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Das Mädchen mit der Kette

Das Mädchen mit der Kette

 

Mit kühler Miene und in Gedanken schwelgend stand er an der Bushaltestelle. In gewisser Weise war Nick es gewohnt, ins Nichts zu starren. Es war ein Tag wie jeder Andere, heute würde er den langen Weg fahren. Langer Weg – das bedeutete, bis zur Endstation zu fahren. Eine Fahrt durch drei Stadtviertel hindurch, in der er seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Es gab durchaus einen Grund, warum er diese, für Andere langweilige Fahrt, zu seinem Vorteil nutzen konnte. So geistesabwesend wie er war, schadete ihm eine solche Fahrt nicht – im Gegenteil. Sie eignete sich perfekt, um sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen. Ihnen zuzuhören, sie zu entziffern, zu verschlüsseln. Sie sortieren, oder neu einordnen. Komplett überarbeiten, sie verwerfen oder ihnen eine andere Priorität geben. Was man mit Gedanken so tun konnte, dachte er sich. Nur blöd, dass er Niemandem erzählte, wie er über seine Gedanken dachte. Allein schon bei dem Gedanken, Jemandem zu erzählen, wie er über seine Gedanken dachte, wurde ihm mulmig. Aber ebenso presste er unfreiwillig ein Grinsen hervor, als ihm das soeben kreierte Wortspiel nocheinmal in den Kopf kam. Über Gedanken denken, auf soetwas kam auch nur er.

Jedoch riss ihn ein Regentropfen aus seiner Trance. Schon den ganzen Tag gab es diesen unangenehmen Dauerregen, der schon während des Unterrichts gegen die Fenster prasselte. Das Wetter versaute ihm oftmals die Stimmung, manchmal wurde sie jedoch davon komplett umgekrempelt. Morgens stand er meist mit dem Wetter auf, so sagt man doch so schön. Am Morgen, als er auf dem Weg zur U-Bahn war, hatte es auch schon so geregnet. Und seine Jacke hatte keine Kapuze, verdammt, hatte ihn das geärgert. Zwar hatte er noch andere Jacken, doch diese trug er am liebsten. Warum also die Andere anziehen? War schließlich sowieso nur Wasser. Die Pausen fanden dann logischerweise alle drinnen statt. Nunja, für seine Mitschüler. Speziell wenn Hauspause war, ging er immer mit seinem Kumpel hinaus, in den Regen. Wenn die ganzen anderen Nervensägen drinnen waren, und er sich ungestört mit seinem Freund unterhalten konnte – dann war der Tag schoneimal zu einem geringen Teil gerettet. Draußen zu stehen machte den Beiden nichts aus. War ja nur Wasser.

An der Bushaltestelle regnete es nun verständlicherweise auch noch. Die restlichen Wartenden hatten sich in das Wartehäuschen gezwängt. Da dachte Nick sich nur, wie lustig, wie sich alle vor dem Nass werden drücken – die Hälfte von Ihnen würde vermutlich am selben Abend noch duschen gehen, somit würden sie so oder so nass werden. Oder ging es ihnen etwa nicht darum, nicht nass zu werden? Er verstand es nicht. Aber irgendwie war ihm das ab einem gewissen Punkt egal – er selbst genoss die Regentropfen, die auf die Schulterklappen seiner Jacke tropften, gefiltert von den Blättern des Baumes, unter dem er stand. Seine Ohrstöpsel spuckten Musik hervor, und sein leerer Blick schweifte über die gegenüberliegende Straßenseite. Ein Kindergarten stand da vor ihm, in den Fenstern begeisterte, kindliche Blicke, die den Regentropfen fasziniert folgten. Davor ständig Autos, die anhielten, meist von Müttern gefahren, die ihre Kinder mit strahlendem Gesicht abholten. Kaum zu glauben, dass dies dieselben Kinder waren, die die Schüler der Oberstufe über den Zaun mit Gegenständen bewarfen und ihnen Schimpfwörter hinterherschrien, die sie wohl von diesen gehört hatten. Großartige Vorbildfunktion, dachte Nick sich nur kopfschüttelnd, und sah sich den Himmel an, an dem die grauen Regenwolken entlangschwebten. Der Wetterbericht meinte, dass es wohl noch bis zur Nacht regnen sollte – aber damit ist ja bei Dauerregen zu rechnen.

