Mit einem unangehmen Knacken brachte Erin seinen Hals wieder in eine gerade Position. Das Headset in seinem Ohr verrutschte, konnte es aber mit einer kurzen Geste seinerseits wieder begradigen. Seinen rollenden Bürostuhl entfernte er vom Tisch, um kurz aus seiner kleinen Kabine zu verschwinden. Nach einem kurzen Atemzug auf dem Gang zog er sich selbst und seinen Stuhl wieder mit schrubbenden Bewegungen auf dem Boden zu seinem Arbeitsplatz zurück.
Im nächsten Moment ploppte ein holografischer Bildschirm vor ihm hoch, der einen schrillenden Telefonhörer animierte und eben solche Töne ausstieß. Nachdem Erin kurz seine Lippen befeuchtet hatte, betätigte er einen kleinen Knopf an seinem Hörer im Ohr, und mit einem gerade zu gestellten Lächeln blickte er in eine Kameralinse, die hinter dem Holobildschirm platziert war.
"Southberg Technologies, Kundenservice, guten Tag. Mein Name ist Erin Nemodes, ich bin ihr Assistent für dieses Gespräch. Wie kann ich ihnen helfen?"
Eine aufgebrachte Hausfrau meldete sich ihm gegenüber zu Wort, sie hielt ein Gerät in der Hand, das Erin als Fernbedienung interpretierte. Ihm gegenüber zwar nett gehalten, aber doch ziemlich aufgeregt, erklärte sie ihm die Probleme mit ihrer "blöden Fernsehwand". In dem Moment ging ihm ein Licht über dem Kopf auf, offenbar hatte die ältere Dame Probleme mit dem neuen Projektor, den die Firma seit Neustem vertrieb. Sachlich, aber freundlich, erläuterte er seiner Gesprächspartnerin die Funktionsweise, die gängigsten Leitfaden zur Problemlösung und gab ihr zudem die Nummer des aktiven Kundendienstes, der auch Hausbesuche mit Technikern anbot. In der Versicherung, sie würde die vorgeschlagenen Lösungen probieren, kappte sie das Gespräch und bedankte sich flüchtig.
Nachdem man ihn aus der Leitung geworfen hatte, schob er seinen Ärmel zurück und überprüfte auf seiner Armbanduhr die Zeit, die gerade einen Piepton von sich gab um die volle Stunde zu signalisieren. Nur noch eine gute halbe Stunde, und seine Schicht war vorbei. Um diese Uhrzeit gingen aber ohnehin kaum Anrufe ein, Abends um diese Zeit waren die Leute an ihren Fernseher gefesselt – es sei denn sie hatten Probleme mit dem Fernseher, dann riefen sie den Kundendienst an, was zu Situationen wie eben führte.
Auch nach einigem Warten gingen jedoch keinerlei Gespräche mehr ein. Erins Schicht würde in ein paar Minuten vorüber sein, also packte er schoneinmal seine persönlichen Sachen zusammen, die er immer auf der Arbeit mit sich herumtrug. Seinen schicken Transmitter – ein kleines Bildtelefon das die Handys abgelöst hatte -, ein herkömmlicher Geldbeutel mitsamt seinen Einheitskarten und dem Ausweis, zudem war noch ein Schokoriegel übrig geblieben, den er sich eigentlich für die Mittagspause eingesteckt hatte – die dann letztlich ausgefallen war, wegem dem zu hohen Andrang in den Leitungen. All das ließ er in einer Umhängetasche verschwinden, bevor er die jedoch um seine Schulter schwang, schlüpfte er in einen braunen, nostalgischen Wintermantel.
Seine Kollegen, sowie die Nachtschicht für die Büros, die die Kabinen nach dem Kundendienst nachts für andere Bürotätigkeiten nutzten, hatten sich um ein Fernsehgerät am Ende des großen Raumes mitsamt den Bürokabinen versammelt. Routiniert schwang Erin sich seine Tasche um den Hals, und gesellte sich zu der kleinen Menschengruppe, die auf die Wand starrte, auf der eine offizielle Nachrichtensendung projeziert wurde.
"... auch nach verschiedensten Bemühungen seitens des Erkundungsteams konnte man mit Sicherheit sagen, dass sich die Kontamination auf der Ringstation Uranus nicht weiter ausbreiten wird. Die Befürchtungen des Gouverneurs seien der lokalen Seuchenschutzbehöre nach zu urteilen nicht gerechtfertigt, so ein offizieller Sprecher...", schallte es aus dem Mund der anmutenden Nachrichtensprecherin. Nachdem die Schalte beendet war, begann Erin unauffällig sich auf den neusten Stand zu bringen.
"Was ist denn passiert?", warf er in die Runde.
Ohne das ihm einer einen Blick würdigte, beantwortete jemand seine Frage sachlich:
"Auf der Uranusstation haben die so Bio-Labore angelegt, weil die dort die beste medizinische Ausrüstung haben. Jetzt hieß es aber, ein Erreger von hoher Gefahrenstufe sei ausgetreten. Aber wie du schon hörst, alles nur Panikmache. Die kriegen das in den Griff."
Mit einem selbstbestätigenden Nicken sah er weiter auf den Bildschirm. Wie er diese unpersönlichen Konversationen mit seinen Kollegen hasste, sie sprachen mit ihm, als wäre er auch einer der ratlosen Kunden am Ende der Leitung. Aber nach ein paar kurzen Worten des Abschieds ließ er sie vor dem Fernseher stehen, er war an diesem Abend zu müde um sich die kompletten Nachrichten anzutun, auch wenn sie ihn brennend interessierten. Als er am Ende des Ganges angelangt war, passierte er die große Glastür des Raumes, stieg das Treppenhaus hinunter und vor das Hochaus, dessen Schriftzug "Southberg Technologies" die halbe Straße erhellte. Ein kurzer Windstoß jagte durch die verlassene Straße, und die Hände von Erin pressten den Kragen seines Mantels zusammen. Noch ein paar Meter die Straße herab, und er würde die Bushaltestelle erreicht haben. Der tägliche Heimweg stand bevor, durch diese Nachricht an sein Kleinhirn setzte auch schon die erste Müdigkeit ein, und ein kurzes Gähnen zeigte das auch jedem, der ihn in dem Moment sah. Ohne weitere Umschweife lief er den Gehweg entlang, wie jeder andere zu dieser späten Stunde.
Wie leblose Körper zogen die Straßenlaternen am Busfenster vorbei, und Erins schwerer Kopf lehnte an eben dieser Scheibe. Unregelmäßiges Gerede von seinen Mitfahrern, das aprubte Stoppen bei Haltestellen und einige Geräusche von der Straße verhinderten jedoch, dass er wegtrat oder gar in den unangenehmen, aber doch beruhigenden Tönen des Motors einschlief.
Die verschwimmenden Konturen der Straße schoben sich zwar durch die Geschwindigkeit nahezu unkenntlich an seinen Augen vorbei, aber doch konnte Erin die wichtigsten Gebäude anhand der Silhouette einordnen. So zum Beispiel auch die Zentralbibliothek der Stadt, die Zusammenstellung des aktuellen Wissenstandes der Menschheit. Die Inhalte der Bibliotheken waren auf dem gesamten Erdrund gleich, einfach aus Gründen der Zentralität und Einheit. Genauso wie es überall die selben Bücher gab, gab es nun überall die selbe Währung – einfache Einheitskarten, wie man sie nannte. Zudem gab es kein reich und arm mehr, denn für jede Art von Arbeit bekam man den selben Lohn. Man konnte sich natürlich extra was verdienen, was dann jedoch mit zusätzlicher Arbeit verbunden war, und Erin war schon jetzt mit seiner eigentlich simplen Tätigkeit überfordert, einfach wegen der langweiligen Routine. So hatte man zwar einheitliche Löhne eingeführt, aber trotzdem benötigte man für bestimmte Berufe Qualifikationen, die man sich nicht einfach so erarbeiten konnte. Es waren akademische Alpträume, die es zu bewältigen galt, und ohne entscheidendes Vorwissen, was nur die wenigsten besaßen wegen den einheitlichen Schulen und einer seperaten Elite, erwies es sich für die "Normalsterblichen" nicht als möglich, politisch zu führen. Als er diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, prangte vor seinem verwaschenen Blick die zentrale Kaserne der Region. Ein massives Gebäude, dass Soldaten und andere im Staatsdienst beherbergte. Aber bevor Erin sich über die Militärs den Kopf zerbrechen konnte, hielt der Bus zur Endhaltestelle.
Mit einem verzerrten Gesicht und offenem Mund streckte er sich kurz, und rieb sich ein Auge. Es war höchste Zeit die Stufen in seine Wohnung zu erklimmen und mit einem herzlichen Willkommen den Schlaf zu empfangen. Mit den anderen paar Insassen schlenderte er abwesend aus dem Bus, und einige Meter zu einem Wohnungsblock. Dort die Tür aufgesperrt und geöffnet, die Treppe erklommen, die Wohnungstür passiert und sofort nachdem die Tasche in der Ecke gelandet war, ließ er sich längs auf sein Bett fallen, was ihn mit einem Knarzen begrüßte.
Ein
dumpfer Schlag. Die Wände um Erin herum erbebten.
Noch ein
Schlag. Ein weiterer folgte.
Schließlich wiederholten sich die Schläge regelmäßig – und sein Kopf schnellte nach oben, er war wach. Sein Blick tastete den Tisch neben dem Bett ab, suchte den Wecker. Sein erster Gedanke glitt zu einer lautstarken Beschwerde, bis er realisierte, dass es an der Tür klopfte. Das hatte ihn geweckt. Mit einem kurzen Ausruf signalisierte er dem Besucher, er solle warten.
Energiegeladen
sprang Erin auf seine Beine, zog die nächste griffbereite Hose
über seine Unterwäsche, und fuhr sich einmal während
einer kurzen Streckprozedur durch die Haare. Wer auch immer es war,
irgendwie musste derjenige Mut haben, um diese Uhrzeit zu klopfen. Es
war zwar schon morgens, aber wenn es ein Freund war, musste der doch
um seine Spätschichten unter der Woche wissen. Mit leichtfüßigem
Getrampel stützte Erin sich an den Türrahmen, um mit seinen
Fingern den Entsperrcode auf der Konsole neben der Tür
einzugeben. Mit einem bestätigenden Surren schob sich die
Metallplatte in den Türspalt, und zum Vorschein kam die Person,
die er eigentlich hätte erwarten müssen. Vor ihm stand
Lilian Scarlett Thorne, seine beste und insgesamt einzige Freundin.
Ohne irgendein Wort, das auf eine Begrüßung hätte
schließen können, schloss sie Erin in eine Umarmung,
passierte ihn und watschelte unbeirrt zur Kaffeemaschine, aus der sie
sich gleich eine Tasse kommen ließ.
"Es ist auch immer
wieder schön dich zu sehen, Lilly.", bemerkte der
verschlafene Inhaber der Wohnung sarkastisch.
Die
Tür schloss sich mit dem altbekannten Zischen, und Erins Besuch
reichte ihm eine zweite Kaffeetasse entgegen. Dankbar nippte er kurz
daran, um sich sogleich seine Zunge zu verbrennen und beinahe den
Inhalt der Tasse auf dem sauberen Boden zu verteilen. Schmerzend sog
Erin ein wenig Luft ein, um seine Zunge zu kühlen, während
Lilly ihn dabei nur schadenfreudig anlächelte. Während des
Begutachtens ihres Freundes pustete sie in unregelmäßigen
Abständen ein wenig in die Kaffetasse, um die Flüssigkeit
abzukühlen, damit sie nicht dasselbe Schicksal wie es ihr
Gegenüber eben ereilte. Der durch den kleinen Unfall nun
vollständig erwachte Erin sah an Lilly herunter, um gleich
darauf eine Bemerkung zu machen.
"Wieso hast du deine
Arbeitsklamotten an?"
Lilly
trug einen Overall, der mit blauen und grünen, breitflächigen
Streifen gespickt war. Eine Flagge in eben jenen Farben prangte auf
ihrem Arm – es war die Flagge des Planeten Erde, man entschied
sich für Grün und Blau im Bezug auf Land und Wasser. Es war
eine Abwandlung der normalerweise grauen Klamotte, die Lilly auf
ihrer Arbeit trug, eben der Übergang aus dem altbekannten
sterilen und so gut wie farblosen, zu den Farben des Planeten.
"Weil
ich dir noch nicht das Neuste erzählt habe.", entgegnete
sie mit einem zufriedenen Lächeln.
Eine
rhetorische Pause folgte, in der Erin sie mit einem fragenden Gesicht
ansah, und sie einen großzügigen Schluck aus ihrer Tasse
aufnahm.
"Ich gehe auf Dienstreise", brach sie das
Schweigen, "für meine Firma."
Lilian arbeitete für einen staatlichen Energiekonzern, der sich selbst Federal Sunlight Retain Group nannte. Der war auf die Aufnahme und letzenendes sogar Speicherung von Solarenergie spezialisiert, der Traum von Energiespeicherung war schon vor einiger Zeit möglich geworden. So ließ sich an den verschiedensten Orten erzeugter Strom von einem Ort zum anderen ohne irgendwelchen Energieverlust transportieren.
"Nach ewigem Hin und Her wurde der Plan für Satelliten mit Solarzellen, die nah an der Sonne ihre Bahn ziehen und damit mehr als genug Sonnenlicht abkriegen, umgesetzt. Das Kontrollzentrum für die Satellitenflotte soll auf der nächsten Ringstation, also logischerweise auf der Venus, gebaut werden. Und rate mal, wer einen der Bauleiterposten erhalten hat."
Mit einem stolzen Funkeln in den Augen blickte sie in Erins Gesicht. Der verarbeitete die Neuigkeit gerade, und ließ dabei seine Tasse beinahe wieder fallen. Eine Welle aus Emotionen schwappte durch seinen Körper, angefangen bei Schock und Überraschung, und endete schließlich mit Freude und Enthusiasmus. Er stellte seine Tasse auf dem nahe gelegenen Couchtisch ab, und schloss Lilly in die Arme, was sie erwiderte. Man hätte vermuten können, Erins Glücksgefühle waren gespielt, aber es gab zwei gute Gründe, weshalb er jedem inklusive sich selbst versichern konnte, dass er sich für seine gute Freundin wirklich freute. Unter anderem war es eine Selbstverständlichkeit, dass er sich für eine mit ihm so tief verbundene Person freuen musste. Die beiden lernten sich nach dem Abschluss ihrer Schule kennen, und trafen sich regelmäßig, wenn es ihr Berufsleben zuließ, da sie beide – wie der Großteil aller Menschen – nicht gerade die besten Jobs hatten. Niemand stellte das in Frage, denn jeder tat den Job gern, schließlich hatte man sich dafür entschieden, aber die Routine nagte hin und wieder an der Gesamtzufriedenheit. Der ergänzende Wert jedoch war die Freundschaft, wie er sie mit Lilly pflegte, so sah er über alles hinweg. Der zweite Grund war somit, dass sie die Chance bekam, dem Alltag für eine ganze Weile zu entfliehen und auf einem anderen Planeten ihre Arbeit zu verrichten. Ein Tapetenwechsel konnte Wunder bewirken, besonders wenn die neue Tapete einige Lichtjahre entfernt lag. An Neid dachte Erin nicht, das war ihm aberzogen worden. Man lernte sich für sich selbst, und für Andere zu freuen. Sie nicht zu beneiden, sondern sich mit ihnen zu freuen, ohne Gedanke ans eigene Wohl. Das fiel nicht jedem leicht, doch bei der eigenen besten Freundin – was sollte man da erwarten?
"Das ist großartig. Ehrlich, du hast es verdient. Auch wenn wir nur telefonieren können, bin ich mir sicher das es dir dort gut gefallen wird.", merkte er an, als er sich aus der Umarmung löste.
Nickend
lächelte Lilly ihn an, und sah auf ihre Uhr. Zudem überprüfte
sie mit einem schnellen Blick ihr formelles Outfit, die Flagge des
Planeten wurde üblicherweise zu besonderen Anlässen
getragen, oder – wie eben in diesem Moment – bei der
Präsenz auf einer fremden Station an einem fremden Planeten. Mit
einem kleinen Seufzer sank sie auf das Sofa neben ihr, und bemerkte
mit einem leichten Schmollmund:
"Du wirst mir fehlen."
"Du mir auch.", gab Erin zurück.
Für einen Moment sahen sich die beiden in die Augen, bis er sich schließlich entschloss, neben Lilly Platz zu nehmen und den neuen Projektor seiner Firma vorzuführen. Die eben noch betrübt angehauchte Stimmung wandelte sich in Begeisterung um, als Erin die Funktionsweise und neuen Fähigkeiten des futuristischen Fernsehgeräts erläuterte. Es unterstütze nun Videotelefonate , eine rauschfreie Bildübertragung über mehr als zwei Planeten hinweg und seit neustem sogar den Datenaustausch auf eine gewisse Entfernung. Dafür waren jedoch Speichermodule wie Festplatten nötig, die aber jeder zuhause hatte.
Nach einer guten Stunde von fröhlichen Gesprächen musste Lilly sich jedoch verabschieden, da die Passagierfähre bald abfliegen würde. Mit einer freundschaftlichen, und vergleichsweise langen Umarmung standen sie noch eine Weile im Türrahmen, ein paar nette Worte austauschend. Mit einem leeren Blick stand Erin in der Tür, als Lilly den Gang verließ und die Treppe hinunter verschwand. Schließlich besann er sich, ließ sich nocheinmal auf das Bett fallen und schlief die paar Stunden weiter, bis sein eigentlicher Wecker klingelte.
Nach dem Aufstehen entschied Erin sich dazu, einen Tag gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Er hatte einen freien Tag, aber da Lilly nun vorerst weg war, war das die beste Alternative zum sinnlosen herumsitzen.
Gemeinnützige Arbeit war eine Erfindung der Regierung. Neben den plagenden Überstunden für Extraeinheiten wurde zusätzlich die Möglichkeit eröffnet, an freien Tagen in öffentlichen Einrichtungen zu helfen. Das umfasste so viele Aufgaben, dass sie es sich sparen konnten, Beamte einzustellen. So bekam der Begriff "Staatsdienst" eine ganz neue Bedeutung. Bis auf die Sicherheitskräfte wie Militär und Polizei, und qualifizierte Posten wie Ärzte, war alles andere Freiwillig gehalten. Von simplen Stellen wie Köche in Krankenhäusern, Sortierer im lokalen Postamt bis zu komplexeren Dingen wie Bibliothekar oder Feuerwehrmann war es jedem möglich, die Jobs zu erledigen. Natürlich gab es auch Leute die diese Tätigkeiten hauptberuflich ausübten, um die Freiwilligen einzuarbeiten, aber der Großteil bestand eben doch aus eigeninitiativen Mitarbeitern, dem gemeinen Volk. Ein großes Zusammegehörigkeitsgefühl wurde so geboren, und zudem fühlte man sich, als würde man tatsächlich einen Beitrag leisten – was man faktisch gesehen auch tat. Dabei gab es kein Aber, es war eine verbreitete, legitime und sogleich nützliche Möglichkeit ein paar Einheiten mehr zu verdienen, die dann meist von den Gebäudeinhabern gezahlt wurden, was meist irgendwelche Politiker waren.
Erin entschied sich für den Dienst in der Zentralbibliothek. Aber nicht etwa weil er viel las, sondern weil er die Zusammenarbeit mit den Menschen mochte. Freundliche, meist junge Schulgänger besorgten sich Lesestoff für ihre Schulprüfungen, und war man nett zu ihnen wurde man mit Anerkennung geradezu überschüttet. Das sich der Lernstoff aus der Bücherei besorgt werden musste, war üblich, da das Lehrsystem grundlegend überarbeitet wurde. Es gab keine Unterrichtspflicht mehr, nur für die untersten Klassen nach der Vorschule. Danach wurde eigenverantwortlich zuhause gelernt, aber es stand jedem Schüler frei, Vorlesungen und ähnliches in den Schulen zu besuchen. Da das ganze ausschließlich auf Freiwilligkeit basierte, waren diese Seminare in den Schulen gut besucht, da man beim Alleinlernen die schuleigenen Freunde und das Privileg eines Lehrers vermisste, auch wenn einige trotzdem das alleine Lernen bevorzugten. Aber so war es jedem Schüler möglich, sich anzupassen wie er wollte.
Nach
den morgentlichen Vorbereitungen war Erin in den Bus gesprungen, und
war nach einer guten halben Stunde an der Zentralbibliothek
angelangt. Einfach zu passieren war sie nicht, da die stellenweise
digitalen und alten, gebundenen Bücher kostbares Wissen
enthielten, was unter keinen Umständen in Gefahr geraten dürfte.
So waren stets Sicherheitskräfte vor dem Haupteingang platziert,
bei großem Andrang sogar mit Bewaffnung. Beim passieren des
Eingangs durchlief man stets einen Metalldetektor, auch wurde von den
Wachen gern mal gelegentlich eine Stichproben-Durchsuchung
durchgeführt. Mit einer freundlichen Geste grüßte er
die beiden Männer vor dem Eingang, die gelassen
zurückgrüßten.
Nach wenigen Schritten stand er in
der großen Halle, dem Hauptbereich der Bibliothek. Ewig hohe
Regale formten verschiedene Gänge, und wie man es kannte waren
die einzelnen Bereiche verschiedenen Genres und Bereichen zugeordnet.
Ein großer Wandel in den Bibliotheken war jedoch, dass man sich
schon längst vom Hauptfokus auf Bücher abgewandt hatte. Der
im oberen Stockwerk platzierte Musik- und Filmbereich hatte
nocheinmal den Umfang aller Bücherregale zu bieten. Wenn man so
wollte war es das Lager der Unterhaltung und Bildung, die zentrale
Zweigstelle für alle Medien. Wenn man von den hohen Regalen und
den ungewöhnlich vielen Besuchern absah, fiel einem auch etwas
anderes auf – alle Bibliothekare trugen eine Uniform, und noch
kurioser war der Umstand, dass jeder eine Brille trug. Auch wenn man
es als tristen Zufall bezeichnen hätte können, so hatte das
ganze einen funktionellen Zweck – an dem, meist rechten, Bügel
war ein kleiner Projektor platziert, der ein Hologramm vor das
Gesicht des Büchereiangestellten zaubern konnte. So hatten sie
eine Suchmaschine parat, und konnten demjenigen der um Hilfe bat
sofort weiterhelfen. Auch eine generelle Anmeldetheke war daher
nichtmehr nötig, wenn jemand etwas auslieh trugen sie es in das
selbe Hologramm ein, und der Vorgang war abgewickelt. Ein
Büchereiausweis war nicht mehr notwendig, aufgrund der großen
Wichtigkeit der Bibliotheken auf der Welt war es einem Möglich,
alles auf den Personalausweis auszuleihen, somit reichte die
Namensnennung.
Erin trat durch den vorderen Bereich der Halle, und ging auf eine Tür zu, die einsam an der imposant hohen Wand lag. Sie hatte keine Aufschrift, nur einen Scanner an der Seite, der an eine Kameralinse erinnerte. Dort hielt er seinen Ausweis hin, worauf die Tür mit einem Surren entsperrt wurde und langsam in die Wand glitt. Dieses Ausweisen war nötig, denn für gemeinnützige Arbeit musste man sich im generellen Eintragen lassen, sonst würde jeder im puren Chaos ein- und ausspazieren. Er nahm sich eine der Uniformen, die im bereits vorgefertigen Schrank aushingen. Neben dem Schrankeinlass in der Wand stand eine Reihe von Spinden, jeweils mit einem kleinen Bildschirm versehen, auf denen verschiedene Gesichter mit Namen zu sehen waren – im Grunde der Personalausweis der Leute. Einer der Spinde hatte durch das Auslösen der Tür die Zuweisung von Erin bekommen, somit leuchtete auf einem der Spinde nun sein Bild und voller Name auf, in dem er auch gleich seine momentanen Klamotten verstaute. In den simplen Overall geschlüpft nahm er sich von der Ablage über den Uniformen noch eine der Bibliothekarsbrillen, wie sie im Jargon genannt wurden. Die Gläser besaßen natürlich keine Stärke, und für diejenigen die eine tatsächliche Brille brauchten, gab es die kleinen Projektoren auch auf Anfrage einzeln.
Pflichtbewusst lockerte Erin nocheinmal seine Schultern, und schaltete mit einem Knopfdruck von dem Personalausweis auf dem Bildschirm auf die oben platzierte Linse um, damit der Bildschirm eine Spiegelfunktion erfüllte. Er strich sich kurz über die vergleichsweise kurzen Haare, rückte sie mit ein paar kritischen Bewegungen zurecht und ließ das Bild seines Ausweises mit einem erneuten Knopfdruck wieder aufploppen. Nach der Prozedur schritt er aus dem Raum hinaus, zurück in die eigentliche Bücherei, und sah sich nach jemandem um, der Hilfe benötigte.
Tatsächlich
entdeckte er einen älteren Mann, der sich etwas ratlos durch
einen Gang durchkämpfte. Mit einem auf Knopfdruck erzeugtem
Lächeln lief er zu ihm, und bot ihm eine Auskunft an.
"Kann
ich ihnen helfen?"
Mit einem Gemisch aus Panik und Freude bestieg Lilly mit einem Rucksack bepackt die große Rampe, die in dem Rumpf eines großen Raumkreuzers endete. Gerade wurde noch ihr Ausweis kontrolliert, und jetzt lief sie mit dem vergleichsweise großen Menschenstrom auf den Innenraum des großen Schiffes zu. Um sie herum schritten die Leute vorbei, während sie sich kurz still stellen musste um die schiere Größe dieses Fortbewegungsmittels zu erfassen. Allein von den Größenverhältnissen her sah der große Kreuzer aus wie ein, oder sogar zwei Berge aus einem Gebirge, nur mit Fenstern und Triebwerken. Wenn diese großen Raumkreuzer nicht auf einer Fahrt waren, wurden sie im gelandeten Zustand auch nebenbei als Hotels genutzt – die Austattung war makellos, allerdings war es "am Boden" teurer. Der Transport durch das All mit einem solchen Kreuzer war jedoch ziemlich erschwinglich, weil eine Kabine an sich nicht viele Einheiten kostete und das Essen an Bord kostenlos und ohne jede Berechnung, sondern rationiert ausgegeben wurde. So bekam jeder an Bord täglich drei Mahlzeiten aus Gründen der Selbstverständlichkeit – wer jedoch mehr wollte konnte selbstverständlich mit ein paar Einheiten zusätzliche Mahlzeiten kaufen.
Von diesen Raumkreuzern wurden nicht viele gebaut, weil dieser eine hier, bei voller Kapazität Platz für bis zu 20000 Menschen bot. Das Exemplar das vor ihr stand war die Merkur, einer von den insgesamt neun Kreuzern, von dem jeder nach einem Planeten in der Milchstraße benannt wurde. Da also die ganze Flotte von Kreuzern zusammengerechnet 180000 Menschen transportieren konnte, war man der Überzeugung, neun dieser Monster würden ausreichen um den Großteil des Verkehrs abzudecken. Denn man musste bedenken, dass es noch unzählige kleine Passagierschiffe- und Fähren gab, die in den Sternen ihre Linien flogen. Und um an ganz billige Flüge zu kommen war es auch möglich, bei Frachtpiloten anzufragen, die einen auch unverbindlich für einen geringen Preis mitnehmen konnten.
Lilly hatte aber durch die Finanzierung ihrer Firma die Ehre bekommen, auf einem der Kreuzer mitzufliegen. Das Besondere an ihnen – sie gehörten keiner Firma an, sondern waren Staatseigentum, somit flogen Militärangehörige diese Riesen. Begeistert schritt Lilly nun weiter auf den großen Rumpf zu, bekam aber im gleichen Moment Panik. Immer mehr hatte sie die Befürchtung, sich auf dem Schiff nicht wohlzufühlen. Denn hier, auf der Erde, war sie schon einige Male mit einem Flugzeug unterwegs gewesen, und litt dabei unter der klassischen Flugangst. Auch, wenn sie sich denken konnte, dass ein Raumflug etwas ganz anderes war, so blieben doch Zweifel ob sich diese Flugangst nicht dahin übertragen ließe. Aber die Faszination wog höher, was sie noch schneller die Rampe hinauftrieb. Hinter ihr wurden inzwischen die letzten Passagiere durchgelassen, die meisten betraten das Schiff schon einige Tage vor dem Flugantritt, was jedoch optional war, aber somit kamen unmittelbar vor Abflug nur wenige an.
Gespannt strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, rückte ihren Rucksack zurecht und zog ihren Transmitter aus der Hosentasche. Nach einem Knopfdruck projezierte der den Plan in die Luft. Dabei handelte es sich um ein Deck des Kreuzers, mit einer roten Markeriung versehen war Lillys Kabine. Nach kurzem Warten wechselte die Ansicht zur Laderampe, auf der sie sich befand und errechnete einen roten Pfad, der zu ihrer Kabine führte. Wie ein Pfadfinder mit Karte folgte sie dem ihr vorgebenen Weg, und passierte den großen Einlass. Mit einem Mal versank sie in der klimatisierten Luft des Innenraums, während eine Durchsage die Passagiere aufforderte, die Laderampe zu verlassen und sich in die vorgesehen Bereiche für den Flug zurückzuziehen. Der Aufforderung kamen auch alle Passagiere nach. Während sich alle in die selbe Richtung aufmachten, sah Lilly von ihrem Wegweiser auf und begutachtete die verschiedenen Passagiere. Man konnte deutlich erkennen, wer woher kam. Die Bewohner der Erde zeichneten sich durch lässige Klamotten aus, die Männer meist in Cargo-Hosen und Arbeiterjacken, die Frauen in eben jenen Hosen und einigen simplen Oberteilen. Auch wenn man ausserhalb der Erde klischeehafterweise immer an die Overall-Uniformen dachte, so war es doch eher diese lässige Arbeiterkleidung, die erdstämmige Menschen auszeichnete.
Obwohl jedoch alle Menschen derselben Regierung unterstanden, setzte sich auf den Ringstationen unter den Gouverneuren oft ein neues System durch. Wenn man beispielsweise in der Menge von Passagieren einige Frauen mit edlen Kleidern und aufwändigen Gewändern erspähte, so konnte man sich sicher sein, dass sie auf der Neptun-Station zuhause waren. Dort hatten nämlich Frauen die Überhand, da sie einer Art von Adel angehörten. Der Titel der "planetaren Gräfin" wurde jeder Frau ab einem gewissen Alter verliehen, zudem waren Männer dort das einfache Arbeitervolk geworden. Sie wurden insgesamt nicht diskriminiert, sondern fügten sich viel mehr in das Gesellschaftsbild ein, dass ihnen von klein auf anerzogen wurde – welches vorsah, dass Frauen einfach das stärkere Geschlecht waren. Sah man Leute in Militäruniformen ergaben sich zwei Möglichkeiten – entweder waren es Crewmitglieder des Kreuzers, oder, wahrscheinlicher, waren sie auf dem Rückflug zur Militärbasis des Militärs. Platziert war diese auf der Ringstation des Mars, und war die Wohnstätte und Arbeitsplatz aller Soldaten. Ebenfalls lebten dort die Familien der Offiziere, diese bekamen einen extra zugeteilten Bereich in der Station – die Familien der gewöhnlichen Soldaten wohnten auf der Erde oder eben Ringstation auf der sie lebten, und wie zuvor auf der Erde pendelten die Soldaten zwischen Militärbasis und Zuhause, in dem Fall dem Heimatplaneten oder der Heimstation. Welche Gruppierung man ebenfalls eindeutig zuordnen konnte waren die Geschäftsleute, die meisten von ihnen kamen von der Uranusstation. Dort hatten die meisten großen Firmen und Konzerne ihren Hauptsitz, so übrigens auch die Federal Sunlight Retain Group, in deren Dienst Lilly stand und die Reise antrat. Die restlichen Passagiere waren anhand von Äusserlichkeiten nur schwer einzuteilen. Nicht jeder hatte irgendwelche speziellen Outfits, also beendete sie die grobe Analyse und folgte wieder ihrem vorgebenen Weg.
Am Ende des großen Laderaumes sammelte sich die Menge in einem breiten Raum, dessen Decke wesentlich niedriger lag als im eigentlichen Lagerbereich. Nachdem die letzte Person den Raum betreten hatte, erhob sich aus dem Boden eine Halbwand, um den Leuten den Rückweg zu versperren. Nach einem kurzen Moment hob sich der Boden an, und es stellte sich heraus, dass die letzte Welle von Fluggästen mit diesem Aufzug auf die Passagierebene gefahren wurde. Aufgrund der Größe und des großen Gewichts, bewegte er sich nur langsam fort. Die anderen Menschen auf der fahrenden Plattform sahen routiniert und etwas gelangweilt aus, da diese Prozedur für sie wohl ein alltäglicher Vorgang war. Lilly jedoch konnte ihre Augen keine fünf Sekunden an der selben Stelle halten, jedes Geräusch, jede Bewegung und jeder Vorgang war für sie etwas neues. Nach einigen Metern kam der große Aufzug zum stehen, und der Blick in eine hohe Halle wurde freigegeben. Diese erinnerte an eine große Hotellobby, mit einem breitgezogenen Schalter und herumwuselnden Pagen. Von der Decke herab hing ein großer futuristischer Leuchter, der ohne jede weitere Beleuchtung ausreichte um den ganzen Raum mit Licht zu erhellen. Die Halbwand des Aufzugs verschwand im Boden, und die Gruppe von Passagieren machte sich jeweils einzeln auf den Weg zu einem freien Mitarbeiter an der Rezeption. An Bord der Raumkreuzer musste man ähnlich wie in Hotels in sein Zimmer einchecken. In den Anfangszeiten konnte man auch auf gut Glück schnell auf den Flug huschen, um ein freies Zimmer zu erwischen, was damals auch noch problemlos funktionierte. Doch mittlerweile musste eine Flugunterkunft schon Wochen oder gar Monate im Vorraus reserviert werden.
Lilly's Wegweiser rappelte wie ein Wecker, als sie den Ansatz machte, den Korridor für die Zimmer zu betreten. Mit einer kleinen schriftlichen Meldung erinnerte er sie daran, sich an der Rezeption zurückzumelden. Mit einem leicht dankbaren Aufatmen stellte sie diesen Alarm aus, und begab sich zum nächsten freien Mitarbeiter, der sie sogleich mit einem Lächeln begrüßte.
"Willkommen an Bord der Merkur. Wie kann ich ihnen helfen?"
Lilly
ließ den Rucksack von ihrem Rücken gleiten, platzierte ihn
auf der Theke und kramte einige Papiere heraus, die sie dem netten
Rezeptionisten in die Hand drückte, mit den Worten: "Ich
bin auf Firmenreise, ich bräuchte von ihnen eine
Reisebestätigung, die Schlüsselkarte habe ich schon."
Mit
einem Nicken hob der Mann hinter der Theke seine Hand, ließ mit
einer Geste ein Hologramm aufploppen, und tippte auf der ebenfalls
erschienenen Tastatur herum. Darauf holte er einen Scanner unter der
Theke hervor, der aussah wie eine kleine Neonleuchtröhre. Mit
dem fuhr er kurz über das Papier, dessen Inhalt gleich auf dem
Monitor aufschien.
"Brauchen sie eine Bestätigung auf Papier, oder reicht es wenn ich es in der Checkliste abhake?", erkundigte der Rezeptionist sich.
Mit einem kurzen Abwinken verneinte sie ersteres, ließ sich ihre eigenen Papiere zurückgeben und schnallte ihren Rucksack auf den Rücken. Nachdem ihr bestätigt wurde, dass sie abgehakt seie, bedankte sie sich und folgte wieder ihrem Wegweiser zu ihrem Zimmer. Sie bog in einen der vielen Korridore ein, deren Wände mit den Zimmertüren gespickt waren. Am Ende des Ganges war jeweils ein Aufzug platziert, den Lilly auch gleich aufsuchte, da ihr Zimmer direkt unter dem Schiffsrumpf lag, was bedeutete, dass sie Dachfenster mit Ausblick auf die Sterne genießen konnte. Die Aufzugfahrt in dem schnellen Lift erwies sich als Geduldsprobe, da auf ziemlich vielen Decks ein Zwischenstopp eingelegt wurde. So war es auf dem großen Kreuzer nicht ungewöhnlich mehr als 10 Minuten im Aufzug zu verharren. Nachdem die ständige Start-Stopp-Tortur endlich überwunden war, fand sie sich auf dem äußersten Deck wieder, verließ den Lift und lief durch den Korridor. Nach ein paar Schritten begann plötzlich der Boden zu vibrieren, und ein kräftiger Ruck hätte sie beinahe zum Sturz gebracht. Nach kurzer Verwirrung war ihr jedoch klar, dass das der Start gewesen sein musste. Wenige Meter später stand sie direkt vor ihrer Zimmertür, jagte die Schlüsselkarte durch das Schloss und trat ein.
Es war ein schlichter Raum, funktionell eingerichtet, aber doch einfach gehalten. Ein Doppelbett streckte sich buchstäblich aus der Wand, weil es wie eine Tischplatte an der Wand befestigt war, darauf lagen jedoch einladende Wassermatratzen. Darüber, an der Decke, hing ein Holo-Projektor der die Wand vor dem Bett anvisierte. An der größten Wand waren einige Regale und ein Kleiderschrank angebracht. Ansonsten war noch ein Türbogen in dem Raum platziert, der ins angeschlossene Bad führte. Während hinter Lilly sich die Tür wieder mit einem Zischen schloss, setzte sie ein leichtes Grinsen auf, als sie den Kopf in den Nacken legte. Beinahe die gesamte Decke war von einer dicken Glasplatte ausgeschnitten, die einen Blick in die Aussenwelt freigab. In eine guten halben Stunde würde sie nichtmehr den blauen Himmel sehen, sondern die unendliche Weite gespickt mit Sternen. Mit diesem Gedanken warf sie ihren Rucksack vorerst auf das Bett, lief mit einem Schwung auf das Wasserbett zu und ließ sich in die Matratze fallen.
Der Ton eines Fernsehers hallte durch den kleinen Ruheraum, in dem Erin sich für die Mittagspause niedergelassen hatte. Der kleine Raum bot mit einer breiten Fensterfront den Blick auf den zur Bibliothek gehörenden Garten, in dem auch Tische mit Stühlen zum lesen, schreiben oder einfachem Ausruhen platziert waren. Im dem Pausenraum selbst war nicht sehr viel, ein Holo-Projektor, ein kleiner Ablagetisch, eine recht kleine Küche und einige Sitzgelegenheiten – wie man sich eben einen solchen Ruheraum vorstellte.
Es war bereits der zweite Tag des Wochenendes, Erin entschied sich auch an diesem freien Tag in der Bibliothek zu arbeiten. Der würde nun jedoch nichtmehr so lange dauern, denn es war ein internationaler Feiertag angebrochen, und alle Arbeiten durften ab 14 Uhr eingestellt werden.
