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Samstag, Mittag

Jonas spazierte mit leichtfüßigen Schritten durch die wärmende Sommersonne. Die stand pünktlich zur Mittagszeit vertikal, direkt über dem Horizont, und erwärmte die Erde mit ihren warmen Strahlen. Im Gegensatz zu dieser Wärme stand ein Geruch von gerade erst geendetem Regenfall, der den Boden matschig und weich aufgelockert hatte. Das Gras wirkte wie ein durchnässter Teppich, den Jonas mit seinen Stiefeln gemächlich ablief.

Er blickte zur Seite. Eine offene, weite und grüne Grasfläche, auf der sich vereinzelt Strukturen und Schemen von Menschen abzeichneten, die allein oder in Gruppen unterwegs waren. Den, wie die anderen, systematisch angelegten Weg aus Kieselsteinen hatte er verlassen und lief zielstrebig auf das andere Ende des Parks zu. Vereinzelt waren auf der großen Fläche auch Bäume übrig, die sich sanft im warmen Wind wogen.

Für einen Moment hielt er inne, legte den Kopf in Richtung Nacken und schloss die Augen. Auch, wenn er es genossen hätte, rieselten keine Regentropfen auf seine Gesichtszüge herab – der Schauer war vorüber, und die Wolken hatten die Sonne schon beinahe wieder komplett freigegeben. Das Schauspiel des Wetters und der Natur faszinierten ihn schon immer, und mit diesem Gedanken atmete er einmal tief den Geruch des Regens und der durch den nahegelegenen Wald gefilterten Luft ein. Mit einem leichten Lächeln und einem entspannten Gesichtsausdruck spazierte er weiter den erweichten Boden aus Gras entlang.

Nach wenigen Schritten kam ihm jemand entgegen. Ein bekanntes Gesicht, und als er es sah, verformte sich sein Mund zu einem vertrauten Lächeln. Sein alter Freund Oliver stellte sich ihm gegenüber. Die beiden gaben sich formell die Hand, umarmten sich dann aber im selben Moment. Um ihre Freude zu zeigen lachten die beiden in diesem Moment schon leise auf, lösten sich aus der freundschaftlichen Umarmung und schüttelten scherzhaft noch einmal die Hände.

"Es ist eine Ewigkeit her, was?", bemerkte Oliver.

"Du sagst es", erwiderte Jonas mit einem Kopfschütteln, "wo warst du die ganze Zeit?"

"Mal hier, mal da. Weißt du, ich habe mir endlich die Freiheit genommen, das nachzuholen was ich versäumt habe."
"Klingt wirklich super, Mann."
"Solltest du auch machen. Ehrlich", Oliver klopfte ihm auf die Schulter, "solltest du auch."

Die beiden lachten einander vertraut an. Oliver atmete erleichtert aus, und die beiden tauschten noch eine Menge Neuigkeiten aus. Als wieder Wolken am Himmel aufzogen, bereiteten sie sich beide auf ihren jeweiligen Aufbruch vor.

"War schön dich mal wieder zu sehen.", meinte Jonas.
"Allerdings. Aber das war bestimmt nicht das letzte Mal."

Als Oliver das sagte, war er schon mehrere Schritte an Jonas vorbeigeschlendert, und die beiden hoben noch einmal förmlich zum Abschied eine Hand. Immer noch glücklich über diesen Zufall lachte Jonas ein letztes Mal auf, kratzte sich kurz am Nacken und lief wieder weiter.

Sobald er wieder zuhause war, würde er das seiner Frau erzählen, dass er Oliver wieder getroffen hatte. Auch die beiden kannten sich, und sie wäre sicher überglücklich gewesen, ihn zu sehen. Doch das hatte auch etwas gutes, diese freudigen Emotionen würde er nun bei ihr auslösen indem er ihr das erzählte – wenn auch nicht im gleichen Maße, aber doch könnte er so ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern. Seiner Tochter würde er es auch erzählen, doch mit ihren 2 Lebensjahren könnte sie ihm vermutlich nicht antworten. Doch sie zum Lachen bringen, das konnte er bestimmt – das konnte er immer, wie sonst niemand anderes.