Tiefes Motorbrummen vom Ende der Straße, und die plötzliche Bewegungsmotivation der Mitwartenden ließ darauf schließen, dass der Bus gerade angefahren kam. Ein kurzer Blick um die Ecke – ja, das war sein Bus, Linie in Richtung Bahnhof. Nick zog seine Umhängetasche nocheinmal straff, und schritt ein wenig näher auf die Straße zu, dorthin, wo der Bus gleich halten würde. Gerade als der Bus hielt, und er den Schritt in die Tür machte, spielte ein neuer Song auf seinem iPod an. Ja, sein iPod, der war ihm irgendwie wichtig geworden. Seit der fünften Klasse trug er ihn immer mit sich, ohne Musik verließ er kaum noch das Haus. Und wenn er mal keine Musik dabei hatte, wurde ihm recht schnell langweilig. Die Leute in der U-Bahn konnten nerviger sein als so ziemlich alles, was überhaupt nervig sein konnte. Von intensiven Telefongesprächen bis zu dämlichen Streitereien war so ziemlich alles in öffentlichen Verkehrsmitteln vertreten, was einen entspannten Menschen reizen konnte. Beste Bekämpfung dieser Faktoren war natürlich Musik, doch passierte es Nick öfters, dass er keine Musik mitnehmen konnte. Wenn beispielsweise die Kopfhörer den Geist aufgaben, oder der iPod ihm mal wieder herunterfiel, war es besiegelt – für mindestens eine Woche keine Musik mehr. Scheiße. Aber auch da wusste er sich zu helfen. Was ist noch ablenkender als Musik? Richtig, Filme. Doch die konnte er sich nicht mitnehmen, also entschied er sich für ein gutes Buch. Einen dicken Roman, mit spannender, und verzwickter Handlung. Eine Seite lang nicht aufgepasst, und schon verstand man den Rest des Buches nichtmehr. Eine sympathische Hauptfigur, mehrere unerwartete Wenden und der Protagonist stand mehrfach vor dem Tod. Doch immer wieder hatte er Glück, um schließlich im Sad End des Buches zu landen. Sad End, so nannte man das Gegenteil eines Happy Ends. Am diesem Tag jedoch hatte Nick die besten Karten, um sich selbst zu vergessen. Er hatte sowohl Musik, als auch ein Buch dabei. Zwar hatte er das Buch bereits gelesen, doch das war schon ewig her. Die Tasche hatte er in seinem Fußraum abgelegt, die Musik etwas lauter gedreht, und das Buch aufgeschlagen.

 

Bis zur Hälfte der Fahrt war Nick in das Buch versunken, bis der Bus schließlich den langen Halt am Busbahnhof machte. Dort stand er meist um die zehn Minuten führerlos herum, bis der Fahrer wiederkam, oder von einem Anderen abgelöst wurde. Sein Lesefluss wurde komischerweise ständig unterbrochen. Viel zu oft sah er auf, dachte über das Gelesene nach. Zugegeben, das Thema des Buches brachte ihn zum Nachdenken, doch brach er niemals das Lesen ab. Es war ein sehr gutes Buch, deshalb irritierte es ihn selbst, dass er ständig wegblickte. Schließlich sah er jedoch keinen Sinn mehr darin, es weiterzulesen, wenn er so bodenlos abgelenkt war. Er klappte das Buch zusammen, steckte sein Lesezeichen ein, und packte das Buch in seine Tasche.

Einige Sitzplätze vor ihm saß ein Mädchen. Sie war nicht unbekannt für ihn, er sah sie öfters. Sie war auf seiner Schule, in welcher Klasse allerdings wusste er nicht. Sie hatte ein unschuldiges, süßes Lächeln, und war von der Körpergröße her sehr klein – was Nick nicht sonderlich störte, denn er war selbst für sein Alter viel zu klein. Er sah sie wirklich oft, in den Pausen, wenn er den langen Weg mit dem Bus fuhr, und auch manchmal, wenn er nach der Schule wegen irgendetwas anderem unterwegs war, traf er sie zufällig öfters auf der Straße. Er kannte ihr Gesicht schon, immer wieder wenn er sie sah, musste er auflächeln, weil die Welt doch so klein war. Ausserdem wohnte sie nur eine Haustür weiter, wenn er zu seinem Vater fuhr. Das heißt sie hatten – wenn er den langen Weg fuhr – genau dieselbe Strecke wie sie.

Der Bus fuhr nun wieder weiter.

