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Circlus

                                                                                                                                                           Kälte. Trostlosigkeit. Gewalt. Hoffnungslosigkeit. Eine kühle und abgerichtete Gesellschaft.
Das war alles was er sah, als er sich erhob und über die Stadt hinwegblickte. Auf die graue Masse von Arbeitenden und Schülern hinabblickte, bis hin zu den Autos auf den Straßen und den vereinzelten Flugzeugen am Himmel. Alles hatte seine Ordnung, seine Vorschriften, alles musste wie eine Maschine funktionieren. Jeder hatte seinen Platz in dieser Trostlosen Gesellschaft. Und die, die sich weigerten sich anzupassen, wurden entweder belächelt und zum verstummen gebracht oder man entledigte sich ihnen auf andere Weise. Die einen wurden schikaniert und geschlagen, die anderen nicht ernst genommen und wieder andere einfach in der nächsten Psychiatrie abgeschoben. Klar, es gab verschiedene Fälle, verschiedene Gründe, verschiedene Gedanken und Personen. Aber schließlich war es doch alles das gleiche. Entweder man passte sich an oder nicht- Entweder man taucht unter und lebt sein Leben in Ruhe und Frieden, blind von allem was um einen herum passiert, oder eben nicht. Er gehörte nicht zu dieser Gruppe, zu keiner dieser Gruppen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel, schloss die Augen und ließ seine Gedanken schweifen. Es gab viele die es schlimmer erwischt hatten als er. Kriegsopfer, Waisenkinder, Gewaltopfer, Leute mit Behinderung oder einer Krankheit. Und noch so viele Dinge über die er nur allzu lange nachgedacht hatte.  
Er dachte darüber nach, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn man als Familienvater gemeinsam mit seinen Kindern und seiner Frau am Tisch sitzt. Sie ihn zur Begrüßung küsst, ihm sagt das sie ihn liebt und er den Kuss erwidert, seinen Kindern durch die Haare streicht und ihnen dabei zusieht wie sie lachend und zackend ihr Frühstück essen - bis es plötzlich an der Tür klingelt. Wie er aufsteht und kurz den Raum verlässt, nur um mit kummervollen Augen wieder den Raum zu betreten. Wie sich die Angst, die Trauer und die Wut anfühlt. Der Abschied von seiner Familie. Die Reise ins Ungewisse. Der Beitritt zur Armee. Er dachte darüber nach, wie es wohl sein muss wenn man nur wenige Monate später in einer Wüste war, zusammen mit anderen Familienvätern und jungen Männern. Wie es wohl war, mitten in einem Kugelhagel zu sein und zu wissen das man es nicht überleben wird. Er dachte darüber nach, wie es wohl sein muss in einem fremden Land zu sein, einen fremden Krieg zu kämpfen und für jemanden  zu sterben der sich kein Stück dafür interessiert was passiert. Für die Regierung, für den Präsidenten.  Ja, dies war sicherlich ein schlimmeres Schicksal als seines.
Genauso wie ein Kind, das ohne Eltern aufwachsen muss. Ein Kind das seine leiblichen Eltern nicht kennt und von Fremden erzogen wird- die einem die Wahrheit vorenthalten. Aber diese Kinder hatten wenigstens jemand der sich um sie kümmert, jemanden der sich um ihr Wohl sorgt. Ja, es mag viele Paare geben die sich ein Kind adoptieren würden. Doch was, wenn es ein Kind gibt, das niemand will? So etwas gibt es immer.