Langsam wurde es etwas kälter, da eine große Wolkenfront die Sonne wieder hinter sich versteckte. Jonas fröstelte kurz, raffte sich dann jedoch zusammen. Er atmete erneut die Luft seiner Umgebung ein, und beschloss das Wetter so zu genießen, wie es kam. Als er sich jedoch wieder mehr auf die Umwelt als auf sich selbst konzentrierte, stolperte er über einen aus dem Boden herausragenden Stein. Auch wenn er sich dadurch gefährlich vornüberbeugte, so konnte er sein Gleichgewicht wiederfinden und sich einpendeln. Peinlich berührt strich er sich über den Hinterkopf, und sah sich um. Hoffentlich hatte das keiner gesehen. Doch nahm er von der Seite ein hohes Kichern wahr. Ohje, wer hatte ihn da nur beobachtet. Als er nach rechts sah, sah er ein kleines Mädchen das seine eben ausgeführte Stolpereinlage mit einem Lachen bewertete. Sie stand inmitten einer Baumgruppe, als hätte sie sich versteckt gehalten. In etwa 6 Jahre alt, mit einem gebräunten Gesicht und auch sonstigem Körper, was darauf schließen ließ das sie aus dem südländischen oder arabischen Raum stammen – oder zumindest von jemandem aus dieser Region abstammen, musste. Wegen ihres geringen Alters kam ihm der Umstand das sie allein war ziemlich komisch vor. Er lief zu ihr herüber, und ging vor ihr in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe kommunizieren zu können.

"Das fandest du lustig, was?"
Nur mit einem Kichern beantwortete sie die Frage und verschränkte ihre Arme verlegen hinter dem Rücken.

"Bist du allein hier?"

Sie hob die Arme. Entweder wusste sie nicht, was sie antworten sollte, oder sie verstand ihn nicht. Da Jonas aber nicht vom schlimmsten ausging, und das schließlich ein öffentlicher Park war, verwuschelte er freundlich ihre Haare und ließ sie zurück, was sie offenbar auch nicht störte.

Ohne weiteres Ziel gab er sich wieder seinem Spaziergang hin, auch wenn die Wolkendecke immer dunkler wurde. Der Wind flaute ein wenig ab, doch da auch die anderen Leute die im Park waren nach wie vor dort blieben, gab es wohl keinen Grund mit einem Unwetter zu rechnen, dass Jonas zwingen würde wieder umzukehren.

Während er wieder langsam auf den Kieselsteinen spazierte, die unter seinen Schuhen angenehm knirschten, reflektierte er über sich selbst, und darüber, wie oft er solche Spaziergänge vernachlässigt hatte. Und auch durch das Treffen mit seinem alten Freund, der er ewig nicht zu Gesicht bekommen hatte, bewies sich ihm einmal wieder, wie wichtig solche Kleinigkeiten wie ein Spaziergang am Wochenende waren. Die Möglichkeit, einfach ausspannen zu können und keinen Fokus auf irgendeiner Sache zu haben, und währenddessen einfach die Umgebung zu studieren, ohne sich darum kümmern zu müssen, was hinter einem lag.

Als er so in Gedanken verloren vor sich hin marschierte, erweckte eine Gruppe von Menschen seine Aufmerksamkeit. Unauffällig stieß er zu ihnen hinzu, doch schien ihn keiner wahrzunehmen. Alle sahen ungestört nach vorn, schienen sich alle auf einen Punkt zu konzentrieren. Als er sich beim Laufen mehrmals seitlich drehte um sich in die erste Reihe zu schlängeln, blieb er erst einmal stehen, um zu realisieren, was er da vor sich sah.

Die Leute waren in einem lockeren Halbkreis angeordnet. An der offenen Seite stand zentral eine einzelne Person in einem langen Gewand, mit einem Buch in der Hand und murmelte vor sich her, hörbar für alle anderen. Und genau in der Mitte von all dem klaffte ein symetrisch ausgehobenes Loch, rechteckig und nicht wirklich tief. Und daneben ein handelsüblicher Sarg.