Das ganze hatte einen historischen Hintergrund. Von diesem Jahr an war es exakt 216 Jahre her, dass sich die gesamte Erdbevölkerung von ihrem alten System verabschiedet hatte. Einige Monate vor diesem Tag hatte sich eine Bewegung geformt, die die aktuellen Verhältnisse anpassen wollte. Da zudem Zeitpunkt noch eine funktionierende Politik im Amt war, wurden diese Rebellen zunächst als rechte, dann als linke Bewegung eingeordnet. In der Öffentlichkeit wurden sie verunglimpft, und von jeglicher Glaubwürdigkeit entbunden, in dem man sie als Terroristen ansah. Eine gute Zeit später jedoch verbreitete sich diese Bewegung so gut wie über den gesamten Planeten, und überrante die Regierungen förmlich. Massive Proteste und Aufmärsche, die den gesamten Verwaltungsapparat zusammenbrechen ließen, und eine Wende bewirkten. Ein Umsturz wurde ausgeführt, und an einem Tag schließlich ein Vertrag abgeschlossen, der dem Volke die absolute Regierungsmacht übertrug, dies geschah um 14 Uhr der lokalen Ortszeit – was erklärt, wieso zu diesem Zeitpunkt die Arbeit eingestellt werden durfte. Dies wurde gefeiert mit dem sogenannten Friedesmarsch – auf der ganzen Erde liefen die Menschen um die Straße, um das zu feiern. Dieser Tag ging ein als Tag der absoluten Freiheit. Nach diesem Vertragsabschluss wurde die Politik grundlegend von der Funktionsweise geändert. Das Wirtschaftssystem wurde verstaatlicht, ebenso wie große Behörden und Firmen. Kleine Firmen und Unternehmen existierten weiterhin und durften frei arbeiten, ohne jegliche Einschränkung, sollten jedoch auf keinen Fall so groß werden das sie einen Einfluss auf die allgemeine Wirtschaft nehmen konnten. Die Politik wurde zu einer neuen Berufsgruppe, im Grunde genommen waren es nun tatsächlich Vertreter des Volkes. Ein Parlament existierte in dieser Weise nichtmehr, sondern wurden große Beschlüsse ausschließlich auf Volksebene getroffen, Politiker hatten lediglich das Recht darauf, eine Art Modell vorzuschlagen, dem das Volk dann zustimmen durfte, um die Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. Die Politik als solches jedoch war mit strikten Zugangsvorraussetzungen versehen, um es ausschließlich fähigen Leuten zu ermöglichen, bei tragenden Entscheidungen als großer Faktor zu gelten. Über allen Politkern stand der Großkanzler, der über seine gesamte Lebzeit im Amt blieb. Dieser Großkanzler, oder auch Großkanzlerin, war mit der Aufgabe betraut die Forderungen des Volkes umzusetzen. Ihre Entscheidungen mussten sofort in die Tat umgesetzt werden, sie waren quasi das Instrument des Volkes. Bei zu großem Misstrauen war es auch möglich einen gleichnamigen Antrag zu stellen, was jeder aus dem Volk durfte. Bei genügend Unterstützung wurde der Großkanzler sofort enthoben und ein neuer gewählt, dem vorherigen wird zudem verweigert, je wieder in der Politik tätig sein zu dürfen. Diese Gesetzesentwürfe wurden alle nach dem Tag der absoluten Freiheit getroffen, waren verfassungsmäßig geschützt und durften von niemandem, zu keinem Zeitpunkt oder Umstand, verändert werden. Doch auch wenn solche Verordnungen vorhanden waren, es war noch nie nötig, diese umzusetzen. Das System hatte sich nun schon seit zwei Jahrhunderten bewährt, es gab keinerlei Zwischenfälle die es in Gefahr gebracht hätten. Nachdem der Umsturz vollzogen war, wurde zudem die gesamte Welt auf den selben technischen Stand gebracht. Es gab keine dritte Welt mehr, keine Armut, keinen Unterschied mehr zwischen Arm und Reich. Das System der Einheitswährung war geboren, und jeder Mensch war von nun an gleich. All diese Ereignisse geschahen jedoch lange vor der Stationskolonisierung der Planeten, daher war dieser Feiertag dort zwar anerkannt, aber nicht so hoch geschätzt wie auf der Erde selbst. Die Kolonisierung der Planeten wurde aber unter anderem auch durch diesen Umsturz bewirkt, da dass Volk entschied, allen Fokus auf die Forschung zu lenken. Nach einigen Jahrzehnten intensivster Forschung war es gelungen, den Mond zu kolonisieren. Da man jedoch feststellte, auf den anderen Planetenoberflächen war eine Kolonisierung unmöglich, entschied man sich für die Lösung von Raumstationen, die die Planeten ringförmig umspannten – daher der gebräuchliche Name "Ringstation". Die Stationen erhielten wie die einzelnen Staaten auf der Erde einen Gouverneur, der dort die Funktion des Großkanzlers in kleinerem Maße erfüllte, die Anweisungen erhielt er aber trotzdem weiterhin von diesem.
Mit all diesen Errungenschaften erklärte es sich also quasi von selbst, wieso dieser Feiertag von so wichtiger Bedeutung war. Gefeiert wurde er mit dem selben Ereignis – weltweit ging man auf die Straße, zu feiernder Musik. Das Militär organisierte eine Parade, Soldaten liefen in einem breiten Marsch über die Straßen, die den ganzen Tag für Autos gesperrt waren. Beendet wurde der Tag mit einer weltweiten Schweigeminute für all jene, die in den Kämpfen für die Freiheit in diesen Wochen ihr Leben lassen mussten, da sich die – im Jargon genannte – "alte" Politk mit polizeilicher und militärischer Gewalt gegen den Umsturz gewehrt hatte.
Erin freute sich jedes Jahr darauf, weil man den Menschen ansah, wie sehr sie sich über diese Ereignisse noch freuten, obwohl alle Zeitzeugen schon gar nicht mehr lebten. Es löste bei allen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit aus, und man wurde sich wieder bewusst, wie wertvoll das eigene Leben war, indem man einen Beitrag zu dem eigenen und fremden Leben brachte. Mit dieser Vorfreude hob Erin seinen Ärmel und überprüfte die Uhrzeit, die ihm verriet, dass es noch weniger als eine Stunde war. Ein Großteil war jedoch schon verschwunden, um sich bei der Straßenparade einen guten Platz zu sichern – die Fotos von den marschierenden Soldaten waren sehr begehrt. Im Fernsehen wurde gerade Original-Archivmaterial von den Ereignissen vor dem Tag des Vertragsabschlusses gezeigt. Erin musste schmunzeln, wie schlecht doch noch damals die Technologie entwickelt war. Brennstoffbetriebene Autos, Türe mit Scharniergelenken, Strom aus Kohle und Kernkraft, und noch viel mehr, womit er diese Liste hätte füllen können. Sein Liebling waren jedoch analoge Medien, wie beispielsweise ein – für diese Zeitverhältnisse – antikes Radio, oder einen nicht-holografischen Fernseher. Auch wenn es damals Alltag war, erschien es für ihn wie ein längst vergangenes Zeitalter.
Der aktuell gezeigte Archivbericht war eine Presseschalte, die die Demonstrantenwelle vor einem Regierungssitz von einem Helikopter aus erfasste. Polizeieinheiten die versuchten, den Menschenstom aufzuhalten, die altertümlichen Wasserwerfer und Schlagstöcke einsetzten, um am Ende doch noch überrant zu werden. Der zugeschaltete Reporter kommentierte die Demonstranten als tapfer, lobte ihre Absichten. Zu diesem Zeitpunkt war die Presse bereits auf der Seite des Umschwungs, wie man bei diesen Kommentaren eindeutig bemerken konnte. Erin hatte aber auch schon andere Schalten gesehen, die nicht so hoffnungsvoll erschienen. Beispielsweise wurden die Hauptstäde einiger, damals einflussreicher Staaten vom Militär verteidigt, die auch nicht davor zurückschreckten, die Aufständischen niederzuschießen. So kam es allerdings, das die natürlich nicht zurückgebliebenen Demonstranten sich ebenfalls bewaffneten. Um einige Städte sind sogar tatsächlich militärische Schlachten entstanden, was von der Presse alles festgehalten wurde. Ausgebildete Soldaten gegen bewaffnete Zivilisten, ein wahres Massaker, was aber letzenendes von der richtigen Seite gewonnen wurde.
In
diesem Moment zischte die Tür, und ein anderer Bibliothekar
betrat den Raum. Entspannt schritt er hinter das Sofa auf dem Erin
saß, und klopfte ihm auf die Schulter.
"Na, immernoch
hier?", erkundigte er sich.
Erin
bemerkte, dass es der Mitarbeiter war, der hauptberuflich in der
Bibliothek tätig war und die Freiwilligen wie ihn betreute.
Leicht zurückhaltend nickte Erin, mit den Augen auf der
Fernsehwand. Mit einem gütigen Lachen stellte er ihm
klar:
"Erin, du darfst schon gehen. Jetzt kommt sowieso
keiner mehr, die sind doch alle schon draußen. Hol deine
Sachen. Wir sehen uns nächstes Wochenende, du bist immer
willkommen."
"Danke.", brachte Erin heraus, stellte sich auf und sah seinen Kollegen respektvoll an.
Der schon etwas ältere Bibliothekar klopfte ihm nocheinmal fürsorglich auf die Schulter, und schließlich verließ Erin den Raum. Leicht geladen schritt er direkt durch die nächste Tür, in den Umkleideraum, und suchte sich aus seinem Spind die Sachen zusammen. Für den Anlass hatte er seinen klassischen Mantel herausgesucht. Der Feiertag war in der Übergangszeit zwischen Herbst und Winter, so waren doch die meisten dick angezogen. Sein aber mittlerweile ziemlich nostalgischer Mantel war die edelste Klamotte, die er besaß. Manchmal trug er sie in der Freizeit, aber meistens doch zu solchen Anlässen wie diesem Feiertag. Eine Tasche hatte er diesmal nicht dabei, er hatte nichts gebraucht. Nachdem er den Kragen seines Mantels aufgestellt, und seine Frisur nocheinmal im digitalen Spiegel überprüft hatte, verließ er den Umkleideraum, spazierte durch die enorme Haupthalle zum Ausgang und betrat die Straße.
Gute 30 Stunden war der Flug nun lang, in wenigen Minuten würde der Kreuzer das Passagierdock der Venusstation anfliegen. Schon eine gute Stunde vor dem Andocken wurden die Passagiere bereits aufgefordert, ihre Zimmer zu räumen, damit die Putzkolonne sie für die nächsten Fluggäste bezugsbereit machen konnte. So saß nun auch Lilly in der großen Lobby, die in diesem Moment zur Wartehalle umfunktioniert worden war. Ein kleiner Teil der mitfliegenden Fluggäste vertrat sich nocheinmal die Beine um die Zeit zu überbrücken. Bis vor einer guten halben Stunde war es auch noch gestattet, die riesige schiffseigene Kantine zu besuchen, die wirklich köstliches Essen anbot. Dieses System war elegant gelöst, denn für die Passagiere war das Essen kostenlos – jeder konnte pro Tag drei Mahlzeiten kostenlos zu sich nehmen. Wollte man mehr, so konnte man sich mit ein paar Einheiten Aufschlag noch etwas dazukaufen. Ein angemessener Service, bei den fürstlichen Preisen auf den Kreuzern.
Lilly hatte eine kleine Computereinheit auf dem Schoß platziert, der ihr ein Hologramm auf die Knie projezierte, was ungefähr wie ein Tablet funktionierte. Da es ihr gerade an Beschäftigung fehlte, sah sie auf und erinnerte sich an etwas, dass ihr vor wenigen Stunden passiert war. Sie machte einen Spaziergang im öffentlichen Bereich, der eine bordeigene Bibliothek, ein Kino, ein Schwimmbad, und ähnliches enthielt. Und zwar spazierte ihr auf dem großen Korridor ein unbekannter Mann entgegen, der einen Hund mit sich führte. Das war Lilly garnicht bewusst, dass Haustiere auf einer Raumreise gestattet waren, und umso mehr genoss sie den Moment, indem der nette Mann ihr erlaubte, mit dem Hund ein wenig herumzutollen und zu spielen, was sie in der schiffseigenen Turnhalle taten. So konnte sie die Nervosität abbauen, die sie im Moment auf Trab hielt, den sie würde bald ihre neuen Kollegen kennenlernen, mit denen sie für einige Monate zusammenarbeiten würde. Wenn Lilly eines unangenehm war, dann neue Menschen kennenzulernen. Fremde Menschen an sich waren kein Problem für sie, aber sie kennenzulernen, ein Verhältnis aufzubauen, das fiel ihr schwer.
Doch
trotz dieses Umstandes geschah der folgende Moment ohne ein
unangenehmes Gefühl. Ein Mann, etwas älter als sie, mitte
dreißig, setzte sich neben sie, und sprach sie vollkommen
behaglich an, als er ihre Uniform bemerkte:
"Du bist doch
eine von den neuen Bauleitern, nicht wahr?"
Lilly sah ihn an,
schluckte unauffällig.
"Ja.", gab sie schüchtern zurück.
"Remus Jadruk. Ich gehöre auch zu der Bauleitermannschaft. Und du bist...?"
"Lilian Thorne. Aber, du darfst mich Lilly oder Scarlett nennen."
"Scarlett?", entgegnete er fragend.
"Mein zweiter Name, auch oft mein Rufname."
Remus
lachte leicht in sich hinein, und bemerkte:
"Scarlett. Ein
schöner Name. Ich glaube, dabei bleibe ich."
Mit einem
unbehaglichen Nicken nahm Lilly die Bemerkung zur Kenntnis, und
sogleich machte sich Schweigen breit. Doch als hätte sie danach
gerufen, begann das Schiff leicht zu ruckeln. Dieses Ruckeln kannte
sie bereits vom Andocken an die anderen Stationen, die sie passiert
hatten. Eine von einem Gong eröffnete Durchsage vorderte die
Passagiere auf, den Aufzug zur Laderampe zu betreten. Wie von einem
Instinkt getrieben erkundigte sie sich bei ihrem neuen Kollegen
Remus:
"Möchtest du mich begleiten?"
"Natürlich,
meine Dame.", entgegnete er mit einem ironischen Grinsen. Nach
einem kurzen Lächeln ihrerseits ließ sie ihre runde
Computereinheit in der Tasche verschwinden, und beide standen auf.
Mit einer Hand am Rucksack beim Laufen, begann sie Remus unauffällig
zu mustern. Er trug eine offene Lederjacke, darunter ein
unauffälliges Shirt, und eine ihr unbekannte Hose. Auf der
Schulter hatte er eine größere Reisetasche. Sein Körper
war gut gebaut, wie man es von einem ehemaligen Bauarbeiter vermuten
würde, obwohl seine Körpergröße verhältnismäßig
klein war. Er hatte weiche Gesichtszüge, und ein wenig
ungepflegte Haare, was aber vermutlich beabsichtigt war. Lilly's
Musterungsfähigkeiten arbeiteten auf Hochtouren, doch nichts
ließ auf seine Herkunft schließen. Die Hautfarbe war in
diesen Tagen überhaupt kein Kriterium mehr, ebenso wenig
Sprachen und Akzente, da es auf den Stationen verzeinzelt neue Wörter
oder gar Dialekete gab, auf
einigen Stationen waren sogar vollkommen neue Zweitsprachen
angemeldet, beispielsweise das nach der gleichnamigen Station
benannte Neptun, was
die Gräfinnen dort untereinander sprachen. Die beiden standen
nun im Aufzug zur Laderampe, und die schon bekannte Halbwand trennte
den Bereich der Plattform wieder ab. Der Aufzug bewegte sich gewohnt
langsam herab, und Remus stellte Lilly eine wichtige Frage:
"Warst
du schonmal auf der Venusstation?"
Sie schüttelte den
Kopf.
"Oh", entgegnete Remus, "also kennst du die
Kultur hier auch kaum, was?"
Bevor Lilly eine Antwort geben konnte, zeigte sich der Einblick in die Laderampe. Vor Erstaunen wurde ihre Augen leicht größer, und ihr Mund öffnete sich zu einem kleinen Stück. Die Rampe sah wesentlich anders als aus beim Start, denn nun sah sie das erste mal offensichtlich, dass der Kreuzer vom Militär kommandiert wurde. Mit scharfen Befehlstönen und Handzeichen wurden die Logistiktrupps zurechtgewiesen, alles wurde zum Ausladen und späterem Einladen vorbereitet. Sie kam sich vor, als würde sie einer Gruppe Soldaten zusehen, die sich gefechtsklar auf eine große Schlacht machten, aber es ging hier nur um das Beladen eines Passagierschiffes. Zugegeben, ein Kreuzer von enormer Größe, so ließ sich diese Koordination und Organisation erklären, aber einen Eindruck machte es bei ihr allemal. Die anderen Passagiere, Remus eingeschlossen, liefen vollkommen unbeteiligt am militärischen Personal vorbei. Jetzt sah Lilly erst, dass am Boden straßenähnliche Markierungen platziert waren. Ein großer Bereich am Ende der Halle war eingegrenzt, und in diesem taten die Logistiker ihre Arbeit. Die Aussteigenden Passagiere liefen auf einer großen Spur links, während die rechte Spur wohl die einsteigenden Passagiere zum Aufzug führen sollte. Als das große Haupttor der Laderampe sich begann zu öffnen, erhob sich zudem synchron eine weitere Halbwand, direkt auf der Mittellinie zwischen den Passagierspuren. Nun begann der große Austausch der Passagiermengen, von dem Lilly in dem Reisebereich garnichts mitbekommen hatte. Die Halbwand erschien für sie mehr als sinnvoll bei den großen Menschenmassen, die sich jetzt in der Laderampe aufhielten. Von oben musste es aussehen wie zwei entgegensetzte Ameisenstraßen, dachte sie sich im Stillen.
Nachdem
der große Ausstieg überwunden war, sah sie sich mit Remus
gemeinsam um. Offenbar war er schoneinmal auf der Venusstation
gewesen, vermutlich sogar mehrmals, aber wohin er aufgrund ihrer
neuen Arbeit musste, schien er auch nicht zu wissen. Beide hielten
Ausschau nach jemandem mit dem Firmenlogo, der ihnen sagen konnte,
wohin sie mussten. Nach einer guten halben Stunde des Wartens waren
alle anderen Passagiere aus dem Ladebereich verschwunden, und das
gesamte Bauleiterteam blieb übrig. Mit kameradschaftlichen
Grüßen stellte man sich gegenseitig vor, zusammen mit
Remus und Lilly waren sie zu fünft. Die drei anderen waren
unscheinbare Leute. Der erste war von der Plutostation, er stellte
sich als Hagzar Chiron vor, sein Kollege von der selben Station war
Norman Crone. Die letzte Person in der Runde war Ylana Ramor, sie war
an der Saturnstation zugestiegen, wie sie sagte. Nachdem die Runde
einige erste Kennenlernversuche gemacht hatte, trat ein unbekanntes
Gesicht dazu. Ein in Uniform gekleideter Mann, der sich formell
vorstellte:
"Guten Tag, Herrschaften. Welmar Darcon,
zuständiger Teamleiter."
Nach dieser Phrase reichte er seine Hand in der Gruppe herum, die jeder einmal anerkennend schüttelte. Als das beendet war, deutete er den Bauleitern, ihm zu folgen, was diese auch gleich taten.
Schon seit einigen Minuten war Erin auf der Straße unterwegs, und beobachtete mit Freude die lächelnden Gesichter. Immer wieder traf er auf tanzende Menschengruppen, in denen er beim Vorbeigehen immer wieder ein paar Takte mitschwang, wobei er oftmals Jubelrufe oder Pfiffe auffing, was ihm seine Laune noch mehr hob. In der ganzen Stadt war eine, einzige universelle Lautsprecheranlage aufgestellt und verbunden worden, die feierliche Musik abspielte. Der Marsch begann noch nicht, aber die Feierlaune war bereits im totalen Gange. Zur Feier des Tages verteilten Bäckereien ihre Produkte kostenlos, jeder der wollte durfte mithelfen. Während andere in ihren Straßen darauf warteten, bis der Soldatenmarsch an ihnen vorbeiführte, kam Erin auf die Idee, sich durch die Massen zu kämpfen und sich auf den Weg zum Freiheitsplatz zu machen. Der Platz bekam seinen Namen ebenfalls durch diesen Feiertag, es war der Platz vor dem Zentralverwaltungsgebäude, dem Sitz des Großkanzlers. Dort fing der Marsch an, und endete letztlich auch dort. Doch vor dem Marsch konnte man dort die Soldaten posieren sehen, das wollte er sich dieses Jahr nicht entgehen lassen, also wanderte er durch die feiernde Menge. Zwischendurch sprach über die Musik immer mal wieder ein Redner, mit Zitaten der damaligen Anführer des Umschwungs – bewegende Zeilen, die die Menschen festigten und ihnen zeigten, dass das gewichtigste Gut die Freiheit und Gleichheit ist.
Einige
Blocks weiter war Erin kurz vor dem Ziel. Er konnte den Redner auf
der Bühne vor dem Gebäude hören, die Soldaten die des
öfteren Siegesrufe synchron ausstießen – eine
einschüchternde, aber frohe Atmosphäre. Immer näher
tastete er sich durch die Menge hindurch, und sah immer wieder in die
Menge, um sich an dem Schauspiel der Masse zu erfreuen. Familien, die
von Großeltern bis Enkeln zusammen die Parade besuchten,
Gruppen von Jugendlichen, die es genossen ohne Eltern feiern zu
können, junge Pärchen die sich in den Armen lagen, als wäre
die Revolution gerade erst vorbeigewesen. Diese Darbietung der Freude
ließ Erins Herz warm werden, und ermutige ihn, noch weiter
vorzudringen, um zum krönenden Abschluss – oder eher
Anfang – die Soldaten zu sehen, die gleich im Symbol der
Freiheit durch die Straßen marschieren sollten. Auf dem Weg kam
ihm ein kleiner Junge entgegen, eingehüllt in viel zu große
Bäckerskleidung. Offenbar war er einer der vielen, die den
Bäckern halfen, die Menge mit Essen zu versorgen. Mit einem
breiten Grinsen streckte er Erin ein Tablett mit Brezeln entgegen,
von denen dieser dankbar eine annahm und dem kleinen Mann kurz durch
die Haare strich, dieser war jedoch auf Zack und lief sofort weiter.
Mit einem zufriedenen Lächeln biss Erin ein Stück von
seinem Geschenk ab, und lief weiter in Richtung des Platzes, was er
daran erkennen konnte, dass die Fotoblitze immer dichter wurden. Der
Redner am Pult war gerade dabei, eine phenomenale Ankündigung
kundzugeben, was Erins Schritt schneller werden ließ.
"Und
nun, stolzes Volk der Erde", hallten die Lautsprecher des
Mikrofons, "begrüßen sie bitte mit einem Applaus den
wohl wichtigsten Menschen dieses Planeten. Hier ist für sie, zum
Anlass des 216. Jahrestags der absoluten Freiheit – Großkanzler
Ofrael Hult!"
Die Menge jubelte auf, und Erin kämpfte sich nun bis an die Absperrung hervor, und konnte sehen, was eben angekündigt wurde – der Großkanzler persönlich betrat das Rednerpult. Wie alle anderen begann Erin, mitzujubeln. Nach einigen Minuten des Applauses hob Hult seine Hand, und die große Menge flaute allmählich ab, um seinen Worten zu lauschen.
"Mein geliebtes Volk", begann er seine Rede, "es ist mir erneut eine große Ehre, euch gegenüber zu stehen, und mit euch, gemeinsam, als einer der Euren, den Tag unserer Freiheit zu celebrieren. Vor genau 216 Jahren, an diesem Platz, kämpften unsere Vorfahren für eine bessere Welt, für die Freiheit der Menschheit, und die absolute Herrschaft des Volkes. Und nun, seht euch um."
Hult
hob seine Arme, und erhob seine Stimme.
"Seht, was wir
geschaffen haben!"
Seine
Worte gingen über in tosende Jubelrufe und Applaus, und Hult
ließ seine Arme wieder sinken. Erin klammerte sich wie
angewurzelt an die Absperrung, ließ sich von der Ausstrahlung
des obersten Volksvertreters hypnotisieren. Der ließ den Jubel
noch ein wenig ausklingen, hob dann aber erneut seine Hand zur Ruhe,
um sogleich einen scharfen Befehlston anzunehmen, der sich an die
große Menge strammstehender Soldaten auf dem Platz
richtete.
"Alle Mann, Achtung!"
Das
synchrone Geräusch vom Stillstehen der Männer hallte durch
die vollkommen Straßen, und über den gesamten
Platz.
"Schultert das Gewehr!"
Gleichzeitig platzierten alle Soldaten ihr Gewehr auf der rechten Schulter.
"Rechts um!"
Der wohl am miesten erwartete Moment des Tages trat ein, alle Soldaten schlugen rechts um, um sogleich den Marsch zu eröffnen. Alle warteten darauf, dass der Großkanzler den Befehl zum Marschieren gab, doch blieb er still, und sah erwartungsvoll in die Menge. Nach kurzem Schweigen sprach er wieder ruhig in das Mikrofon zu den Menschen.
"Dieses
Jahr möchte ich ihnen, meinen Mitbürgern, die Ehre geben,
die Parade zu eröffnen. Den Befehl kennen sie alle, und ich
schlage vor, auf Drei geben sie ihn alle."
Der Großkanzler
begann langsam von Drei herunterzuzählen. Und auf Null brüllte
die ganze versammelte Menge förmlich:
"Mar-schieren!"
Mit diesen Worten setzte sich der große Soldatenzug in Bewegung. Erin fühlte sich, als hätte das Geräusch des Gleichschritts ihn in einer Welle erfasst, und beinahe umgeworfen. Auch die Menschen um ihn herum brauchten ein wenig, um die Feierrufe wieder aufzunehmen. Die Schritte der Soldaten gingen jedoch nicht unter. Links, rechts. Links, rechts. Es strahlte aus, was es damals bedeutet hatte. Freiheit, Gleichheit, Einigkeit. Erin schloss die Augen. Er war frei.
Nachdem die Bauleitergruppe ihren Arbeitsplatz gezeigt bekommen hatte, was eine Kommandozentrale mit großer angeschlossener Werkstatt war, wurde es ihnen gestattet, den Rest des Tages freizunehmen – was als selbstverständlich zu betrachten war, es war schließlich internationaler Feiertag. Zu dem gegebenen Anlass erkundigte Lilly sich bei ihrem neuen Kollegen Remus, ob er einen Ort zum Feiern empfehlen konnte. Im Verlauf dieses Gesprächs lud er Lilly sofort in eine lokale Bar ein, um mit ihr einerseits den Tag zu feiern, als sie auch mit den örtlichen Gepflogenheiten und Umständen bekannt zu machen.
Auf dem Weg in den von Remus vorgeschlagenen Ort, eine Bar die sich Lonely Wolf nannte, fiel Lilly bereits auf, wie sehr sich die Ringstation von der Erde unterschied. Anstelle von neutralen und einheitlichen Farben, waren in der Innenarchitektur eher dunkle und stimmige Farben vertreten. Die Leute waren stets am gestikulieren und lautstarkem reden, und wohl simple Argumentationen wirkten hier wie Alltagsgespräche. Doch obwohl man das Gefühl hatte, in einem großen Massenstreit geraten zu sein, griff sich niemand offensichtlich verbal an, und physisch gleich garnicht – im Gegenteil, die Menschen hier schienen geradezu Berührungsängste zu haben, was sehr obskur wirkte, da sie sich verbal ja metaphorisch geradezu in den Armen lagen. Nun war ihr auch klar, warum Remus sich verpflichtet fühlte, sie über die lokale Kultur aufzuklären – sie fühlte sich wirklich wie in einer anderen Welt. Zuhause hatte sie bereits einiges an Vorurteilen über die Bewohner der Venusstation gehört. Unter Anderem das sie gewalttätig, argressiv und streitsüchtig wären – so jemanden stellte man sich vor wie einen Schlägertypen, der nur eine Meinung kennt. Durch die bisherigen Begegnungen mit den aufbrausenden Passanten fühlte Lilly sich in diesem Bild bestätigt, doch das sollte sich bald ändern.
Einen
Fußmarsch von etwa 10 Minuten später kamen sie an einer
großen, blanken Wand an, an der sich lediglich eine etwas
breitere Tür mit einem Sichtschlitz befand, darüber ein
Schriftzug, der das Ziel markierte – The
Lonely Wolf.
Auf dem leuchtenden Schriftzug spazierte
zudem passenderweise ein Wolf, der wohl das Logo und Symbol der Bar
war. Remus mahnte Lilly mit einer kurzen Handgeste, sich neben ihn zu
stellen, und klopfte an der etwas größeren Tür an.
Hinter dem Sichtschlitz tauchte ein Gesicht auf, dass Remus mit einem
kurzen Blick musterte, worauf dieser nur gelassen grüßte:
"Na,
hallo! Remus Jadruk, ich bin eingetragener Gast bei euch. Und die
Dame neben mir, die ist mein Anhang."
Der Türsteher
antwortete mit einem Lächeln.
"Remus, schön dich
mal wieder zu sehen!", raunte er, und ließ den
Sichtschlitz zuschnellen.
Nur wenige
Sekundenbruchteile später zischte die Tür, schob sich zur
Seite und gewährte den beiden neuen Gästen Einlass. Remus
und der Türwächter klopften sich noch einmal kurz auf die
Schulter, während Lilly das Lokal betrat, und vor Verwunderung
beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Hinter ihr schloss sich der
Eingang, während sie die Einrichtung bestaunte – die war
gänzlich in einem bläulichen Stimmungslicht gedimmt, nur
einzelne Leuchten auf den Tischen und an der Bar erfüllten das
Ganze. Am Ende des Raumes jedoch schien das gedimmte Licht
weggewischt zu werden, denn dort stand eine kleine Bühne, auf
der ein klassischer Flügel – wenn auch mit leuchtend
blauen Tasten – die Musik durch das Lokal verspühte.
Gespielt wurde er von einem merkwürdig gekleideten Sänger,
der zwar eine kratzige, tiefe, aber durchaus angenehme Stimme hatte.
Alle Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet, soweit Lilly es sehen
konnte, also ging sie davon aus, dass er nicht nur für die
Hintergrundmusik zuständig sondern wohl ein gebuchter Auftritt
war. Remus schlängelte sich an ihr vorbei, und ermahnte sie im
vorbeigehen mit einem Finger auf den Lippen zur Ruhe. Wegen der
Musik, vermutete Lilly. Sie sah dem Blues singenden Mann auf der
Bühne noch ein wenig zu, bis ihr Begleiter sie zu der Bar wank.
Als sie vor ihm stand, beendete der Mann auf der Bühne im
Hintergrund sein Lied. Ein häuslicher Applaus machte sich breit,
eben so viel klatschen, wie es bei den vergleichsweise wenigen
Menschen möglich war – das Lokal war zwar nicht klein,
aber als groß ließ es sich auch nicht bezeichnen.
Beruhigt konnte Remus sie also in normaler Lautstärke anreden,
die sich auch mit dem Ende der Vorstellung wieder breit gemacht
hatte.
"Willst du irgendwas?", erkundigte er sich mit
einem Arm auf der Theke lehnend bei ihr.
"Ehrlich gesagt könnte ich etwas zu Essen vertragen.", gestand Lilly.
"Dann ist es wohl besser wir suchen uns einen Tisch."
Mit
diesen Worten lief er geradewegs auf die Tische zu, und ließ
sich auf den nächstbesten freien Stuhl fallen. Lilly folgte ihm
direkt, und gesellte sich zu ihm. Sie hörte sich um, und machte
eine interessante Feststellung, da die anderen Leute in diesem Laden
in vollkommen normaler Lautstärke sprachen. Das bemerkte ihr
Gegenüber, und kam auf das Thema zurück, was er vor einigen
Stunden schoneinmal angeschnitten hatte.
"Also, du willst
vermutlich wissen, wie das hier so läuft, stimmt's?"
Nur
mit einem Nicken bestätigte sie diese Frage, und Remus begann
mit einer ausführlichen Erklärung.
"Da du es ja
gerade schon gemerkt hast – eine Besonderheit der Menschen hier
ist definitiv die Lautstärke und Überemotionalität in
den Gesprächen. Aber wie du es schon gemerkt hast, so wird nur
in der Öffentlichkeit gesprochen. In den eigenen vier Wänden
nicht – oder, sagen wir es so, zumindest nicht mit der Familie.
Warum die Leute hier aber so still sind, hat einen anderen Grund. Die
Musik, die du vorhin gehört hast, ist hier purer Kult. Der Venus
Blues,
wie man ihn zuerst scherzhaft, aber mittlerweile offiziell nennt,
bedeutet den Leuten hier sehr viel. Es geht dabei auch weniger um die
Musik an sich, sondern darum, sich von der Arbeit zu entspannen und
mal mit seinen Liebsten was zu unternehmen – das können
Freunde, Familie oder beides zusammen sein. Denn genauso wie überall
ist hier die selbe Arbeitssituation, alltägliche Routine die man
irgendwie unterbricht. Und so wie ihr auf der Erde gemeinnützige
Arbeit leistet, so setzt man sich hier eben
in die Bluesbar,
und genießt seine Freizeit bei heimischer Musik und gutem
Essen."
Er unterbrach kurz, und
sah sich um. Mit ein wenig gedämpfter Stimme fuhr er fort.
"Aber
noch wichtiger, ist diese Sache mit dem argressiv sein. Das ist ein
einfaches Vorurteil, was faktisch gesehen sogar dem Gegenteil
entspricht. Jemand, der hier aufwächst, enwickelt vorallem zwei
wichtige Eigenschaften – Loyalität, und absolute
Friedfertigkeit. Denn hier wird ein Streit anders gelöst als bei
uns. Wenn du dich hier mit jemandem auseinandersetzt, wird es nicht
lange dauern, bis er dich in die Arena einlädt. Dort bekommt ihr
dann eine Art Boxring für euch, und werdet euch den Konflikt von
der Seele prügeln. Das klingt sehr verrückt, aber es ist
fördernder als du denkst. Der Kampf selbst ist natürlich
strikten Regeln unterworfen – sobald einer der beiden auf den
Boden geht, ist der Kampf beendet und der Sieger entschieden. Danach
noch zuzuschlagen oder ähnliches, wird hier mit harten Strafen
geahndet, und das nicht nur aus ehrwürdigen Gründen. Die
Regeln besagen dann aber noch was anderes – der Gewinner muss
dem Verlierer die Wunden verarzten, und so behandeln, bis er wieder
vollkommen in Ordnung ist. Das baut den gegenseitigen Respekt wieder
auf, und es ist nicht selten, das man sich danach gut anfreundet. Ich
kenne sogar ein Ehepaar, dass sich so kennengelernt hat, verrückt,
was?"
Mit einer nachdenklichen Miene dachte Lilly über diese Eigenartigkeiten nach.
"Jedenfalls",
fuhr Remus fort, "ist es definitiv so, dass einem so beigebracht
wird, seine Argression zu unterdrücken. Man muss sie zwar nach
wie vor rauslassen, dass aber unter einer disziplinierten
Vorraussetzung und letzenendes mit einer guten Wirkung für beide
Parteien."
"Und das funktioniert wirklich?", warf
sie ein.
"Naja, muss es wohl. Schließlich werden die
Arenen nun nurnoch vergleichsweise selten benutzt. In der Anfangszeit
von diesem Konzept wurde da quasi im Minutentakt gekämpft, heute
aber kommt es garnicht mehr dazu. Den Kindern wird von Anfang an
beigebracht, Wut zu beherrschen oder gar zu vermeiden, und wenn es
tatsächlich nicht gehen sollte, sind die Arenen die Lösung."
"Nicht schlecht.", bemerkte Lilly.
"Naja", fügte sie hinzu, "entschuldige mich kurz, ich bin eben telefonieren."
Mittlerweile war es dunkel geworden, und die feiernden Mengen gingen in der langsam aufkommenden Kälte von den Straßen, nach Hause, in Bars oder Restaurants, die zu diesem Feiertag immer nachts durch geöffnet hatten. Nach dem zweistündigen Freiheitsmarsch war eine Konzertreihe im Stadion eröffnet worden, aber dafür hatte Erin eher weniger Interesse. Um mehr von dieser historischen Stimmung aufzuschnappen, kam ihm die Idee ein Kino aufzusuchen – jährlich zu diesem Feiertag wurden ausschließlich Archivaufnahmen und Spielfilme mit dem Thema Umsturz gezeigt. Das war die beste Wahl, dachte er sich, und machte sich daran die Metro aufzusuchen. Er war immernoch in der Nähe des Freiheitsplatzes, und es war selbstverständlich, dass der eine eigene Metrostation besaß, also machte Erin sich gleich auf den Weg.
Auf halbem Weg jedoch meldete sich ein elektrisches Geräusch. Er hatte seinen Transmitter wie eine Armbanduhr angelegt, der in diesem Moment klingelte. Mit einer lässigen Bewegung legte er seinen Arm quer auf Brusthöhe, betätigte einen Knopf und das Hologramm erschien vor seinem Gesicht. Dort erschien der animierte Telefonhörer, so wie er ihn von seiner Arbeit im Service-Center bei Southberg kannte. Mit einem Knopfdruck eröffnete er das Gespräch, und sah in das grinsende Gesicht seiner Freundin Lilly, die ihn stürmisch begrüßte.
"Erin! Hey. Tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber ich war kurz davor es zu vergessen."
Sie stand allein vor einer leeren Wand, im Hintergrund war jedoch Gemurmel zu hören.
"Und, wo bist du?", fragte Erin.
"In einer Bar, um den Tag zu feiern. Einer von meinen Kollegen ist hier wohl öfters, und hat ich mitgenommen."
Kurzes Schweigen folgte, da er die Treppe zur Metro erreicht hatte und sie mit vergleichsweise schnellem Schritt herunterstieg.
"Wo bist du gerade?"
Erin sah kurz auf die Abfahrtafel, um zu sehen, wann der nächste Zug fahren würde. Es waren nur wenige Minuten.
"Am Friedensplatz.", gab er zurück.
Lilly begann zu lächeln,
und erkundigte sich mit Freuden:
"Du hast die Parade vor dem
Regierungsgebäude gesehen?"
"Ja, es war unglaublich. Aber es ist schade, dass ich sie mir nur allein anschauen konnte."
Nun folgte eine etwas längere Schweigepause.
"Ich bin zwar erst
seit einem Tag hier, aber du fehlst mir."
"Du fehlst mir
auch.", gab Erin sofort zurück.
Am Ende das Bahnsteiges klackerten die Schienen, und der vordere Teil des Zuges fuhr in den Bahnhof ein. Der weiße glänzende Untergrundzug glitt lautlos über die Gleise aus dem Tunnel, bis er seine gesamte Länge über den Bahnsteig verteilt hatte. Das familiäre Zischen der Türen erklang durch die unterirdische Halle, und Erin lief durch die vor ihm platzierte Tür. Lilly bemerkte diese Geste, und ging darauf ein.
"Wohin fährst
du?"
"Ins Kino. Archivmaterial ansehen, du weißt
schon."
Im Korridor des Zuges sah Erin sich wie gewohnt kurz
um, sah aber wesentlich weniger Leute als im normalen Betrieb. Da
freie Platzwahl herrschte, setzte er sich auf den nächstgelegenen
Platz, und sah seine Gesprächspartnerin wieder an, mit der die
Unterhaltung fortsetzte.
