andrea. „Das sind Holzstäbe, mit denen Chinesen Reis essen! Du hast mir einmal davon erzählt.“
Chinesische Ess-Stäbchen?! Die Buntstifte schienen nicht richtig gehört zu haben. Der Rotstift wurde vor Ärger dunkelrot, der Weißstift bleich. Der grüne Stift ärgerte sich gemeinsam mit dem blauen grün und blau. Mit chinesischen Ess-Stäbchen verwechselt zu werden, war eine Blamage, nein, mehr noch, es war eine Schande!
Der Rotstift ergriff das Wort: „Liebe Freunde, so eine Beleidigung können und dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Wer uns mit chinesischen Ess-Stäbchen verwechselt, hat uns nicht verdient! Ich rufe euch deshalb auf, lasst eure Minen brechen, sodass dem Mädchen kein einziger Farbstrich gelingen kann! Wir sind Farbstifte und keine Ess-Stäbchen, das merkt sogar ein Blinder!“
Dass der Rotstift mit dieser Behauptung Unrecht hatte, zeigte sich Sekunden später, als die Frau lachend zu Andrea sagte: „Nein, mein Schatz, das sind keine Ess-Stäbchen, sondern Buntstifte!“
„Was sind Buntstifte?“, fragte Andrea.
„Stifte, mit denen man Farben malen kann“, antwortete die Mutter.
Andrea war mit der Antwort aber nicht zufrieden und fragte weiter: „Mama, was sind Farben? Wie sehen sie aus? Erkläre sie mir!“
„Farben sind sehr schwer zu erklären, man kann sie eigentlich nur sehen. Aber möglicherweise kann man sie auch fühlen. Vielleicht gelingt es mir, dich Farben fühlen zu lassen. Komm mit!“ Die Mutter nahm Andrea bei der Hand und führte sie zum Kühlschrank. Dort hielt sie Andreas Hand kurz in das Tiefkühlfach. „Was spürst du?“
„Kalt“, antwortete Andrea.
„So kannst du dir Blau vorstellen“, meinte die Mutter.
In diesem Moment kam Andreas Freundin Martina zur Tür herein. „Was ist denn hier los?“, rief sie. „Hast du dich verbrannt?“
„Nein“, antwortete Andrea. „Mama will mir Farben erklären.“ Martina schien nicht ganz zu verstehen und fragte weiter: „So etwas lernt man im Tiefkühlfach? Wir haben dort Pizzen und Gemüse.“
„Aber Martina!“, sagte die Mama lachend. „Ich will Andrea spüren lassen, dass sich die Farbe Blau wie etwas Kaltes anfühlt.“
„Ich verstehe“, meinte Martina. „Wenn Blau kalt ist, ist Rot heiß.“
„Richtig! Heiß ist rot, kalt ist blau“, stellte die Mutter fest.
Auch Andrea schien zu verstehen. Wenn sie auch die Farben nicht sehen konnte, begann sie diese zu fühlen. Aber nicht nur mit kalt und warm ließen sich Farben beschreiben. Martina wusste noch weitere Beispiele. Andrea musste einen Schluck Kaffee kosten.
„Brr, der ist bitter!“, rief Andrea.
„So kannst du dir Schwarz vorstellen“, meinte Martina. „Nun aber kommt Rosa.“ Sie nahm ein Bonbon und steckte es Andrea in den Mund.
„Rosa schmeckt gut!“, sagte Andrea und gab Martina auch eine Kostprobe.
„Ganz deiner Meinung“, kicherte Martina. „So macht Lernen Spaß!“
Andreas Mama setzte sich ans Klavier und spielte einige Melodien. Sie versuchte Farben in Klängen darzustellen. Kurze, laute Töne klangen wie starke, grelle Farben. Lange, leise wie Pastellfarben. Nach einiger Zeit sagte Andrea: „Farben müssen schön sein. Auch wenn ich sie nicht sehen kann, fühle ich sie.“
Die Buntstifte, die das alles beobachtet hatten, stimmte das Gesehene und Gehörte traurig. Sie hätten dem Mädchen gerne geholfen. Aber so sehr sie auch nachdachten und überlegten, es fiel den Buntstiften keine Lösung ein.
