Thomas N, Schütze
Bundeswehr, Infanterie
Kompanie Röschel, 1. Zug
Südfranzösische Front, Verteidigung der Landesgrenze
Mit einem Gemisch aus Ekel und entnervten Gesichtszügen blickten die Männer durch die Gegend, in Richtung der Schreie, die von der Verwundetensammelstelle hallten. Einer von ihnen ließ gerade seinen Helm über einem Camping-Kocher köcheln, in dem Suppe vor sich hin brodelte. Wiederrum andere starrten auf die Frontlinie, und einer von ihnen steckte sich gerade eine Zigarette an. Zowie nannten sie ihn. Natürlich hieß er nicht so, doch er hatte sich so bei ihnen vorgestellt, und bis auf den Zugführer kannte keiner seinen Namen. Zowie war dafür berühmt, das er am schnellsten alles verlor – Munition, Schutzausrüstung, Erste-Hilfe-Taschen, Karten, Waffen... ja, einmal hatte er sogar seine Stiefel in einer Stellung liegen gelassen. Nur Zigaretten, ja, die hatte er immer. Meistens im Riemen am Helm. Immer griffbereit. Neben Zowie saß der Gruppenführer Griffke, der mit ihm etwas plauderte.
Hinter Feldwebel Griffke und dem Zowie saßen die Nachzügler, wie sie gerne von den anderen im Zug genannt wurden. Die marschierten immer hinten. Auch wenn die Panzerwägen, Schützenpanzer und anderes Gefährt hinter ihnen herrollte, die marschierten immer hinten. Die Nachzügler waren vornehmlich Versorgungssoldaten und Kampfsanitäter – oder wie sie im Zug genannt wurden, die Munnischlepper und Sanis.
Neben den Nachzüglern hockte ein kleines Häufchen Soldaten, das militärische Lieder im Chor grölte. Das lockerte die Stimmung. Zum Teil. Andererseits könnte das Geschrei die Artilleriebeobachter des Feindes im Wald drüben aufschrecken, und wir würden unter Sperrfeuer geraten. Aber die kampferfahrenen Soldaten dachten daran garnicht, denn der Vorteil musste gesehen werden. Und zwar in Allem. Früher, nach der Grundausbildung, hieß es Marschieren, jetzt nannten sie es Spazieren gehen. Aufklärer hießen Späher, nun jedoch Kanonenfutter.
Einiges änderte sich, wenn man kämpfte. Man wurde zynisch, man verharmloste alles. Wenn auf der Straße, in der Stadt, jemand erschossen werden würde, würde jeder panisch umherschreien, und keinen geordneten Laut von sich geben. Ein Soldat würde sich hinknien, nach dem Sani schreien und weitergehen. Der Notarzt auf der Straße würde dem Angeschossenen seine Verletzung genau beschreiben, auch wenn es ein noch so kleiner Kratzer wäre. Der Sani würde selbst bei einem halb abgerissenen Bein und einem Streckschuss in der Brust noch bemerken >Is' nich' so schlimm<. Sonst würde alles schief gehen.
Ganz hinten, unter dem Tarnnetz, unter dem der Tisch mit den Landkarten und den vielen Nachschubutensilien verstaut war, stand der Kompanieführer Röschel, neben ihm der Zugführer vom zweiten Zug, Roth, und unserer Zugführer, Karsten Henning. Wir waren der erste Zug unserer Kompanie. Leutnant Henning war somit für uns verantwortlich und führte uns in den Kampf. Kompaniechef Röschel sah man nur selten, und wenn, dann nur wie jetzt auf Entfernung, hinten am Kommandoposten. Er zog die Fäden für uns, organisierte den Nachschub, schrieb die Berichte, plante Angriffe und nächstes Vorgehen und alles weitere. Unsere Verwaltung eben. Zowie hatte Hauptmann Röschel einmal eine seiner Zigaretten angeboten, doch der lehnte zu seiner Überraschung ab. Niemand hatte erwartet, dass er Nichtraucher war. Das war als wir bei Barbasto unter Feuer von den Panzerverbänden lagen, und einmal die Gelegenheit hatten, mit den Offizieren zu reden, da diese sich auf den selben engen Raum wie wir quetschen mussten. In Barbasto hatte Zowie damals auch seine Stiefel liegen lassen. Zugführer Henning schrie die ganze Zeit zum Rückzug, und Zowie wechselte gerade sein Sockenpaar, als wir abgezogen waren. Erst auf halbem Weg kam er dann zu Jan, einem der Munischlepper, und verkündete beschämt: „Ich hab' meine Stiefel im Graben liegen lassen.“ Jan konnte ihm ein zweites Paar Socken zum Überziehen geben, aber der Zowie musste eine ganze Woche ohne Stiefel auskommen. Was für 'ne arme Sau, dachte ich mir. Das war auch die Woche, als wir die neuen Ersatzleute zugewiesen bekamen. Da war auch Olaf dabei. Olaf hieß eigentlich Lasse, er kam aus Dänemark. Weil wir uns jedoch kein Kllischee ersparen konnten, nannten wir ihn schließlich Olaf. Und er hatte auch nichts dagegen. Spitznamen zeigten einem Soldaten nur, das er in die Gruppe integriert war.