"Erzähl' mir ein wenig von
deiner Arbeit. Was musst du eigentlich machen?"
"Naja, also wir sind mehrere Bauleiter, die in verschiedene Bereiche eingeteilt ist. Der Kollege mit dem ich hier bin, Remus, ist zum Beispiel für die direkte Fertigung zuständig, in der Werkstatt, also er baut die Pläne, die aus dem Entwurfsbüro kommen, was dann der nächste Bereich ist, der wird von... wie hieß er doch gleich? Hagzar Chiron, genau, der leitet diese Gruppe. Ylana und Norman teilen sich die Logistikgruppe, Ylana versorgt die Fertigung mit Material und Norman ist für meinen Nachschub zuständig, ich bin ja ausgebildete Drohnenpilotin, also leite ich die Gruppe die die Satelliten mit den Solarzellen dann in ihre richtige Position fliegt – es ist viel Mathematik, aber es macht Spaß."
"Und wo genau arbeitest du?"
"Du kannst dir das wie eine Art Kommandozentrale vorstellen. An einer großen Reihe von Schaltpulten sitzen die Drohnenpiloten und fliegen an den Kameras und Computern mit den Gerätschaften, ich stehe hinter ihnen im Raum, gebe die Anweisungen und kann wenn nötig jemanden darauf hinweisen, was er falsch macht. Ausserdem habe ich eine Art Kartentisch – du weißt schon, wie die Offiziere auf einem Raumschiff – auf dem ich die Positionen und Umlaufbahnen für die Satelliten berechne, bevor eine der Drohnen sie dort überhaupt hinfliegt."
"Klingt nach schwerer Verantwortung.", träumte Erin vor sich hin.
Lilly nickte nur, und sah
dann jemanden ausserhalb des Bildes an. Offenbar hatte jemand nach
ihr gerufen. Sie lieferte sich eine Diskussion mit ihrem
Gesprächspartner, dass er doch einfach einmal herkommen sollte,
was dieser die ersten Momente stets verneinte. Nach ein paar
ermutigenden Worten gewann sie jedoch die kleine
Meinungsverschiedenheit, und ein Mann nahm den Platz neben ihr ein.
Sie begann damit, ihn vorzustellen.
"Erin, das ist Remus.
Bauleiter der Fertigungsgruppe."
Der Mann lächelte
kumpelhaft in die Linse, und hob seine Hand.
"Remus, das ist Erin, der beste Freund seit meiner Jugend. Er arbeitet bei Southberg Technologies, beim Service."
Nickend bestätigte Erin diese Aussage.
"Southberg",
bemerkte Remus, "ich mag eure Produkte. Eure Transmitter sind
wirklich die Besten."
"Danke.", antwortete Erin
anerkennend aber auch ein wenig verlegen – schließlich
waren das nicht seine Produkte.
Das Gespräch wurde
noch mit ein paar weiteren Belanglosigkeiten fortgeführt, bis
Remus anmerkte, das gleich einer der wohl besten Künstler
auftreten würde. Während Remus sich entfernte, begann Lilly
sich zu verabschieden.
"Ich melde mich die Tage, wenn ich es
hinbekomme. Am Anfang wird es ein ziemlicher Stress, weil hier noch
nicht alles aufgebaut ist und sowas. Aber wenn wir dann erstmal
eingearbeitet sind, melde ich mich jeden Tag, versprochen!"
"Schon gut, lass'
dir die Zeit die du brauchst. Viel Spaß noch."
Mit
diesen Worten wurde die Verbindung gekappt, und Erin ließ
seinen Transmitter wieder in die Manteltasche gleiten. Der Metrozug
fuhr mit seinem gewohnten Klacken durch den Tunnel, und sein Blick
wanderte aus dem Fenster, wo er nur die vorbeiziehenden Tunnelwände
begutachten konnte. Die auf Band gespielte Durchsage kündigte
die nächste Station an, und Erin lehnte sich zurück, da er
noch weiterfahren musste.
Remus und Lilly saßen
wieder am Tisch, waren jedoch genauso totenstill wie auch der Raum
des Lokals um sie herum. Das Licht wurde in diesem Moment
heruntergedimmt, während ein grünlicher Schimmer die Bühne
am Ende des Raumes, in der Ecke, erleuchtete. Zwei Musiker betraten
den Absatz, einer nahm Platz am Schlagzeug, während der andere
mit ein paar leisen Tönen begann, das Klavier zu stimmen, um zu
sehen, ob es für die nächste Darbietung bereit war. Nach
diesem Vorgang öffnete sich an der Bühnenwand die Tür
zur Garderobe, und aus ihr trat eine hochgewachsene Frau hervor. Sie
war gehüllt in ein grün schimmerndes Kleid, das dem Licht
entgegenzuleuchten schien. Als sie den für sie vorgesehenen
Punkt auf der Bühne erreicht hatte, klopfte sie ein paar mal
sanft auf das Mikrofon, und begrüßte die Anwesenden
Zuhörer.
"Einen schönen guten Abend, an euch alle
hier im verzaubernden Lonely Wolf. Auch, wenn mich die
Mehrheit hier wohl schon kennt, stelle ich mich vor – Alyx
Dreeds, zuständig für ihre Unterhaltung für den Rest
des Abends."
Ein zurückhaltender, aber respektvoller
Applaus hallte durch den Raum, und der Schlagzeuger begann, den Takt
vorzugeben. Mit einem Mal setzte das Klavier, und die kraftvolle
Stimme von Alyx ein. Ein ruhiger Jazzsong strömte aus den
Lautsprechern.
Remus drehte sich wieder zum Tisch, und genoss weiter sein Essen, während Lilly ihren Blick nicht von der Sängerin abwenden konnte – ihre Ausstrahlung wirkte auf sie so blendend, hypnotisierend. Im Raum war es so still, wie in dem Moment, als sie ihn betreten hatten. Wenn Künstler auftraten, wagte es tatsächlich niemand, zu reden. Die meisten hörten konzentriert oder abwesend zu, einige widmeten sich ihren Getränken oder Speisen – hauptsache, man entspannte sich. Lilly fing die Wirkung dieser Bluesbars nun auf, und erkannte, weshalb diese eine so große Bedeutung hier spielten. Die Idee gefiel ihr, und in ihrem Kopf machte sich ein Gedanke breit – wenn sie nach dem Projekt wieder zuhause auf der Erde war, würde sie sich umhören, ob es solche Bars auch dort gab.
Genau in dem Moment, als ihr Gedankengang endete, war auch das Lied das die Band von sich gab, am Ende angelangt. Auf den Applaus antwortete Alyx mit einer Verbeugung, bis wieder Ruhe einkehrte. Allerdings wurde nun in den Reihen der Gäste gemurmelt, irgendetwas würde wohl nun passieren, was das Reden wieder duldete. In diesem Augenblick gingen einige freie Kellner zu den Tischen unmittelbar vor der Bühne, verschoben sie mitsamt dem Essen und Stühlen an einen anderen Platz, und räumten die Fläche vor der Bühne. Alyx klatschte zweimal sachte in die Hände, und das Licht das die Bühne beleuchtete, schimmerte nun anstatt grün in rot – und ihr Kleid passte sich an diese neue Farbe an. Vor Begeisterung von dieser Raffinesse musste Lilly breit auflächeln, und konnte sich denken, das eine Tanzfläche entstanden war. Die Sängerin legte mit Fingerschnipsern einen vergleichsweise schnellen Takt vor, und ein wesentlich tanzbarer, schneller Jazzsong wurde eingespielt. Eine gute Anzahl von Pärchen stand auf, betrat die neu geschaffene Tanzfläche, und tanzte mit einem Lächeln auf dem Gesicht zur neu gespielten Musik. Lillys Kopf neigte sich zur Musik leicht hin und her, während Remus Fingerspitzen im Takt auf den Tisch klopften. Er hatte sich mittlerweile auch wieder umgedreht, und betrachtete im Wechsel die tanzenden Gäste und die Band. Nach ein paar Minuten drehte er sich jedoch zu Lilly um, als wäre ihm ein Geistesblitz gekommen. Er stand auf, schritt auf die andere Seite des Tisches, und deutete Lilly Gegenüber eine schwache Verbeugung an, während er ihr eine Hand reichte. Sie sah ihn mit einem sarkastischen Lachen an, stand jedoch auf und ließ sich zur Tanzfläche entführen. Die beiden reihten sich unauffällig ein, und begannen – wenn auch etwas unbegabt – zum Takt der Musik zu tanzen, und versüßten die Stimmung des Abends zur Feierlaune, die Lilly sich verhofft hatte.
Während dieses musikalischen Zeitvertreibs ordnete Lilly einmal ihre Gedanken neu, und dachte darüber nach, was die nächste Zeit wohl alles bringen würde. Die Arbeit in der Drohnenkontrolle würde vermutlich ziemlich abwechslungsreich sein, wenn auch stressig. Die Gestaltung ihrer Freizeit war jedoch etwas, was sie sich besonders überlegen wollte.
Ein großer Raum, mit ungewöhnlich hohen Decken, Schreibtische über den Boden verteilt und ein großes Logo auf dem Boden, sowie noch einmal im kleineren Maßstab an der Wand. Das Symbol waren zwei gekreuzte Gewehre, die über einem Kranz lagen. In der Mitte dieser Zeichen lag senkrecht eine Lupe, und über diesem gesamten Zeichen prangten die Buchstaben "MKA".
Das Büro einer großen Ermittlungsbehörde hatte hier ihren Sitz, die Militärische Kriminalregulierungsabteilung, kurz MKA. Was auf den ersten Blick wie eine vollkommen neue Behörde schien, war nur der neue Begriff für "Militärpolizei". Eine Besonderheit ergab sich jedoch – eine zivilie Polizei gab es in dem Sinne nichtmehr, dieser Zweck wurde auch vom Militär übernommen. Nicht vom MKA, sondern von einem Polizeikorps, dass man als Anlehnung an alte Behörden der Zeit vor dem Umsturz auch gerne "Miliz" nannte. Somit gab es im öffentlichen Dienst zwei uniformierte Behörden, die MKA und das PK oder eben auch Miliz genannt. Das Polizeikorps war für alle Zivilverbrechen verantwortlich, rechtlich gesehen zuständig für das, was eine Polizei nunmal alles zutun hat. Die MKA ist für selbige Verbrechen verantwortlich, jedoch nicht im zivilen, sondern militärischen Sektor. Jedoch gibt es auch da Ausnahmen, die sich in der Gesetzeslage überschneiden. Es ist beispielsweise egal, ob ein Soldat ein Vebrechen an einem Zivilisten oder ein Zivilist eines an einem Soldaten begeht, dann sind unwillkürlich beide Behörden ermittlungsbefugt, beziehungsweise ermittlungsverpflichtet. Nur wenn der eine dem selbigen etwas antut, ist die andere Behörde nicht hinzuzuziehen. Aber auch in den Grundaufgaben haben Beamte beider Behörden die gleichen Befugnisse, es ist zum Beispiel bei Grunddelikten wie dem Überschreiten eines Tempolimits egal, ob ein Soldat des Polizeikorps – im Volksmund nun mittlerweile anstatt Polizist "Polizeisoldat" –, oder ein Agent des MKA jemanden bei einem solchen Vorfall ertappt, beide sind handlungsermächtigt.
Und in eben jenes Büro der Behörde, der große Arbeitsplatz eines jeden Agenten, trat ein bekanntes Gesicht ein. Zachariah Flint Maxwood, von Kollegen meist nur "Zach" oder "Max" genannt, seinerseits Superagent ausgezeichnet mit der Verdienstmedaille zweiten Grades. Was wie die Beschreibung eines Superhelden aus einem Comic der 1980er-Jahre wirkte, war förmliche Wirklichkeit. Anstatt eines breiten Schrankes von Orden gab es für Ehrungen nur die "Verdienstmedaille" zu verleihen, in drei Graden, je niedriger der Grad, desto höher die Auszeichnung. Auch sein Rang war real, der des Superagenten. Die Kette war Junioragent, Agent, Superagent, Chefagent. Das waren die Standardränge, die bei der MKA existierten, wobei es auch einige Spezialränge wie den Feldagenten oder den Agenten erster Klasse gab, welche allerdings nur in Militäreinheiten direkt existierten und auch nur im Feld, also im Kriegsfall, ermittelten. Zudem gab es neben den Agenten in der Behörde auch ganz "normale" Armeeangehörige in den Reihen der MKA, die sich die Position des Junioragenten – und allen darauf folgenden Rängen – erarbeiten mussten. Das Aufnahmeverfahren war recht simpel – man musste der Armee angehören, der Rang spielte hierbei keine Rolle. Man bewarb sich zu einem Auswahltest, und wurde man angenommen, begann man als Junioragent die Arbeit der MKA zu erlernen, dann wurde man einer der Mannschaften oder auch Teams, zugeteilt, die jeweils von einem Chefagenten geleitet wurden.
Zach war erst seit ein paar Monaten in seinem Team, war jedoch schon allseits beliebt. Den hohen Rang und sein allgemeines Ansehen trotz seiner zarten frühen 20er verdankte er seiner ausgesprochen hohen Intelligenz, der einjährigen Karriere in einer Spezialeinheit beim Militär und einem kniffligen Fall, den er mit Leichtigkeit löste. Er lief mit einem selbstsicheren Gang und einem Kaffee in der Hand von der Treppe zu seinem Schreibtisch, in die eingegrenzte Bucht, die seiner Mannschaft zugeteilt war. Trotz das er wesentlich zu spät war, stolzierte er mit vergleichsweiser stolzer Miene zu seinen Kollegen, die bereits an ihrem Schreibtisch und Holo-Computer ihre Arbeit verrichteten. Mit ihm und seinem Chef, gab es noch zwei andere in seinem Team. Agent Neyna Sleigh, unter Kollegen wegen ihrer Dauerguten Laune allerdings nur "Joy" genannt. Sie war bereits über die 30 Lebensjahre hinaus, optisch ging man jedoch davon aus, dass sie auf diese Zahl gerade erst allmählich zukam. Sein anderer Kollege war Agent Sovrin Crown, geboren auf einer der Saturn-Asteroidenstationen. Sovrin, oder auch einfach nur "Sov", war in der ganzen Behörde bekannt, nämlich durch das, durch das er sein Team bekannt gemacht hatte – sein Hund Miffy. Der war von Chefagent Wyrn, also dem Teamleiter von den Dreien, spontan als eine Art Polizeihund genehmigt worden. Im Grunde war das aber nur ein Entgegenkommen für Sov, da Miffy einfach nur von dem Tag an mit zur Arbeit kam – sie bekam einen Korb inmitten der Schreibtische, einen Fressnapf und ein wenig Spielzeug. Sov war es einfach leid, sie den ganzen Tag über allein zuhause zu lassen, somit wurde Miffy quasi das Hausmaskottchen dieses MKA-Sitzes.
Zach klopfte bei Joy kurz auf den Tisch, empfing einen kurzen Gegengruß, salutierte scherzhaft vor Sov, und kraulte einmal kurz Miffy über den Kopf mit seinem alltäglichen Gruß: "Na, kleiner Krawallmacher?"
Dann nahm er an seinem Schreibtisch platz, stupste sich mit dem rollenden Stuhl vom Tisch weg und zog ein paar Grimassen, während er den Holo-Computer startete, der gleich vor seinem Gesicht aufploppte. Chefagent Wyrn hatte im Hintergrund bis zu jenem Moment telefoniert, ließ das Bild nun jedoch gerade verschwinden und machte eine argwöhnische Bemerkung zu dem eben angekommenen Zach.
"Flint, du bist zu spät."
"Ich weiß. Ich bin immer zu spät."
"Das weiß ich auch, aber ich muss dir das sagen. Vorschriften."
Der zuerst, wenn auch leicht gestellt, besorgte Gesichtsausdruck wandte sich in ein ironsiches Grinsen, Zach gab das Passwort zum Anmelden ein, während Wyrn aufstand und in eine andere Sektion verschwand.
Schwerfällig und mit zusammengekniffenen Augen hob Erin seinen Kopf ein Stück an, und sah an die Decke, wo sein Wecker die Uhrzeit projezierte. Ein angenehmes Gefühl machte sich bei ihm breit, als er den Kopf wieder in sein Kissen sinken ließ und feststellte, dass er überpünktlich aufgewacht war. Er entschied sich zunächst, einfach liegen zu bleiben und seine wichtigsten Funktionen auf Touren zu bringen. Nachdem er einmal kurz gegähnt und sich gestreckt hatte, griff er nach der Fernbedienung auf dem gläsernen Nachttisch, und schaltete mit dieser den Holo-Projektor an der Decke ein. Der warf sogleich ein Fernsehbild an die Wand links neben ihm. Verschlafen rieb Erin sich ein Auge, drückte einen Knopf auf dem Schaltgerät und der oben montierte Projektor richtete sich mit einem Drehmechanismus neu aus, auf die Wand vor seinem Bett, justierte das Bild aufgrund der neuen Entfernung zu einer anderen Größe und strahlte schließlich ein klares Bild – im Moment war ein zufälliger Sender ausgewählt, der eine Zeichentrickserie austrahlte. Erin jedoch ignorierte das, klickte sich mit der Fernbedienung durch einige Menüs und das TV-Bild verschwand. Stattdessen klickte er drei leere Fenster auf. Im ersten erschienen nach ein paar Sekunden Ladezeit die heutigen Wetterdaten, in der Mitte eine Art lokaler Nachrichtenteil die über Veranstaltungen und ähnliches informierte, das letzte Fenster hatte eine Senderauswahl. Unter diesem benutzerdefinierten Anblick war zudem noch die Uhrzeit eingeblendet, ausserdem tickerten am unteren Bildschirmrand die Nachrichten durch. Mit ein paar Klicks änderte Erin die Senderauswahl in eine neue Liste, die nun Radiosender anzeigte, von denen er sich seinen altbekannten aussuchte, der sich ganz simpel "Musik24" nannte. Warum gerade dieser Sender, war schnell erklärt, er hatte weder Moderatoren die dazwischenredeten sowie keine Werbung, einfach ein purer Musiksender. Der lief nun über die in seiner Wohnung installierte Lautsprecheranlage, wenn auch schön leise, um in der morgentlichen Wohlfühllaune zu bleiben.
Nach dem kurzen einprägen des Wetters war Erin aufgestanden, und war unter die Dusche geschlüpft, nachdem er eine Tasse Kaffee zum abkühlen in der Küche zurückgelassen hatte. Die Musik hatte er nun etwas lauter gedreht, dafür aber auch nur auf die Lautsprecher im Badezimmer gelegt. Die warme Ladung Wasser aus der Dusche prasselte auf Erins Rücken, und der angenehme Wasserdunst war mittlerweile im ganzen Zimmer verteilt. Mit einem Handtuch schritt er aus der kleinen gläsernen Duschkabine, pfiff ausgelassen zur Musik mit und säuberte den angelaufenen Spiegel über dem kantigen Waschbecken mit ein paar Wischbewegungen. In diesem Moment sah Erin sich in die Augen, und erstarrte ein wenig.
Er musterte sich aufmerksam. Mit ein paar aufmerksamen Blicken inspizierte er seine Gesichtszüge, indem er seinen Kopf ein wenig zur Seite drehte. Schließlich fuhr er sich einmal mit seiner Hand durch die Haare, die gerade noch nass von der Dusche waren. Die Haare standen nun nach oben, was Erin zu einem kleinen Lächeln animierte. Er dachte darüber nach, wie er vor längerer Zeit noch in der Schule war, und am Abend seines letzten Schultages genau solch einen Blick in den Spiegel warf, mit der Selbstnotiz "Präg' es dir ein, du wirst nie wieder so jung sein". Da das nun einige Jahre zurücklag, war es für ihn wie ein Déjà-Vu, und zeigte ihm auf, wie ihn diese Zeit geprägt hatte. Schon sehr früh war für ihn beispielsweise die Branche der Unterhaltungselektronik sympathisch. Das er aber bei Southberg Technologies im Service gelandet war, enttäuschte ihn ab und zu. Die Arbeit an sich machte zwar Spaß, doch die Kollegen waren eher in sich gekehrt, als das sie ihn wie einen Freund behandeln könnten. Des öfteren hatte er darüber nachgedacht, den Beruf zu wechseln. Vielleicht hauptberuflich Bibliothekar werden, oder zumindest in einem Beruf arbeiten, wo mehr Menschenkontakt im Vordergrund stand – was paradox war, da er schließlich schon einen Job, der Umgang mit Menschen beinhaltete besaß, aber für ihn waren die Kunden von Southberg nüchtern betrachtet nur Objekte, sprechende Objekte die ihm jeden Tag Fragen zur Technik der Firma stellten. Der Berufswechsel stand jedoch eindeutig in den Sternen, da ihm der Mut für diese Entscheidung fehlte. Jetzt war er kein frischer Schulabgänger mehr, der jederzeit einen Beruf erlernen konnte, nun musste er schon wesentlich mehr überlegen, ob es sich lohnen würde, eine Ausbildung oder eine Umschulung in Kauf zu nehmen.
Während dieses Gedankengangs hatte er seinen Körper komplett getrocknet, einmal kurz durch seine überschauliche Haarpracht geföhnt und war nun dabei, die Frisur zum sitzen zu bringen.
Nachdem er sich angezogen hatte, schritt er wieder in seine ans Wohnzimmer angeschlossene Küche. Er stellte sich auf einem kleinen Teller eine Frühstücksauswahl zusammen, die bestand aus kleinen Happen von Keksen und ähnlichen schnell verfügbaren Speisen, die sich zur morgentlichen Mahlzeit anboten. Mit entspannter Miene begann er, an dem Kaffee zu trinken, den er vor seiner wärmenden Dusche vorbereitet hatte.
Auch Lilly nippte in diesem Moment an einem Kaffee – jedoch nicht aus einer Tasse, sondern einem klassischen To-Go-Becher, den sie bei einem Café auf dem Arbeitsweg mitgenommen hatte. Sie war nun schon eine Stunde im Kontrollzentrum, und hatte begonnen, ihr zugewiesenes Team einzuweisen. Die Drohnen waren gerade auf Testflügen unterwegs, die Piloten saßen also konzentriert an ihren Schaltpulten und flogen umher, als würden sie ein Videospiel an einem Automaten spielen, um die Grenzen ihrer Arbeitsgeräte zu erproben. Lilly musste sich in ihre Routine einarbeiten, lehnte wie ein General über seiner Gefechtskarte über ihrer Sternenkarte, auf der sie mit Zirkel, Linealen und anderen Hilfsmitteln Berechnungen anstellen musste. Eines stand fest – ohne mathematische Fachkenntnisse wäre man als Bauleiter in einer Firma wie der FSRG aufgeschmissen gewesen, doch Lilly konnte ihren Fachabschluss in Mathematik und Handwerk vorweisen, was ihr diesen Posten schließlich verschafft hatte.
Technische Berufe waren mittlerweile den Frauen garnichtmehr so fremd, die Quote von Frauen lag schon nahe bei fünfzig Prozent in technischen Berufen. Schließlich war nun einfach keine körperliche Kraft mehr gefragt, da man für die Arbeit im Handwerksbereich – bis auf einige wenige, beispielsweise traditionelle Ausnahmen – Maschinen verwendete. Und Maschinen konnte jeder bedienen, unabhängig von Geschlecht und Körperbau, so war es eine logische Konsequenz, dass es zu einem beliebten Berufsfeld wurde.
Was Lilly jedoch auch an der Technik und Firmen wie der FSRG reizte, war die zu tragende Verantwortung gegenüber dem Allgemeinwohl. Mit diesem großen Bauprojekt was hier in Gang gesetzt wurde, sorgte sie dafür, dass daheim auf der Erde und auch auf den anderen Stationen das Licht brannte. Eine große Menge an Fördergeldern hatte ihnen der Staat zu Verfügung gestellt, damit man die Sonnenenergie in noch viel größeren Maßstäben nutzen konnte. Das Projekt, dass sie führten, sollte eine Art Solarfarm in großer Nähe zur Sonne aufbauen. Satelliten bestückt mit riesigen Solarzellen wandelten Sonnenlicht in Energie um. Diese Energie widerrum wurde gespeichert, in sogenannten Tesla-Containern, eine der großen Erfindungen dieser Zeit – sie ermöglichten es, Energie zu speichern und somit zu transportieren. Die Tesla-Container sahen aus wie gewöhnliche Container, bis auf den Umstand, dass sie innen eine große Spule beinhalteten, die gerne mal ein paar Blitze entlud. Diese Container konnten an Adapter angeschlossen werden, die widerrum den Strom in das Netz speisten. Die Tesla-Container konnten aber nicht von jedem beliebigen Schiff geflogen werden, da sie schließlich Strom leiteten. Es gab spezielle Energietransporter, die an einer Breitseite eine große ausgehöhlte Fläche besaßen, an denen diese Energiecontainer angedockt und transportiert wurden.
Die Fördergelder kamen allerdings nicht nur von der Regierung, sondern beteiligten sich einige private Investoren ebenso. Es gab vorallem einen großen Hauptinvestor, eine adlige Familie von der Neptunstation, die den Namen e Ured trug. Die Gräfin Kathryna e Ured, somit das Familienoberhaupt, war eine bekannte Investorin im Energiegeschäft, sie selbst leitete einmal einen kleine Firma mit Schwerpunkt Energiespeicherung- und transport.
Der
Gedanke an diese Leute brachte Lilly in den leichten Status von
Nervosität. Die Gräfin Kathryna e Ured hatte sich nämlich
als Besuch angekündigt, in den nächsten Tagen würde
sie nämlich inspizieren, wie die Baumannschaft hier ihren
Betrieb aufnehmen würde.
Es war nicht etwa so, dass sie die
Kompetenz der Bautrupps anzweifelte, sodass sie keine wirklichen
Leistungen vorzeigen konnten, es ging ihr nur um den Umstand, dass
sie schon wieder ein fremdes Gesicht kennenlernen musste. Allein
schon bei der Einweisung ihrer Drohnenpiloten stand sie förmlich
unter Strom, aber wenn eine ihr im Prinzip Vorgesetzte jetzt auch
noch dazukam, war sie sich nicht sicher, ob sie bei diesem Termin
anwesend sein könnte. Sie nahm einen weiteren Schluck von dem
Kaffee, den sie immernoch in der Hand hielt, während sie mit
analytischen Blick die Karte mit ihren Augen studierte. Wenn ihr
etwas an der Laufbahn auffiel, die sie eben gezeichnet hatte, nahm
sie kurz den Leuchtstift in ihre freie Hand und verbesserte ein paar
Stellen, die sie eben eingezeichnet hatte. Während dieser
Prozedur wurde sie aus ihrer Konzentration gerissen, als einer der
Drohnenpiloten die Hand hob –
er schien eine Frage zu haben. Lilly stellte ihr Getränk
vorsichtig ab, lief zu dem Kontrollpult und stand dem Piloten zur
Seite, der meldete, dass seine Drohne sich zu langsam ausrichten
würde. Sie schnappte sich das Funkgerät an der Konsole,
machte eine förmliche Meldung an das Reparaturteam und schon war
die Angelegenheit erledigt.
Pflichtbewusst ging sie zum Kartentisch zurück und bemerkte schon aus diesem flüchtigen Winkel einen Fehler, der in ihren Augen nicht wirklich harmlos war. Also griff sie am Tisch anstatt zum Kaffee zu einem kleinen Zirkel, einem Stift und einem Lineal, um eine Korrektur vorzunehmen.
Zachs Finger tippten geschickt auf der Holo-Tastatur herum, und sein Gesicht sah von einem Moment auf den anderen motiviert, und dann genervt aus.
"Papierkram",
stöhne er, "ich mag Papierkram. Wisst ihr warum?"
Sov
und Chef Wyrn blieben kommentarlos bei ihrer Arbeit, während Joy
ihr Tippen kurz unterbrach und auf Zachs Bemerkung einging.
"Nein,
wir wissen nicht, warum du es so magst. Aber du wirst es uns gleich
verraten."
Mit
nachdenklichem Gesicht starrte Zach durch seinen Bildschirm
hindurch.
"Ich mag ihn, weil er so viele Buchstaben hat.
Buchstaben, Zahlen, und die ganzen anderen Dinge, weshalb ich ihn
einfach nur mögen kann."
"Natürlich",
warf Sov nun ein, "und weil du Papierkram so gern magst,
erledigen wir immer doppelt so viel wie du."
"Hey, ich
bin vielleicht langsam, aber ich bin sorgfältig."
Chefagent
Wyrn warf Zach ungefragt einen Bericht auf den Tisch, und
rechtfertigte sich:
"Auch falsch. Der hier ist vollkommen
falsch ausgefüllt."
Mit einem schadenfreudigen Lächeln gingen Joy und Sov wieder an die Arbeit, während Zach mit einer Grimasse den Bericht durchlas, und feststellte, dass er tatsächlich einige Fehler begangen hatte. Gerade als er anfangen wollte, den Bericht einzuscannen, traten jedoch zwei Männer in den Bürokomplex ein, was für ihn die Erlösung bedeutete. Die beiden waren mit einem zivilen Dienstwagen auf Streife gewesen, sie gehörten zu einem anderen Team – und nach der Liste waren nun Zach und Joy dran. Ungefragt schalteten beide ihre Holo-Computer ab, und schnallten sich ihre Ausrüstungsgürtel um.
Das Equipment eines MKA-Agenten unterschied sich im wesentlichen kaum von der eines Polizeisoldaten. Eine Dienstmarke, eine kleine Taschenlampe, einen Notizblock mit passender Halterung am Gürtel, ein Paar Handschellen und dann noch die Bewaffnung – der einzigste Punkt, wo sich die MKA-Ausrütung von der des Polizeikorps unterschied. Das Polizeikorps trug einen Schlagstock und eine Elektroschockpistole, auch Tazer genannt. Ein MKA-Agent jedoch trug eine Feuerwaffe, eine Pistole der Marke Unimun, die Standardpistole des Militärs. Das erklärte sich durch den Zuständigkeitsbereich im Zivilen und im Militärischen.
Joy ging bereits voraus, während Zach noch mit seinem Gürtel hantierte. Sie rief den Aufzug, blockierte die Türen als er sich öffnete und wartete auf ihren Partner. Der war nun mittlerweile ausgestattet und lief im leichten Laufschritt hinterher, und die beiden fuhren auf das Parkdeck der Behörde. Im Aufzug wurde schnell mit ein paar Worten geklärt, wer fahren würde. Das war schnell geklärt, weil Zach, auch wenn er es nie zugeben würde, ein miserabler Autofahrer war. Der Aufzug stoppte nach einer längeren Abwärtsfahrt, und die beiden Agenten traten direkt auf den Asphalt der Parkebene. In dieser Tiefgarage unter diesem Gebäude der MKA war nur eine kleine Flotte vorhanden. Den Großteil der Wagen könnte man mit normalen Streifenwagen des Polizeikorps verwechseln, da sie genauso mit einer Sirene und Signallichtern bestückt waren, doch waren sie ganz klar anstatt mit dem "PK" für Polizeikorps mit "MKA" gekennzeichnet. Der andere Teil der Wägen war in zivil, jedoch war eine Sirene unter der Motorhaube versteckt, und mit modernster Technologie wurden LED-Lichter als Signallichter in die Front- und Heckscheibe des Wagens eingearbeitet.
Die beiden spazierten zu einem der zivilen Wägen, stiegen ein und trafen ihre Vorkehrungen, die sie immer vor einer Streife trafen. Joy begann ersteinmal damit, den Sitz richtig einzustellen, während Zach das Interface des Fahrzeugs aktivierte. Im Gegensatz zu den nostalgischen Fahrzeugen war das Amaturenbrett in diesem Wagen komplett blank, alle wichtigen Anzeigen leuchteten auf einem Holo-Interface oder direkt in die Frontscheibe eingebaut auf. Geschwindigkeitsanzeige, Navigation und der Akkustand beispielsweise. Auch hier unterschieden sich die Fahrzeuge deutlich den alten Modellen der Vorzeit, auf dem Landweg war man ausschließlich nur noch mit Elektromotoren unterwegs. Für den Luft- und Seeweg waren einige Firmen bereits auch bemüht für eine solche Umstellung zu sorgen, jedoch war in dieser Hinsicht noch kein Durchbruch gelungen, so flogen zivilie Flugzeuge noch immer mit Brennstoff, Schiffe jedoch besaßen zumindest einen Hybrid-Motor aus Brennstoff- und Elektroantrieb.
Anstelle eines Schlüssels wurden die Türen mit einer Fernbedienung entriegelt, und gestartet wurde der Wagen per Knopfdruck nach der Eingabe eines fünfstelligen Zahlencodes, auf Wunsch ließ sich jedoch über Strichmuster bis Stimmaktivierung alles einrichten.
Joy tippte auf dem erschienen Zahlenfeld den Code ein, und mit einem leisen Klicken aktivierte sich der Motor. Beinahe lautlos lief der Motor, beim Gas geben summte er jedoch auf, wie man es von Elektromotoren kannte. Zach hatte das Interface, inklusive seinem auf der Frontscheibe nun in Betrieb genommen, Joy manövrierte den Wagen aus der Tiefgarage und fuhr auf die Hauptstraße.
Erins Arbeitstag war so gut wie gelaufen. Das übliche Annehmen von Anrufen, Kunden die nicht weiter wussten und einige technische Hilfeleistungen. Rückblickend bot der Tag jedoch ein wenig Abwechslung, da sich in der Mittagspause – die zur Ausnahme tatsächlich einmal stattfand – ein Lehrling vorstellte, dessen Art Erin ein wenig aufmunterte. Es gelang dem jungen Mann erstaunlich gut andere Kollegen zu imitieren, zudem erinnerte er ihn an sich selbst. Diese Auflockerung hob die Stimmung zunächst, aber der Stress der am Nachmittag folgte und die Erschöpfung am Ende der Schicht ließ Erin wieder ein wenig unmotiviert werden.
Inzwischen war es dunkel, wenn auch die Straßenbeleuchtung ihre Aufgabe tat. Da Erin jedoch nicht danach war, durch Menschenmassen zu laufen, entschied er durch einige weniger befahrene oder auch gesperrte Straßen zu einer nahegelegenen Bushaltestelle abzukürzen. Gesperrte Straßen waren normal, denn der Straßenverkehr wurde digital geregelt. Bei hohem Verkehrsaufkommen konnten manche zweispurigen Straßen zu Einbahnstraßen gemacht werden, Ampelschaltungen richteten sich nach Verkehrsdichte und einige Straßen wie die, durch die Erin nun abkürzen wollte, waren normalerweise ganz gesperrt und wurden nur zur Hauptverkehrszeit geöffnet. Hinter den Häuserreihen, die er bereits passiert hatte, prangte noch der etwas größere Firmensitz von Southberg Technologies. Erin sah sich um, sah das Gebäude noch einmal kurz an, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Weg, der vor ihm lag. Eine beinahe menschenleere Straße, die sich durch ein kleines Gewerbegebiet schlängelte. Es war zwar der Teil einer Großstadt, doch nach Feierabend war höchstens noch eine geringe Präsenz von Wachpersonal in dieser Gegend unterwegs.
In der Ferne heulte die Sirene eines Krankenwagens, die angenehm leisen Verkehrsgeräusche hallten durch die Luft, und in unmittelbarer Nähe von Erin hörte er das Brummen von Strom, das in einem nicht-konstanten Rhytmus immer wieder abebbte – ein Neonschriftzug an einem Gebäude hatte wohl einen Wackelkontakt. Das, was er jedoch am besten hören konnte, waren seine eigenen Schritte, die von den Wänden der Gebäudereihen an der Straße widerhallten. Mit regelmäßigen Schritten lief er die Straße entlang, und erfreute sich an der ruhigen Geräuschkulisse, die er den Tag über im Büro nicht hatte.
Doch diese angenehme Ruhe wurde plötzlich gestört – in dichter Nähe von Erin hallte plötzlich ein lautes Geräusch. Er zuckte zusammen, sah in die Richtung des Geräusches, nach rechts, in eine Seitengasse. Dort sah er ein paar Männer, die in eines der Gebäude eindrangen, ein Lagerhaus, dessen Tür aufgebrochen wurde. Blitzschnell musste Erin sich entscheiden - sollte er eingreifen, oder verschwinden? Ohne zu überlegen lief er in die Richtung der gewalttätig geöffneten Tür, in der bereits die Gruppe ominöser Gestalten verschwunden war. Vor dem Eingang lag ein Mann – ein Wachsoldat, niedergeschlagen. Während Erin sich vorsichtig durch den Türrahmen bewegte, dachte er darüber nach. Wenn es ein Wachsoldat war, war das hier ein Lager irgendeiner staatlichen Firma, bewacht von Beamten im Staatsdienst. Doch dieser Gedankengang wurde von einem lauten Geräusch in der Tiefe des Raumes unterbrochen, es knallte mehrmals laut – Feuer aus einer Waffe! Instinktiv bewegte Erin sich nurnoch in der Hocke fort, und schritt zu der Regalreihe vor ihm, die wie alle anderen symetrisch nebeneinander angeordnet waren. Angestrengt lauschte er in den Raum, konnte hören wie zwei oder drei der Männer sich Anweisungen zuflüsterten. Er stand nun an der hintersten Ecke einer der Reihen, und holte tief Luft. Mit einer vorsichtigen Bewegung spähte er um das Regal, und sah die beiden Männer. Beide trugen Pistolen und schwarze Klamotten, sowie Sturmhauben. Um nicht gesehen zu werden versteckte er sich wieder hinter der Ecke, schluckte kurz ängstlich und dachte nach. Ohne Ankündigung näherte sich ein Geräusch – Schritte! Erin sah sich um. Regale, eine Wand, ein Schreibtisch. Ein Schreibtisch! Er sprintete darauf zu und kauerte sich unter die Arbeitsfläche, und hoffte im Halbschatten der unbeleuchteten Halle und seinen dunklen Klamotten nicht gesehen zu werden.
Tatsächlich
näherte sich ein dritter Mann der Stelle, wo Erin eben noch
gesessen hatte. Er trug ein großes Sturmgewehr mit sich. Doch
zu Erins Erleichterung hatte der schwer bewaffnete Einbrecher ihn
nicht gesehen, sondern suchte systematisch die Gänge zwischen
den Regalen ab. Nach einer kurzen Analyse fiel Erin auf, dass der
Mann ihm daher durchgehend den Rücken zuwand. An seinem
ursprünglichen Versteck lag eine verrostete Metallstange, und er
zählte Eins und Eins zusammen. Mit Energie geladen wartete er
auf einen günstigen Moment, hastete auf seine Ausgangsposition
zurück und schnappte sich die improvisierte Waffe. In der Hocke
und mit schleichenden Schritten lauerte er dem Verbrecher auf, und
als er direkt hinter ihm stand, holte er so viel Schwung wie es ging
– der Mann drehte sich um! Gerade noch rechtzeitig schlug Erin
ihm den Werksgegenstand auf die Schädeldecke, worauf der Mann
augenblicklich zu Boden ging. Von Angst und den nun näher
kommenden, aufgescheuchten Schritten der anderen Mittäter hob
Erin das Gewehr auf, und versteckte sich hinter einem Regal. Die zwei
Männer kamen mit gesenkten Pistolen auf ihn zugehetzt, und Erin
sah nur eine Möglichkeit – er wartete, bis sie unmittelbar
an ihm vorbeiliefen, schnellte hinter der Ecke hervor und hielt ihnen
das großkalibrige Gewehr entgegen.