Heute sah sie besonders gut aus, fand Nick. Sie trug eine lange Kette, an der ein Friedenszeichen hing. Oder Hippiezeichen, Friedenssymbol, wie auch immer man es nennen wollte. Es stand ihr ausserordentlich gut, so dachte jedenfalls Nick, und betrachtete sie eine Zeit lang. Auf ihrem Nebensitz stand eine Einkaufstüte, und natürlich ihre Schultasche. Ausserdem sah er zurzeit nur ihren Hinterkopf – was ihn nicht sonderlich störte, er kannte ihr Gesicht ja schon in- und auswendig. Er sah sie schon seit Anfang des Schuljahres, und kannte nichteinmal ihre Stimme. Nick zog ein fragendes Gesicht, als könnte er es selbst nicht glauben. Aber wann sollte er sie denn sprechen gehört haben? Sie stand in den Pausen meist vollkommen an anderen Orten, und ausserhalb der Schule war sie meist allein. Somit hatte er garnicht die Gelegenheit, ihre Stimme zu hören. Allerdings gab es etwas noch komischeres, er kannte ihren Namen nicht. Und wieder – klar, wie hätte er ihn auch erfahren sollen? Wenn er sie sah, egal wo, schien sie das garnicht zu realisieren. Und erneut – natürlich, warum sollte sie auch? Für sie war Nick ein wildfremder, unbekannter Typ, den sie wohl noch nie bewusst gesehen hatte.

Der Bus hielt zum dritten Mal. Sämtliche Leute stiegen aus dem Bus, nur Nick und das Mädchen blieben im Bus sitzen.

Eigentlich könnte er sie ansprechen. Oder? Doch, klar. Warum nicht. Natürlich meinte er nicht das Ansprechen im romantischen Sinne – sein Herz gehörte bereits einem anderen Mädchen. Dieses Mädchen jedoch wollte er nur deshalb ansprechen, weil sie ihm einfach... nett erschien. Er wäre einfach gern mit ihr befreundet. Warum, wusste er selbst nicht. Nick sah sich im Bus um. Hm, lustig, der Bus war leer, bis auf die Beiden. Und den Busfahrer natürlich. Nun aber, dachte er sich, das musst du doch ausnutzen. Geh' schon, sprich sie an. Moment. Wie fängt man denn soetwas an? „Hey, wir sind schon öfters zusammen gefahren...“ Nein. Das ist dumm, da denkt sie ja, ich hätte das extra gemacht. „Hi, ich weiß nicht, ob du mich kennst, aber ich gehe auf deine Schule...“ Ach, Blödsinn. Das klingt ja, als würde ich sie anbetteln, mir zuzuhören.

Dann aber schnipste Nick mit dem Finger, er hatte die Idee. Er stand auf, setzte sich neben das Mädchen, und sprach sie locker an.

„Hey.“, grüßte er sie vorsichtig von der Seite.

„Hi? Kennen wir uns?“, erwiderte sie recht verlegen.

„Nein. Eigentlich garnicht. Wir gehen auf dieselbe Schule.“

„Okay. Und... was willst du von mir?“

„Nichts. Nur dachte ich, dass ich dich einfach mal ansprechen könnte. Wir sind schon oft zusammen mit dem Bus gefahren, und du wohnst nur einen Hauseingang weiter von mir.“

„Ach, du bist das! Ich dachte, ich hätte ständig jemanden gesehen, der dir ähnlich sieht.“

Die beiden lachten. Ihr unschuldiges, süßes Lächeln hauchte sie Nick förmlich ins Gesicht.

„Wie heißt du denn?“, ergänzte sie darauf neugierig.

„Nick. Und wie heißt du?“

Der Bus hielt. Ein zehntes Mal. Endstation.

Frustriert blickte er auf den Hinterkopf des Mädchens. Natürlich hatte er sie nicht angesprochen. Er hatte die ganze Fahrt aus dem Fenster gesehen, und sich vorgestellt, wie sie wohl reagiert hätte. Unbeholfen stand Nick auf, drückte den Kopfhörer in seinem linken Ohr nocheinmal fest, und schwang sich dann seine Umhängetasche wieder um die Schulter. Er stieg aus dem Bus aus, und lief auf seine Eingangstüre zu, die nur unmittelbar entfernt von der Bushaltestelle lag. Und auch direkt neben dem anderen Hauseinang. Von ihr, dem Mädchen mit dem süßen Lächeln und der Hippie-Kette.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte widme ich eben jenem Mädchen, dass ich ständig auf meiner Schule sehe und deren Name ich wohl nie erfahren werde. Einen Herzlichen Dank für's lesen!

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