Am Abend machten sie sich bedrückt und nachdenklich zur Nachtruhe bereit. Als es im Haus dunkel wurde, umfing die Stifte plötzlich etwas Sonderbares. Es war nicht zu sehen oder zu hören, es war nur zu fühlen. Ein Traum war in das Zimmer gekommen.
„Darf ich hier Rast machen?“, flüsterte er.
„Selbstverständlich“, antwortete der Rot¬stift und zog seine scharfe Spitze ein. Er wusste, Träume sind sehr empfindliche Wesen.
„Was bist du für ein Traum?“, fragten die Buntstifte neugierig. „Ein guter, ein lustiger oder gar ein schlimmer Albtraum?“
„Ich bin ein alter Traum. Früher war ich vieles: gut, unheimlich, oftmals lustig, dann wieder verworren und unerklärbar. Aber nun bin ich alt und zu meinem letzten Auftrag unterwegs. Dieser lautet: Einen Menschen etwas Besonderes träumen zu lassen. Gelingt es mir, kann ich mich für immer im Traumland niederlassen. Gelingt es nicht, muss ich warten, bis ich wieder an der Reihe bin. Aber nun entschuldigt mich, ich muss schlafen. Ich bin sehr, sehr müde.“ Der Traum schlug seine Flügel über sich und wiegte sich selbst in den Schlaf.
Aufgeregt beobachteten die Stifte den schlafenden Traum.
„Ob Träume auch Träume haben?“, flüsterte der Gelbstift dem Rotstift zu.
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, ob das blinde Mädchen träumen kann“, antwortete der Rotstift. Dann sprang er so hastig auf, dass ein Stück seiner Spitze abbrach. Aufgeregt rief er: „Ich muss den Traum wecken!“
„Aber er braucht doch seine Ruhe“, sagten die anderen und hielten den Rotstift zurück. „Ich muss ihn wecken. Ich weiß, wie er seinen Auftrag ausführen kann!“ Sachte weckte er den Traum.
„Was ist los?“, murmelte dieser schlaftrunken. „Lasst mich schlafen, ich habe eine lange Reise vor mir.“
Aber der Rotstift gab nicht auf und schüttelte und zupfte den Traum an seinen Schwingen. „Wach auf, wach auf! Ich kann dir helfen. Ich weiß, wem du deinen letzten Traum geben kannst. Im Zimmer nebenan liegt ein kleines Mädchen. Es ist blind und hat nur den einen Wunsch, einmal Farben zu sehen.“
Einem blinden Mädchen im Traum Farben zu zeigen, dieser Gedanke gefiel dem Traum. Er, der noch vor wenigen Minuten schlaff und müde gewesen war, wurde glatt und begann zu glänzen. Seine Flügel wurden weit und seine Schwingen größer. Er begann in allen Farben zu schillern. In Farben, wie sie noch kein Buntstift vorher gesehen hatte. Der ganze Raum war erfüllt davon. Dabei flüsterte der Traum immer wieder die Worte: „Einem blinden Mädchen Farben zeigen. Einem blinden Mädchen Farben zeigen“ vor sich hin. Dann erhob er sich und schwebte langsam aus dem Raum. Die Buntstifte spürten: Etwas Besonderes war geschehen.
Am nächsten Morgen kam Andrea mit ihrer Mutter in das Zimmer und begann in der Lade zu suchen. Als sie die Farbstifte ertastet hatte, bat sie die Mutter um ein Blatt Papier. Andrea nahm einen Stift in die Hand und fing an zu malen.
„Welche Farbe habe ich gewählt?“, fragte Andrea die Mutter.
„Rot“, antwortete diese.
Und Andrea, die seit heute Nacht wusste, wie Farben aussehen, sagte: „Rot ist eine schöne Farbe.“

Impressum

Texte: G&G Verlag Wien ISBN 3 -7074-0252-5 14 Kurzgeschichten - leicht lesbar, lustig, manchmal nachdenklich stimmend - aus dem Leben von Mensch und Tier, erzählt von Rudolg Gigler Weitere Bücher von Rudolf Gigler www.rgigler.com
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2008

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