"Die Waffen
runter!"
Einer der beiden Einbrecher reagierte mit dem Heben
seiner Pistole, worauf Erin aus Panik den Abzug betätigte und
das Gewehr quer durch die Luft riss. Die Automatik-Salve hämmerte
dem ersten Widersacher durch die Brust, während der andere, der
nicht reagieren konnte, eine Kugel ins Bein bekam. Während
ersterer wie ein Sandsack zusammenklappte, ging der Zweite mit einem
fürchterlichen Schmerzensschrei zu Boden. Er presste seine Hände
auf eine blutige Austrittswunde an seinem Oberschenkel, und ließ
seine Pistole zu Boden fallen. Dieses eiserne Schellen alarmierte
Erin, der sofort zur Quelle des Geräusches lief und die Pistole
mit einem Fußtritt in einige Meter Entfernung beförderte.
Der auf dem Boden halb liegend und halb sitzende Verletzte wurde
daraufhin von ihm mit dem Gewehr in Schach gehalten. Erin atmete
schwer, und fragte sich, was er tun sollte. Sollte er ihm helfen?
Aber wieso, schließlich hatte er die Wache am Eingang ausser
Gefecht gesetzt und den Schüssen nach zu urteilen hatten sie die
übrigen Nachtwächter mit Schüssen niedergestreckt.
Dieser Mann verdiente keine Gnade – Erin würde warten, bis
die Polizei eintraf, allein durch den Krawall war sie mittlerweile
bestimmt alarmiert. Warten, er musste einfach nur warten.
Lilly
stand nervös mit den anderen Bauleitern und ihrem Chef Welmar
Darcon in einer Reihe. Ihre Blicke waren auf die Raumfähre
gerichtet, die in diesem Moment in dem kleinen Hangar landete. Remus
stand neben Lilly, und stupste sie kurz an als er ihre
offensichtliche Nervosität bemerkte.
"Der Umgang mit
diesen Gräfinnen ist ganz leicht. Vorallem für dich, du
bist ja eine Frau. Glaub' mir, sie wird dich behandeln wie eine
Tochter. Wenn hier jemand Angst haben muss, sind das die Kerle in der
Reihe."
Auch wenn diese Bemerkung vermutlich aufmunternd gemeint war, so brachte es Lilly nicht auf andere Gedanken. Sie war zu fixiert darauf, die Ansprüche dieser Frau zu erfüllen. Die kleine Fähre kam zum Stillstand und ging in den Sinkflug – mit einer sanften, fast leichtmütig wirkenden Bewegung setzten die Landestelzen des Transporters auf, und die Rampe fuhr herunter. Zum Vorschein kamen zwei Personen – präzise gesagt zwei Frauen -, beide in weiße Gewänder mit Kapuzen gehüllt. Diese nahmen sie beim herabsteigen der Rampe ab, und nun wurde neben der Körpergröße noch ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Frauen klar – die größere der beiden trug schwarzes, dunkles Haar während die kleinere der beiden eine blau gefärbte und mit roten Strähnen versehene Frisur trug.
Die Bauleiter blieben ruhig stehen, während Chefbauleiter Darcon auf die größere Frau zuschritt und eine Verbeugung andeutete, welche sie erwiderte.
"Gräfin e Ured, ich heiße sie auf der Venusstation willkommen. Ich bin der Chefbauleiter, Welmar Darcon, und das hinter mir sind die Teamleiter."
Für
alle, die sie noch nicht persönlich kannten – wie Lilly –
stellte sie sich selbst auch noch einmal vor.
"Ich bin
Kathryna e Ured. Und meine Begleitung, das ist meine älteste
Tochter Lina e Ured, sie ist auf eigenem Wunsch mit hier, nach dem
Abschluss ihrer Schule möchte sie der selben Tätigkeit
nachgehen wie ich, also ist sie zum Beobachten und lernen hier."
Darcon machte eine einladende Geste.
"Ich
schlage vor, wir sehen uns unsere Teambereiche an. Dann können
sie beide sich ein Bild vom Fortschritt der Arbeit machen."
Kathryna
hob die Hand, was wohl eine ablehnende Geste darstellte.
"Mir
wäre es lieber, wenn ich ihre Bauleiter erst einmal
kennenlerne."
Lillys
Herz pochte. Als hätte die Gräfin ihre Angst gerochen, kam
sie auf sie zu. Doch in letzter Sekunde ging auf Remus zu, was jedoch
damit erklärt werden konnte, dass er den Anfang der Reihe
bildete. Er stellte sich höflich vor:
"Remus Jadruk.
Bauleiter der Gruppe für Fertigung und Produktion."
Sie verbeugte sich vor ihm, was er ihr gleichtat. Schließlich machte sie einen Schritt zur Seite, und sah Lilly direkt in die Augen. Mit einem Mal wurde sie seelenruhig, und versuchte, auf die Gräfin selbstsicher zu wirken.
"Lilian Thorne. Bauleiterin der Drohnenkontrolle."
Mit den gleichen Bewegungsabläufen ging die Gräfin weiter, und die anderen Bauleiter in der Reihe, Chiron, Crone und Ramor stellten sich ebenfalls auf die selbe Weise vor. Nachdem die allgemeine Vorstellung beendet war, übernahm Darcon wieder die Führung, und die anderen liefen einfach mit.
Sie besichtigten die Baustationen, der erste Halt war die große Werkstatthalle unter der Verantwortung von Remus, bei dem gerade alle Arbeiter damit beschäftigt waren, die überdimensionalen Sonnensegel für die Solarsatelliten zusammenzubauen. Dann ging es weiter zum Planungsbüro von Bauleiter Chiron, und schließlich endete die Führung bei der Logistikgruppe von Ramor und Crone. Die Bauleiter wurden von Darcon wieder an die Arbeit geschickt, und so nahm auch Lilly, die durch die eigene Stille während der Tour sich wieder ziemlich beruhigt hatte, den Weg zurück zur Drohnenkontrolle. Ihr fiel jedoch nicht auf, dass sie verfolgt wurde.
Joy manövrierte den Einsatzwagen unter Sirenengeheul durch den nächtlichen Verkehr. Ein Einsatzwagen des Polizeikorps war einem Notruf nachgegangen, der von einem Schusswechsel berichtete. Nachdem sie die Einsatzstelle gesichtert hatten, informierten sie die MKA, da Soldaten unter den Opfern der Schießerei gewesen waren. Der nächstgelegene Eisatzwagen der MKA war die Streife bestehend aus Zach und Joy, somit rasten die beiden nun unter Sondersignalen durch den Verkehr in Richtung des Gewerbegebiets. Der Verkehr war nachts wenigstens nicht so hoch konzentriert, zur Hauptverkehrszeit wären die beiden vermutlich eine ganze Stunde länger unterwegs.
Auch wenn der zivile Wagen den sie fuhren äusserlich harmlos wirkte, so steckte unter der Haube einer der stärksten Elektromotoren auf dem Markt, was dafür sorgte, dass sie problemlos alle Fahrzeuge überholen konnten.
Sie waren nun nur noch eine Straße entfernt, und synchron mit dem neu einstimmenden Sirenengeheul ihres Wagens bogen sie auf eine Seitenstraße ein. Da sie zur Hauptverkehrszeit gesperrt war, musste Zach am Beifahrersitz erst ein paar Eingaben machen, und ließ die Straßensperre per Knopfdruck im Boden verschwinden. Als Joy den Wagen gemächlich darüberfuhr, schnellte sie sofort wieder herauf, nachdem sie die Stelle passiert hatten.
In
nahem Bereich konnte man bereits die Signallichter des Streifenwagens
vom PK sehen, einer der Polizeisoldaten war mit dem Funkgerät
des Wagens zugange, der andere war nirgends zu sehen. Hinter dem
Streifenwagen stand ein Rettungswagen, mit geöffneten Türen
und eingeschalteten Flutlichtern um die Umgebung taghell
auszuleuchten. Joy fuhr nah an den Streifenwagen heran, und Zach
stieg bereits während der langsamen Fahrt aus, und näherte
sich dem Polizeisoldaten mit gezogener MKA-Marke. Der Mann nickte nur
flüchtig, und beendete ersteinmal den Funkspruch, den er gerade
durchgab. Während der Polizist weiterfunkte, wurde ein
verletzter, schwarz gekleideter Mann auf einer Trage von Sanitätern
zum Rettungswagen bugsiert, was Zach interessiert beobachtete. Der
Polizeisoldat hatte mittlerweile das Gespräch beendet, und Joy
war zu Zach gestoßen. Der erkundigte sich neugierig beim
Polizisten:
"Wart ihr das?"
Der
Mann vom Polizeikorps schüttelte den Kopf, worauf Zach zu lachen
begann.
"Sagen sie mir bitte nicht, dass er es selbst war!"
"Sie werden es nicht glauben, Agent...?"
"Superagent Maxwood."
"Agent Maxwood, es waren weder wir noch einer von denen. Es war ein Zivilist. Unglaublich, was? Was genau passiert ist wissen wir noch nicht, der Mann steht wohl unter Schock – zumindest sagen das die Sanis. Vielleicht geht es ihm ja schon besser, gehen sie einfach mal."
Zachs
Lächeln war nun so gut wie verschwunden, und war durch
Verwunderung ersetzt worden. Ein Zivilist? Unfassbar. Er lief am
immernoch blitzenden Streifenwagen vorbei, und näherte sich dem
stark leuchtenden Rettungswagen. In der geöffneten Seitentür
auf der Aufstiegsschwelle saß ein in eine Decke gehüllter
Mann, der einen Becher mit Tee umklammert hielt. Als er Zach sah,
lächelte er jedoch leicht auf, der näherte sich ihm nun mit
gezogener Marke.
"Maxwood, MKA. Sie haben diese Männer
also überwältigt?"
Der Mann nickte still.
"Der Kollege vom Polizeikorps sagt, dass sie ihm noch nichts erzählt haben.. aber, das spielt ersteinmal keine Rolle. Wie ist ihr Name?"
"Erin Nemodes.", gab der Zivilist zurück.
"Wo wohnen sie?"
Während er diese Frage stellte, zückte Zach seinen Notizblock und hielt den Namen fest, und hielt sich für die nächste Antwort bereit.
"Im Zentralviertel. Mein Apartment ist in der 37. Straße."
"Ihr Beruf?"
"Serviceberater bei Southberg Technologies."
Zach
lachte kurz unterdrückt, worauf Erin ihn fragend ansah.
"Naja,
entschuldigen sie. Aber mit ihrem Talent wundert es mich, dass sie
nicht beim Militär sind."
"Hm. Ist das so?"
Erin nahm einen Schluck von seinem Tee und atmete daraufhin tief durch.
"Sie wollen wissen, was passiert ist?", hackte er bei Zach nach.
Der nickte nur und ließ Erin weiterreden.
"Ich war auf dem Heimweg. Anstatt meinen eigentlichen Weg zu nehmen, wollte ich durch die Sperrstraßen abkürzen. Einfach weil es ruhiger ist, wissen sie? Und eben weil es so ruhig war, konnte ich dann auch hören, wie der Wachmann vor der Tür des Lagerhauses niedergeschlagen wurde. Ich wollte zuerst weg, weil ich nicht wusste, was es für ein Geräusch war – und ich sage ihnen, hätte ich es gewusst, wäre ich weggewesen – aber ich bin wegen meiner Unwissenheit einfach dort hin. Ich habe den Wachsoldaten da liegen sehen, und wollte irgendetwas tun. Ich habe mich in das Lagerhaus geschlichen, dann sind plötzlich Schüsse gefallen. Wieviele, kann ich nicht sagen, tut mir Leid. Aus meiner Panik habe ich mich hinter dem nächstbesten Regal versteckt – genauergesagt eine Regalecke – und habe mich vorsichtig umgesehen. Ich hatte zwei bewaffnete Typen gesehen, habe mich aber darauf sofort wieder versteckt. Dann ging alles schnell... da kam plötzlich noch einer in meine Richtung. Ich habe mir ein anderes Versteck gesucht, von dort aus eine Metallstange gesehen – die habe ich an mich genommen und dem dritten Kerl damit eine verpasst. Das haben die anderen gehört, also habe ich mir sein Gewehr genommen und habe hinter dem nächsten Regal auf sie gewartet. Als sie nah genug an mir dran waren, habe ich sie abgefangen und sie aufgefordert die Waffe fallen zu lassen. Der erste hat seine Pistole gehoben, also habe ich einfach den Abzug gedrückt. Ich habe nicht großartig gezielt – eher gesagt garnicht. Dem einen habe ich ein paar Kugeln in die Brust verpasst, den anderen hat es im Bein erwischt. Ich hab dem zweiten schnell die Pistole ausser Reichweite gekickt, und ihn in Schach gehalten, bis die Männer von der Miliz kamen."
Zach
hatte soweit alles notiert, nickte für sich und steckte den
Notizblock weg. Darauf klopfte er Erin auf die Schulter.
"Gut
gemacht."
"Was
habe ich denn gut gemacht? Ich habe einen Menschen getötet. Und
alle Wachsoldaten sind tot."
Zach schüttelte den
Kopf.
"Nicht alle. Zwei von ihnen konnten sich in einen
Panikraum retten – die haben das PK verständigt, und die
widerrum uns. Wenn sie, Herr Nemodes, nicht gewesen wären,
hätten sich diese Kerle die beiden wohl als nächstes
vorgeknöpft, indem sie den Panikraum gestürmt hätten.
Diese Männer verdanken ihnen ihr Leben."
Erstaunt
atmete Erin durch, und starrte in die Luft, brachte aber doch noch
eine Frage heraus, die ihn beschäftigte:
"Was wollten
die eigentlich hier?"
Zach sah zum Lagerhaus.
"Diese
Lager gehören der Firma Typhoon Engines. Die stellen so gut wie
jeden Motor für die Landfahrzeuge unserer Streitkräfte her
– vermutlich wollten sie irgendwelche Motorenteile klauen.
Einfache Diebe, die sich Ware zum verkaufen auf dem Schwarzmarkt
besorgen wollten – was ihnen auch sehr gut gelungen wäre,
wenn sie nicht gewesen wären."
Wieder im Kontrollzentrum der Drohnenpiloten, lehnte Lilly sich über die Sternenkarte und atmete tief durch. Die ganze Furcht, die sie hatte, war also unbegründet gewesen – am Ende würde sowieso ihr Chef das Reden übernehmen. Ein wenig schämte sie sich dafür, dass sie sich so eine Panik vor diesem Aufeinandertreffen gemacht hatte. Doch nun war es vorbei, und sie konnte sich wieder der Arbeit widmen – dachte sie zumindest, bis sie plötzlich jemand von hinten ansprach.
"Entschuldigen sie?"
Lilly drehte sich um, und erblickte die Tochter von Gräfin Kathryna. Lina war ihr wohl hierher gefolgt.
"Ja?"
"Ich würde gern wissen, was hier ihre Aufgabe ist."
"Natürlich... das, ähm, kann ich ihnen erklären. Muss ich dich siezen? Du bist doch schon eine Gräfin, oder?"
"Nein, ich bin noch nicht 21. Erst dann bekomme ich den Titel."
"Würde
es dir dann etwas ausmachen, wenn wir uns duzen?"
Lina zuckte
mit den Schultern.
"Überhaupt nicht. Das wäre sogar
mal eine Abwechslung."
Lilly musste lächeln.
"Wieso denn das?"
"Zuhause werde ich immer gesiezt. Von den anderen Frauen, weil ich dem Adel angehöre. Und von den Männern, naja, einfach schon deshalb weil ich eine Frau bin."
"Das muss ja ein Paradies sein, vorallem in deinem Alter."
"Um ehrlich zu sein nervt es mich. Leute wie meine Mutter nehmen das alles viel zu ernst, sie verachten Männer regelrecht. Dabei ist davon nie die Rede gewesen, dass sie als schwächere zu betrachten sind, ich glaube sie genießen es einfach nur, dass der Spieß nun einmal umgedreht wurde. Aber das ist nicht das Thema, weshalb ich hier bin."
"Klar."
Die beiden gingen zum Kartentisch, und Lilly begann Lina ihre Aufgaben zu erörtern. Sie erklärte ihr, dass sie Positionen und Umlaufbahnen für Satelliten berechnete, für die Wartung und Problembeseitigung der Baudrohnen zuständig war und auch gelegentlich selbst einmal eine solche flog.
Im weiteren Gespräch mit ihr konnte Lilly deutlich heraushören, dass Lina wohl garnicht wirklich an einem Job im Energiewesen bestrebt war. Sie konnte sich denken, warum die junge Frau vom Neptun ausgerechnet mit ihr sprach, und warum sie das ihre Mutter nicht merken lassen wollte – aus dem Interesse von ihr an der Tätigkeit konnte Lilly sich denken, dass Lina wohl einen technischen Beruf ausüben wollte. Doch konnte sie sich auch ausmalen, wie man auf der Neptunstation über Frauen in technischen Berufen dachte – ein absolutes Tabu, das war dort eine Aufgabe für Männer. Eine schwierige Situation. Lilly empfand Mitleid für Lina, doch konnte sie ihr nicht helfen – sie hatte keine Möglichkeiten.
Nach dem Ende des Gesprächs verabschiedeten sich die beiden, und Lina verschwand so schnell es ging in Richtung von Darcons Büro, damit sie nicht zu lange von ihrer Mutter abwesend war. Lilly dachte noch ein wenig nach, war aber schon bald wieder schwer damit beschäftigt, mit ihren Karten zu hantieren.
Ein großer Saal, gefüllt mit Klappstühlen und am Ende des Raumes mit einer Bühne. Auf den Stühlen saß ein breites Publikum, in den vorderen Reihen viele Presseleute, in den hinteren Rängen sonstige Zuschauer und auch einige Uniformierte wie Polizeisoldaten und andere Angehörige des Militärs. Auf der Bühne standen ein paar Soldaten des Polizeikorps in Uniform stramm. Vor dieser Reihe von Männern stand ein in Ausgehuniform gekleideter Soldat, und neben diesem ein unscheinbarer, leicht deplatzierter Mann in Zivilklamotten – Erin. Der Mann neben ihm war Stabsoffizier Aleksander Schwarz, der kommandierende Offizier des Polizeibatallions in der Stadt.
Der
war an ein aufgebautes Rednerpult herangetreten. Einige Kameramänner
vom Fernsehen gingen in Position, um Schwarz bei seiner Rede zu
erfassen, der damit begann, Erins Tat zu erläutern. Er ging
nicht so sehr ins Detail, wie es Erin bei der Vernehmung durch den
MKA-Agenten Maxwood tat, aber doch machte er den Anwesenden klar, was
von ihm getan wurde, was verhindert wurde und welche Dankbarkeit man
Erin dafür schuldete. Schwarz forderte zwei Männer aus der
immer noch still stehenden Reihe dazu auf, nach vorn zu gehen. Wie er
erklärte, waren es die beiden Wachsoldaten, die sich im
Panikraum verschanzt hatten, als die Einbrecher auftauchten. Sie
traten zu ihm heran, der erste schüttelte ihm die Hand.
"Wir
sind ihnen unendlich dankbar, Mr. Nemodes. Wenn sie nicht aufgetaucht
wären, stünden wir vermutlich heute nicht hier."
Mit
einem bescheidenen Lächeln nahm Erin diese Geste entgegen, und
ein kleiner Applaus machte sich im Saal breit. Nach diesem kleinen
Ereignis reihten sich die beiden Wachmänner wieder bei den
anderen Soldaten im Hintergrund ein, während Stabsoffizier
Schwarz näher zu Erin ging, und ihn aufforderte, sich stramm
hinzustellen. Ohne zu zögern folgte er dieser Anweisung, und der
Offizier drehte sich zum Rednerpult um. Von diesem nahm er sich eine
an einem Halsband befestigte Medaille, drehte sich erneut um und
legte sie Erin an der vorgesehenen Stelle um, dieser schlüpfte
vorsichtig in das Band hinein, während Schwarz seine Ansprache
vervollständigte.
"Für diese genannte Leistung
verleihe ich ihnen, im Namen des Polizeikorps und des gesamten
Volkes, die Ehrenmedaille für Zivilcourage."
Nun entbrannte ein wesentlich engagierterer Applaus, und der Stabsoffizier klopfte ihm mit einem gutherzigen Lächeln auf die Schulter. Ratlos blickte Erin in die Menge von Zuschauern, die ihn in diesem Moment feierte. Eine Welle von Emotionen schwappte durch seinen Körper, die ihm ein angenehmes Kribbeln im Rücken verschaffte. Die Allgemeinheit dankte für seinen Einsatz, würdigte das, was er getan hatte. Ein Gefühl und eine Geste von Anerkennung, genau das, was er immer wollte – und bisher nie bekommen hatte.
Nach einigen Minuten war die Zeremonie beendet, und die Versammelten inklusive Erin räumten den Saal. Vor dem Ausgang musste er eine lange Prozedur des Händeschüttelns mit vielen Leuten über sich ergehen lassen – die letzte Person jedoch blieb nach diesem Vorgang bei ihm stehen. Es war eine junge Frau mit asiatischen Gesichtszügen, die darauf wartete, dass alle restlichen Beglückwünscher Erin passiert hatten. Als das geschehen war, hielt sie ihn vom Weglaufen mit einem sanften Druck auf die Brust ab, und sprach ihn unbefangen an.
"Ich hege große Bewunderung für sie. Nicht jeder hätte so gehandelt."
"Danke", gab Erin leicht verunsichert zurück, "aber wie ich es schon vor anderen betont habe, hätte ich wirklich gewusst, was dort passierte, wäre ich auf keinen Fall dort hineingegangen."
"Seien sie nicht so bescheiden. Ihnen steht die Anerkennung zu, ob sie es wollen oder nicht."
"Erneut danke ich ihnen."
Kurze
Stille machte sich breit. Die Frau strich sich eine Strähne aus
dem Gesicht, legte sie hinter das Ohr und lächelte Erin
einladend an.
"Würden sie mir ihren Namen verraten?",
fragte er schließlich nach.
"Tenshonja Aina. Für sie aber auch gerne Tenshja."
"Dann bin ich ab jetzt für dich Erin."
"Also, Erin. Hättest du vielleicht Lust auf einen Spaziergang?"
Der zückte seinen Transmitter und ließ das Hologramm kurz in die Luft schnellen. Nachdem er die Zeit überprüft hatte, versenkte er es ausgeschaltet wieder in seiner Hosentasche und nickte angesichts der Einladung, da ihm keine Termine und vor allem keine Arbeit drängten – aufgrund der zivilen Ehrung wurde ihm dessen halber frei gegeben. Die beiden nahmen gemeinsam denselben Weg zu Fuß, und steuerten das Ende der Straße an.
Lilly saß allein an einem Tisch im Lonely Wolf, und konzentrierte sich wie alle anderen auf den Bericht, der eben im Fernsehen lief. Anstelle einer Band die spielte, wurde nun der Holobildschirm über die Bühne projeziert – Musik wurde nur abends und nachts gespielt. Der lokale Nachrichtensender der Hauptstadt wurde ausgestrahlt. Der zeigte einen Bericht von einem waghalsigen Zivilisten, der einer kleinen Gruppe von bewaffneten Dieben wohl im Zuge eines Aktes der Zivilcourage das Handwerk gelegt hatte. Zunächst war Lilly nur halbherzig an der Verlesung dieses Ereignisses beteiligt, bis der Name Erin Nemodes fiel. Vor Schreck spuckte sie die Hälfte ihres gerade zu sich genommenen Getränks aus, fragte zur Sicherheit bei einigen umherstehenden- und sitzenden nach der Richtigkeit dieses Namens, und bekam ausschließlich bejahende Reaktionen. Das schockierte, aber erstaunte sie zugleich – so kannte sie ihren Freund Erin überhaupt nicht. Er war zwar nicht so schüchtern wie sie, aber ein Held war er schon gleich gar nicht. Oder kannte sie ihn gar nicht so gut, wie sie zuerst angenommen hatte? So sehr sie auch schockiert war, für sie bestand ein Grund, sich zu freuen. Im Verlauf des Beitrags wurde unter anderem auch bekanntgeben, dass ihm die Medaille für Zivilcourage verliehen würde.
In all ihrer Aufregung bemerkte sie nicht, dass Remus sich ihrem Tisch genähert hatte und wurde von ihm leicht erschrocken, als er sich spontan ihr gegenüber setzte.
"Hast du's auch schon gehört?", eröffnete er das Gespräch.
"Gehört? Was? Achso, das von Erin. Na klar. Gerade eben."
"Unfassbar, ehrlich."
Remus
stützte seinen Kopf mit seiner Hand auf dem Tisch ab, und nahm
einen faszinierten Gesichtsausdruck an.
"Also", fuhr er
fort, "ich hätte sowas nicht gekonnt. Ist er immer so ein
Draufgänger?"
Lilly lachte leise auf.
"Erin?
Nein, überhaupt nicht. Ein Mensch wie jeder andere, der
niemandem auffällt. Ich bin genauso überrascht wie alle
anderen."
Die beiden führten dieses Gespräch noch einige Zeit weiter. Remus bestellt sich beim Kellner im Schnelldurchlauf ein Getränk, und die beiden stießen auf Erin an. Zuerst steuerte Remus darauf zu, das Gespräch weiter auf Erins Heldentat auszudehnen, aber einige ungeklärte Fakten über ihren Kollegen ließen Lilly abdriften. Sie hatte in den letzten Tagen, besonders in der Freizeit die sie mit ihm verbrachte, bemerkt wie vertraut er mit der lokalen Kultur war – und auch die vielen Bekanntschaften, die er pflegte. Er war offensichtlich bekannt wie ein bunter Hund. Und das auch nicht nur hier auf der Venus-Station, sondern auch viele Leute aus ganz anderen Winkeln der Galaxis schienen ihn zu kennen.
„Sag mal…“
„Ja?“
„Warum bist du so vertraut mit all dem hier?“
Remus tänzelte mit seinen Fingern an seinem Glas herum, und lächelte gequält. Er machte ein nervöses Geräusch.
„Ich, ähm… rede nicht so gern darüber. Das ist alles lange her.“
Lilly
bemerkte, dass zu viel Druck nun keine gute Entscheidung war, und
grinste ihn unbefangen an.
„Hey, ist schon gut. Erzähl
es mir einfach, wenn dir danach ist.“
Er nickte dankbar, hob das Glas für ein wortloses Anstoßen und trank einen weiteren Schluck. Die beiden verfielen nun in Schweigsamkeit, und bestellten sich ihr Essen. Im Verlauf der Mahlzeit kam Lilly auf die Idee, Erin anzurufen. Bevor sie das tat, wollte sie Remus jedoch fragen, ob er etwas dagegen hätte – doch wie erwartet, zeigte er sich damit einverstanden. Sie zückte ihren Transmitter, schaltete ihn jedoch in den Projektionsmodus, damit sie ihn auf den Tisch legen und ohne die Hände voll zu haben nutzen konnte. Mit ein paar Wischbewegungen ließ sich eine Verbindung zur Ferngesprächsvermittlung herstellen – telefonieren über Planeten hinweg war auch im 23. Jahrhundert noch nicht so einfach, daher gab es Fachleute in einer Vermittlung, die das übernahmen. Selbstverständlich wurde nicht jedes ausgehende der täglich Tausenden von Gesprächen von einem Mitarbeiter persönlich bearbeitet, sondern es war eher ein automatisierter Ablauf, bei dem man nur die richtigen Vorwahlen eingeben musste. Eine Routine, in die man in dieser Zeit einfach hineingeboren wurde. Mit einigen Fenstern und Statussymbolen kündigte sich an, dass die Verbindung nun hergestellt war, und es klingelte bei Erin.
Tenshja und Erin spazierten durch eine große Fußgängerzone, die sich im Regierungsviertel der Hauptstadt erstreckte. Sie war belebt und stets voll von Einheimischen, und auch Touristen aus anderen Gegenden der Erde, sowie der anderen Planeten. Sie unterhielten sich darüber, was Tenshja beruflich machte – sie war Lehrerin an der städtischen Schule. Die Schule der Hauptstadt war riesig, denn sie war die einzige im ganzen Stadtgebiet. Tenshja war Lehrerin in der Oberstufe – oder auch Abschlussstufe – und war somit eher eine Berufsberaterin, als eine Lehrerin. In den Abschlussklassen wurde kaum Schulstoff gelehrt, eher spezialisierte man sich auf besondere Eignungstests und sehr viele Praktika in Firmen und sonstigen Arbeitsplätzen – etwa die Hälfte des Abschlussjahres wurde gearbeitet. Sie erzählte von ihren Schülern und den verschiedenen Geschichten, die sie bereits erlebt hatte. Während des Gespräches musste sie immer wieder ihre Haare aus dem Gesicht streichen, da es vergleichsweise windig war, was die Büsche auf den kleinen Inseln in der Fußgängerzone hin- und herwiegen ließ. Erin vermied es, von sich selbst zu sprechen – gegen den Posten eines Lehrers kam er mit seinem Telefonjob bei Southberg nicht an.
Mitten im Gespräch vibrierte es auf einmal in Erins Hosentasche. Er zückte seinen Transmitter und aktivierte den Projektor, der ihm anzeigte, das Lilly ihn anrief. Mit einem lächeln hielt er ihn wie eine Kamera bei einem Selbstporträt vor sein Gesicht, und nahm das Gespräch entgegen.
„Lilly, hey.“
„Erin! Störe ich?“
Mit einem fragenden Blick sah Erin hinüber zu Tenshja, die aber nur mit einem gut gemeinten Grinsen den Kopf schüttelte, was er Lilly gleich mitteilte.
„Nein,
tust du nicht. Was gibt’s denn?“
„Was es gibt?
Ich bin mit einem Helden befreundet, das gibt es.“
Erin
lachte bescheiden, und wank Lillys Bemerkung ab.
„Ach, quatsch.“
„Na klar bist du einer. Du warst in den Nachrichten. Jeder hier kennt deinen Namen. Ausserdem sollst du die Zivilcourage-Medaille kriegen, und für wen ist die schon bestimmt, wenn nicht für Helden?“
Er hob die Medaille, die noch um seinen Hals lag, nach oben, um sie Lilly vorzuführen, worauf sie nur faszniert auflachte. Die beiden tauschten sich noch ein wenig aus, dann bot er Lilly jedoch an, am selben Abend oder am nächsten Tag weiter zu telefonieren, was sie einwilligte. Sie verabschiedeten sich, und beendeten das Telefonat. Tenshja und Erin liefen daraufhin weiter, und kamen zurück zu ihrem gerade besprochenen Thema. Zu Erins Leidwesen kam Tenshja auf die Idee, nach Erins Job zu fragen. Nun blieb ihm keine Wahl, als zu antworten.
„Ich bin telefonischer Serviceberater. Bei Southberg Technologies.“
Entgegen Erins erwarteter Reaktion, dachte sie kurz über die Aussage nach, und nickte dann. Aber ohne eine Antwort ihrerseits wollte sie dieses Thema nicht enden lassen.
„Wirklich? Das passt irgendwie nicht zu dir.“
„Was
würde denn zu mir passen?“
Die beiden blieben stehen,
und sahen sich an. Tenshja drückte Erin ihre Hand in den Bauch,
damit er sich stramm hinstellte. Dann hob sie seinen Arm, faltete
seine Hand gerade und legte sie an seine Schläfe. Die beiden
mussten auflachen, und Tenshja verarbeitete den Anblick vom
salutierenden Erin.
„Doch“, meinte sie, „das hätte was.“
Auch wenn er den Gedanken lustig fand, so wank Erin erst einmal instinktiv ab. Er, ein Soldat? Nein, das wäre nichts für ihn. All diese Anstrengung, körperliches Training tagein und tagaus, dieser ganze Drill. Obwohl auch sehr viel dafür sprach. Kameraden, die sich quasi im Alleingang anfreundeten, und ausserdem dieses Gefühl, dass er suchte – die Anerkennung für Leistungen, die er erbrachte. Eine Verpflichtung, die ihn mit Stolz erfüllen würde. Er kratzte sich unauffällig am Nacken, und sah Tenshja an.
„Ich denke mal darüber nach. Vielleicht ist das garkeine so schlechte Idee.“
Tenshja
nähert sich anmutig seinem Gesicht.
„So, habe ich dich
jetzt etwa auf Ideen gebracht?“
Mit einer plötzlichen Welle von Selbstbewusstsein ging Erin auf diesen Zug ein.
„Ja. Und nicht nur auf eine.“
Als hätte sie auf eine Antwort dieser Art gewartet, näherte sie sich seinem Gesicht weiter und gab ihm einen Kuss. Erin erwiderte ihn ohne zu zögern, und die beiden ließen sich ein wenig gehen. Als sie den Kuss wieder lösten, strich Tenshja sich aufgrund des immer noch wehenden Windes ihre Haare aus dem Gesicht. Ein unbeharrliches Schweigen lag in der Luft, das die beiden mit einigen lockeren Phrasen wieder vertrieben. Erin gab ihr nocheinmal einen kurzen Kuss, und die beiden führten ihren Spaziergang fort – Hand in Hand.
Im Lonely Wolf war mittlerweile die gesamte Bauleiter-Mannschaft zusammengekommen. Sie besetzten einen der größeren Tische, unter ihnen auch Remus und Lilly. Alle hatten sich geeinigt, diese Art von Stammtisch öfters abzuhalten, da sich die Crew einmal besser kenenlernen sollte, da sie ja noch einige Monate zusammen arbeiten würden. Norman Crone, einer der beiden Verantwortlichen für die Logistik, erzählte eben, was ihm und seinem Kollegen Ramor passiert war. Er hatte irgendeine Ladeliste vertauscht, und somit musste ein Frachter auf dem halben Weg zur Erde wieder zurückgepfiffen werden. Alle ließen sich durch diese Erzählung belustigen, so auch Lilly. Als Norman jedoch gerade die Erzählung auflösen, und erklären wollte, wie es ausgegangen war, wurde im Lokal das Licht gedimmt. Alle sahen verduzt auf die Uhr – sie hatten vollkommen vergessen, dass die musikalische Unterhaltung nun angesagt war. Der lokale Moderator trat auf die Bühne, und alle Restaurantbesucher erwarteten die Ankündigung des heutigen Künstlers. Der Moderator ließ sie jedoch alle zappeln, und stieg dann langsam in seine Einführung ein.
„Heute, liebes Lonely Wolf, bieten wir euch einen Musiker erster Güte. Er lebte schon immer in großer Bescheidenheit, und sitzt in diesem Moment unter euch. Sein Blues brachte schon so manchen hier zum weinen, und seine funkigen Kompositionen sorgten schon für Tanzlaune bei jedem. Bitte begrüßt mit mir, den einzigartigen, den wundervollen, den großartigen Semur!“
Lilly applaudiert wie alle anderen, und richtete ihre Augen auf die in die Bühnenwand eingearbeitete Tür zur Garderobe. Als sich aber nach eine knappen Minute immer noch nichts tat, begann sie über den Namen des Künstlers nachzudenken. Semur. In ihren Gedanken sprach sie dann diesen Namen rückwärts aus – das Ergebnis brachte sie zum Staunen. Sie drehte sich überrascht zu Remus, der sie angrinste. Sein Blick sagte ihr förmlich „Irgendwie hast du es geahnt, was?“, und er erhob sich von seinem Stuhl. Mit selbstsicherem Schritt trat er auf die Bühne und schüttelte dem Moderator die Hand, der sie sogleich verließ. Remus ließ seine Handgelenke knacken, nahm an dem auf der Bühne platzieren Flügel Platz, und schlug das dort auch schon bereitgelegte Notenheft auf. Der Flügel war keineswegs traditionell – die großen Tasten waren vollständig aus Glas, die oberen in einem hellen Neongrün. Der Aufbau des Flügels selbst war von wilden farbligen Mustern übersät, und auch einige kleine Projektoren an der Decke ließen Formen auf der Oberfläche des Instruments tanzen.
Als komplette Totenstille herrschte, schlug Remus seine ersten Töne an. Ein ruhiges, nachdenkliches Lied formte sich aus den aneinandergereihten Melodien. Als er eine ruhige Passage einbrachte, warf er das Publikum aus den Sitzen als er mit seiner kräftigen Stimme einsetzte. Lilly beobachtete ihn bei diesem künstlerischen Spiel aufgeregt. Da hatte sie ihre Erklärung, wieso er überall bekannt war. Weshalb er überall erkannt wurde, und sich den Leuten ins Gedächtnis gebrannt hatte.
Die anderen Bauleiter waren genauso überrascht worden, wie sie in diesem Moment. Alle tuschelten möglichst leise, und es waren immer die selben Reaktionen, die man heraushören konnte – niemand hätte es ihm zugetraut, niemand hatte etwas in dieser Richtung vermutet. Doch wenn man ihn nun so ansah, leuchtete es einem ein, dass er ein Musiker war. Die viele Ahnung von allen Kulturen der Stationen, der gute Umgang mit Leuten, das offene Wesen, alles passte nun ins Bild – er war kein klassischer Baubarbeiter, sondern hatte seine alte Leidenschaft mit einer neuen ergänzt. Vom Musiker zum Bauleiter. Ein ungewöhnlicher Lebenslauf, der sich nicht zweimal finden ließ – da waren sich alle einig. Als sie ihre Gedankenspiele jedoch beendet hatten, gaben sie sich wie Lilly jedoch einfach, für den Rest des Abends der Musik hin.
Auch wenn die Menschheit den Weltraum bereits erobert hatte, so war sie doch so ahnungslos wie man nur sein konnte. Das Militär, dass das Kommando über einen Großteil der Raumschiffe hatte, trennte daher von Anfang an die Flotte in mehrere Doktrinen. Die Kriegsflotte war, wie der Name bereits sagte, die bewaffnete Abteilung. Sie beinhaltete von kleinen Ein-Mann-Jägern bis hin zu den großen, schweren Raumkreuzern alles, was nur irgendwie feuern konnte. Die andere Abteilung war die Expeditionsflotte, die mit verschiedenen Aufgaben betraut war. Die Passagierkreuzer gehörten zu ihr, aber auch die Wissenschaftsabteilung war ihr unterstellt. Diese beinhaltete ein großes Trägerschiff, das als mobile Basis für alle Forschungsschiffe diente. Auch die waren in zwei Verbände unterteilt – die etwa mit Frachter zu vergleichenden Laborschiffe, und die schnellen Expeditionskorvetten. Letztere hatten die Aufgabe, die Umgebungen der Planeten in der Galaxis dreidimensional zu kartographieren, sowie neue Routen für die großen Massebeschleuniger zu finden. Mit diesen reiste man zwischen den Planeten hin und her, andernfalls würden die Reisen schließlich Jahre dauern.