Neben mir saß Lorenz, ein guter Freund von mir in meiner Gruppe. Er schlürfte abwesend seinen Kaffee aus einer der Blechtassen, die im Feldgepäck waren. Wir saßen am Rand unseres Schützenlochs, und im Schützenloch drinnen, putzte Olli, genannt Rogge, weil er meistens Brotrationen mit sich führte, sein Gewehr. Redselig waren wir an diesem Tag nicht besonders, denn eigentlich waren wir immer zu viert. Hinten, von der Sammelstelle für die Verwundeten, schrien immernoch die Männer. Einer von ihnen war Chris. Der Vierte unseres Freundeskreises. Ein Scharfschütze hatte ihm in die Brust geschossen, und er musste vom Sani sofort zum Transport bereit gemacht werden. Würde wohl auch nicht mehr lange dauern, bis unser Krankenhaus kam. Unser Krankenhaus, so nannten wir die fahrenden Lazerette, die Sanitäts-LKWs, die die Verwundeten abholten und in die Lazarette brachten. Unsere Kompanie hatte ja eigentlich Jeeps und andere leichte Fahrzeuge, mit denen wir sie in die Lazarette hätten fahren können, aber die wurden alle von der feindlichen Luftwaffe zerstört, als wir uns vor einigen Tagen dort einbuddelten.
Feldwebel Kerling, unser Gruppenführer, kam zu uns durch den Schnee ans Schützenloch herangestappft. Er wusste vermutlich, warum es bei uns so still war – ein Gruppenführer kannte seine Leute. Er bückte sich zu mir herunter, und fragte in die schweigsame Runde: „Alles klar bei euch?“ Rogge nickte ihm kurz zu, was ich dann auch tat. Lorenz nahm noch einen kräftigen Schluck von seinem Käffchen, und bemerkte knapp: „Passt schon.“ Kerling informierte uns: „Hauptmann Röschel will uns neu aufstellen. Die Maschinengewehre nach vorn, und die Schützen in die zweite Linie.“ „Was meint denn Leutnant Henning dazu?“, gab ich zurück. Feldwebel Kerling zuckte ahnungslos mit der Schulter, und stand wieder auf. Schließlich marschierte er in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und zog sein Gewehr auf der Schulter straff. Das erinnerte mich an unsere Bereitschaft in Tudela, als ein Soldat der Panzertruppe auf dem Kampfpanzer hockte, und eine Gitarre an der Schulter hängen hatte. Am Abend spielte er für die ganze Kompanie. Richtige Musik, die man hören konnte. Nicht wie aus unseren mitgeschleppten Batterie-Radios und CD-Spielern, sondern Musik, bei dem der Bass in der Brust vibriert, bei der man die weichen Klänge im Ohr spürte. Das war eine Abwechslung. Jedoch eine Abwechslung, die wir danach ewig nichtmehr bekommen würden.
Meine Lippen zitterten in der Kälte, und mich durchfuhr ein fröstelndes Gefühl. „Bin gleich wieder da“, brachte ich nur schroff heraus, klammerte mein Gewehr in die Hand und schritt zwischen den Schützenlöchern hindurch, rüber zum Biber, der eigentlich Karl hieß, jedoch Biber genannt, da er von den Pionieren in unseren Zug versetzt wurde. Ob freiwillig oder nicht, wusste keiner. Es juckte auch niemanden, denn Biber war nett zu allen, und darauf kam es an. Der machte sich gerade eine schöne, warme Suppe. Zwar in seinem Helm, kurzerhand zum Suppentopf umfunktioniert, aber woher die Suppe kam, war mir egal, hauptsache sie war warm. Ich setzte mich zu ihm, und wurde schon von ihm mit einem Tässchen Suppe bedient. Gierig schlürfte ich das warme Tomaten-Gemisch wie ein Glas Wasser herunter, und ich spürte, wie sich mein frierender Körper wieder etwas wärmer anfühlte. Kameradschaftlich klopfte Biber mir auf die Schulter, und nahm selbst ein Schlückchen von seiner eigenen Tasse. Ohne es zu bemerken, stand Leutnant Henning hinter uns. Mit zitternden Lippen stellte er fest: „Ist echt arschkalt.“ Unbeeindruckt kippte Biber noch einen Schluck seiner Suppe hinunter, und ich nickte nur im Stummen. Mit meinen Händen wärmte ich mich an der warmen Suppentasse. Wenn man dieses Blechding, das eher einem Messbecher ähnelte, so nennen konnte. „Der Scheißwinter bringt uns noch irgendwann um.“, fuhr es plötzlich aus mir heraus. „Wenn's die feindlichen Kugeln nicht zuerst tun.“, vervollständigte der Leutnant mich, und ging wieder weiter. Schließlich trank ich den letzten Schluck aus meiner Suppentasse, erhob mich, bedankte mich mit einem Schulterklopfer bei Biber und lief zurück, in Richtung meines Schützenlochs.