Ein Junge oder ein Mädchen das von einer Pflegefamilie zur nächsten wandert. Immer in der Hoffnung ein Zuhause zu finden, Eltern zu finden. Immer auf der Suche nach Liebe und Zuneigung zu sein- das ist etwas das er ebenfalls zu gut kennt. Doch er hatte längst aufgegeben danach zu suchen. Er wusste, für ihn würde es niemals so etwas wie ein Zuhause geben, geschweige den Liebe. Nicht etwa, weil es niemanden gäbe und die Welt  ja so grausam ist. Nein- weil er es sich selbst verweigert. Warum sollte er sich die Mühe machen,  jemanden an sich heran zu lassen wenn es doch sowieso irgendwann einen Abschied geben würde? Warum sollte er seine Maske ablegen, wenn er dann nur als einer dieser armen Seelen enden würde, die in irgendeiner Psychiatrie ihr Ende findet? Es gab niemanden der seine Ansichten teilte, niemanden der ihn verstand.  Etwas nasses rann seine Wange hinunter und er öffnete erstaunt die Augen. Er hob seine Hand und wischte es weg, nur um zu spüren das es wieder von vorne begann. Tränen rannen unentwegt über seine Wange und er ließ sich wieder auf den Boden sinken- wollte nicht das es jemand sah. Es war verrückt- hier oben würde es niemand sehen, selbst wenn er sich nackt ausziehen würde. Selbst wenn er springen würde.
Man würde es erst bemerken, wenn es den normalen Alltag störte. Wenn einige Autos stoppen würden und ein paar Leute ihre Tätigkeiten unterbrechen würden. Wenn der Strom für wenige Minuten stoppen würde. Aber das würde nicht passieren. Es gab noch nie jemanden der ihm zugehört hatte- jemanden der hinter seine Maske blicken konnte. Warum also sollte er jetzt aufgeben und sein Leben so trist beenden?  Er musste zugeben, er hatte oft darüber nachgedacht. Darüber nachgedacht, wie es wohl wäre sich die Klinge über den Arm zu ziehen. Einfach so sein Leben zu beenden. Er stand auch schon oft mit dem Messer in der Hand in seinem Zimmer. Doch jedes Mal legte er es wieder weg- war zu feige dafür. Doch schlussendlich war es nicht Feigheit die ihn davon abbrachte- es war Angst. Angst, das sich niemand mehr an ihn erinnern würde. Die Angst, das er einfach so wie viele andere in einem Grab ohne Grabstein enden würde. Und es war Gewissheit- die Gewissheit das genau das passieren würde. Aber er wusste etwas, etwas das viele einfach übersahen. Etwas, das wichtig war. Ein heiseres Lachen entfuhr seiner Kehle. Es war kein Geheimnis, es war einfach der Aufbau der Welt. Kein Geheimnis, nichts was jemanden schockieren würde, nichts was ihm Aufmerksamkeit verschaffen würde.  Es gab auf dieser Welt so gesehen nur es gibt so gesehen nur Schafe, Hirten,  Schlächter und  Richter. 
Schafe, das war die Graue Masse unter ihm, die trostlosen Maschinen.
Hirten, das waren diejenigen, die diese Maschinen bedienten, die ihnen das gaben was  zählte. Geld.
Schlächter, das waren solche wie er. Menschen, die  diese Gesellschaft hassen und verabscheuen. Menschen, die diese Gesellschaft stürzen wollen.
Richter, waren die, die glauben sie können Gott spielen. Diejenigen die andere Verurteilen und sich die Freiheit erlauben willkürlich Leben aufs Spiel zu setzten, nur um ihre Sichtweise und ihre Ziele durchzusetzten. Regierung und Attentäter. Für ihn war es alles das gleiche. Beide brachten willkürlich Leute um für nichts.
Mag sein, das man ihn für diese Meinung geschlagen und zum schweigen gebracht hätte- aber dafür war es schon zu spät. Man konnte ihn nur noch zum stillstand bringen, wenn man  ihm sein Leben entzog. Aber er war ohnehin niemand von Bedeutung. Weder hatte er viel Geld- noch war er berühmt. Es interessierte also niemanden was er dachte. Er war nichts. Ein niemand. Der Rand der Gesellschaft.
Doch sogar die, stirbt langsam aus. Er hatte schon viel zu viele Tote gesehen, viel zu viel Blut gesehen. Dabei war er nicht mal Soldat und hatte auch noch nie ein Schlachtfeld betreten. Nein, er sprach von Freunden. Freunde die sich das Leben nahmen.  Freunde, die keinen Sinn mehr in dieser Gesellschaft gesehen haben. Sein Körper erzitterte. Er schlang die Arme enger um sich, zog die Beine an und legte den Kopf auf seinem Knie ab.