Zur Besatzung einer dieser Korvetten gehörte Abe Nillan. Er war seit einigen Jahren bei der Raumflotte, durfte aber aufgrund seiner erworbenen Berufserfahrung als Unteroffizier im fachlichen Dienst seine Laufbahn beginnen. Sein Dienstgrad war Astro-Maat erster Klasse. Nachdem die Raumschiffe beim Militär im Kommen waren, entbrannte bei den Militärs eine große Debatte – sollte man komplett neue Ränge schaffen, oder bereits vorhandene nutzen? Schließlich entschied man sich dafür, die Ränge der Schiffsmarine einfach umzuwandeln, da die Raumfahrt im Prinzip auch sehr der Schifffahrt ähnelt. Nillan war Mannschaftsoffizier, und damit zwar noch niemand vor dem salutieren musste, aber er stand formell über den einfachen Astro-Kadetten, und durfte im Ernstfall auch die Befehlsgewalt ausüben. Sein eigentliches Aufgabenfeld war jedoch die Leitung der bordeigenen Radarstation. Mit ausgefeilten Techniken wurde der Raum in größten Entfernungen abgetastet, erfasst und für die ebenfalls auf dem Schiff stationierte Kartographenabteilung als rohe Datenmasse abgespeichert, die diese dann auswerten konnten. Auch die unmittelbare Aufklärung fiel damit in ihren Zuständigkeitsbereich. In diesem Moment saß Abe an seiner Radarstation, und hatte wie ein Horchposten auf einem Unterseeboot einen Kopfhörer auf, mit dem er Geräusche aus den Weiten des Alls erfassen konnte, und starrte auf die piktografische Darstellung des dreidimensionalen Raums in unmittelbarer Nähe.
Sein Schiff, die Quantinum, war im Nahbereich der Venus stationiert. Auch nach mehreren hundert Jahren waren die Kartographen noch nicht weiter als bis zur Umlaufbahn der Venus gekommen, also dem Planeten, der am zweitnächsten zur Sonne lag. Niemand rechnete damit, dass die Datenmasse für die Aufklärung und Erfassung des Raumes so riesig sein würde – natürlich rechnete man mit Unmengen von Informationen, doch die Technologie zum Speichern war einfach nicht ausgereift genug, um schneller zu arbeiten. Trotzdem hielt man an dem Projekt fest. Den Bereich um die Sonne hatte man bereits erfasst, und auch Satelliten platziert, die diesen systematisch abtasteten. Damit wollte man erreichen, dass man zu jeder Zeit, wie bei der Luftfahrt innerhalb der Erdatmosphäre, einmal in ferner Zukunft jedes Schiff erfassen und von einer Leitstelle dirigieren konnte. Eine Vorstellung, die Abe teilte, und sich deshalb freiwillig nach seiner Laufbahn als Crewmitglied für dieses Projekt beim Militär meldete. Sein Assistent Daven brachte ihm gerade einen Becher Kaffee in die Station – er war ein Frischling, der von der Mars-Station aus der Grundausbildung kam. Er musste sich das übliche Necken der altgedienten Besatzungsmitglieder gefallen lassen, da musste jeder Neuling durch. So damals auch Abe, der von dem damaligen Stationsleiter auch zum Kaffeeboten degradiert wurde – das übernahm er jetzt, weil es ihm als Einstand auch genützt hatte. Auf jeden Außenstehenden wirkte es vielleicht erniedrigend, doch als Zuständiger für den Kaffee lernte man die Crew quasi im Alleingang kennen, und fügte sich so schnell ein. Er nahm ihm dem Becher ab, bedankte sich still indem er die Hand hob, und konzentrierte sich wieder auf den Holobildschirm, der sein Radar darstellte.
Auf der großen, jeweils dreispurigen Hauptstraße war ein Bus unterwegs, dessen Linie im Zentralviertel endete. In einem der Busse, die diese gerade befuhren, saß Erin. Er war putzmunter und gut gelaunt. Die letzte Nacht hatte er gemeinsam mit Tenshja verbracht, und war danach mit ihr in seinen Armen aufgewacht. Die beiden unterhielten sich in den Morgenstunden noch lang, sahen gemeinsam fern und tauschten sich weiter aus – doch obwohl sie sich erst kürzlich kennengelernt hatten, waren sie füreinander gemacht. Erin war normalerweise nicht der Typ für kitschige Romanzen, aber da sein Leben sich zurzeit sowieso einem radikalen Umschwung unterzog, ließ er sich darauf ein, ohne nachzudenken.
Schließlich weihte er sie in seine Pläne ein, und setzte sich an den Schreibtisch in seinem Apartment. Er setzte eine formelle Nachricht auf – eine unmittelbare Kündigung seines Postens bei Southberg Technologies. In diesem Zeitalter war alles nichtmehr so bürokratisch veranlagt, und wenige Stunden später wurde sein Gesuch überprüft und akzeptiert. Er redete mit jemandem in der Personalabteilung, erläuterte die Gründe für seine Entscheidung, und wurde vom Dienst freigestellt. Da er viel Urlaub angesammelt hatte, wurde ihm das angerechnet, und wie erwartet übertraf der die Frist seiner Kündigung, somit durfte er sofort aufhören. Da die Schule für dieses Jahr bald enden würde, hätte Southberg vermutlich ohne Zweifel in wenigen Monaten wieder einen riesen Zulauf von Neubewerbern, mit denen sie die entstandene Lücke füllen konnten.
Als diese Angelegenheit aus der Welt geschafft war, folgte die nächste Phase seines Vorhabens. Er sprang in den Bus, und fuhr ins Regierungsviertel. Sein Ziel dort war die Aron-Fields-Kaserne, der Militärsitz der Hauptstadt. Benannt war sie nach einem Anführer während des Umsturzes, der sich selbst mit einigen seiner Männer geopfert hatte, um einer großen Zahl an Zivilisten die Flucht zu ermöglichen. Dort wollte er das tun, was Tenshja ihm vorgeschlagen hatte – er wollte sich ins Militär eintragen. Er hatte ihr erklärt, dass er dann aber einige Zeit weg sein würde, da Soldaten ausschließlich auf der Marsstation ausgebildet wurden. Sie würde nicht mitkommen können, nur Familienmitgliedern war es gestattet, einen Wohnsitz in der Militärbasis zu beziehen. Doch sie versicherte ihm, dass sie Geduld habe. Er könne sie anrufen, wann immer ihm danach war, und immer wenn er einige Tage frei bekäme und auf die Erde zurückflog, würde sie Zeit für ihn einräumen. Bei all dieser Aufregung aber vergaß Erin völlig, seine beste Freundin Lilly einzuweihen. Seine Sorge bestand nicht etwa, weil er Angst hatte das sie es ihm übel nehmen würde, sondern eher, weil er sie nicht über diese Änderungen informierte. Vor einigen Minuten hatte er sie bereits versucht zu erreichen, doch offenbar war sie am arbeiten, oder sie schlief gerade. Er kannte den Tageszyklus auf der Venusstation nicht, daher konnte er sich nie erahnen, ob sie nun gerade für ihn verfügbar war.
Nach einiger Fahrzeit stoppte der Bus schließlich nahe dem Stadtkern, und an der Haltestelle die auch namentlich der Kaserne galt, stieg er aus. Er ging nicht durch das große Haupttor, das für Militärfahrzeuge und ansässige Soldaten gedacht war, sondern in ein separat erreichbares Büro. Auf der Tür stand in gedruckten Lettern Rekrutierungsbüro. Die Tür war komplett aus Glas, und somit sah Erin das Treiben darin. An einigen Schreibtischen saßen Soldaten in Ausgehuniformen, eigentlich ausschließlich Unteroffiziere, die diesen Posten des Anwerbens speziell ausübten. Sie hatten immer ein Holo-Interface offen, auf dem sie den Posten raussuchten, für den sich der Interessent am besten eignete – oder den er sich selbst aussuchte. Er nahm den langen Griff der Türe in die Hand, und verweilte kurz so. Mit geschlossenen Augen atmete er kurz durch, und betrat das Büro schließlich.
Schon zum vierten Mal hörte Abe nun im üblicherweise totenstillen Raum Geräusche, die dort nicht hingehörten. Da im Weltraum ein Vakuum herrschte und somit kein Schall geleitet wurde, konnte er nur unmittelbare Geräuschquellen wie beispielsweise Schiffstriebwerke mit einer Art Echolot erfassen, abtasten und damit hören. Doch die Geräusche, die er seit einer guten halben Stunde in unregelmäßigen Abständen auffing, waren ihm weder bekannt, noch geheuer. Als das Geräusch nun schließlich einmal so laut in seinen Kopfhörern heulte, warf er sie reflexartig von den Ohren, was den Kollegen die neben ihm saßen einen verwirrten Ausdruck auf das Gesicht zauberte.
Er platzierte Daumen und Zeigefinger auf Augenhöhe an seiner Nase, und atmete mehrmals durch. Seine Vermutung war, dass er unter dem Stress, den er hatte, simple Einbildungen erlitt. Er atmete einmal tief durch, und lehnte sich nach vorne. Nach einem Kopfschütteln setzte er die Kopfhörer wieder auf, und drehte die Lautstärke möglichst weit herauf. Mit seinen Händen presste er die Hörmuscheln fest an seine Ohren, und starrte konzentriert in eine imaginäre Ferne.
Er horchte.
Da flogen einige Schiffe in der Gegend herum. Von der in der Nähe befindlichen Venusstation drang der gewohnte Lärm, der auch Geräusche von innerhalb beinhaltete. Als er seine Radarantenne jedoch auf den weiten Raum ausrichtete, wurde es aprubt still.
Er horchte weiter.
Und nach kurzem Warten, erfasste er es wieder. Da war ein Rauschen. Es klang beinahe wie Wind. Diesmal würde er es genauer untersuchen, vielleicht war es doch etwas bekanntes. Mit seinem ausgestreckten Finger regulierte er auf dem Holo-Interface die Lautstärke, stellte sie zuerst sehr leise, dann sehr empfindlich und laut. Mit ein paar weiteren Klicks fügte er ein paar Filter hinzu, kombinierte alle möglichen Varianten, doch das Geräusch blieb unverändert. Dann änderte er die Frequenz, und als er sie auf einen ziemlich hohen Bereich einstellte, veränderte sich das Geräusch tatsächlich – es wurde zu einem Surren. In etwa, als würde er einem Strom-Generator zuhören oder sein Ohr an eine Hochspannungsleitung legen.
Doch obwohl er das Geräusch nun auch mitgeschnitten, aufgenommen und mit alten Aufnahmen verglichen hatte, konnte es nicht zugeordnet werden. Nun war Abe wirklich alarmiert, und ließ auf seinem Interface ein neues Fenster aufploppen – ein Programm zur schiffsinternen Kommunikation. Mit einem Videotelefonat klingelte er die Brücke an, und ließ sich zu Kapitän Cinned, dem leitenden Offizier auf der Quantinum, somit zu seinem Vorgesetzten, durchstellen. Der nahm das Gespräch nach nur kurzer Wartezeit entgegen.
„Sir“, berichtete Abe, „ich habe da ein ungewöhnliches Geräusch. Hab's schon mehrmals überprüft, mit Archivmaterial abgeglichen, die Frequenz und Filter gedehnt, einfach alles. Aber ich kenn's nicht. Schätze, 's wäre am besten, sie kommen mal zu uns runter und hören sich's selbst an.“
„Bin in zwei Minuten bei euch.“
An diese Aussage hielt sich der Kapitän auch, schon nach wenigen Minuten zischte die Tür und er trat in die Radarstation. Als die Kadetten und anderen Maate Haltung annehmen wollten, wank Cinned nur ab und schritt direkt zum Pult von Abe, der ihm den Kopfhörer überreichte. Der Kapitän drückte nur eine Seite des Kopfhörers an sein Ohr, und Abe wies ihn an kurz abzuwarten, da er einige Eingaben machte. Er rief die Aufzeichnung von gerade eben auf.
„Warten sie... gleich kommt's.“
Die Audiowelle blieb konstant gerade, da noch keine Geräusche zu hören waren. Dann plötzlich schwang sie leicht, und schließlich aprubt in großen Wellen.
„Da, genau da! Hören sie das?“
Kapitän Cinned war sich nicht sicher, ob er nicken oder den Kopf schütteln sollte, somit entschied er sich, es ganz bleiben zu lassen und mit einer Gegenfrage zu antworten.
„Ja, ich höre es. Aber, was bei aller Welt ist das?“
Abe hob die Arme.
„Dachte, sie können's mir sagen, Sir.“
Cinned ließ sich die Aufnahme mehrere Male vorspielen, auch mit den aktiven Filtern und mit der letztlich erhöhten Frequenz. Die anderen Männer und Frauen der Radarabteilung beobachteten die beiden, und fragten sich, was sie gefunden hatten – der Kapitän war nicht alle Tage bei ihnen auf der Station. Cinned gab es schließlich auf, und mahnte Abe während des Verlassens der Station, ihm Meldung zu erstatten wenn das Geräusch noch einmal auftauchen sollte. Also wies Nillan seine Männer an, auf Horchposten zu gehen, und in den Raum zu lauschen – alle gingen wieder zurück an die Arbeit.
„Also,
Mr. Nemodes, sie haben sich entschieden unseren Streitkräften
beizutreten. Das freut mich als ihr zuständiger Berater
natürlich sehr. Haben sie denn schon eine konkrete Vorstellung,
welche Aufgaben sie übernehmen wollen?“
Erin saß
einem netten, schon etwas älteren Unteroffizier gegenüber,
der ihn mit einem breiten Grinsen soeben begonnen hatte zu beraten.
Auf die Frage, die er ihm stellte, hatte er keine Antwort.
„Um ehrlich zu sein, hoffte ich, sie würden mir etwas passendes raussuchen.“
Der Mann tippelte ein wenig auf seinem Holocomputer herum.
„Kein Problem. Zuerst sollten sie sich für eine unserer Teilstreitkräfte entscheiden. Diese da sind die Infanterie, die mobile Einheit, die Weltraum- und Seemarine, oder das Polizeikorps.“
„Uff... das ist wirklich schwierig.“
„Machen wir es doch so“, schlug ihm der Soldat vor, „sie schließen erst einmal aus, was sie nicht machen wollen. Um die Entscheidung kümmern wir uns danach.“
Erin nickte, lehnte sich leicht zurück und tänzelte nervös mit seinen Fingern. Er dachte nach, und gab schließlich eine Antwort.
„Ich denke, die Marine wäre nichts für mich. Seetauglich bin ich vermutlich nicht, und auf einem Raumschiff wird es mir auf Dauer zu langweilig.“
Der Soldat lächelte, filterte seine Suchergebnisse auf dem Computer und sah ihn dann wieder an.
„Dann bleiben nur noch die mobile Einheit, das Polizeikorps oder die Infanterie.“
„Das Polizeikorps wäre auch nichts, ich würde gerne weg von der Erde. Ein wenig Fernweh, wissen sie.“, gab er zurück.
„Nun,
aber das PK ist doch auch auf den Ringstationen tätig.“
„Naja,
schon, aber als Polizeisoldat ist man da wohl sein Leben lang. Als
mobiler oder normaler Infanterist wird man doch auch öfters mal
versetzt.“
Der Soldat verschränkte die Arme, und lehnte sich zurück.
„Das ist natürlich richtig. Bleibt also die mobile Einheit, oder die Infanterie. Dann würde ich ihnen bei der Entscheidung jetzt ein wenig unter die Arme greifen.“
„Das wäre schön.“, bemerkte Erin.
„Also, die mobile Einheit hat mit allem zutun, was fährt oder fliegt. Von unseren modernen Quadcopter-Transporthubschraubern, über die doppelläufigen Angriffspanzer bis hin zu unseren jetzt erst brandneu entwickelten Ein-Mann-Mech-Einheiten ist alles dabei, was irgendwie mit mobiler Kriegsführung zutun hat. Bei der standartisierten Infanterie sind sie dank unserem innovativen Optimierungsprogramm bestens ausgerüstet und werden in unseren biomechanisch gestützten Kampfanzügen Fähigkeiten erlangen, die sie sich so nicht einmal erträumen würden. Und wenn sie sich jetzt für eines entscheiden, heißt es nicht, dass das andere ausgeschlossen ist. Landen sie beispielsweise bei der mechanisierten Infanterie, arbeiten sie als Fußsoldat mit unseren Panzern zusammen und koordinieren Angriffe verschiedener Waffengattungen gleichzeitig. Genauso transportieren sie als Quadcopter-Pilot auch Infanteristen – sie sehen, es überschneidet sich. Sie müssen nur den Fokus legen. Die Wahl liegt bei ihnen.“
Die
Entscheidung würde ihm schwer fallen. Großes Kriegsgerät
wie Panzer oder Mechs waren
zweifellos imposant, doch hatte er als Jugendlicher einmal eine
Dokumentation über den Biomechanisierten Kampfanzug gesehen, und
war schier beeindruckt, was man damit alles tun konnte. Diese
Faszination aktivierte er nun wieder, nickte zuerst leicht und dann
entschlossen und rief dem Unteroffizier gerade zu entgegen:
„Zur
Infanterie. Ganz sicher.“
Der Soldat schlug seine Hände zusammen.
„Hervorragend.
Jetzt müssen wir nur noch eine Einheit für sie finden. Ich
filtere jetzt zur Infanterie, und welche Einheiten zur Zeit Lücken
füllen müssen. Es gibt ja auch in Friedenszeiten Verluste –
Soldaten die sich in den Ruhestand verabschieden, sich versetzen
lassen, krank werden, oder zur Reserve wechseln. Ich würde sie
ja fragen, ob sie auch zur Reserve wollen oder doch vollwertiger
Berufssoldat, aber wenn ich sie so ansehe, weiß ich bereits,
dass sie nur glücklich werden wenn sie jetzt
bei uns anfangen, und nicht weiterarbeiten und nur im Ernstfall zu
uns kommen.“
„Ohja“, sagte Erin mit einem
leichten Grinsen, „das sehen sie richtig.“
„Das
ist mein Job, mein Junge. Achso, haben sie vielleicht einen
speziellen Wunsch, zu welchem Standort sie möchten?“
Erin schüttelte den Kopf.
„Nein, Sir.“
„Dann habe ich da was in einem Regiment unter einer Brigade der äußeren Operativstreitkräfte. Dieses Regiment ist stationiert auf der Uranusstation, dort würden sie dann sofort hinversetzt werden nachdem sie auf dem Hauptstützpunkt die Ausbildung abgeschlossen haben. Klingt das gut?“
„Ja, klingt gut. Und welche Aufgabe hätte ich dann dort?“
„Die spezialisierten Einheiten sind im Moment überall voll besetzt. Das heißt sie wären einfacher Schütze oder Grenadier. Aber sobald sie ihren Dienstgrad offiziell erreicht haben, folgen die Spezialausbildungen, dann können sie zu den Pionieren, zu den Sanitätern, den Scharfschützen, wo auch immer sie hinwollen.“
Erin
hob die Arme, und sah den Unteroffizier dann zufrieden an.
„Perfekt.“
Immer wieder meldeten sich die einzelnen Radarkadetten. Das Geräusch war nun nicht nur öfters, sondern auch länger und stärker zu hören. Kapitän Cinned hatte sich entschieden die Quantinum in Richtung der Quelle zu verlegen, und sie liefen mit voller Energie auf diese Richtung zu. Die auf der Venusstation stationierte Jägerstaffel wurde ebenfalls informiert, und hielt sich einsatzbereit.
Vorfälle ähnlicher Art hatte es bereits gegeben, das Weltall war nach wie vor ein Rätsel für den Menschen, und es tauchten Anomalien auf, die sich nicht erklären ließen. Oft wurden bestimmte Gebiete monatelang unter Beobachtung gehalten, Spionagesatelliten installiert, doch am Ende war all dies unbedrohlich. Auch wenn sogar die Besatzung der Quantinum mit derlei Vorkommnissen vertraut war, war der Umstand das sich das Geräusch verstärkte und quasi nicht von der Stelle bewegte, unheimlich für sie.
Für den allergrößten Notfall waren auch diese Korvetten bewaffnet. Natürlich nicht mit monströser Feuerkraft, aber genug um sich zu wehren und sich während einer Flucht den Rücken frei zu halten. Sie näherten sich der auf den Radarbildschirmen angezeigten Quelle immer weiter.
Abe und seine Kollegen horchten alle angestrengt in ihre Kopfhörer, und mittlerweile hatte jeder die selbe Peilung. Einige Kilometer vor der Geräuschquelle ließ Cinned dann die Maschinen stoppen, und sie warteten einfach ab. Abe war mittlerweile per Lautsprecher auf die Brücke geschalten, und gab einen dauerhaften Bericht ab.
„Geräusch ist gleichbleibend, sowohl Entfernung als auch Lautstärke.“
Einige weitere Minuten war es ruhig. Kapitän Cinned starrte durch das Brückenfenster in die mit Sternen gespickte, schwarze Leere. Er rieb sich die Augen, als er glaubte zu sehen, dass sich eine durchsichtige Masse vor dem Raumschiff auftat. Wie bei einem gestörten Fernsehbild verzerrte es in unregelmäßigen Abständen die Sterne. Offenbar war es unmittelbar vor ihnen, und formte sich unheimlich.
„Geräusch wird stärker.“
Schließlich gab es einen explosionsartigen Knall. Das Schiff wurde wie bei einem Erdbeben durchgerüttelt, und auf der Radarstation warfen alle gleichzeitig ihre Kopfhörer weg, um nicht zu ertauben.
„Alle auf Gefechtsstation!“, brüllte Cinned.
Mit Nöten wurde der Befehl weitergegeben, und so gut es bei den widerlichen Bedinungen des Rüttelns möglich war, rannten die Kadetten und Maate, sowie die Waffenoffiziere auf ihre Stationen und bemannten ihre Geschütze.
Doch
so schnell diese unsichtbare Bedrohung einschlug, war sie auch wieder
verschwunden. Nach ein paar Momenten des Schweigens, meldete Abe aus
dem Radarabteil:
„Peilung verloren. Nichts, absolut nichts.
Totenstill da draußen.“
Die Mannschaft ging wieder auf Manöverstation, und Kapitän Cinned befahl die Rückkehr zur eigentlichen Mission. Eine Anomalie. Er hatte sich Angst machen lassen, von einer simplen Anomalie. Sie hatten wichtigeres zutun. Als wäre nichts geschehen dümpelte die Quantinum wieder in Richtung der rot schimmernden Venus.
In Lillys Ohren machte sich ein markantes Piepen bemerkbar. Das wurde nach einer guten halben Minute jedoch durch Musik abgelöst – ihr Radiowecker. Mit einem Gähnen zog sie ihre Decke bis zum Hals, und schmatzte kurz. Sie lauschte der Musik noch ein wenig, öffnete dann ihre Augen und setzt sich langsam auf. Aufgrund einer Schaltung, die sie selbst einprogrammiert hatte, lief der Holo-Projektor vor ihrem Bett lautlos. Ohne einen Ton von sich zu geben verlas gerade ein Nachrichtensprecher die heutigen Geschehnisse, und am rechten Bildschirmrand tauchten die aktuellen Wetterdaten der Erde auf. Zuhause war es an diesem Morgen erfrischend warm. Lilly rieb sich über ihr Gesicht, und stieß die Decke von ihrem Körper, sodass sie beinahe am Fußende des Bettes herunterfiel. Im Schneidersitz blieb sie sitzen, und starrte auf den Fernseher, der an die Wand projeziert wurde. Sie nahm eine Fernbedienung von ihrem Nachttisch, und zappte sich durch die verschiedenen Programme. Bei einem Zeichentrickfilm blieb sie hängen – nicht etwa, weil sie große Lust hatte, ihn sich anzusehen, sondern weil er Erinnerungen weckte. Es war ein Film für Kinder, genannt Captain Archer's Abenteuer. Er weckte bei vielen Kindern die Begeisterung für die Raumfahrt. Einige – natürlich nur Erwachsene – munkelten, das der Film von den größeren Raumspeditionsfirmen und auch vom Staat in der Entstehung gesponsort wurde. Doch selbst wenn, sagte sich Lilly, daran war ja auch nichts schlechtes. Der Weltraum war nunmal ein Bestandteil der menschlichen Welt geworden, und sie fand nichts falsches daran, auch den Kindern schon zu zeigen, was für eine Ehre das darstellte. Als sie diese Gedankengänge gerade beenden wollte, klang ein sich wiederholendes Piepgeräusch durch den Raum. Sie orientierte sich kurz, schaltete den Holofernseher stumm und griff zu ihrem Transmitter. Sie stellte ihn vor sich auf die Matratze, und ein Bild schnellte hoch.
Als Remus Lilly in Schlafklamotten – die nur eine knappe Hose und ein Oberteil beinhalteten – sah, erschrak er zunächst leicht, ignorierte es dann jedoch. In gewissem Maße hatte er damit gerechnet.
"Hey, Scarlett. Ich wollte nur sehen ob du auch pünktlich wach bist, heute ist der große Tag."
"Naja", entgegnete sie müde, "einer der großen Tage. Das werden wir hier noch öfters haben."
Remus lächelte sie an, und einer seiner unterstellten Mitarbeiter tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich zu ihm um, und gab ihm die Auskunft, die er verlangte. Dann sah er wieder zu Lilly.
"Wir überprüfen hier gerade nochmal, ob alles sitzt."
"Okay", erwiderte Lilly knapp und gähnte kurz, "ich mache mich jetzt auch auf den Weg. Achja, sagmal, stimmt es, das die Gräfin wieder vorbeikommt um sich die Installation anzusehen?"
Unwissend hob Remus die Schultern.
"Soweit ich weiß, kommt sie erst wieder nach endgültigem Abschluss des Projekts vorbei – also nein."
"Werden wir ja dann sehen. Bis gleich."
Lilly kappte die Verbindung, legte sich noch einmal auf den Rücken und streckte ihren Körper durch. Dann sprang sie energiegeladen auf, verschwand im angrenzenden Badezimmer ihrer Wohnung, und ließ sich zu Musik aus dem hauseigenen Radio mit dem warmen Wasser aus der gläsernen Duschkabine berieseln. Heute, nach mehreren Monaten, war der erste Solar-Satellit fertiggestellt worden und sollte nun in einen Probelauf gehen, und wenn dieser Erfolg hatte, auch gleich das Routine-Programm aufnehmen. Remus arbeitete deshalb die gesamte letzte Nacht durch. Die Mannschaften seiner Fertigungsabteilung schweißten in Doppelschichten, und in der Planungsabteilung entwarf man einen Ablauf für diesen Tag, der selbstverständlich reibungslos über die Bühne gehen sollte.
Sie trat aus der Dusche, schlüpfte in ihren Overall mit den Farben der Erde, den sie zu diesem ein wenig feierlichen Anlass beschlossen hatte zu tragen, und passte ihre Frisur an – heute wollte sie ihre Haare zur Abwechslung einmal offen tragen. Normalerweise verrichtete sie immer mit einer funktionellen Frisur ihre Arbeit, mit einem gebunden Zopf meistens. Mit dieser Variation wollte sie die Stimmung ein wenig auflockern.
Schließlich entschied sie sich noch für ein anderes formelles Accessiore, ein runder Button mit Blau-Grün, also ebenfalls den Farben der Erde, den sie als Klammer in ihren Haaren platzierte. Zufrieden grinste sie sich im Spiegel an, und machte sich schließlich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz.
Die Venus, einer der neun großen Raumkreuzer, dockte in diesem Moment an die Marsstation an. Im Innern waren die üblichen Reisenden, viele von ihnen auf Geschäftsreise, andere nur zum Vergnügen unterwegs. Erin war auch auf einer Art Geschäftsreise, schließlich zahlte er diese nicht selbst – er hatte seinen Versetzungsbefehl bekommen, und war auf dem Weg zum Mars, der zentralen Militärbasis der Menschheit. Bevor er in seine reguläre Einheit versetzt wurde, musste er zunächst die Grundausbildung durchlaufen. Das erklärte sich von selbst. Was auf ihn zukam, wusste er nicht. Er kannte alte Kriegsfilme in denen die Ausbildung nahezu unmenschlich dargestellt wurde, in modernen Dokumentationen allerdings wirkte es auf ihn allerdings weniger autoritär, aber trotzdem streng. Er würde sich überraschen lassen.
Zusammen mit vielen anderen Männern und Frauen stand er auf der Laderampe des Raumkreuzers, alle mit Reisetaschen auf dem Rücken, in die sie das nötigste für ihren Aufenthalt gepackt hatten.
Erin las gerade noch eine Nachricht auf seinem Transmitter, das Oberkommando beglückwünschte ihn wie alle anderen Rekruten zur Einschreibung, und ihm wurde der Standort seines Quartiers mitgeteilt. Gelandet war er in der Ausbildungskompanie 3. Die Nummerierung hatte nichts zu sagen, sondern waren die Einheiten für das Training einfach seperat aufgebaut, da ein freiwilliger Wehrdienst dem Militär sagenhaft viel Nachschub an Frischlingen gab.
Als die große Gruppe von Neulingen durch die Laderampe trat, begrüßten sie die Wachsoldaten im Eingangsbereich mit grinsenden Blicken. Das Gefühl von Überlegenheit für den Moment, da sie wussten, was ihnen bevorstehen würde.
Etwas orientierungslos wanderte Erin durch den großen Korridor hinter der Laderampe, der in ein großes Atrium führte. Dort war gute Luft, denn ein übergroßer Baum mit einer Grünfläche stand im Zentrum. Die Wege die sich symetrisch in Oktagonform um ihn anordneten, waren stellenweise mit Steinbänken versehen. Nachdem die Rekrutentruppe größtenteils in das Atrium gewandert war, ploppten rundherum um den Baum vier Holobildschirme auf. Ein Mann in Offiziersuniform erschien auf ihnen, die Rede war jedoch bereits vorher aufgenommen worden, wie Erin vermutete.
"Rekruten, ich und ihre Kameraden heißen sie in unseren Reihen willkommen. Mein Name ist Lokwood Corvin, Oberbefehlshaber der Infanteriestreitkräfte unseres Militärs. Die nächsten Wochen und Monate werden sich entscheidend auf ihre Laufbahn auswirken, und auch, wenn sie vermutlich nervös sind und an sich selbst hohe Ansprüche stellen, so kann ich sie beruhigen – jeder wird genau den Posten bekommen, den er verdient."
Die bereits auf der Station ansässigen Rekruten, die in Ausgehuniform in dem Atrium umherspazierten oder sich ausruhten, ignorierten die Ansprache, die noch in Zivilklamotten gehüllten Neuankömmlinge hoben jedoch alle ihre Köpfe und lauschten den Worten des Generals.
"Und nun, begeben sie sich zu ihrer zugewiesenen Ausbildungseinheit. Sie werden ihre Uniformen vorfinden, und einer unserer Ausbildungsoffiziere wird sie einweisen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg, und hoffe darauf, dass sie ihre vorgenommen Ziele bei uns erreichen."
Als die Hologramme wieder verschwanden, machte sich in der Menge wieder Gemurmel breit. Erin wartete ein wenig ab, und sah zu, wie sie sich langsam auflöste. Ein Großteil der Neulinge ging meistens in Zweier- oder Dreiergruppen ab, da sich vermutlich Freunde und vielleicht auch Familienmitglieder gleichzeitig eingeschrieben hatten. Er jedoch war alleine, und orientierte sich zunächst an den großen Holoschildern an den Wänden, die die Standorte der jeweiligen Einheiten aufzeigten. Hier im Atrium jedoch schien sich das hauptsächliche Freizeitleben abzuspielen. Einige Geschäfte und auch kleine Schnellrestaurants sowie ein Café waren vorhanden, und Erin nahm sich im Kopf bereits schon jetzt vor, seine freie Zeit am besten hier zu verbringen.
Als er die Nummer 3 auf einem der Wegweiser erspähte, lief er in die gewiesene Richtung und fand sich an einer Art Bahnsteig wieder – für einen Monorail-Hochgeschwindigkeitszug. Auf den meisten Ringstationen war eine solche Bahn installiert, die quasi im Kreis herum fuhr, um schnell die verschiedenen Bezirke der Stationen zu verknüpfen, was besonders auf der Marsstation wichtig war. Zum einen gab es auf der Marsstation auch einen Wohnbezirk, Familien von Offizieren durften auf der Station wohnen. Dann gab es natürlich die zwei großen Ausbildungsbereiche, zum einen für die Infanterie, zum Anderen für das Polizeikorps. Die anderen Teilstreitkräfte bildeten nicht auf der Marsstation aus, die mobile Einheit hatte ihr Ausbildungslager auf der Erde im ehemaligen Australien aufgeschlagen, dort war genügend Platz um mit Fluggerät und Fahrzeugen zu praktizieren. Die Seemarine der Erde konnte selbstverständlich nur auf dem Meer ausbilden, genauso wie die Weltraumflotte nur auf speziellen Schulschiffen ausbildete. Das letzte Areal war eine Art Arsenal des Militärs, in dem einige Fahrzeuge der mobilen Einheit, aber hauptsächlich eigentlich schweres Gerät und Waffen gelagert wurden, sowie auch Fluggerät der Flotte in verschiedenen Hangars.
Erin setzte seine Reisetasche auf dem Boden des Bahnsteiges ab, ließ sich in einen der Wartesitze fallen, und vertrieb sich mit einem kleinen Spiel auf seinem Transmitter die Wartezeit auf das Shuttle.
Als Lilly durch die Tür der Drohnenkontrolle trat, präsentierte sich vor ihr ein Bild, wie sie es erwartet hatte. Die meisten der Drohnenpiloten und auch sonstiges Personal in dem Raum stand wie gebannt vor den Bildschirmen die am oberen Rand der Wand flimmerten, und die eingebauten Kameras des ersten fertiggestellten Satelliten zeigten. Ein gigantischer Aufbau mit großen Solarpanels, der auch einen Adapter für Tesla-Container besaß. Diese würde man dann in regelmäßigen Abständen abholen, und das dann schließlich mit mehreren Satelliten – das würde auf allen Planeten neue Energiekapazitäten freigeben, die man in andere Projekte investieren könnte.
Nur einer der Piloten saß an seiner Konsole, der eine Drohne mit Transportvorrichtungen vorbereitete, die den Satelliten in seine Umlaufbahn fliegen würde.
Lilly zückte ihren Transmitter und ließ kurz ein Display mit der Uhrzeit in die Luft schnellen. In wenigen Minuten würde eine Videoschaltung zum Gouverneur der Venusstation und Professor Robert May aufgebaut werden, letzterer war der Entwickler des Projekts der großen Solarsatelliten. Beide waren wichtige Persönlichkeiten, die mit ansehen wollten, wie der erste Satellit in den Probelauf ging.
Sie hatte sich vorgenommen, heute einmal ihre Nervosität zu vergessen und sich locker zu geben. Das war eigentlich ihrem Charakter entgegengesetzt, aber sie war der Meinung, dass sie den Versuch sich dahingehend zu ändern wagen könnte.
Der große Tisch, den Lilly eigentlich während der Arbeit als Kartentisch verwendete, änderte seine Funktion in diesem Moment. Die Glasscheibe, auf der eigentlich die Karte mit dem Touchpad erschien, klappte mit einem Surren langsam zur Seite, so dass sie sich senkrecht vor Lilly aufstellte. Drei Bildschirmrahmen zeichneten sich langsam, und auf einem erschien gleich eine Person. Remus, der im Hangar ein kleines Inspektionsteam umherscheuchte, das den Flugkörper mit den Sonarpanels gründlich überprüfte, bevor er den Start freigeben konnte. Schließlich war die Verbindung aufgebaut.
"Remus, wie sieht's aus bei euch?"
"Wir sind gleich durch. Zum zweiten Mal. Keine Probleme. Hey, sie da! Überprüfen sie noch mal die Stabilisatoren!"
Der Betrieb in dem Hangar war deutlich zu hören. In der Drohnenkontrolle selbst erwarteten alle mit gespanntem Tuscheln endlich die Startprozedur. Lilly sah leicht zu Boden und kratzte sich einmal kurz im Nacken, tippte dann sanft auf das Touchpad und startete die Videokonferenz. Die zwei leeren Bildrahmen wurden nun auch ausgefüllt. Links blieb Remus, in der Mitte ein älterer Mann mit einer Brille, der Gouverneur der Venusstation, und rechts aussen ein in Laborkittel gehüllter Forscher mit einem bläulichen Visor, der mit seinem Display eins seiner Augen bedeckte – Professor May.
"Herr Gouverneur, Herr Professor."
Die beiden grüßten jeweils mit einem sachlichen Kopfnicken. May übernahm nun die weiteren Erklärungen.
"Gouverneur, darf ich vorstellen, die Bauleiterin der Drohnenkontrolle, Lilian Thorne. Eigentlich sollte mein Koordinator, Welmar Darcon, diesen Test durchführen, doch der leitet nebenbei noch ein anderes Projekt auf der Station. Frau Thorne ist mindestens genauso gut qualifiziert, deshalb übernimmt sie das."
"Eine Ehre sie kennenzulernen, Herr Gouverneur.", setzte Lilly spontan ein. Der wurde nun ein wenig ungeduldig, blieb aber höflich.
"Die Ehre ist ganz meinerseits. Nun, können wir beginnen?"
"Ich warte noch auf die Freigabe unseres Montageleiters."
Genau in diesem Moment nickte Remus zu Lilly in die Kamera und hob den Daumen, was sie gleich weitergab.
"Ah, wir haben die Erlaubnis. Alan, starten sie bitte die Drohne."
Der Drohnenpilot an der Konsole zog die Joysticks vor ihm langsam zu sich, und im Hangar begann der kleine Schlepper den Satelliten anzuheben, und schwebte schließlich gestützt von dem hangarinternen Magnetfeld in der Luft. Das Schauspiel wurde von allen auf den Bildschirmen verfolgt, und die zugeschalteten Konferenzteilnehmer bekamen diese Bilder auf ihre Transmitter übertragen. Der Satellit flog an den Transporter angedockt langsam aus dem Hangar, und als er schließlich die Sauerstoffbarriere passierte, hielt jeder innerhalb der Kontrollstation die Luft an.
Man rechnete nicht mit einer Art Kollaps oder einem totalen Desaster, angespannt war man eher weil es nie sicher sein konnte, dass eine Apparatur wie diese fehlerfrei ihr Programm aufnehmen würde. Die eigentlichen Haupttriebwerke des Schleppers wurden nun aktiviert, die kleinen runden Öffnungen des Ionenantriebs glimmten langsam blau auf, und der Satellit drehte mit dem Schlepper in Richtung der Sonne ab. Während sich dieser Flug vor den Zuschauern präsentierte, begann Professor May dem Gouverneur ein wenig das Prinzip zu erläutern.
"Diese Solar-Satelliten werden in einer sehr engen Umlaufbahn um die Sonne kreisen, und aufgrund der großen Kollektoren die sich mit sich führen, können alle Satelliten im Dauerbetrieb auf ein Jahr den gesamten Energiebedarf einer Ringstation aufnehmen."
Der Transporter war für die Sichtfenster der Drohnenkontrolle nun ausser Sichtweite, er passierte in diesem Moment den Abschnitt der Ringstation, dessen Fenster aufgrund der Zuwendung zur Sonne abgedunkelt waren. Dadurch das die Sonne sich jedoch viel näher an der Venus befand als der Erde, waren selbst die abgedunkelten Räume noch taghell ausgeleuchtet. Die Dimmung diente eher dem Schutz vor den gefährlichen UV-Strahlen.
"Die Energie speichern sie in Tesla-Containern, die dann wie sie natürlich wissen, in der ganzen Galaxie nach belieben eingesetzt werden darf. Einige meiner Kollegen aus dem Forschungsbereich stehen schon jetzt bei mir Schlange, da sie sich alle Ressourcen dieser Art für ihre Projekte sichern wollen."