Gerade als ich mich umdrehen wollte, um mich bei Biber zu bedanken, wurde ich plötzlich zu Boden gerissen. Nach einem kurzen Moment des Schocks, und dem Abwischen der Erde und des Schnees von meinem Gesicht, schrie ich aus Leibeskräften „Beschuss!“. Der Soldatenchor verstummte, Biber kippte die Suppe aus seinem Helm, der nun wieder seinen eigentlichen Zweck erfüllte. Immer mehr Granaten schlugen in dichter Folge um mich herum ein, vermutlich hatte mich ein Beobachter gesehen. Mit Herzklopfen robbte ich in die ungefähre Richtung meines Schützenlochs – wenn um einen nur Dreckschwaden umherflogen und es lauter krachte als eine Basstrommel direkt neben dem Ohr, konnte man sich nur sehr schwer orientieren. Verständlicherweise. Unsere Männer hatten bereits das Gegenfeuer erwidert, und nicht weit von mir entfernt, brüllte mich jemand an, das ich in sein Schützenloch, in Deckung kommen sollte. Schließlich sah ich mich hilflos um, und rollte mich in das Schützenloch hinein. Vor mir stand einer unserer Männer, mit dem Rücken zu mir, da er auf die Gegner feuerte, grüne Haare lugten unter seinem Helm hervor. Der Zowie! Was für ein Glück. Wenigstens jemand, den ich halbwegs kannte. Ich rappelte mich auf, und begann in dieselbe Richtung zu feuern, wie er. Dann dachte ich daran, das Gruppenführer Griffke vorhin neben ihm saß. „Wo hast du denn Griffke gelassen?“, brüllte ich. Erschrocken sah Zowie sich um. Genau, wo war Griffke? Verpflichtet klopfte ich Zowie auf den Helm, und er feuerte weiter. Ich stand auf, kroch vorsichtig aus dem Schützenloch, und fand schon wenig später Griffke auf dem Boden liegen. Er schrie nach einem Sani, aber die lauten Explosionen ließen das Niemanden hören. Angespannt, wartend auf den richtigen Moment, lag ich neben ihm, und sah zu, wie er sich am Boden wälzte.
Seine Verletzung war nicht sehr schlimm, das wusste er selbst vermutlich auch, aber Treffer ist Treffer. Sowas tut weh. Ist nicht besonders lustig. Auch ich war schonmal getroffen. Zwar nur leicht, aber eine Kugel im Körper brennt wie die Hölle. Griffke war im Oberschenkel getroffen, also nicht lebensgefährlich. Wenn es die Schlagader erwischt hätte, wäre er nicht im Stande, nach einem Sani zu kreischen. Schließlich kam mein Moment. Die Artillerie hörte auf zu Feuern, sie mussten nachladen. Hastig schwang ich Griffke über meinen Hals, und trug ihn zu Zowies Schützenloch. Prompt als ich in Deckung war, begann es wieder Granaten zu regnen. Nervös beugte ich mich zu Zowie, und fragte ihn laut: „Schon was getroffen?“ Zowie hörte mich nicht und mähte weiter mit seinem Donnerkeil am Horizont herum. Plötzlich nahm ich Schritte neben mir wahr, Silhouetten bewegten sich auf uns zu. Zackig legte ich das Gewehr an, erkannte aber Leute von uns, bevor ich abdrücken konnte. Das waren Männer vom zweiten Zug. Einer hatte ein Maschinengewehr auf der Schulter, der andere schleppte einige Gurte für jenes. Eingenommen schob der Schütze Zowie beiseite, legte sein MG auf den Rand des Schützenlochs an, und der große Locher begann zu trommeln. Die Patronenhülsen rieselten nur so zu Boden, und plötzlich verstummte das Artilleriefeuer. Es wurde ruhiger. Vermutlich hatten die Typen vom Zweiten die Beobachter erwischt. Ohne Beobachter wusste die Artillerie nicht, wo wir waren, und wenn sie nicht wussten, wo wir waren, konnten sie nicht auf uns schießen. Logisch. Oberfeldwebel Jäger huschte zwischen den Schützenlöchern umher, fragte, ob alles in Ordnung sei, ob jemand was abbekommen hatte. Als er bei uns vorbeilief, machte ich mich bemerkbar, und verkündete nur knapp: „Griffke. Leicht.“ Er deutete mir, ihm zu folgen. Also schwang ich den schweren Griffke wieder um meinen Hals, und trug ihn durch's Feld, in Richtung der Verwundetensammelstelle. Ich legte ihn ab, und bemühte mich, niemand Anderen anzusehen. Das Risiko, das ich Chris sah, war zu groß. Schnell huschte ich wieder an die Front, diesmal zu meinem Schützenloch.
Lorenz und Rogge waren wie alle immernoch in Bereitschaft, aber nicht sehr scharf darauf, nochmal unter Beschuss zu geraten. Grimmig schaute ich zum Horizont drein, und wartete darauf, das unser Zugführer Entwarnung gab. „Wenigstens ist mir jetzt warm“, dachte Rogge laut. Ich schniefte mit der Nase, setzte mich ins Schützenloch und starrte wieder ins Leere.
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2013
Alle Rechte vorbehalten