Verlegen presste Jonas die Lippen zusammen. Er war einfach so in eine Bestattungszeremonie hereingeplatzt, wie peinlich. War er in seinen Gedanken wirklich vom Park bis in den Friedhof gelaufen? Getrieben von seinem Fehlverhalten fasste er den Schluss, zu gehen, und drehte sich um – oder zumindest setzte er dazu an, doch als er sich um neunzig Grad zur Seite drehte, blieb ihm der Atem stehen, als er erblickte, wer da vor ihm stand.

In einem schwarzen Gewand sah er eine vertraute Gestalt. Mit einem feschen Hut und einem Taschentuch, dass sie sich an die Wange drückte, stand da seine in Tränen aufgelöste Frau. An ihrer Hand seine kleine Tochter, die etwas deplatziert wirkte, da sie nicht wusste welche Emotion sie an den Tag zu legen hatte. Zögerlich sprach er seine Frau an.

"Laura?"

Sie reagierte nicht. Als wäre er nicht da, sah sie einfach weiter nach vorne – sie schluchzte kurz. Mit Herzklopfen drehte Jonas sich nach vorn, und musterte den Grabstein. Er hob seine zitternde Hand mit großen Augen vor seinen Mund, um seinen Schock auszudrücken. Er fühlte sich als hätte er einen Anfall, und hyperventilierte in seine Hand hinein. Als würde es ihn nicht loslassen studierte er die Inschrift des Grabmals. Jonas Gruber, Hauptgefreiter, erster Zug der dritten Kompanie, zweites Batallion. Darunter fein säuberlich aufgelistet sein Geburtsdatum – und sein Todestag. Jonas schluckte, und dachte nach. Das Datum war vor weniger als einer Woche. Er fühlte sich verloren, die Welt um ihn herum drehte sich. Doch die Teilnehmer der Zeremonie bemerkten ihn nicht, obwohl er laut hörbar atmete. Er begriff nichts mehr.

Neben ihn trat dann plötzlich ein weiterer Zuschauer. Doch der in einen feinen Anzug gehüllte Mann war ihm kein unbekannter – neben ihm stand sein Freund Oliver, den er vorhin noch getroffen hatte. Der legte seine Hand tröstend auf Jonas Schulter.

"Es tut mir wirklich Leid. Erinnerst du dich nicht?"

In langsamen Schritten und immernoch mit einem Zittern senkte Jonas seine Hand, und dachte nach. Dann ging ihm ein Licht auf. Und er sah alles wieder vor sich.

Auslandseinsatz, Afghanistan, Patroullie. Überprüfung von einem Haus. Ein kleines, hilfloses Mädchen allein in dem aus Sandstein erschaffenen Gebäude. Er wusste, was passiert war. Hilfsbereit nahm er sie auf den Arm, da krachte es im Nachbarraum. Ein Kamerad aus seiner Gruppe – Oliver – war mit ihm im Raum. Die Tür ging auf, und dann wusste Jonas nur, was seine letzten Reaktionen waren. Eine Granate kullerte über den Fußboden auf ihn zu. Er drehte sich um die eigene Achse, ließ sein Gewehr aus der zweiten Hand fallen und umhüllte das kleine Mädchen mit seinem gesamten Körper. Er spürte, wie Oliver ihn am Arm aus dem Raum zupfen wollte, doch dann kam eine Druckwelle und er fühlte nichtsmehr.

Und dann stand er plötzlich in diesem Park, von dem sich herausstellte, dass er ein Friedhof war. Und da er Oliver und die Kleine hier gesehen hatte, und sie ihn wahrnehmen konnten, bedeutet das, das sie es nicht geschafft hatten – genauso wie er.

"Warum bin ich hier?", fuhr es aus ihm mit wimmernder Stimme heraus.

"Damit du lebewohl sagen kannst.", antwortete Oliver mit einer wehmütigen Stimme. "Du warst ein Held... nein, du bist ein Held."

In der Entfernung donnerte es. Ein unregelmäßiges Klopfen machte sich breit, Tropfen die auf den Sarg trommelten. Es war ein blassgrauer Himmel – und es begann zu regnen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Soldaten auf der Welt die im Ausland ihren Dienst tun, und entgegen ihrer Erwartung nicht gesund heimkehren. Wir denken an euch, ihr werdet nie vergessen. Das ist ein Versprechen.

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