"Und, haben sie schon jemandem zugesagt?", fragte der Gouverneur.
"Das hätte ich bestimmt, wenn ich dürfte. Aber das wird vom Volksrat entschieden."
Der Volksrat war im Prinzip die ausführende Regierung der Menschheit. Er bestand nicht aus Politikern, sondern stellte jedes Land auf der Erde und jede Station eine Person zur Verfügung. Jeder konnte sich zur Wahl aufstellen lassen, man musste jedoch mit einem geringeren Einkommen für mehr Arbeit leben. Der Volksrat an sich traf jedoch keine Entscheidungen, nebenbei bestand noch ein Soldatenrat. Aber auch der war nicht ermächtigt Beschlüsse zu erlassen, sondern allein der Großkanzler. Der hielt klassische Abstimmungen ab, jedoch wurde immer stets versucht eine große Kompromisslösung aus allen Stimmmöglichkeiten zu kreiieren, die Anzahl der Stimmen veränderte nur die Gewichtung der jeweiligen Vorschläge, also den Anteil an der Endlösung.
"Wenn sie aber entscheiden dürften, nur theoretisch – welches Projekt benötigt diese Energie momentan am meisten? Wo wäre sie am sinnvollsten eingesetzt?"
Der Professor dachte kurz nach.
"Also, wenn ich allein die Ressourcen zuweisen dürfte... und sie mich persönlich fragen, wo sie am besten aufgehoben wären... da fielen mir mehr als genug offene Projekte ein. Die Fertigstellung der Monorail auf der Jupiterstation, die Erschließung neuer Asteroidenbasen um den Saturn..."
Der Saturn war der einzigste Planet in der Milchstraße, der keine Ringstation besaß. Aufgrund seines Asteroidengürtels erwies es sich als problematisch, eine Station zu bauen. Deshalb entschloss man sich dazu, die größten Asteroiden von innen auszuhöhlen und in ihnen Basen zu errichten – weshalb der Bereich um den Saturn die geringste Population aufwies, im Gegensatz zu den Ringstationen, die jeweils in etwa einer Milliarde Menschen ein Zuhause boten.
Der Gouverneur ließ sich die beiden Vorschläge des Professors durch den Kopf gehen, und sah zunächst weiter dem Transporter im Flug zu.
Erin war mit der Monorail bei den Quartieren seiner Einheit angekommen, und kam in einer Art Komplex aus Korridoren an. Er betrat eine große Kantine. Die war jedoch im Moment nicht besetzt, zumindest nicht von Soldaten die wie üblich zum Essen kommen sollten. Stattdessen war ein Anteil der anderen Rekruten in Zivilklamotten so wie Erin nun hier, und warteten auf die Ausbildungsoffiziere, die sie einweisen sollten.
Er setzte sich an einen der Tische, stellte seine Reisetasche neben sich ab und stützte seine Ellbogen auf die Tischplatte. Entspannt tippelte er mit seinen Fingern auf dieser herum, während es die anderen Wartenden Rekruten ihm gleichtaten und sich zu ihm an den Tisch setzten. Zum Reden konnte sich jedoch keiner motivieren. Keiner von ihnen kannte sich, denn diejenigen die mit Bekannten hergekommen waren hatten sich bereits einen anderen Tisch gesucht. Also saßen die einsamen Neulinge nun gemeinsam in einer Runde, und niemand traute sich, ein Gespräch zu eröffnen.
Die junge Frau, die gegenüber von Erin Platz genommen hatte, schien das aber nicht mehr auszuhalten. Aufgeschlossen streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
"Hi. Ich bin Carmen."
Etwas überrümpelt schüttelte er ihre Hand.
"Erin. Freut mich, dich kennenzulernen."
Carmen grinste zufrieden. Erin studierte sein Gegenüber nun ausführlicher, nachdem sie sich ihm offen zeigte. Sie war noch jung, keinesfalls älter als Erin. Sie hatte einen dunkleren Hautton, stark gebräunt. Über ihrer linken Augebraue trug sie ein Piercing. Ihre Haare waren dunkel und offen, jedoch vergleichsweise kurz. Nach dem förmlichen Handschlag versuchte sie die Konversation aufrecht zu erhalten.
"Bist du auch so aufgeregt wie ich?"
"Das könnte man so sagen, ja. Ich glaube keiner von uns weiß, was auf uns zukommt."
"Verflucht richtig, Rekruten!"
Die Stimme eines Ausbilders hatte Erin vervollständigt. Dieser war buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht, und nachdem alle dessen Stimme vernommen hatten, sprangen sie wie elektrisiert auf. Der Ausbilder war ein grimmig aussehender Soldat, schon wesentlich älter als die meisten der Rekruten. Er schritt nah an den Tisch und machte einen leichten Bogen, sodass er neben Erin stand und ihm über die Schulter sehen konnte.
"Wie ist ihr Name, Rekrut?"
"Nemodes, Erin Nemodes."
Der Ausbildunsoffizier nickte häuchlerisch interessiert, und sah zu Carmen, der er die selbe Frage stellte.
"Und sie?"
"Ozaba, Carmen Ozaba."
"Ozaba, hören sie auf Nemodes. Der Mann hat absolut recht. Sie haben ja keine Ahnung, was auf sie zukommt."
Nun sprach der Mann laut und durch die ganze Kantine, damit ihn jeder hören konnte.
"So, und nun für sie alle, die werten Damen und Herren. Ich schlage vor das sie sich ihr Gepäck schnappen, und sich auf die Quartiere verteilen. Sie sind circa sechzig Leute mit dem zweiten Schwung der heute noch eintreffen wird. Das heißt sie bilden eine Stärke von zwei Zügen. Vorzüglich. Morgen beginnt ihre Ausbildung, also schlage ich vor, dass sie sich möglichst früh schlafen legen. Worauf warten sie denn noch, los, Abmarsch!"
Schon mit dem ersten Wort der letzten Aufforderung begann das Rumoren in der Kantine, Gepäck wurde aufgehoben und in Richtung der Quartiere marschiert. Erin hielt sich an Carmen, die beiden liefen direkt in den ersten der vier Räume am Ende des angrenzenden Korridors, die jeweils mit Doppelstock-Betten ausgestattet waren. Am Ende des Raumes befand sich eine lange Reihe von Spinden, vermutlich genau die selbe Anzahl von diesen wie es Betten gab. Am Ende der Spinde befand sich ein Durchgang, der vermutlich zu den Sanitäranlagen führte.
Der Ausbildungsoffizier überließ die Rekruten sich selbst, der Tag war nun nicht mehr lang und jeder sollte vermutlich die Möglichkeit kriegen, sich einzugewöhnen – diese Quartiere waren für sie schließlich für ein paar Monate das Zuhause. Carmen und Erin teilten sich eins der Doppelstock-Betten, Erin hatte seine Tasche nach oben auf die Matratze gehievt, während Carmen eine Kette und ein paar kleine Fotoausdrucke in den Lattenrost über ihrem Bett einklemmte, um diese immer sehen zu können. Während sie damit beschäftigt war, lief Erin zu seinem Spind – auf jedem leuchtete der Nachname und ein kleines Passbild von den Rekruten auf Hologrammen, damit sie schnell gefunden wurden. Als Erin den Knopf zum öffnen des seperaten Schrankes drückte, verschwand sein Name in dem kleinen Holostreifen und eine kurze Nachricht passierte ihn in Laufschrift:
"Achtung. Bitte Code zum ändern nun zweimal eingeben. Code wird für die Dauer des Aufenthaltes gespeichert."
Dann leuchtete ein Tastenfeld mit Ziffern auf, an der Stelle, wo konventionelle Schlösser platziert wurden, auf. Erin überlegte sich einen vierstelligen Code, tippte ihn zweimal ein und schon entsperrte sich der Spind mit einem Klicken. Im Inneren fand er einen normalen Stauraum und ein erhobenes Extrafach, sowie laminierte Einlässe in der Spindtür für Fotos und Dokumente. In dem erhobenen Fach lag eine fein zusammengefaltete Uniform in schlichtem Grau, ein simpler Overall, mit dem einen Unterschied das er Schulterklappen besaß und zudem Erins Nachname auf Brusthöhe eingenäht war. Mit der Uniform verschwand er im Sanitärbereich. Der war metallisch verkleidet, es gab mehrere Klokabinen und die Duschkabinen waren strukturell so angelegt, das sie den Körper verdeckten, die Köpfe jedoch normalerweise darüber hinaussahen. In eine dieser Kabinen stellte Erin sich, und zog sich rasch um. Als er in den Overall geschlüpft war ballte er kurz seine Hände zu Fäusten, streckte sich einmal und atmete durch. Seine Zivilklamotten stopfte er einfach in den Spind, und sah sich dann in dem kleinen Spiegel an, der ebenfalls in der Spindtür integriert war, an – sein neues Ich. Erin in Uniform. Stolz grinste er sich selbst an.
"Thorne, ist der Schlepper in Position?", erkundigte sich Professor May.
"Jawohl, Herr Professor."
"Dann platzieren sie den Satelliten jetzt in der Umlaufbahn."
"Natürlich."
Lilly gab dem Piloten am Schlepper ein Handzeichen, worauf der einen Knopf betätigte. Der Satellit stieß sich mit einer seiner Sauerstoffdüsen wenige Meter vom Schlepper weg – er war nun abgekoppelt.
"Übertrage Kontrolle des Satelliten auf ihre Station."
Das Telefonat mit den drei Bildschaltungen minimierte sich auf Lillys großer umfunktionierter Glaskonsole, und ein neuer Bildschirm gab ihr Kontrolle über alle Funktionen. Mit einigen Berührungen startete sie die Routineprogramme, und in der Ferne begannen die Sonnensegel des Satelliten sich mit der Breitseite der Sonne zuzuwenden. Auf den Anzeigen in der Drohnenkontrolle auf der Venusstation begannen sich unmittelbar die Anzeigen aufzuhellen, da der Ertrag des Sonnenlichtes auf einer Skala gemessen wurde. Mit ein paar weiteren Befehlen und einem kurzen Sicherheitscheck schaltete Lilly den Adapter für die Tesla-Container ein, und die Skala der Energie blieb stabil – sie wurde gespeichert. Mit dem Ausschalten des internen Gravitationsfeldes zur Stabilisierung begann der Satellit leicht zu treiben. Schließlich gab sie ihm mit einer seitlich gelegenen Sauerstoffdüse einen kleinen Schubser, und der Satellit driftete in der Umlaufbahn der Sonne. Er war nun aktiviert und im Einsatz.
"Bestätige, Solarorbiter Nummer Eins des Projekts gestartet und hat Betrieb aufgenommen, Herr Professor."
In der Drohnenkontrolle gab es einen Applaus, so gering wie er auch nur möglich war bei den wenigen Anwesenden. Auch Remus und seine Unterstellten raunten im Montage-Hangar kurz auf.
"Sehr beeindruckend.", bemerkte der Gouverneur. "Und wie viele Orbiter werden sie insgesamt platzieren?"
"Wenn alles nach Plan läuft, werden bis Ende diesen Jahres 8 Stück ihren Dienst aufnehmen." Bei diesen Zahlen funkelten die Augen des Professors.
Am Ende der Leitung konnte man beobachten, wie der Gouverneur seinen Sekretär zu sich rief und ein Tablet in die Hand nahm, auf dem er mit Gesten herumtippte.
"Ich autorisiere ihnen zusätzliche Fördermittel. Das Großkanzleramt wird meine Anfrage noch heute bearbeiten, und spätestens in der nächsten Woche sollte sie angenommen werden – zumindest hoffe ich das."
Der Satellit trieb nun um die Sonne herum und absorbierte Licht, welches er in Energie umwandelte. Der Drohnenpilot flog den Schlepper wieder in Richtung der Venus-Station zurück, und Lilly versuchte dem Gespräch ein würdiges Ende zu verleihen.
"Herr Gouverneur, im Namen aller Beteiligten unserer Planungs- und Baumannschaften möchte ich mich für ihre Zeit bedanken." Darauf neigte der Gouverneur seinen Kopf zu einer höflichen, wenn auch kurzen Verbeugung, und der Professor verlegte sich selbst und den Gouverneur wieder auf einen privaten Kanal.
Lillys Rolle an diesem Tag war also beendet. Remus Bild ploppte nun wieder auf, und sie atmete erleichtert aus.
"Geschafft!"
"Das machen wir jetzt noch 8 mal haargenau so, und alles wird gut.", beharrte Remus.
Die Skyline der Hauptstadt war ein unerreichter Ausblick. In den einzelnen Fenstern der hoch gebauten Häuser, in den allesamt gleich ausgestatteten Apartments brannte hier und dort noch Licht. Es war dunkel, doch besonders auf den stark befahrenen Straßen sorgten die Lichter der Fahrzeuge für ein munteres Lichtspiel. In der breiten Glasscheibe, die eine komplette Wand des Raumes einnahm, spiegelte sich das Gesicht von einem jungen Mann, der mit verschränkten Armen die Aussicht genoss. In seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich Gefühlskälte wieder, die Augen wanderten in blitzschnellen Bewegungen beim Inspizieren des Panoramas vor ihm hin und her.
Nachdem er jedoch die Eindrücke auf sich wirken hatte lassen, änderte sich der Fokus seiner Optik, sodass er nun nicht mehr nach draußen, sondern in seine eigenen Augen starrte. Ein merkwürdiger Anblick, so empfand er zumindest. Auf den ersten Blick ein normaler junger Erwachsener, doch innerlich fühlte er sich schon so erfahren wie nach einem gesamten Menschenleben.
Sein Name war Sal. Es war nicht sein richtiger Name, doch dieser Spitzname war schon längst zu seinem Rufnamen geworden, und abgesehen von offiziellen Papieren wurde er nie mit seinem richtigen Namen konfrontiert – er stellte sich selbst damit vor, alle die ihn kannten, nannten ihn auch so. Damit war Sal sein richtiger Name geworden.
Sal war eines der „Staatskinder“, wie es im Jargon der Bevölkerung genannt wurde. Die Prozedur, das Eltern, die beide ganztägig zu arbeiten hatten, ihre Kinder dem Staat zur Erziehung anvertrauen konnten, war eine routinierte Methode geworden. Beinahe die Hälfte aller Kinder wurde weltweit so aufgezogen – was aber bisher zu keinerlei negativen Auswirkungen führte. Da nach dem Kindergartenalter sofort die Integration in ein bildungsorientiertes Internat erfolgte, war die Zukunft gesichert und der Kontakt mit Altersgenossen auch von Anfang an gegeben. Spezielle Förderprogramme in allen Talenten von Sprachen bis hin zur Mathematik, fand sich für jeden die Bildung, die er benötigte. Er aber war ein besonderer Fall gewesen und hatte einen anderen Weg eingeschlagen, als die meisten seiner Kameraden.
Hinter Sal stand ein Schreibtisch, es handelte sich offenkundig um ein gewöhnliches Büro. Auf dem zum Tisch gehörenden Stuhl kauerte eine Gestalt, die man im Dunkeln nicht erkennen konnte – die Silhouette war vornüber geneigt und schien sitzend auf der Tischoberfläche zu schlafen. Als sie sich begann zu regen und leicht zu murmeln, sah Sal sich um. Er schob seinen Ärmel nach oben und ein kleines holografisches Armband lies die Uhrzeit in die Luft schnellen. Das abgedunkelte Büro war vollkommen still, nur das verschlafene Grummeln, welches definitiv männlich klang, brach das Schweigen gelegentlich. Da diese Anzeichen des Wachwerdens wohl wieder verflogen, entspannte Sal sich wieder.
Mit seinen in schwarze Lederhandschuhe verpackten Händen strich Sal sich einmal über das Gesicht, bevor er seine Arme wieder verschränkte. Er bewunderte unablässig die Skyline der Hauptstadt, denn die Zeit die er auf der Erde verbringen konnte, genoss er sehr. Selbst kam er auf der Jupiterstation zur Welt, und hatte über die Jahre eine, wenn auch kaum nennenswerte, aber doch vorhandene Form von Neid auf die entwickelt, die das Privileg hatten auf der Erde aufzuwachsen. Es war jedoch das alte Lied, der Gegensatz den auch Touristen und Einheimische sich immer entgegenbrachten – die meisten Touristen wollten dort leben, wo sie hinfuhren, die Einheimischen dort, wo die Touristen herkamen, und umgekehrt. So ähnlich war das Phänomen mit der Bevölkerung der Erde und der interplanetaren Raumstationen verlaufen – auf der Erde gebürtige Menschen wanderten verhältnismäßig oft auf die Ringstationen aus, und umgekehrt. Und diesem Gedanken hatte Sal sich angeschlossen, wenn auch unbeeinflusst von Anderen. Die Politik fürchtete zu anfangs das sich daraus ein demografisches Problem entwickeln konnte, doch wie die Führungsebene beobachtete, förderte es Anti-Isolationsmaßnahmen, die die Regierung zuvor getroffen hatte – man hatte die Angst, das sich die Ringstationen irgendwann isolieren und autonom bestehen wollten. Doch durch den grundlegenden Austausch zwischen der Erden- und Stationsbevölkerung kam es nie zu irgendwelchen Spannungen.
Bei der Erinnerung an jene Politikstunde im Unterricht die das thematisierte, wurde Sal wieder aus den Gedanken gerissen – die Gestalt im Stuhl stöhnte nun häufiger, und nach einem weiteren Blick auf seine Armbanduhr schritt er schließlich zu dem Schreibtisch. Sachlich befeuchtete er seine Lippen, und packte den Kopf des halbwachen Mannes am Haar, zog ihn nach hinten und sah ihm in die Augen, deren Lider er mit seinem Finger hochzog. Nach einem zufriedenen Nicken seinerseits nahm er eine auf dem Tisch bereitgelegte Pistole, legte sie dem Mann in die rechte Hand und wickelte seinen Finger um den Abzug. Währenddessen machte er simultan einen kleinen Ausfallschritt nach hinten, hob die Pistole im nächsten Moment mit der Hand des Mannes an, setzte sie an seine Schläfe – und drückte ab.
Erin und Carmen standen nebeneinander. Die Arme fest an den Körper gepresst, die Beine zusammen und den Körper stramm gestreckt. Nicht nur die beiden, sondern der gesamte Schlafsaal tat es ihnen gleich. Jeder stand vor seinem Bett, während ein neuer Ausbildungsoffizier und ein Assistent seinerseits zwischen den vielen Bettreihen um herliefen. Letzterer hatte ein Tablet bei sich, das in diesem Fall ein altmodisches Klemmbrett ersetzte – es wurde abgehakt, wer anwesend war. Diese Prozedur nahm einige Zeit in Anspruch, und wie der Ausbilder meinte, sollten alle schon einmal in Disziplin geschult werden, indem sie nun einfach still stehen mussten – in beiden Sinnen des Wortes. Als die Kontrolle vollendet war, wurde den Rekruten gleich im Befehlston vorgeschrieben, was nun zu tun war.
„Begeben sie sich nun unverzüglich zu den Trainingsanlagen im A-Block. Nicht nur ihr Zug, sondern die gesamte Kompanie wird heute ihren ersten Trainingstag gemeinsam absolvieren. Abmarsch!“
Im gesamten Saal begannen wieder alltägliche Gespräche, und die circa fünfzig Rekruten setzten sich in Bewegung, in Richtung des Ausgangs aus dem Quartiersaal. Carmen stieß Erin an, und die beiden wogen kurz ab, was sie wohl an ihrem ersten Tag zu tun hatten. Erin plädierte darauf, das sie wohl erst einmal eine theoretische Einweisung bekamen, während Carmen sich mehr als sicher war, das körperliches Training nun wichtig sein würde.
Die Menschentraube kam allmählich zusammen, als sie alle den Eingang zum Ausbildungsblock A passierten. Dieser beinhaltete auf den ersten Blick so gut wie nichts, bis Erin einige rechteckige, hochkant aufgestellte Kasten erspähte, die zu Mehreren symmetrisch in der Halle angeordnet waren. Der Ausbilder trat an eine Konsole die in er Mitte der Halle stand, auf der er zunächst einige Eingaben machte – daraufhin erschienen auf den Kästen Nummern, und sie begannen sich nach vorn hin zu öffnen. Im Inneren der Kästen befanden sich parallel angeordnete, runde Vorrichtungen, offenbar eine Art von Sensoren.
„Ich werde nun jedem ein Ausbildungsmodul zuteilen“, informierte der Ausbilder von der Konsole aus, „merken sie sich die Nummer für ihren Slot, der wird über ihre gesamte Ausbildung gleich bleiben.“
Für jede Nummer las er einen Nachnamen vor. Carmen kam vor Erin dran, und der stand nun allein da, während er sich überlegte wofür diese kastenartigen Vorrichtungen wohl dienten. Als seine Nummer aufgerufen wurde, begab er sich zu seiner zugeteilten Position. Das Gerät war etwa 2 Meter groß, und hatte das Aussehen von einer Duschkabine – wenn man von der Öffnung absah, die sich nach oben aufklappen ließ. Auf Anweisungen der Ausbilder stellte er sich hinein, mit dem Gesicht zur Öffnung. Nach einiger Wartezeit war jeder Rekrut in seiner „Kabine“, wie Erin die Gerätschaften nun einfach spontan getauft hatte, und die Öffnung klappte langsam hydraulisch herunter. Zuerst befürchtete er, das er nun komplett im Dunkeln stehen würde, doch während der Schließung glimmte eine kurze Neonröhre über ihm auf. Da leise Luft hineinzuströmen begann, kam Erin zu dem Schluss das er sich nun in einem luftdicht – und somit auch schalldicht – verschlossenem Raum befand. Nun stand er allein für sich in der etwa drei mal drei Meter großen Kabine, und wartete ab.
Sal stieg die lange Treppe herauf, auf der ihm schon die kalte Herbstluft entgegenkam. Er war in einem Arbeiterviertel, das etwas außerhalb Hauptstadt lag. Mit der Metro waren vor allem die Vororte einer jeden Stadt so leicht zu erreichen wie auch schon lange zuvor. Für weiter entfernte Orte nutzte man hauptsächlich die modernen Passagierzüge, welche mehrere Kilometer lang waren, dementsprechend groß waren auch die Bahnhöfe in den Städten. Autobahnen und Fernstraßen existierten kaum noch, und wenn dann nur in geringem Maße, da die neue Technologie für Autos die Reichweite für längere Fahrten nicht hergab.
Mit heulenden Sirenen passierte Sal ein Streifenwagen des Polizeikorps, als er sich zur Orientierung kurz umsah. Auch wenn er zielgenau wusste, wo er hinwollte, so nutzte er die Gelegenheit sich umzusehen. Das Bild von den Städten auf der Erde konnte er sich einfach besser einprägen als die lieblose Umgebung auf den Raumstationen, die teilweise sehr einfallslos gestaltet waren. Auch wenn die Plattenbauten in diesem Viertel nicht so individuell wirken mochten, tat es der wolkenbefleckte Himmel und die frische Luft.
Mit schnellen Schritten nahm er den direkten Weg neben sich, und spazierte in Richtung eines großen Platzes am Ende der Straße. Es war früh am Morgen, doch die Zeit für den Berufsverkehr war schon gekommen. Sowohl auf der Straße als auch an den holografischen Displays der Ampeln leuchteten Verkehrsinformationen auf, und Seitenstraßen die normalerweise von im Boden verankerten Pollern gesperrt wurden, waren nun zur sinnvollen Verkehrsregelung freigegeben.
Auf dem Platz am Ende der Straße stand ein Brunnen, dem Sal allerdings keine große Beachtung schenkte. Er lief zu einem der Gebäude, die um den Platz im Oktagon angeordnet waren. Am Eingang befand sich standardmäßig eine Tafel mit Ziffern, um den Zugangscode einzugeben. Doch da Sal nicht in diesem Haus wohnte, legte er seinen Finger auf eines der holografischen Klingelschilder, und wartete ab. Nach kurzem Warten erweiterte sich das Holofenster, und in einem Feld erschien ein Videobild von einem älteren Herrn.
„Onkel Leon, ich bin's.“
„Sal! Rein mit dir, los.“
Die Tür vor Sal zischte und öffnete sich. Er schlüpfte hindurch und schritt die Treppen herauf zur Wohnung von Leon. Der stand schon in der Tür um Sal willkommen zu heißen, was er dann auch mit einer herzlichen Umarmung tat, als er im Türrahmen stand.
„Eine gefühlte Ewigkeit ist's her, Junge. Na, komm erst mal rein. Möchtest du einen Tee?“
„Gern“, antwortete Sal knapp. Die beiden begaben sich in die Wohnung. Sal nahm auf einem Sessel inmitten des Wohnzimmers platz.
„Was führt dich zu mir?“
„Nichts besonderes. Ich war einfach schon länger nicht mehr bei dir.“
Leon lachte leise in sich hinein.
„Du bist zu lieb, Sal, aber du warst noch nie ohne Grund bei mir. Aber wenn du noch nicht darüber reden möchtest, ist das auch in Ordnung. Wir haben ja Zeit.“
„Um ehrlich zu sein“, gestand Sal, „kann ich nicht lang bleiben.“
„Tja, dann ist es wohl so.“
Der schon in die Jahre gekommene Leon goss den Tee aus einer Kanne in zwei Tassen, die er mit ins Wohnzimmer nahm. Gegenüber von Sal nahm er Platz, und rührte den Inhalt seiner Tasse mit einem Löffel um.
„Ich komme mir so alt vor, Junge. Die Zeit vergeht doch viel zu schnell. Hast du die Nachrichten gesehen? Die Expansion in den Saturnringen schreitet voran. Als ich noch in deinem Alter war, da hieß es An den Saturn, da kommen wir nicht ran, der ist unbesiedelbar, wo soll denn dort eine Raumstation hin? Aber jetzt – jetzt reden sie davon, als wäre es schon immer möglich gewesen.“
Sal hörte einfach zu. Auch wenn es ihm generell schwer fiel, Gefühle offen zu zeigen, so fühlte er sich gerade mehr als wohl. Er nannte ihn nicht umsonst Onkel Leon – bei ihm war er im Kindesalter ständig. Mit diesem Gedanken kam er zum eigentlichen Zweck seines Besuches.
„Leon, hast du die Sachen aus meinem alten Zimmer hier?“
„Ich hab es nicht über's Herz gebracht es wegzuwerfen. Aber es ist nicht hier. Habe es billig in einem der Lager in der Innenstadt verstaut.“
Solche Lager waren das moderne Gegenstück zu den Kellern, die früher jedes Haus besaß. Die Veranlagung, alte Sachen nicht wegzuwerfen war auch in dieser Zeit noch vorhanden.
Sal ließ sich die Zugangskarte geben, blieb aber noch auf den Tee bei Leon. Er genoss die Ruhe, und schwelgte in Erinnerungen.
Von Ruhe konnte Erin in diesem Moment keinesfalls reden. Während er auf dem Boden hinter einer Mauer kauerte, versuchte er Revue passieren zu lassen, was geschehen war. Die Kabine, in der er stand, war plötzlich kälter geworden. Ein holografisches Gitternetz ploppte aus dem nichts auf, und umschloss ihn. Dann hatte er einen Filmriss, als wäre er ohnmächtig geworden. Im nächsten Moment stand er mit einem Großteil seiner Kameraden in einem großen Transporter, der offenbar schnell vorwärts fuhr. Dann ging die Rampe herunter, und sie alle liefen auf ein großes, offenes Feld, das mit Mauern und Gebäuden gespickt war. Sie alle trugen eine Kampfmontur. Während Erin darüber nachdachte was passiert war, wurde ihm eines bewusst – sie befanden sich in einer Simulation.
In diesem Moment lief ein anderer Soldat an ihm vorbei, der eine Menge Sturmgewehre mit sich trug. Er warf ihm im Vorbeigehen eines zu. Erin nahm es auf, und tastete an ihm herum – ihm fiel ein, was er in der Dokumentation über die Armee gesehen hatte. Mit einem festen Griff zog er an dem hervorstehenden Metallteil, das einmal klackte, als er es nach hinten bewegte – so war es durchgeladen. Schließlich lugte er dann mit vorsichtigen Blicken über die Mauer, und sah einige Silhouetten von Menschen, die auf ihn und seine Kameraden feuerten. Erin legte das Gewehr an, und drückte den Abzug. Wie damals in der Lagerhalle presste der Rückstoß sich ihm jedoch entgegen, und er ließ das Gewehr beinahe aus der Hand fallen. Er legte er es fester an, drückte die Rückseite der Waffe, den Kolben, stärker an seine Schulter – und drückte erneut ab. Diesmal blieb es in seiner Hand, und er hörte nicht auf, den Gegner zu beschießen.
Nach einigen Momenten fiel ihm auf, das es ihm ein Großteil seiner Mitstreiter nun gleichtat. Als die Gewehre ausgegeben wurden, war vielen klar geworden, das sie sich in einem simulierten Gefecht befanden. Erin jedoch war weniger wichtig, selbst viele Gegner auszuschalten, sondern dachte an die, die sich noch nicht gefangen und vielleicht Angst hatten. Er nahm sein Gewehr, das zu seiner Überraschung sehr leicht war, in eine Hand, ließ aber einen Finger am Abzug, und lief los. Er schwang sich vorsichtig von Deckung zu Deckung, um nicht von einer Kugel getroffen zu werden.
„Erin? Erin!“
Als er eine kurze Mauer passiert hatte, rief ihm jemand hinterher. Erin warf sich instinktiv auf den Boden, und robbte zurück zu der Deckung, aus der er den Ruf vermutete. Dort angekommen sah er Carmen, die damit beschäftigt war, auf die Gegner zu feuern.
„Was hast du vor, Erin?“, rief sie laut, um die Schussgeräusche zu übertönen.
Damit meinte sie wohl seine waghalsige Aktion, zwischen den Deckungen herumzulaufen.
„Ich sehe nach, ob es allen gut geht!“
Bevor sie darauf antworten konnte, war Erin auch schon wieder weg. Einigen Mitkämpfern klopfte er auf die Schulter als er sie passierte, in dem Gedanken daran, das er das auch gebraucht hätte, als er so verzweifelt hinter der Mauer kauerte. Während seines Spießrutenlaufes versuchte er nebenher seinen Kampfanzug zu studieren, da einiges an Ausrüstung an seinem Geschirr hing. Auf Brusthöhe hingen zwei längliche Gegenstände in Zylinderform – offenbar Handgranaten. Ohne zu wissen wie man sie bedient, wollte Erin aber lieber nicht damit hantieren, am Ende sprengte er noch sich selbst oder seine Mitstreiter in die Luft. Über seinem Hintern hing eine große Tasche, womit sie bepackt war, wusste er aber nicht. An seinem Helm waren auch einige Knöpfe außerhalb angebracht, von denen er aber lieber keinen drücken wollte. Zu guter Letzt war an seiner rechten Schulter ein dickeres Modul angebracht, das einige Drehknöpfe, sowie ein paar normale bot.
Schließlich fand er hinter der Wand eines Gebäudes, das einem Parkhaus ähnelte, einen Rekruten, der seine Beine an sich herangezogen hatte und nicht wusste, was zu tun war. Erin sah sich um, und entdeckte das Gewehr am Boden. Er rappelte den Rekruten auf, und drückte es ihm in die Hand.
„Wehr dich, rumsitzen bringt uns nicht weiter!“
Mit dem Blick zum Boden nickte der junge Mann, atmete durch und rappelte sich auf. In dem Gewissen das er sich selbst helfen konnte, lief Erin weiter. Der Schusswechsel schien allmählich abzuflauen, doch er blieb nach wie vor geduckt, und bewegte sich vorsichtig zwischen seinen Mitstreitern umher.
Der Morgen verflog langsam, es war schon beinahe Vormittag. Die Wolken, die sich schon früh gezeigt hatten, waren dichter geworden, und die Stadt wurde nun von strömendem Regen heimgesucht. Sal saß in einem Taxi, und ließ sich von den ans Fenster trommelnden Regentropfen beruhigen. Er griff in seine Jackentasche, und begutachtete das Antlitz der Zugangskarte für Onkel Leons Lagerabteil. Keines der ihm empfohlenen Verstecke kam an die Sicherheit von diesem Lagerabteil heran. Niemand wusste von Onkel Leon, nicht einmal sein zuständiger Offizier. Und das war für ihn auch gut so. Seine persönlichen Gefühle gingen niemanden was an.
Bei diesem Stichwort, den persönlichen Gefühlen, musste Sal an seine Ausbilderin Violet denken. Sie war ein paar Jahre älter als er. Sie hatte ihn angesprochen, im Namen des Polizeikorps. Zuerst hielt er sie für eine normale Anwerberin, doch sie war anders. Violet redete nicht so kurz und sachlich, wie die meisten Polizeisoldaten, die er in seinem Leben davor kennengelernt hatte. Sie hatte ein ausgeprägtes Vokabular, drückte sich stets niveauvoll aus. Das sie Sal damit beeindruckt hatte, nutzte sie aus. Besonders ihren unkonventionellen Kleidungsstil und die violetten Haare, die wohl eindeutig ihren Rufnamen geprägt hatten. Und sein Verdacht, das sie ihn nicht für das Polizeikorps anwerben wollte, bestätigte sich im selben Gespräch. Sie warb ihn für die Sonderabteilung 3, oder auch SA3 an. Diese war zwar dem Polizeikorps unterstellt, aber besaß ein ganz anderes Aufgabenfeld – die Terrorbekämpfung. Sie erklärte es ihm mit einem Funkeln in ihren Augen, einem verführerischen Ton. Sal war in dem Moment nicht klar, was ihn mehr interessierte, der Job, den sie ihm anbot, oder Violet selbst.
Er war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 12 Jahre alt, und sie 16. Die Ausbilder für die SA3 waren alle meist nie älter als 19 Jahre, um ein Vertrauensverhältnis zu schaffen – Erwachsenen würde man nicht so sehr vertrauen. Nach der Ausbildung, die dauerte, bis er selbst 19 Jahre alt war, wechselte Violet aufgrund ihres Alters nun in die SA1 – das war der Geheimdienst. Seitdem hatten sie sich nie wieder gesehen. Sal vermisste sie, und war sich sicher – er hatte sich damals in sie verliebt.
Doch er ermahnte sich bei all diesen Gedanken selbst zu professionellem Verhalten. In seiner Freizeit könnte er über so etwas nachdenken, jetzt hatte er etwas zu erledigen. Die Aufgaben eines SA3-Agenten waren nicht nur von gewaltsamer und tödlicher Natur, sondern hatte er auch simple Aufgaben, wie einen Kurier zu mimen. Denn jeder Agent hatte von Zeit zu Zeit wichtige Gegenstände aufzubewahren, die beim Bekämpfen von Terrorzellen, oder anderen Angelegenheiten wichtig waren. In Sals Fall waren es Dokumente. Was es genau für welche waren, hatte er damals, noch im zarten Alter von 20 Jahren, nicht in Frage gestellt – und gewagt sie zu lesen hatte er es schon gleich gar nicht. Er versteckte sie einfach in seinem Schreibtisch, in dem Zimmer, das er bei Onkel Leon bezogen hatte. Bei ihm war er immer, wenn er keinen Auftrag zugeteilt bekommen hatte. Leon war sein Ersatzvater nach der Zeit im Staatsinternat und der Ausbildung von Violet.
Das Taxi kam an der großen Lagerzweigstelle an, und Sal stieg aus. Er gab dem Fahrer ein paar Einheiten mehr, als er bezahlen musste, wie üblich. Trotz das Sal vielleicht einen eher kalten Charakter besaß, war er auch sehr großzügig. Daher leitete sich auch sein Rufname ab – jeder Agent legte seinen bürgerlichen Namen ab, und gab sich selbst ein Pseudonym. Wie Violet sich wegen ihrer violetten Haare so getauft hatte, so nannte er sich selbst vom englischen Wort „Salvation“ abgeleitet Sal. Abgeleitet von Erlösung, oder Rettung. Er sah sich selbst als Heilung für die Gesellschaft, deren kranke Anteile wie Terroristen es auszurotten galt. Deshalb wiederum war er zu jedem aufrichtigen Bürger ehrlich und großzügig, wie eben jenem Taxifahrer, dem er das doppelte an Einheiten übergab, als er musste.
Schnell durch den Regen gehuscht, trat er in der schlichten Empfangshalle an den Schalter. Eine junge Mitarbeitern saß an der Rezeption. Sal strich sich durch die nassen Haare, und legte mit der freien Hand die Zugangskarte auf den Empfangstisch. Sal und die Empfangsdame grinsten sich kurz an, dann musste sie kurz nachhaken.
„Sie sind Leon Forg?“
Sal schüttelte den Kopf und legte seine Marke vom Polizeikorps auf den Tisch.
„Verstehe“, sagte die Dame, aber immer noch mit einem Grinsen im Gesicht, „das Lager von Herrn Forg ist im zweiten Stock. Sehen sie sich ruhig um. Aber melden sie sich bei mir ab, wenn sie fertig sind, ja?“
Die beiden lächelten sich noch einmal an, dann atmete Sal durch und trat eine gläserne Treppe auf einen Vorsprung in der Empfangshalle herauf. Von dort ins eigentliche Treppenhaus, und zum Lager von Leon. Ein kleiner Raum, vielleicht etwas größer als eine Abstellkammer, öffnete sich, nachdem er die Zugangskarte durch den Leser an der Tür gezogen hatte. In einem runden Plastikzylinder, dem Nachfolger von Pappkartons, fand Sal schließlich einen Stapel von Papier. Dazwischen war eine Akte – er zog sie heraus. Zur Probe öffnete er sie kurz, und sah, was er sehen wollte. Auf dem Papier war ein Wasserzeichen über den ganzen Bogen zu sehen, ein ζ, ein Zeta. Mit griechischen Buchstaben wurde die Sicherheitsfreigabe festgelegt, in aufsteigender Reihenfolge – Alpha, Beta, Gamma, Delta, Epsilon und Zeta. Letztere war sehr selten und existierte de jure gar nicht. Sie durften nicht digital erfasst und auf keinen Fall kopiert werden. Sal schloss die Akte, ließ sie in der Innentasche seiner Jacke verschwinden, und machte sich auf den Rückweg zur Rezeption, um Leon die Karte zu hinterlegen und das Gebäude zu verlassen.
Erin war fleißig gewesen. Er hatte die untätigen Rekruten aufgesammelt, und dann alle möglichst nahe beieinander positioniert. Offenbar hatte niemand etwas dagegen, das er die Initiative ergriffen hatte. Einige schlossen sich ihm jedoch direkt an, und halfen ihm beim Dirigieren der etwa fünfzig Männer und Frauen. Erin achtete darauf, das sie eine gerade Linie bildeten, und rückten langsam vor. Am Ende des weiten Raumes war ein höheres Gebäude zu sehen, und sowohl Erin als auch seine „Assistenten“ waren der Überzeugung, das es richtig war, sich dort zu verbarrikadieren. Da sie vollkommen ohne Vorbereitung und Ziele in die Simulation geworfen worden waren, mussten sie sich wohl selbst welche setzen. Während des Vorrückens passierte es nun jedoch zunehmend, das seine Kameraden getroffen wurden. Getroffene Soldaten lösten sich in einem digitalen Gitternetz auf, und schienen die Simulation zu verlassen. In diesem unvorbereiteten Training schien es also nur um den Ersteindruck und die Überlebensfähigkeiten zu gehen. Möglichst lang überleben, das war Erins Devise für den Moment. Er winkte einen Kameraden der ihm zuvor beim Aufsammeln eines Verletzten geholfen hatte zu sich.
„Sie! Hey, sie! Ja, genau. Wir rücken zu dem Gebäude vor. Wir teilen uns am Besten in Gruppen auf. Nehmen sie sich ein paar Leute und kämpfen sie sich durch, geben sie das weiter. Wie heißen sie?“
„Goran. Und sie?“
„Erin. Okay, Goran, verschwenden wir keine Zeit!“
Erin klopfte ihm auf die Schulter und begab sich zu einer anderen Stelle an der Front. Eine kleine Gruppe von Rekruten, die sich zu kennen schien, steuerte er direkt an. Er befahl ihnen, ihm zu folgen. Mit seiner kleinen Gruppe zusammen schnappte er noch ein paar Leute auf, und schwang sich dann über die Mauer. Die anderen taten es ihm gleich.
Seine Idee schien aufgegangen zu sein. Mehrere Gruppen, die zusammenarbeiteten, schlugen sich über das offene Feld durch. Erin hatte sein Gewehr im Anschlag, und wenn er es so anlegte wie vorhin bei seinem ersten Versuch, konnte er auch ungehindert feuern und vorrücken. Die Gegner reagierten darauf, und zogen sich zurück. Sie waren allerdings immer noch schwarze Silhouetten – Erin kam der Verdacht, das sie wahrscheinlich wirklich nur schwarze Gestalten waren. Warum sollten die Gegner in der Simulation aufwendige Modelle sein?
Das Erin während eines Schusswechsels solche Gedanken hatte, sollte er in dem Moment bezahlen – er stolperte und ließ sein Gewehr fallen. Sein Nebenmann bemerkte das sofort und stützte ihn. Erin bekam das Gewehr in die Hand gedrückt, und die Gruppe bewegte sich alarmiert schneller. Der Kamerad der ihn aufgerappelt hatte, zog ihn hinter die nächste Schutzmauer. Offenbar ging die Gruppe davon aus, das er getroffen war, was die Hektik erklärte.
„Alles gut, Leute, alles gut. Nur weiter!“
Mit erleichtertem Gemüt ging die gefährliche Wanderung weiter. Das Gebäude war schon bedeutend näher, und eine Gruppe hatte es schon vor den Eingang geschafft. Sie hatten sich taktisch so positioniert, das sie alle Richtung vor dem Gebäudeeingang absicherten. So langsam wurde Erin klar, warum sie in diese chaotische Simulation geworfen wurden – man sah, ob man unter Stress noch einfallsreich genug war. Sie näherten sich den Mitstreitern vor dem Haus, die, wie Erin bemerkte, von Goran angeführt wurden.
Mit einer kurzen Absprache beschlossen sie, auf die anderen Gruppen zu warten und sich dann in das größere Haus zurückzuziehen. Möglichst in den höheren Etagen, damit sie jeden Feind, der hereinkam, sofort stoppen konnten.
Während sie jedoch auf die Nachzügler warteten, gerieten sie mehr und mehr unter Druck. Erin wusste nicht, ob es daran lag, das sie durch die Verluste weniger geworden waren, oder an den fehlenden Gruppen – es kam ihm so vor, als wären es mehr Gegner geworden. Als tatsächlich im Kreuzfeuer immer mehr Mitkämpfer getroffen wurden, drängte Goran auf eine Entscheidung.
„Erin! Wir müssen in das Gebäude, sofort! Es sind zu viele.“
Während er selbst hinter einer der Mauern hockte und auf die vielen anrückenden Feinde feuerte, sah Erin kurz nach hinten zu dem Gebäude. Würde er die Gruppe dort hinein bringen, wären sie sicher. Doch damit würden sie alle Nachzügler im Stich lassen – das kam für ihn nicht in Frage.
„Nein, wir halten die Stellung.“
„Aber es werden immer mehr, wir müssen...“
„Wir halten die Stellung!“
Goran widersprach nicht, und die immer kleiner werdende Truppe blieb dort, wo sie war. Goran hielt seine Position, und Erin wollte zu seiner Gruppe laufen – im Laufen wurde er allerdings getroffen. Mit Schmerzen fiel er auf den Boden, ließ sein Gewehr aus der Hand fallen. Dann wurde es ihm Schwarz vor Augen.
Die Hauptstadt der Erde besaß einen großen Flughafen. Er war einige Zeit nach dem Umsturz komplett neu gebaut worden, wie auch ein Großteil der Städte, die im Niemandsland errichtet wurden. Die Start- und Landebahnen waren etwas verlängert, doch die hauptsächliche Änderung war die Größe der Terminals. Nicht nur, um dem großen Andrang der vielen Menschen gerecht zu werden, sondern um auf die neuen Standards im Luftreiseverkehr einzugehen. Einige große Firmen der Flugzeugproduktion hatten den Umsturz überstanden, wodurch sie nach wie vor ein Monopol auf diese halten konnten – jedoch waren sie verstaatlicht, wie so ziemlich alle großen Konzerne. Im Flugzeugdesign hatte sich einiges geändert, um dem großen Passagieraufkommen entgegenzuwirken. Statt dem Bau vieler neuer Maschinen entschied man sich für ein neues Design der Fluggeräte. Passagierflugzeuge besaßen einen dickeren und längeren Rumpf, sowie das markante Merkmal von zwei Tragflächenpaaren. Eins weiter vorn unten, das Zweite hinten oben. An der Aerodynamik war lange getüftelt worden, doch das Ergebnis waren sehr große Maschinen, die bis zu anderthalb Tausend Menschen transportieren konnten.
Einer dieser futuristischen Vierflügler belegte einen besonderen Stellplatz am Hauptstadtflughafen. Er besaß einen separaten Einstieg, der nur über einen Sondereingang erreicht werden konnte. Die Lackierung des Fliegers war auch unüblich. Sie war nicht das Muster einer Airline, auch nicht die Werkslackierung eines Herstellers. Stattdessen war an den wichtigsten Stellen, inklusive des hochkanten Heckflügels, die Flagge der Erde platziert. Grün und Blau, mit einem Hoheitssymbol in der Mitte – der Erdkugel in simpler Rasterform.
Im Inneren war auf den insgesamt drei Decks nicht die Standardausstattung zu finden, sondern war dieses Flugzeug komplett umfunktioniert worden. Im obersten Deck waren zwei Kommandozentralen eingerichtet. Eine für das auf der Erde stationierte Militär, und eine für die Leitung der gesamten Streitkräfte in der ganzen Galaxie. Dieses Flugzeug stellte also auf ihrem oberen Deck das Oberkommando der Streitkräfte.
Das zweite Deck war mit einigen komfortablen Passagierabteilen ausgestattet, einem Konferenzsaal, einem Gemeinschaftsraum, und ähnlichen luxuriösen Zugeständnissen. Auf dem untersten Deck wiederum fand sich zunächst ein großer Raum mit einem langen Viereck in Form von Tischen. Es schien der Sitz für einen Gipfel oder eine ähnliche Zusammenkunft zu sein. Und vorn, in der Nase des Flugzeugs, fand sich schließlich ein großräumiges Büro. Es hatte eine extra Fensterfront in der Nase bekommen, sodass derjenige, dem der Büroraum gehörte, direkt in die Wolken vor ihm sehen konnte.
In eben jenem Büro saß ein älterer Mann, zurückgelehnt in seinem Lederstuhl. In seiner Hand hielt er eine Tasse Kaffee, in die er in unregelmäßigen Abständen hineinblies, um ihn zu kühlen. Sein im Boden verankerter Stuhl war vom Schreibtisch abgewandt, sodass er aus seinem speziellen Frontfenster hinaussehen konnte. Auch wenn das Flugzeug gelandet war, so beruhigte ihn diese Perspektive immer wieder. Die Welt lag vor ihm, und er bewegte sich darauf zu – oder sie sich auf ihn.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein junger Mann in sein Büro trat.
"Kanzler, General Forind möchte sie sprechen."
Großkanzler Hult nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
"Ich erwarte ihn."
Der auch schon in die Jahre gekommene General wartete vor der Tür darauf, dass der Assistent ihn hereinbitten würde. Er war Kommandeur der Weltraumflotte, und war sich nicht sicher, wofür der Kanzler ihn zu sich zitiert hatte. Bis vor einigen Augenblicken war er auch noch gar nicht an Bord der Regierungsmaschine, sondern traf in einem der öffentlichen Terminals eine Kontaktperson. Diese war ein Agent der SA3 gewesen, der ihm eine Akte der Sicherheitsstufe Zeta übergab. Er schien sie jahrelang unter Verschluss gehalten zu haben, da Forind von ihrer Existenz noch nicht wusste. Auch hielt er die Existenz von Zeta-Akten eigentlich für eine Verschwörungstheorie, doch das Wasserzeichen auf dem Blatt ließ keinen Zweifel zu.
Der Assistent des Kanzlers bat ihn mit einer unauffälligen Geste in das Büro, der Forind sofort nachkam. Die Tür wurde hinter ihm verschlossen, und Hult drehte sich langsam zu dem Schreibtisch, um dem General ins Gesicht sehen zu können. Er zwang sich zu einem kleinen Lächeln, und blies dann noch einmal in seine Kaffeetasse.
"Ich gehe davon aus, dass ihnen die Dokumente überreicht wurden."
"Jawohl, Kanzler. Gerade eben erst."
"Haben sie die Akte gelesen?"
"Um aufrichtig zu sein, nein. Ich bin mir ja nicht einmal sicher, ob ich die entsprechende Sicherheitsfreigabe dafür habe."
"Da diese Sicherheitsstufe gar nicht existiert, sollte das doch keine Rolle spielen, nicht wahr, Herr General?"
Forind schluckte leise. Da der Kanzler keine Anstalten machte weiter zu reden, klappte er die Akte im Stand vorsichtig auf und warf einen Blick hinein. Er überflog die Zeilen zunächst, setzte sich dann jedoch auf einen der Sessel vor dem Schreibtisch und begann zu lesen.
Der Ausbildungszug dem Erin zugeteilt war, saß in einem großen Zimmer, der an einen Klassenraum erinnerte. Es gab mehrere Reihen von Bänken, hinter denen auf einem Stuhl Platz genommen wurde. Neben Erin saßen Carmen und Goran, jeweils auf einer Seite. Mit letzterem hatte er sich schnell angefreundet, nachdem sie in der Simulation am ersten Tag vergleichsweise gut zusammengearbeitet hatten. Es waren einige Tage seitdem vergangen, und bereits direkt nach der ersten Gefechtssimulation hatten sie erklärt bekommen, was der Zweck von dieser gewesen war. Von den Ausbildern wurde es das "kalte Training" genannt. Es war ein Kompetenztraining, das von allen Ausbildungsoffizieren von außen beobachtet wurde. Von jedem Rekruten wurde eine Akte angelegt, die den Ausbildern verriet, wie er sich geschlagen hatte, und noch wichtiger, wofür er sich qualifizierte, wofür er geeignet war. Diese war allerdings den Betroffenen selbst nicht zugänglich. Die Tage nach dem kalten Training hatten sie nur Freizeit bekommen, um sich gegenseitig kennenzulernen und auszutauschen. Erst jetzt waren alle versammelt worden, um darauf vorbereitet zu werden, ihre eigentliche Ausbildung anzutreten. Denn nun wurde entschieden, welche Aufgabe man übernahm und welchen Rang man bekleiden würde.
Es war nach Erdenzeit sehr früh am morgen, weshalb Erin ziemlich müde und vor allem noch in Gedanken versunken war. Über die Tage hatte er des Öfteren mit Tenshja telefoniert, zu der er sich nach wie vor hingezogen fühlte. Sie hatten bereits geplant sich wiederzusehen, sobald er den ersten Urlaub antreten würde. Erin hatte Carmen von seiner Beziehung erzählt, die es merkwürdig fand, dass die beiden sich so schnell näher gekommen waren. Goran war bei dieser Konversation auch dabei, und verteidigte Erin. Er war der Ansicht, dass so was durchaus passieren könne. Erin war aufgefallen, das Goran und Carmen sich anscheinend nicht leiden konnten. Doch woran das lag, sollte er erst später herausfinden.
Er wurde aus seiner tranceartigen Stimmung gerissen, als der Ausbildungsoffizier vor der versammelten Truppe begann, eine Videoaufzeichnung mit einem Hologramm abzuspielen. Es erstreckte sich über die gesamte Wand vor ihnen. Zunächst verstand keiner, was sie da sahen, doch Erin kam es sehr bekannt vor. Schließlich begriff er, dass es eine Aufzeichnung des kalten Trainings war. Der Ausbilder begann, die Aufzeichnung aus der Vogelperspektive zu kommentieren.
"Ein Großteil von ihnen war zu anfangs eher verwirrt. Beinahe die Hälfte war zunächst vollkommen orientierungslos. Doch lassen sie sich davon nicht irritieren, das passiert in etwa jedem zweiten Rekruten. Was uns an ihrem Erstgefecht jedoch beeindruckt hat war die erstaunliche Entschlossenheit und Koordination, die zur Endphase hin einsetzte. Ihre Einheit hielt eine gute halbe Stunde durch, bevor sie aufgerieben wurde. Falls sie sich nichts darunter vorstellen können – ein absoluter Durchschnittswert, vielleicht etwas darüber. Wir haben schon wesentlich chaotischere Dinge gesehen, das können sie uns glauben."
Erin dachte über die letzte Bemerkung nach. Er konnte sich vorstellen, dass es auch Gruppen gegeben hatte, die absolut nicht in die Gänge kamen, oder nach wenigen Minuten aufgerieben wurden. Doch er dachte auch in die andere Richtung – gab es auch überdurchschnittliche Gruppen, die mehrere Stunden oder gar Tage in der Simulation durchgehalten hatten? Sobald er Zeit hatte, würde er danach recherchieren.
"Es wird nun eine längere Zeitspanne vergehen, bevor sie wieder eine Simulation betreten. Die nächste Zeit werden wir ihnen beibringen, wie sie Stunden, dann Tage, und dann Wochen in der Simulation durchhalten können. Schulungen in Taktik und Kampf, sowie eine umfassende Erklärung ihrer Ausrüstung, wie und wann man sie am besten einsetzt."
Speziell auf die Einweisung in die Technologie war Erin gespannt. Es wäre in der ersten Simulation nützlich gewesen zu wissen, wie man die Handgranaten benutzte, oder welche Funktionen der Kampfanzug bot. Vermutlich würden sie das nächste Mal auch nicht durchgehend feuern können, sondern auch nachladen müssen – was sie auch erklärt bekommen würden.
"Die theoretische Einweisung wäre damit beendet. Die Ausbildung beginnt ab morgen früh um 0600 nach Erdenzeit. Wir werden ihnen im Laufe des heutigen Tages, den sie noch frei haben, ihre Beurteilung zukommen lassen, in der sie erfahren, welche Ausbildung sie speziell erhalten. Das wäre alles. Wegtreten!"
Die Geräusche von geschobenen Stühlen machten sich im Raum breit, und der Ausbildungszug verschwand allmählich aus dem Raum. Goran war zu dem Ausbilder, der den Vortrag gehalten hatte, nach vorn gegangen – vermutlich, um ihm einige Fragen zu stellen. Carmen verließ den Raum so ziemlich als Erste, und Erin ließ sich Zeit. Er passierte die Tür als Letzter, wurde dann jedoch von der Seite angesprochen.
"Rekrut Nemodes?"
Er blieb stehen, und sah den Ausbilder, der ihn einige Tage zuvor in der Kantine mit Carmen angesprochen hatte.
"Ja?"
"Ich würde mit ihnen gern über ihre Beurteilung sprechen."
General Forind klappte die Akte zu. Der Kanzler hatte sich während er sie las wieder zu seinem Fenster gedreht, und der General dachte noch über das Gelesene nach. Es war ein Bericht der Forschungsdoktrin des Militärs, er war knapp einhundert Jahre alt. Der Bericht war auf einem Schiff verfasst worden, das schon lange außer Dienst gestellt und verschrottet wurde. Dabei handelte es sich um eine Expeditionskorvette, die Nahe der Venus ihre Route flog. Es waren noch die Anfänge des Kartographierungsprojekts gewesen, und der Raum um die Sonne war zu dieser Zeit erfasst worden. Die Korvette trug den Namen Astra, und war von einer erfahrenen Crew kommandiert worden. Die Ereignisse waren ziemlich grob geschildert. Sie flogen eine Routinemission zur Datensammlung, als die Sensorstation einen Kontakt meldete. Es ging dabei um ein Geräusch, das sich unregelmäßig wiederholte, sowie ständig lauter und leiser wurde. Dabei schien es aber stets von derselben Position auszugehen. Das Schiff hatte sich genähert, und wurde einmal ordentlich durchgeschüttelt, als wären sie in einen Strudel geraten. Dann ebbte alles ab, und es geschah nichts weiter. Man tat es als eine von vielen Anomalien ab, und ging wieder seiner Arbeit nach.
Großkanzler Hult hatte sich inzwischen wieder umgedreht, und sah den General gespannt an. Seine Reaktion interessierte ihn, besonders deshalb, weil er mit dieser Akte noch nicht alle Details kannte.
"Okay", bemerkte Forind, "ein Anomalie-Bericht, einer von vielen. Was rechtfertigt eine solch hohe Sicherheitsfreigabe?"
Der Kanzler stellte seine Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab.
"Ich habe diesen Bericht vor einiger Zeit zufällig gelesen, und daraufhin aktiv Recherche in den Militärakten betreiben lassen. Und ich bin dabei auf zwei sehr beunruhigende Fakten gestoßen."
General Forind hasste es, so auf die Folter gespannt zu werden. Doch er blieb ruhig, und wartete ab.
"Die Akten, die noch einmal durchgegangen wurden, gehen bis auf die Anfänge der Raumfahrt zurück, lange vor dem Umsturz. Ich ließ speziell nach Stichwörtern und Vorkommnissen suchen, die in diesem Bericht vorkamen. Und schon nach wenigen Monaten fand sich mehr als genug Material, was meinen Verdacht bestätigte. Dieses, nennen wir es Signal, wurde mehr als nur einmal empfangen. Und das immer in der gleichen Gegend. Über Jahrhunderte hinweg, und sogar schon von der Erde aus."
"Wissen wir, was es ist?"
Der Kanzler schüttelte den Kopf.
"Das wissen wir nicht, nein. Zumindest noch nicht, ich werde veranlassen, dass man sich damit umgehend befassen wird."
"Gut. Und was ist der zweite Fakt, Kanzler?"
"Das Signal wurde vor Kurzem wieder empfangen. Es ist gerade einmal eine Woche her. Einer Expeditionskorvette, der Quantinum, passierte exakt dasselbe wie der Astra. Sie hörten es, flogen näher heran, bekamen einen gewaltigen Schreck als sie durchgerüttelt wurden, und prompt war es vorbei. Der Kapitän verzeichnete das Vorkommen nur als Anomalie, aber da ich schließlich einige Agenten der SA1 darauf angesetzt habe über dieses Signal zu recherchieren, bemerkten diese den Eintrag und leiteten ihn an mich weiter. Die Analyse der Daten ist bereits im Gange."
Forind war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Selbst wenn dieses Signal tatsächlich etwas handfestes sein sollte, warum setzte der Kanzler alles daran, herauszufinden, was es war? Und seine Kernfrage war auch noch nicht geklärt.
"Kanzler, das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber – warum eine Zeta-Freigabe für die Akten? Und wofür erzählen sie mir das?"
Hult gefiel die Zielstrebigkeit des Generals. Er war zwar ungeduldig, aber er merkte sofort, warum er ein führender Offizier geworden war. Eine temperamentvolle Persönlichkeit, etwas vorlaut vielleicht, und stur, doch in der Kombination ein General, wie er im Buche stand. Er würde mit offenen Karten spielen, jetzt, wo er von seinen Qualitäten überzeugt war.
"Ich habe die archivierten Daten der Astra und auch alle anderen Aufzeichnungen des Signals an das Zentralschiff der Forschungsflotte geschickt, die ihre besten Analysten und Audiotechniker mit dem Studium des Signals beauftragten. Viel konnten sie mir nach dem Abschluss aller Versuchsreihen nicht sagen, bis auf eines – es ist definitiv nicht menschlichen Ursprungs, und wir wissen nicht, wozu es fähig ist, geschweige denn woher es kommt oder wozu es da ist. Man könnte es als Anomalie abtun, wäre da nicht das einzig andere Ergebnis, das mir die Forscher lieferten."
Der General knirschte leise mit den Zähnen.
Jetzt rück' schon raus damit, du theatralischer Angeber.
Die Augen des Kanzlers funkelten leicht.
"Das Signal mag vielleicht nicht menschlichen Ursprungs sein, doch es ist auch kein natürliches Phänomen. Es wurde definitiv künstlich erzeugt."
"Ihr Auftreten im ersten Gefecht war beeindruckend.", lobte der Ausbilder.
Erin war dankbar, aber auch unsicher.
"Tatsächlich?"
"In der Tat. Sie haben versprengte Rekruten aufgegabelt und einen zeitlich abgestimmten Angriff koordiniert, ohne auch nur eine militärische Ausbildung irgendeiner Art erhalten zu haben. Sie scheinen ein grundlegendes, unterbewusstes Verständnis für Taktiken zu besitzen."
Der Ausbildungsoffizier blieb emotionslos, während Erin sich ein breites Grinsen verkneifen musste. Er fühlte sich motiviert.
"Vielen Dank. Und, was bedeutet das?"
"Ich habe sie für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen. Das ist definitiv die beste Aufgabe für sie."
Er wollte sich erneut bedanken, doch der Ausbilder machte kehrt und verschwand dann. Mit einem überraschten Gesichtsausdruck blieb Erin zunächst genau dort stehen, wo er war. Eine Welle von euphorischen Gefühlen schien sich anzubahnen, doch sie verspätete sich aufgrund der Überraschung. Nach ein paar Momenten lachte Erin kurz, und hielt seine Hand vor den Mund. Schließlich nickte er einmal, um sich selbst zu bestätigen, was er gehört hatte. Hinter ihm kam Goran gerade aus dem Vortragsraum, der ihm seine Freude anmerkte.
"Erin? Was ist los?"
"Ein Ausbilder hat gerade mit mir gesprochen."
Goran wurde neugierig.
"Und? Was hat er gesagt?"
"Ich werde für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen."
Erin grinste seinen neuen Freund an, dieser nickte daraufhin anerkennend.
"Sie haben es sich verdient."
"Meinen sie nicht, es wäre mal an der Zeit, auf Du umzusteigen?"
"Nicht, wenn sie Offizier werden."
"Oh, richtig."
Daran hatte Erin nicht gedacht. Er würde von den meisten seiner jetzigen Kameraden also gesiezt werden, zum Ende hin müssten sie gar vor ihm salutieren. Der Gedanke gefiel ihm jedoch. Bisher hatte er kaum etwas tun müssen, und wurde mit Fortschritten nur zu überschüttet. Während dieser Reflexion wurde ihm klar, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er seinen alten Beruf aufgegeben und sich diesem zugewandt hatte.
"Zur Feier des Tages lade ich sie auf einen Kaffee ein. Was halten sie davon?"
Erin stimmte zu, und die beiden machten sich auf den Weg zur nächstgelegenen Monorail-Station, um zu dem Atrium im Eingangsbereich dieses Bezirks zu fahren. Zunächst dachte er darüber nach, Carmen hinzuzuziehen, doch sie war vermutlich schon in den Quartieren. Es schien ihm zudem geschickter, sie und Goran erst einmal auf Abstand zu halten.
Goran verwickelte ihn während der Fahrt in eine Unterhaltung. Es lag offensichtlich nicht nur an seinen Fähigkeiten als Kamerad, das Erin ihn mochte, sondern begannen sie langsam über tiefgründigere Themen zu reden. Das Goran nun bei der kämpfenden Truppe gelandet war, verschuldete er einem ähnlichen Umstand wie Erin. Sie schienen ihre unerfüllten Wünsche zu teilen, als sie in dem Gespräch realisierten, wie wichtig ihnen die Thematik der eigenen Gedanken war. Goran interessierte sich für Erins Ansichten. Die beiden hatten neben ihrer Flucht in das Militärleben noch etwas gemeinsam – sie waren beide Staatskinder, die im Internat groß geworden waren. Goran jedoch war nicht auf der Erde, sondern auf der Neptun-Station geboren worden. Ein Mann von der Neptun-Station, das war für Erin eine neue Perspektive. Goran erzählt ihm, dass er eigentlich den Beruf seines Vaters hätte übernehmen sollen – aus Anstandsgründen. Doch ihm gefiel die Vorstellung nicht, auf ewig dort zu bleiben und sich nicht verwirklichen zu können. Also entschied er sich für den Militärdienst.
Erins Geschichte hingegen war nicht so spektakulär. Abgang von der Schule, Serviceabteilung bei Southberg und dann schließlich doch ein grober Umstieg zum Militär.
Während sie in das Gespräch vertieft waren, verpassten sie beinahe die Haltestelle am Atrium. Als sie dann ausstiegen, steuerten sie eines der Cafés an. Währenddessen musste Erin unweigerlich schmunzeln, da er mit Lilly in der Oberstufe die Nachmittage ähnlich verbracht hatte. Seine Gedanken drifteten immer mehr zu seiner besten Freundin, wobei er sich fragte, wie er nun seine Prioritäten setzte. Mit Tenshja führte er eine Art Beziehung, mit Goran war er definitiv auch befreundet. Doch würden diese beiden Personen ihm genauso wichtig werden wie Lilian? Eine Frage, die nur die Zeit beantworten konnte. Und diese Zeit, jetzt nach seiner Entscheidung für dieses neue Leben, würde er genießen.
Ein kahler Raum, mit farblosen Wänden und einem symmetrischen Aufbau. An zwei der vier Wänden hing ein kleiner Holo-Bilderrahmen, der eine Diashow von ausgewählten Bildern projizierte, als das einzige dekorative Element. Aus den zwei freien, gegenüberliegenden Wänden ließen sich jeweils eine Sitzmöglichkeit und ein Bett herausklappen, und damit war der Bestand des Zimmers auch schon aufgezählt. Das Bett war gerade zurechtgemacht, und in diesem schlief eine Frau mittleren Alters. Sie hieß Juno Seran, und war Major im Militärdienst. Das kleine Zimmer, in dem sie schlief, war eine Kabine. Ein Offiziersquartier auf der Taygeta, einem Schlachtkreuzer der Weltraumflotte. Es existierten nur zwei Schlachtkreuzer, neben der Taygeta gab es ein Schwesterschiff mit dem Namen Pollux. Sie stellten die zweitgrößten Schiffe der Flotte dar, nur ein Schlachtschiff war größer. Das massive Kampfschiff dockte an der Ringstation um den Mars.
Juno war kein Teil der offiziellen Schiffsbesatzung, was man an ihrem Rang erkennen konnte – den Dienstgrad Major gab es bei der Marine nicht. Sie war Teil der Marineinfanterie, die ihr Aufgabengebiet darin besaß, das Schiff zu verteidigen, sollte es geentert werden. Von den knapp 800 Mann an Bord waren nicht einmal Hundert Marineinfanteristen, weshalb diese auch so ziemlich einen der kleinsten Teile der Armee darstellten. Deshalb waren Plätze bei ihr auch sehr begehrt. Juno war gerade erst auf die Taygeta versetzt worden, als Beobachtungsoffizier. Sie hatte also nicht das Kommando, sondern war in einer Sonderfunktion an Bord.
Im Schlaf bewegten sich ihre Augen hinter den geschlossenen Lidern. Sie murmelte kurz leise, und drehte sich in dem Bett einmal um ihre eigene Achse. Vertieft in einen Traum, von dem sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte. Sie selbst spazierte durch eine große Stadt, die jedoch keine Laute von sich gab. Alles war ruhig, nur der Wind heulte leise. Fetzen von Zeitungspapier und ähnlichem Müll wehten lautlos über die Straße. Der Himmel war aschgrau, und in luftiger Höhe schien der Wind schneller zu wehen, da die Wolken sich schnell fortbewegten. Juno hob ihre Schultern und rieb sich überkreuzt die Arme, da sie fror. Sie lief die breite Straße entlang und musterte die Hauswände. Nach einiger Überlegung kam ihr das Erscheinungsbild bekannt vor – ihre Heimatstadt, die mit Hochhäusern gespickt war. Doch beim genaueren hinsehen überkam sie leichte Nervosität. Nicht nur die Straße, sondern auch das Innenleben der Häuser war komplett verlassen. Während sie mit steifer Körperhaltung weiterlief, kam ein Geräusch hinter ihr immer näher. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht umdrehen. Es wanderte nach vorne, und schließlich holte es sie ein – prasselnde Regentropfen. Ihre Haare wurden langsam nass, und sie beschleunigte ihren Schritt. Als sie auf eines der Häuser zuging, um einen Unterstand zu finden, erschrak sie. Der Boden vibrierte einmal fürchterlich.
Juno schreckte hoch. Sie legte sich eine Hand auf das Gesicht, und fuhr darüber. Sie schniefte einmal, gefolgt von einem dröhnenden Gähnen. Mit kurzen Blicken registrierte sie nach dem Aufwachen ihre Umgebung. Zunächst entspannte sie sich, als sie realisierte, dass alles normal war. Dann fiel ihr etwas auf – der Schiffsantrieb lief. Das leise, unauffällige Dröhnen erfüllte die Kabine, wie es der Antrieb immer tat. Ein Schiffsantrieb sah von außen sehr spektakulär aus, die Technologie des TI-Antriebs war eine der Raffinessen dieses Zeitalters. Am Heck des Schiffes wurden aus einer Art Trichtervorrichtung Schleppkabel gezogen, welche mit Tesla-Containern im Inneren verbunden waren. An den Kabeln entluden sich Blitze achteraus, und durch deren starken Triggerimpuls, daher die Abkürzung "TI", bewegte sich das Schiff vorwärts.
Sie tippte die kleine Armbanduhr, die sie immer trug, an, damit sie die Zeit in die Luft projizierte. Mit einem skeptischen Gesicht warf sich Juno die Decke von den Beinen und setzte sich an die Bettkante. Das Schiff war bereits am Auslaufen, jedoch außerplanmäßig. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit ihre Uniform überzuwerfen, sondern trat unbehelligt in Unterwäsche in den Korridor hinaus, wo sie einen der Kadetten anhielt. Sie erwischte einen jungen Mann, der sie in ihrer knappen Wäsche etwas überfordert ansah.
"Was ist los? Warum sind wir abgedockt?", fragte sie sachlich.
"Frau Major! Ähm, ein Sonderbefehl von der Erde. Ich weiß nichts Genaues. Soll ich auf der Brücke nachfragen?", entgegnete er unsicher.
"Vergessen sie's, machen sie weiter. Ich geh‘ selber auf die Brücke."
Doch zunächst verschwand sie noch einmal in ihrer Kabine, um sich ihre Uniform anzulegen. Von einer Befehlsänderung hatte sie nichts mitbekommen – sie wurde hektisch.
Erin saß erneut in dem Hörsaal des Ausbildungszentrums, doch diesmal war er beinahe komplett leer. Es war kein Vergleich zu der Nachbesprechung des kalten Trainings, nun saß gerade einmal eine Handvoll von Rekruten im Raum. Dabei handelte es sich um die Auserwählten für die Offizierslaufbahn, die ihre Ausbildung beinahe komplett abgeschlossen hatten. Es waren Monate vergangen, und Erin hatte die Trainingseinheiten mit Mühe hinter sich gebracht.
Die Ausbildungskompanie bildete mehrere Offiziersanwärter aus. Aus ihnen sollten zunächst einige Beobachtungsoffiziere hervorgehen, diese kommandierten nicht aktiv, sondern lernten im Feld durch Beobachtung dazu, um eines Tages vielleicht im Oberkommando zu landen. Der Rest wurde entweder zu Adjutanten oder den vier Offizieren ausgebildet, die eine Kompanie zum effektiven Funktionieren benötigte. Diese waren drei Leutnante und ein Kompaniechef, dieser Dienstgrad wurde bei der modernen Armee als Kapitänleutnant bezeichnet. Aufgrund der hohen Bevölkerung und dem Zusammenschluss aller Staaten zu Einem, war die Mannstärke der Armee so drastisch gestiegen, dass eine Reform der Kommandostruktur nötig war. Jede Einheit verfügte nicht länger über einen, sondern zwei Offiziere, die sie kommandierten. So wurde der neue Dienstgrad des Subleutnants geschaffen, der den Adjutanten gegenüber einen höheren Rang besaß und das Kommando übernehmen konnte, wenn die Einheit aufgeteilt wurde, beispielsweise an einem breiten Frontabschnitt.
In den ersten Tagen wurden die Offiziersanwärter auf Teamkompetenz getestet, ihr Ausbilder ließ sie simple Ballsportarten ausführen. Dann kam körperliches Training dran, eine theoretische Einweisung in die Ausrüstung, und dann ging die beinahe tägliche Nutzung des Gefechtssimulators los. Im Gegensatz zu dem schon länger zurückliegenden kalten Training war nun alles wesentlich organisierter, mit der kleinen Truppe von Anwärtern führten sie taktische und langfristig angelegte Gefechte. Zudem wurde ihnen der Umgang mit der neuartigen Befehlstechnik beigebracht, Offiziere und Unteroffiziere konnten im Gefecht einen Visor nutzen, mit dem sie Pfade und Markierungen ins Gelände setzen konnten - interaktive Möglichkeiten für die kommandierende Offiziere, die Erin schwer beeindruckten. Seit dem letzten Monat wurden sie auch wieder in das Training mit den regulären Mannschaften und Unteroffizieren eingebunden, um die ihnen beigebrachten Methoden praktisch anzuwenden. Und in der Tat, es gab nur wenige Anwärter, die wenig oder keine Kompetenz zeigten. Erin hatte besonderes Können in Ausbrüchen gezeigt, dem Durchbrechen einer Frontlinie und im Verteidigen von Schlüsselpositionen. Natürlich gab es auch Aufgaben, die ihm weniger leicht von der Hand gingen, doch insgesamt merkte Erin, das er nicht zu Unrecht für diese Laufbahn vorgeschlagen wurde. Es war für ihn ein aufregendes Erlebnis, verborgene Fähigkeiten zu entdecken, von denen er nicht wusste, dass er sie besaß.
Auch über die Monate hielt Erin weiter Kontakt mit seiner Angebeteten Tenshja, sowie mit Lilly. Besonders Lilly meldete sich immer häufiger. Ihre Arbeit wurde immer stressiger, da aufgrund des bisherigen Erfolges eine Erweiterung des Solarstrom-Programms beschlossen wurde – was für sie wesentlich mehr Arbeit bedeutete. Sie interessierte sich sehr für das, was er tagtäglich erlebte. Ihre Anteilnahme an der Ausbildung und Allem, was ihm sonst beigebracht wurde, zeigte Erin, wie wichtig Lilly war, das er glücklich wurde. Er hatte sie auch im Detail über das Verhältnis zwischen ihm und Tenshja aufgeklärt. Zunächst war Lilly skeptisch, doch Erin beteuerte, das die Beziehung aufrichtig und durchaus zukunftsfähig war. Tenshja meldete sich bei ihm von der Schule aus, sie unterrichtete nun frische Klassen, das neue Schuljahr war angebrochen.
Trotz der vielen Gedanken die er seiner Geliebten widmete, blieb er konzentriert bei dem Vortrag diesen Tages. Der Ausbilder für die Offiziere war ziemlich effizient, da er im Gegensatz zu dem vorangegangenen Ausbilder, der nun die Mannschaften betreute, mehr auf Praxis setzte und mehrere Themen in die Theoriestunden einband. Erin hörte ihm weiterhin vertieft zu.
Juno rückte während sie lief den Kragen ihrer Uniform zurecht. Mit zielstrebigen Schritten bewegte sie sich in Richtung Brücke. Aufgrund ihres Ranges salutierten alle Besatzungsmitglieder vor ihr, wenn sie sie sahen – einzig der Kapitän des Schiffes stand im Rang über ihr, nicht einmal die anderen Offiziere waren ihr gegenüber weisungsberechtigt. Der Kapitän des Schiffes hieß Seth Mantell, er war Mitglied der Mantell-Familie, einem alten Adelsgeschlecht. Dies hatte natürlich in der solidarisierten Welt kaum noch Bedeutung, das einzige was ihm zugestanden wurde, war ein Offizierspatent aufgrund dieser Abstammung, das des Kapitäns. Er kommandierte die Taygeta seit dem Abschluss seiner Ausbildung, also annähernd 20 Jahre. Juno ordnete ihn mit ihren analytischen Fähigkeiten schnell als kompetenten Mann ein, weshalb sie ihre direkte Art in seiner Gegenwart ein wenig zurückfuhr – für den Aufbau von Sympathien kannte sie ihn allerdings nicht gut genug.
Sie trat auf die Kommandobrücke, und beobachtete, wie der große Schlachtkreuzer zu dem Massenbeschleuniger manövrierte, der im Orbit um den Mars und auch sonst jedem Planeten platziert worden war.
Als sie den Eingang zur Zentrale durchschritten hatte, rief der erste Kadett der sie sah:
„Marineoffizier an Deck!“
Alle Besatzungsmitglieder, die nichts zutun hatten, standen still und salutierten vor Juno.
„Rühren.“, sprach sie während sie weiter lief, und platzierte sich neben dem Kapitän. Die Brückenbesatzung ging wieder ihrer Arbeit nach.
„Was verschafft mir die Ehre?“, sprach der Kapitän über seine Schulter hinweg, während er aus der breiten Fensterfront der Brücke sah.
„Wir laufen außerplanmäßig aus, Herr Kapitän, und ich wurde nicht informiert.“
„Nehmen sie's nicht persönlich Seran, ich weiß es auch erst seit einer guten Stunde. Spätestens bei der Ankunft im Venus-Orbit hätte ich sie wecken lassen.“
„Und der Auftrag?“
„Ich weiß nicht viel mehr als sie. Wir haben Koordinaten im Venus-Orbit bekommen, wie so ziemlich die halbe Flotte. Alle Schiffe sollen sich unverzüglich bei dieser Koordinate sammeln und auf weitere Anweisungen warten.“
Der Kapitän schwieg einen Moment, drehte sich dann jedoch von der Fensterfront hinweg zu Juno um. Er sah sie an, kaute auf der Innenseite seiner Wange herum, und deutete ihr mit einer Handbewegung, näher zu kommen. Als sie beinahe so nah an ihm dran war, das sie ihn hätte küssen können, begann er gedämpft zu sprechen – die Mannschaft sollte nicht mithören.
„Mir gefällt das überhaupt nicht. Der Befehl hat beinahe alles große Gerät der Flotte aufgescheucht, und mein Adjutant, der zurzeit beim Stab auf der Erde lockeren Urlaubsdienst verrichtet, hat mir gesteckt, das einige Teile der Armee in Alarmzustand versetzt wurden.“
„Vielleicht ein Manöver?“
Solche großen Übungen wurden tatsächlich von Zeit zu Zeit abgehalten. Auch ohne die Einweihung der höheren Dienstgrade, ohne Voranmeldung. Doch Juno glaubte sich selbst nicht, als sie den Kapitän danach fragte.
„Nein“, entschied er, „nicht in diesem Umfang. Nicht um diese Zeit. Es gibt auch keinen Anlass. Das letzte große Manöver ist erst wenige Monate her. Irgendetwas anderes steckt dahinter. Und in meinen zwanzig Dienstjahren auf diesem Schiff habe ich noch nie etwas ähnliches erlebt.“
Die Taygeta schwebte in diesem Moment durch den ringförmigen Massebeschleuniger, der sie über mehrere Knotenpunkte innerhalb von einer halben Minute zur Venus katapultierte. Durch die Verstärkung des Schwerkraftgenerators an Bord, bekam man auf dem Schiff kaum etwas von den Kräften mit, die dabei wirkten. Mit einem dumpfen Geräusch verließ der Schlachtkreuzer das Gegenstück im Raum um die Venus – und Juno blieb für einen Moment der Atem aus. Da auch die Besatzung schwieg und aus den Fenstern der Brücke starrte, drehte sich der Kapitän ebenfalls um, nur um auch ins ehrfürchtige Schweigen zu verfallen. Vor ihnen bot sich der Anblick der glühend roten Venus, die von ihrer Ringstation umkreist wurde – doch im Vordergrund sahen sie zahllose Schiffe der militärischen Flotte, inklusive dem Schlachtschiff Venator, welches das größte von Menschen gebaute interstellare Kriegsschiff darstellte. Bei dem Anblick dieser unzählbaren Menge an Schiffen, begann der Kapitän laut zu denken.
„Major Seran.“
„Herr Kapitän?“
„Verstärken sie die Patrouillen ihrer Leute.“
Bevor Juno antworten konnte, wandte der Kapitän sich schon an den Mannschaftsführer. „Klingeln sie die zweite Wache aus dem Bett und halten sie sich jederzeit dafür bereit, auf Gefechtsstation zu gehen!“
Der Kapitän nahm in dem für ihn vorgesehenen Sessel platz, während Juno die Brücke verließ und ihre Kabine ansteuerte – sie musste telefonieren, und zwar dringend.
„Und nun die guten Nachrichten.“
Der Ausbilder hatte am heutigen Tag über die Verwaltung von Großverbänden gesprochen, es war der letzte Teil der Ausbildung. Dieser fiel auch nicht besonders großzügig aus, da die Wenigen von den Rekruten, die tatsächlich einmal Großverbände befehligen würden, noch zwei Jahrzehnte Dienst vor sich hatten, bevor sie das überhaupt durften. Nun hatte er etwas zu verkünden, was die Rekruten selbst bis zu diesem Zeitpunkt nicht wussten.
„Heute wird ihre Ausbildung beendet. Ihre Ausbildungskompanie wird mit den beiden anderen Zügen zusammengelegt, und die gesamte Kompanie in ein Bataillon der Armee eingeordnet.“
Erleichtertes Aufatmen machte sich in der kleinen Gruppe von Männern und Frauen breit. Erin lehnte sich im Stuhl leicht zurück, da er wusste, was auf ihn zukam. Er war mit einer kleinen Gruppe – innerhalb der sowieso schon kleinen Gruppe von Offiziersanwärtern – zu einem Sonderkurs abberufen worden. Drei Leute nahmen daran Teil. Eine junge Rekrutin namens Pariova, sie wurde als erste Zugführerin ausgewählt. Der andere Rekrut, Zaurak, wurde folglich Leutnant des zweiten Zuges. Der dritte Zug würde von einem Unteroffizier angeführt werden, Erin nahm sich vor, Goran dafür vorzuschlagen. Und Erin selbst würde der Kapitänleutnant werden, der Kompaniechef also. Etwa dreihundert Soldaten sollten ihm noch an diesem Tag offiziell unterstellt werden – dieser Gedanke überforderte ihn etwas, aber die Spannung darauf wog wesentlich höher.
„Die Zeremonie ihres Ausbildungsabschlusses findet schon in der nächsten Stunde statt. Sie sind für den Augenblick entlassen, packen sie ihre persönlichen Sachen aus den Schlafsälen und holen sie sich ihre Rangabzeichen bei den Quartiermeistern ab. Vor dem Ausschiffen werden sie in Galauniform im Glied antreten.“
Die gesamte Belegschaft des Hörsaals erhob sich, und verließ den Raum. Der Ausbilder folgte Erin ein paar Schritte und redete ihm noch gut zu, während die anderen außer Hörweite waren.
„Keine Panik wegen der neuen Verantwortung. Stellen sie sich vor, sie leiten eine Gruppe von Teenagern bei einem Camping-Ausflug, und sie sind der einzige der weiß, wie man überlebt. Einige wehren sich vielleicht gegen ihre Autorität, andere versuchen sie zu beschützen – aber am Ende folgen sie ihnen alle, denn sie geben den Weg vor, Nemodes. Wenn sie irgendwelche Probleme haben, auf die wir sie in dem Sonderkurs für kommandierende Offiziere nicht vorbereitet haben, kontaktieren sie mich. Oder wenden sie sich an einen Vorgesetzten in ihrem Bataillon – die werden ihnen helfen, versprochen.“
Erin lächelte, und schüttelte dem Ausbilder die Hand.
„Dankeschön. Ich werde mein Bestes geben.“
Der Ausbilder nickte ihm ermutigend zu.
„Sie sind Träger der Courage-Medaille, richtig? Wenn sie sich ordentlich ins Zeug legen, wird das nicht ihre letzte Auszeichnung bleiben, da bin ich mir sicher. Aber noch viel wichtiger ist, das sie dafür sorgen, das ihre Untergebenen Orden sammeln. Das fällt alles auf sie zurück.“
Diese Botschaft verinnerlichte er mit einem kurzen Schweigen, und salutierte dann abschließend vor dem Ausbilder, was dieser erwiderte. Erin machte dann eine scharfe Kehrtwende und lief in Richtung des Schlafsaales, den er für die Ausbildung bezogen hatte. Auf dem Weg dort hin kamen ihm viele Rekruten entgegen, die wohl zeitgleich mit ihm entlassen worden waren – Mitglieder seiner zukünftigen Einheit. Viele hatten sich schon die Galauniformen angezogen, die feinen Ausgehuniformen, mit denen sie in den offiziellen Dienst eingeführt wurden. Ihre Schulterklappen waren schon mit den Rangschlaufen überzogen, auf denen man entweder einen oder zwei Querbalken sah, einer stand für einen Soldaten der Mannschaften, zwei für einen Unteroffizier. Drei Querbalken waren für Offiziere vorbehalten, von denen er natürlich im Moment keine sehen konnte. Am Kragenspiegel wiederum konnte man den endgültigen Rang ablesen – ein Vertikalbalken für einen Gefreiten, zwei für einen Obergefreiten, drei für einen Hauptgefreiten. Bei den Offizieren war es ähnlich, einer für den Leutnant, zwei für den Oberleutnant, drei für den Kapitänleutnant. Von da ab gingen die Ränge in höhere Abteilungen, da waren es keine Balken mehr die den Kragenspiegel schmückten, sondern Sterne. Ein Stern für den Major, drei für den Oberst, fünf für den General.
Erin kam im Schlafsaal an, und begann seine Sachen zu packen. Er bereitete sich dann auf die Übergabe seiner Kompanie vor – bei dem Gedanken, das es seine Kompanie war, war er etwas überwältigt, doch er würde sich in diese Rolle sicherlich einfinden. Nachdem er seine persönliche Habe zusammengepackt hatte, begab er sich zum Quartiermeister, der ihm seine Ausgehuniform übergeben sollte.
Juno war von ihrer alltäglichen Dienstuniform in ihren Kampfanzug geschlüpft. Ein einfacher Feldanzug, der mit der Grundausrüstung bestückt war. An ihrer Schulter hing ein Unimun-Sturmgewehr, das Standardgewehr der Armee.
Ihr Blick war auf eine versammelte Gruppe von anderen Marinesoldaten gerichtet. Mannschaften und Unteroffiziere, ein paar Dutzend Männer und Frauen, wurden anlässlich des von Kapitän Mantell ausgegebenen Alarms aus dem Bett gescheucht. Vor ihnen lief nervös ein Offizier auf und ab, Major Korlis, der Kommandierende der Marineinfanterie auf der Taygeta. Juno war nur eine Beobachtungsoffizierin und im selben Rang wie er, doch sie hatte ihre eigenen Befehle.
Nach ihrem Besuch auf der Brücke hatte sie sich zurückgezogen und hatte ihren Vorgesetzten kontaktiert, der sich im Oberkommando befand. Sie musste eine verschlüsselte Leitung aufbauen, da keiner mitbekommen durfte, was wirklich ihr Auftrag war. Sie war eigentlich keine Marineinfanteristin – auch wenn es eine Akte mit ihrer Person gab. Die war aber nur spontan erschaffen worden, was niemand bemerkte. In Wahrheit war sie Agentin der Sonderabteilung 1, dem Geheimdienst. Die SA1 beschäftigte sich mit allen Angelegenheiten im Informationsdienst und auch der „traditionellen“ Spionage. Ihre Aufgabe an Bord war es, wichtige Vorkommnisse in einem Ernstfall direkt ans Oberkommando weiterzugeben. Die Kameraden auf dem Schiff, der Kapitän eingeschlossen, wusste nichts davon. Das war auch der Sinn dahinter – sie war gar nicht da, wenn man so wollte, sie stellte die Augen und Ohren der Kommandeure dar.
Bisher schien sich auch keiner von ihrer Anwesenheit beunruhigt zu fühlen, von Major Korlis eben abgesehen. Er war für einen Major noch vergleichsweise jung, gerade ein mal über die 30 Jahre geschritten. Sie hatte sich ihm als erstes vorgestellt, da sie davon ausging, in ihm sogar einen wichtigen Ansprechpartner zu finden. Doch er beäugte sie vom ersten Augenblick an misstrauisch, und schien zu ahnen, das mit ihr etwas nicht stimmte – was ihr als Spionin natürlich so gar nicht in den Plan passte. Der junge Offizier schien sie systematisch zu ignorieren und versuchte, möglichst wenig mit ihr zu tun zu haben. Nun hatte Juno in ihren Augen zwei Möglichkeiten. Entweder würde sie versuchen Sympathien aufzubauen, oder musste ihn irgendwie aus dem Weg räumen. Das konnte von untergejubelten illegalen Substanzen bis zu einem inszenierten Arbeits- oder Übungsunfall wegen ihr alles sein. Drastische Mittel, die aber durchaus nötig waren – falls sie wirklich als Spion in den eigenen Reihen enttarnt würde, könnte das die gesamte Glaubwürdigkeit des Oberkommandos gefährden. Da war sie lieber bereit, einen eigenen Mann zu opfern, als das eigene Militär komplett der Gefahr eines Putsches von Innen auszusetzen.
In dem Moment kam Korlis auf sie zu, mit seinem zwar netten aber durchdringenden Blick. Seine Lippen, die zwischen dem Ansatz eines Bartes hervorstachen, zwangen sich zu einem Grinsen.
„Tja, da müssen wir wohl jetzt zusammenarbeiten.“
Juno nickte höflich.
„Ich bin gespannt, wie sie sich schlagen.“
Korlis war nur ein paar Jahre jünger als sie, und konnte das durchaus als Beleidigung auffassen wenn sie solche arroganten Äußerungen nutzte, doch er überhörte selbiges professionell.
Er drehte sich wieder um und sah auf seine Holo-Armbanduhr, und wartete darauf, das etwas passierte. Der Großteil der Soldaten stand im Glied vor ihm, bereit für die Besetzung der kritischen Schiffssysteme. Die Hauptaufgabe der Marineinfanterie war es, das Schiff vor einem Enterkommando zu beschützen und es zurückzuschlagen, oder im Falle einer Meuterei die Ordnung wiederherzustellen. In Friedenszeiten waren sie mehr eine Art Polizei an Bord, schlichteten Streitereien und andere Angelegenheiten die den Ablauf an Bord stören konnten. In der Infanterie und mobilen Einheit, wo die MKA Feldagenten als Militärpolizisten einsetzte, diente in der Flotte eben die Marineinfanterie als Militärpolizei.
Doch im Moment war die Aufgabe unklar, was Korlis sehr nervös werden ließ. Auf Patrouille wollte er seine Leute nicht schicken, auf Gefechtsstation aber auch nicht, denn nichts von beidem erschien gerade sinnvoll. Also spazierte er eben hier auf und ab, bis er etwas zu hören bekam. Juno musste sich dem, um nicht aufzufallen, ebenfalls anschließen. Denn wo sollte ein Marineinfanterist nun sonst sein, als in Bereitschaft? Dies war schon lange nicht mehr ihr erster Spionageeinsatz in einer Militäreinheit, doch bisher hatte sie es nie mit einem Mann wie Korlis zu tun, der sie offenbar schnell durchschauen konnte. Sie musste etwas dagegen tun.
Aber zunächst war es wichtig, sich auf das Jetzt zu konzentrieren. Und das tat sie, sie wartete mit ihren vermeintlichen Kameraden auf Befehle.
Erin war, so wie die gesamte Ausbildungskompanie, in dem großen Atrium angetreten, in dem er schon viel seiner Freizeit verbracht hatte. Auf den großen Holobildschirmen die um den Baum herum projiziert wurden sah man große Schriftzüge, die die Ausbildungskompanie zum Abschluss ihres Trainings beglückwünschten. Noch waren die Soldaten in Grüppchen und Menschentrauben eingeteilt, die sich privat oder dienstlich unterhielten.
Diese feierliche Stimmung wurde unterbrochen, als alle mitbekamen, das ein Ausbilder auf das vor der angesammelten Menge aufgebaute Rednerpult stieg.
„A-chtung!“, schallte es durch das ganze Atrium.
Die Masse begann sich hektisch im Glied anzuordnen, saubere Reihen wurden gebildet, sortiert nach Rängen, Zügen und Gruppen. Auch Erin hatte sich in Bewegung gesetzt, ihm war wie jedem anderen Soldaten beigebracht worden, wie die Anordnung beim Antreten der gesamten Kompanie auszusehen hatte. Unteroffiziere und Offiziere standen immer rechts von ihrer unterstellten Einheit. Feldwebel neben ihrer Gruppe, Leutnante neben ihren Zügen. Der Kompaniechef, also Erin, hatte somit ganz vorne rechts zu stehen. Dort hatte er sich eingereiht.
Seine Ausgehuniform war in feierlichem Weiß gehalten, und weil sie neu war, noch ziemlich blank. Seine gesamte Brust war frei, dort war der Platz für zukünftige Auszeichnungen. Einzig seine Medaille für Zivilcourage trug er um den Hals, was ihn abgesehen durch seinen Rang, schon von seinen Kameraden abhob. Er hatte sich in die Stillgestanden-Pose begeben und wartete nun wie alle anderen schweigend auf das, was der Ausbilder zu sagen hatte.
„Sie alle“, begann dieser mit seiner Ansprache, „haben harte Monate des Trainings hinter sich. Jeder von ihnen sah sich in den ersten Tagen konfrontiert mit dem, was ihn hier erwarten würde. Sie erkämpften sich im kalten Training die Position, die sie nun inne haben. Doch vom Mannschaftler bis zum Offizier sollten sie nicht unterschätzen, wie wichtig ihre Tätigkeit für ihre Einheit ist. Sie werden sich bald nicht mehr hier, sondern in einer Militäreinheit wiederfinden. Zugeteilt in ein Bataillon, integriert in die kämpfenden Verbände der Infanterie. Und ich bin mir sicher, wir haben aus ihnen einen fähigen Soldaten gemacht – werden sie ihrer Ausbildung gerecht und zeigen sie jedem ihrer Kameraden, wie stolz sie darauf sind, diese genossen zu haben.“
Der Ausbilder schritt vom Mikrofon zurück und ging herunter. Er begab sich zum linken Ende des Gliedes, und ging dann langsam nach rechts in die Richtung, wo Erin stand. Auf dem Weg dorthin schüttelte er einigen Soldaten im Glied sporadisch und spontan die Hand, das übliche Ritual bei der Übergabe der Einheit. Schließlich kam er dann bei Erin an. Dieser kannte den Ablauf bereits, da er vorher durchgesprochen wurde, und salutierte vor dem Ausbilder. Mit einem anerkennenden Nicken streckte der Soldat seine Hand aus, und Erin nahm die eben noch salutierende Hand, um sie zu schütteln.
„Kapitänleutnant Nemodes, hiermit übergebe ich ihnen die Ausbildungskompanie 3 aus unseren Händen. Alle hier anwesenden Kameraden unterstehen ihnen, bis sie selbst ihren Dienst als Kompaniechef niederlegen oder anderweitig beenden. Als der neue Befehlshaber der Kompanie haben sie das Privileg und die Pflicht, ihre Untergebenen aus eigenem Ermessen auszuzeichnen, zu befördern oder zu degradieren. Zudem steht es ihnen zu, der Kompanie zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl einen eigenen Namen zu geben. Bis da hin ist ihre Einheit die 2. Kompanie des 1. Bataillons im Infanterieregiment 5 der 1. Merkurdivsion.“
Dann drückte der Ausbilder Erin ein Blatt Papier in die Hand.
„Ihr Versetzungsbefehl. Ihre Einheit ist ab sofort auf der Ringstation Merkur stationiert. Sie werden noch heute ausgeflogen. Alles gute, Herr Kapitänleutnant. Und nun – wegtreten!“
Der letzte Satz war durch das ganze Atrium gebrüllt worden, und die Einheit löste sich wieder im Glied auf. Die lockeren Gespräche gingen weiter, wurden nun sogar mit noch mehr Elan geführt. Der Ausbilder klopfte ihm noch auf die Schulter und verschwand dann sofort, sie waren nun nicht mehr für die Einheit verantwortlich. Mit einem tiefen Atemzug sah Erin sich dann seinen Versetzungsbefehl an, und las schon in den Zeilen für den Empfänger „Kapitänleutnant Nemodes“, was ihn mit großem Stolz erfüllte. Nach einigen kurzen Momenten tauchte Carmen auf, die ihm die Hand schüttelte.
„Glückwunsch, Herr Kaleu.“
Sie hatte sich bereits die Kurzform seines Ranges gemerkt, und Erin bedankte sich mit einem Nicken. Es war merkwürdig, eine Kameradin, die noch neulich eine gleichgestellte Rekrutin war, war nun eine Mannschaftlerin unter ihm. Ihre Rangzeichen zeigten, das sie wohl den Rang einer Spezialistin innehatte, sie würde wohl eine besondere Aufgabe übernehmen.
„Gleichfalls, Spezialist Ozaba.“
Als sie darauf etwas erwidern wollte kam Goran durch die Menge zu ihnen gestapft, worauf sie sich gleich entschuldigte. Etwas war zwischen den beiden, doch Erin wusste nach wie vor nicht, was. Von Weitem konnte er sehen, das Goran die Rangabzeichen eines Unteroffiziers trug. Als er vor ihm stand, salutierte er vor Erin.
„Hauptfeldwebel Praves, zu Diensten, Herr Kapitänleutnant.“
Er schmunzelte. Goran war also einer von zwei Hauptfeldwebeln in der Kompanie. Einer war der Chef der Unteroffiziere, quasi der Vermittler zwischen selbigen und den Offizieren. Der Andere übernahm den dritten Zug der insgesamt drei Züge in der Kompanie, und das Goran letzteres tun sollte, wollte Erin ihm gleich sagen.
„Sehr gut. Sie werden den dritten Zug übernehmen, Praves.“
„Danke, Herr Kaleu.“
Sie nickten sich zu, und Erin sah sich um. Es war Zeit, aufzubrechen. Also stellte er sich vor die Einheit und klatschte ein paar Mal in die Hände, was in dem Atrium von den hunderten Soldaten aufgrund des Echos gut gehört wurde.
„Achtung, herhören!“
Abprubt wurde es still.
„Alle Mann begeben sich zur Dockstation, ein Raumkreuzer wird uns zur Merkurstation verschiffen. Packen sie ihre Sachen und melden sie sich an Bord bei ihrem Vorgesetzten! Zugführer, zu mir! Gruppenführer, übernehmen sie!“
Der große Versammlungsraum wurde von einigen Befehle brüllenden Stimmen unterbrochen, von Frauen sowie Männern. Die Feldwebel wiesen ihre Gruppen an, um sie geordnet zum Dock marschieren zu lassen. Während Erin dieses Schauspiel beobachtete, näherten sich ihm Leutnant Pariova und Leutnant Zaurak, mit denen er schon viel zusammen trainiert hatte, sie waren die Zugführer. Die drei nickten sich dann nur routiniert zu. Sie waren bereit, aufzubrechen. Die Ausbildung war vorbei.
Das Lonely Wolf war so gut wie leer, nur wenige Menschen hatten sich um diese späte Uhrzeit hier eingefunden. Es war mitten in der Nacht, doch einige hatten Spätschicht und waren nun hergekommen. Zwei davon waren Lilly und Remus, die sich zusammen nach getaner Arbeit vergnügten. Er spielte einige klimpernde Noten auf dem Klavier, während sie daneben stand und sich mit ihm unterhielt. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, die Konstruktion der neuen Solarsatelliten zu koordinieren.
In der ruhigen Stimmung der kaum besuchten Bluesbar waren sie sicher vor der grundlegenden Hektik auf ihrer Arbeit. Die wenigen Leute die da waren unterhielten sich leise, oder saßen alleine am Tisch und beschäftigten sich. Die Küche war zu diesem Zeitpunkt des Tages schon lange geschlossen, der Eintritt für Clubmitglieder, zu denen Lilly mittlerweile auch zählte, war jedoch ganztägig erlaubt.
„Ich mag diesen Laden mit jedem Mal mehr.“, warf Lilly spontan ein.
„So geht es den meisten. Ich hab' hier damals angefangen, und noch heute bin ich hier Stammgast.“, entgegnete Remus.
„Was ist das eigentlich für ein Werdegang? Vom Musiker zum Bauleiter?“
Er lachte gedämpft, und klimperte weiter nebenbei auf dem Klavier, dessen durchsichtige Tasten in verschiedenen Farben aufleuchteten.
„Das mit der Musik, das war nur so ein Nebenjob in meiner Jugend. Ich hab Klavier spielen gelernt und hab mich öfter mal in eine Bluesbar gesetzt, um mir Geld dazu zu verdienen. Nach der Schule hab ich das ein paar Jahre professionell gemacht, und dank eines fähigen Agenten war ich schnell überall bekannt, habsogar eine kleine Tournee über ein paar Ringstationen gemacht. Aber das war mir zu unsicher, da hab ich nebenbei angefangen beim Bau zu lernen. Zuerst als Monteur, und jetzt bin ich, wie du siehst, vor einigen Jahren zum Montageleiter aufgestiegen. Als sie einen Bauleiter hier auf der Venus gesucht haben war mir klar – da bin ich gut aufgehoben.“
Lilly sah ihn fasziniert an, als er seinen Werdegang erzählerisch an sie weitergab. Doch sie hatte noch Fragen.
„Und du hast direkt von der Musikbranche zum Bau gewechselt? Waren deine Anhänger da nicht enttäuscht?“
„Ach“, grinste Remus, „da hatte ich eine gute Ausrede, ich war für ein Jahr auf der Marsstation, und bin Reserveoffizier geworden. Da konnte ich einen Schnitt machen.“
Lilly hob eine Augenbraue.
„Warum das?“
Remus klimperte eine abfallende Tonfolge auf dem Klavier und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich hab das Geld gebraucht. Und die Reservepauschale, die ich jeden Monat gezahlt kriege, ist eine nette Stütze. Dafür musste ich mich halt ein Jahr lang im Simulator durch die Gegend schießen.“
Die beiden lachten kurz, und hielten ein wenig inne. Lilly fühlte sich ermutigt, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
„Ich war auch versucht, ins Reserveprogramm zu gehen. Aber dann kam der Tag, an dem die FSRG an meiner Schule Werbung gemacht hat. Die haben ihre Lehrgänge ganz groß vorgeführt, und irgendeiner der Werber musste wohl gewusst haben, wie gut meine Leistungen in Physik und Mathe waren. Da kam er natürlich sofort auf mich zurück und hat den Posten der Drohnenkoordinatorin groß angepriesen – ich war hin und weg, und jetzt sitze ich hier.“
Als Remus gerade etwas erwidern wollte, bekam man durch die Eingangstür hinweg von draußen mit, das einiges an Rumoren ausgebrochen war. Es war ziemlich unruhig geworden. Man würde zunächst eine Streiterei zwischen zwei Gruppen vermuten, doch um diese Uhrzeit war das selbst auf der Venusstation nicht üblich. Schließlich klopfte es an der Eingangstür, der Türsteher öffnete, und ein aufgeregter Mann in dreckigen Arbeitsklamotten stürzte in die Bluesbar.
„Die Kriegsflotte! Schiffe, hunderte! Alle vor der Venus!“
Selbst auf den Ringstationen war die Tradition des Buschfunks nicht ausgestorben, wie man an diesem Auftritt bemerken konnte. Remus und Lilly sahen sich überrascht an. Als der Mann wieder aus der Bar verschwand, beschlossen die beiden spontan, aufzustehen und nachzusehen – aus den großen Panoramafenstern sollte man die vermeintliche Präsenz der Flotte sehen können.
Juno war auf Anweisung von Major Korlis wieder auf die Brücke zurückgekehrt. Sie sollte die aktuelle Lage einschätzen und signalisieren, wenn die Zeit reif war, auf Gefechtsstation zu gehen. Kapitän Mantell hatte die Taygeta in die große Formation an Schiffen eingereiht, die sich nun in einer sauberen Wand schützend vor der Venus aufbaute. Es war nach wie vor keinem klar, wofür die Flotte sich bereithielt. Auch vom Oberkommando kamen keine expliziten Anweisungen, alle warteten angespannt. Nach ein paar Momenten wurde die Ruhe gebrochen, als sich per Lautsprecher auf der Brücke die Sensorstation meldete.
„Achtung, unbekannter Kontakt vorraus, Audiokontakt.“
Man schien alle die Luft anhalten hören zu können. Alle starrten aus den Sichtfenstern der Brücke, doch nichts tat sich am schwarzen Horizont. Die Sterne leuchteten wie immer, und es wirkte alles still und friedlich. So still, wie die unendliche Leere immer wirkte.
„Kontakt wird lauter. Entfernung – gleichbleibend.“
Das folgende Schauspiel sorgte sowohl bei Juno als auch Mantell für ein verwirrtes Gesicht. In bizarren Formen schien sich eine unsichtbare Masse, einige Kilometer entfernt, auszubreiten. Sie verzerrte das Bild wie die Sicht durch ein Glas Wasser, und wurde immer größer.
„Lautstärke nimmt weiter zu, Entfernung – gleichbleibend.“
Die Masse bekam nun mehr Struktur, sie wurde symmetrisch. Sie bildete sich zu einer perfekt geformten Kugel, die immer mehr anwuchs. Wie Juno schätzte, war sie bestimmt schon so groß wie der Mond der Erde. Als die Kugel schließlich anfing in mehreren Farben schillernd zu leuchten, drehte Kapitän Mantell seinen Kopf zur Seite.
„Auf Gefechtsstationen, sofort!“
Auch Juno gab diese Anweisung per Funk an Korlis weiter. In diesem Moment wurden alle Batterien und Abwehrsysteme von der Schiffsbesatzung besetzt, und die Marineinfanterie platzierte Soldaten an jedem möglichen Einstiegspunkt für ein Entermanöver. Die farbenfroh schillernde Kugel blinkte in seiner Frequenz immer langsamer, bis sie schließlich in einem Purpur-Farbton begann konstant zu leuchten. Nach dem alle auf Position waren, wurde es wieder totenstill auf dem Schiff. Keiner traute sich, ein Wort zu verlieren – nur der zweite Offizier neben Mantell gab seinen Bericht nach ein paar Sekunden ab.
„Alle Waffen- und Abwehrsysteme sind besetzt, Schiff ist klar zum Gefecht.“
„Zustand des Aquaschilds?“, entgegnete Mantell sofort.
Der Aquaschild war die moderne Abwehrtechnik, mit der nur Kriegsschiffe ausgestattet waren. Die Außenhülle des Schiffes bestand aus zwei Schichten Titan. Zwischen diesen beiden Schichten war circa ein Meter Hohlraum, dort waren Sektionen mit Wasser gefüllt worden, die unter starkem Luftdruck standen. Bei Tests zeigte sich, das selbst explodierende Sprengköpfe von dieser Konstruktion aufgehalten wurden – ein funktionierender Abwehrschild.
„Bei 100 Prozent, Herr Kapitän.“
Gerade als diese Meldung zurückkam, blähte sich die vor ihnen lokalisierte Kugel ein letztes Mal auf, und es geschah etwas unbegreifliches – mehrere Schiffe unbekannter Form verließen die Kugel, sie erschienen aus dem Nichts. Nach einer kurzen Pause folgte ein noch größerer Schub an Schiffen, die auch selbst größer waren. Das größte Schiff in dieser neu aufgetauchten Formation flog an den anderen vorbei, drängte sich nach vorne. Die Besatzung der Taygeta wie auch vermutlich die aller anderen anwesenden Schiffe war wie vor den Kopf gestoßen, und beobachtete die eben aufgetauchte Flotte, von der keiner wusste, woher sie kam und zu wem sie gehörte. Das massive, unbekannte Schiff flog ein wenig weiter auf die Flotte vor der Venus zu, und drehte dann leicht ab, um der Wand aus Kriegsschiffen seine Breitseite entgegenzuhalten. Dann geschah das, womit alle rechneten, was sich jedoch keiner wünschte – das Schiff erwies sich als feindlich, denn es begann in dem Moment, mit massiven Geschützen an der Seite, grüne Geschosse abzufeuern.
Lilly und Remus beobachteten dieses absurde Schauspiel von einem Observationsraum der Station, und sahen mit an, wie die Geschosse des feindlichen Schiffes auf eine Fregatte der zusammengezogenen Flotte trafen, und diese in Flammen aufging. Die Armada reagierte sofort und alle Schiffe schwärmten aus, lösten die große Wand vor der Ringstation auf, und versuchten die aufgetauchte feindliche Ansammlung von Raumschiffen in allen drei Dimensionen einzukreisen.
Es hatte ein paar Minuten gedauert, bis schließlich ein Alarmton in Form einer Sirene durch die Ringstation krähte. Die Aufforderung, Schutzräume aufzusuchen, wurde von Stimmen aus Lautsprechern verkündet. Einheiten des Polizeikorps rückten aus, halfen beim Organisieren. Und in den Kasernen der Venusdivisionen war vermutlich ebenfalls der Teufel los, da sich alle zur Verteidigung bereit machen mussten.
Die beiden standen wie angewurzelt da, während im Hintergrund panisch Menschen umherliefen. Sie blieben stehen und waren viel interessierter daran, was wohl nun noch passieren würde. Die Begegnung beider Flotten entwickelte sich mittlerweile zu einer voll ausgeprägten Raumschlacht. Während die kleineren Schiffe wie Fregatten und Korvetten offenbar unterlagen, räumten die großen Kreuzer und der Größte von ihnen, der Schlachtkreuzer Taygeta, und vor allem das einzige Schlachtschiff Venator, ganze Reihen an Feinden aus dem Weg. Als eins der Größeren feindlichen Schiffe in einer gleißenden Explosion entzwei brach, näherten sich Lilly und Remus von hinten zwei Polizeisoldaten, die ihnen mit einem harschen Befehlston klarmachen wollten, das sie sich ihnen anschließen sollten.
„Stehen sie nicht rum wie zwei Lebensmüde, bewegen sie sich, wird’s bald!“, keifte einer der Beiden.
Lilly drehte sich um und musterte die Polizeisoldaten, deren eigentliches Erscheinungsbild sie nicht erkennen konnte. Üblicherweise waren sie nur mit einem Schlagstock ausgerüstet, einem einfachen Feldanzug und einer Schirmmütze, die zu ihrem charakteristischen Merkmal geworden war. Doch diese beiden Milizionäre waren in einem richtigen Kampfanzug, mit Stahlhelm und einem Sturmgewehr ausgestattet – wenn sie so ausgerüstet waren, konnte es sich nur um einen Ernstfall handeln. Remus nickte ihnen zur Bestätigung zu und zog Lilly unbewusst am Arm, um dafür zu sorgen, dass sie Schritt hielt, als sie sich in einer kleinen Gruppe in Bewegung setzten.
Der nächste Schutzraum war nicht sehr nahegelegen, deshalb sorgten Polizeisoldaten dafür, dass alle Zivilisten diesen sicher erreichten. Die Schutzräume der Ringstationen waren bisher noch nie genutzt worden, viele Bewohner der Stationen wussten nicht einmal, dass sie existierten. Ursprünglich waren sie dafür konzipiert worden, bei größeren Zwischenfällen die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen – als Schutzraum für einen Angriff hatte man sie aber nie erwogen. Die kleine Gruppe, zunächst nur aus den Vieren bestehend, wurde mit jedem gelaufenen Meter größer, da sich viele Zivilisten anschlossen.
Lilly konnte sehen, wie panisch die Menschen um sie herum waren. Viele nahmen offenbar nicht für voll, was gerade geschah – und sie wusste auch selbst nicht, ob sie das tat. Mittlerweile hatte ihre Gruppe sich mit einigen anderen zusammengeschlossen, sie waren nun mehrere Dutzend Menschen, begleitet von einer kleinen Gruppe Polizeisoldaten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie schließlich an einem Marktplatz an, der komplett von Menschen geflutet war. Ein Polizeisoldat, seiner Uniform nach zu urteilen ein Offizier im Rang eines Justikars – diese waren beim Polizeikorps die Kompaniechefs, entsprachen also dem Rang eines Kapitänleutnants – stand auf einem provisorischen Podest inmitten des Platzes. Der dirigierte nun die Menschenmasse, als sich plötzlich eine der großen Wände der Station zur Seite schob, und einen großen Korridor freigab, die wohl den Schutzraum darstellte. Nach ein paar Augenblicken begannen die panischen Zivilisten, sich wie ein großer Schwarm in die große Halle zu begeben – Lilly und Remus schlossen sich an.
Kapitän Mantell lief auf der Brücke hin und her, und gab ständig Befehle weiter. Er hatte mittlerweile ein Headset im Ohr, mit dem er alle Offiziere erreichen konnte – so übte er die Befehlsgewalt über das Schiff aus. Er ließ das Schiff gerade beidrehen, um eines der größeren feindlichen Schiffe abzufangen, er beobachtete dieses Vorhaben von der Brücke aus genau.
„Achtung, alle Batterien.“, sprach er in sein Headset und hielt kurz inne. Als die Taygeta schließlich mit ihrer Breitseite zu dem anderen Schiff zeigte, rief er: „Feuer!“
Ein großer Schwall an Raketen verließ die Geschütze des Kreuzers, und als diese auf das feindliche Objekt trafen, ging es in einer großen Explosion auf. Für einen Moment des Triumphs reichte der Treffer jedoch nicht aus, schon zwei weitere Schiffe des Feindes waren auf Abfangkurs zu dem Schlachtkreuzer gegangen – in diesem Kampf gab es keine Pause.
Die verschiedenen Batterien bekämpften eigenmächtig die neuen Bedrohungen, als aus der Ansammlung von feindlichen Schiffen vor der immer noch wabernden, großen Kugel ein neues großes Schiff hervorstach, das direkt Kurs auf die Taygeta nahm.
Juno war noch immer auf der Brücke – da sie keine anderen Anweisungen bekommen hatte – und sah dem unfassbaren Spektakel zu. Die Raumflotte des Militärs existierte nun schon ein paar Jahrhunderte lang, doch noch nie war sie in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Diese Jahre waren gezählt, nun musste sich die über die Jahre entwickelte Technik beweisen.
Das große Schiff drehte in sicherer Entfernung ab, aber blieb in Sichtweite des Schlachtkreuzers. Mantell musterte es skeptisch, dieses Manöver musste irgendeinen Zweck haben. Als hätte man seine Zweifel gespürt, öffnete sich eine große Öffnung an der Breitseite des länglichen Schiffes, und viele kleine Flugobjekte schnellten aus dieser hervor – mit Kurs auf die Taygeta.
„AO“, sprach der Kapitän in sein Headset, die Abkürzung für Aufklärungsoffizier, „behalten sie die neuen Kontakte im Auge.“
Was auch immer der AO antwortete, es konnte bis auf Mantell selbst keiner hören, alle Kommunikation lag auf der Ohrmuschel, an der er sein Headset trug. Währenddessen schaltete eine Raketensalve von Backbord ein weiteres feindliches Schiff aus, nach einiger Zeit kamen die kleinen Flugobjekte jedoch gefährlich nahe an Mantells Schiff heran. Darauf äußerte dieser eine Vermutung.
„Achtung, wir haben es vielleicht mit Enterkapseln oder Ähnlichem zu tun“, gab er sowohl ins Headset als auch für alle auf der Brücke zu bedenken. Dann drehte er sich zu Juno um. „Sie wissen, was das heißt, Major Seran.“
Sie nickte ihm zu, salutierte kurz. Nach einer scharfen Kehrtwende verließ sie die Brücke und lief den Korridor entlang, an dessen Ende ein Aufzug auf sie wartete. Diesen betrat sie und fuhr auf eins der mittleren Decks, auf diesen befanden sich die meisten offenen Flächen, an denen man einen Einsteig in das Schiff versuchen konnte. Auf dem Weg klemmte sie sich ihr Headset ins Ohr, stieg auf dem Kommunikationskanal der Marineinfanterie ein, und benachrichtigte Major Korlis über ihren Auftrag.
„An Steuerbord nähern sich Enterkapseln, bereithalten zur Verteidigung. Schicken Sie einige Gruppen, ich übernehme das Mitteldeck, Sie sichern alle kritischen Systeme.“
Korlis bestätigte, und Juno traf an einem beliebig ausgewählten Punkt des großen Hauptkorridors auf dem Mitteldeck ein. Sie war sehr nervös, und zeigte das nur aufgrund von jahrelanger Erfahrung als Spion nicht äußerlich. In ihrer Laufbahn hatte sie bisher zwar schon oft die Befehlsgewalt über Soldaten ausgeübt, doch noch nie einen Kampf organisiert – ob sie dazu fähig war, würde sich nun herausstellen. Nach einer kurzen Wartezeit tauchten die von ihr angeforderten Gruppen in Form eines abgestellten Zuges auf, dessen Leutnant eigenständig die Männer über den langen Gang verteilte. Alle luden ihre Sturmgewehre durch, und behielten die Wand im Auge – ein abstruser Anblick für jeden Außenstehenden, der jedoch alles andere als Spaß bedeutete. Die Marinesoldaten tauschten zum Teil besorgniserregende Blicke aus, und warteten darauf, was als Nächstes passieren würde.
Bildmaterialien: Mascha Bolotnikova
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein herzliches Dankeschön an die Leute, die sich regelmäßig jedes Kapitel durchlesen, wenn eins draußen ist sowie bevor ich es hochlade. Als da wären Sven, Kathi und natürlich die wundervolle Mascha, von der auch dieses tolle selbstgemachte Cover stammt.