Er  wusste, wie es aussah. Wie echtes Blut aussah. Wie die Angst aussah, die die Betroffenen verspürten wenn sie wussten das sie einen Fehler begangen hatten. Aber am schlimmsten war, wenn sie keine Angst verspürten, wenn sie lächelten und ihre Züge zum ersten mal entspannt wirkten. Weil sie wussten das es vorbei war. Weil sie wussten, das kein Schlächter und Richter ihnen je wieder etwas anhaben konnte. Weil sie endlich frei waren von ihren Sorgen. Genau das war es, was ihn dazu getrieben hat hier zu stehen. Hier zu stehen und über alles nachzudenken. Und vielleicht sogar um zu springen. Er wusste es nicht. Der Gedanke war verlockend- der Gedanke an die unendliche Freiheit. An die vollkommene Ruhe und Stille.  Aber der Gedanke schreckte ihn ebenso ab. Er war jemand der stehst Ruhe bewahrte, der nachdachte bevor er handelt. In gewisser Weise, war er sogar wie die graue Masse da unten. Immerhin war er sicherlich nichts besseres. Er aß und trank die selben Dinge- benutze die selben Dinge und lebte von ihnen. Aber tief in ihm, sah es anders aus. Und das zeigte sich, sobald er auf gleichgesinnte traf. Auf Leute, die genauso dachten wie er. Nur leider hielt dies nie lange an. Manchmal fragte er sich, ob er so widerstandsfähig war oder alle andren einfach nur so schwach waren. Sie alle brachten sich um, weil sie es nichtmehr aushielten. Doch in gewisser Weise brachten sie auch ihn damit um, stumpften seine Gefühle und Sinne ab. Jedes Mal wenn er eine Nachricht bekam, wo jemand darüber redete sich gleich umzubringen stumpfte er etwas mehr ab. Die ersten male waren am schlimmsten, doch nachdem er einige  retten konnte breitete sich ein ungewohntes Gefühl in ihm aus.
Das Gefühl das er verspürte wenn er daran dachte wie viele Leben in seiner Hand lagen- es war einfach atemberaubend. Nicht weil es so schön war- sondern weil es so grausam war. Er könnte all diese Leben beenden, zusammen mit seinem eigenen. Und genau diese Tatsache hielt ihn vermutlich am Leben.
Sie brauchten ihn, waren abhängig von ihm und leiden wenn er nicht da war- waren glücklich wenn er es war.  Ja, das war vermutlich der einzige Grund der seiner nichtssagenden Existenz einen Sinn gab. Doch trotzdem konnte er nichtmehr lange. Es war genau eine Frage, die er sich selbst stellte. Die Frage, wie viel Tote und wie viele Selbstmordgedanken er noch sehen musste bevor er daran zerbracht- bevor der letzte Rest von ihm ebenfalls gebrochen war. Genau das war sein Schicksal. Viele würden sich wahrscheinlich wie Gott fühlen- wenn dem so wäre, wäre er wohl ein Gott in der Hölle. Jemand der dazu  verurteil ist- seine Leere hülle umher zu tragen und darauf zu warten das sogar diese endgültig brach. Er ließ den Blick zur Uhr schweifen. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, dann müsste er zu einem seiner Schützlinge. Er erhob sich wieder, wischte die Tränen von seiner Wange und setzte seine Maske wieder auf. Es war Zeit, wieder in die Menge hinaus zu treten.
Dort wo man keine Schwäche zeigen durfte und nicht ausfallen durfte. Ein lautes bitteres Lachen kam über seine Lippen, jedoch verstummte es jäh als ein leises Piepen das eintreffen einer Nachricht verkündete. Mit zitternder Hand griff er in seine Jackentasche und holte sein Handy heraus, gab den Pin ein und sah auf den Display. Die Nachricht eines Freundes. Zusammen mit einem kleinen Video.
Er musste das Video nicht erst ansehen- der Abschiedsbrief  war Zeichen genug. Er fühlte wie  seine Hülle einen feinen Riss bekam und seine Gefühle wieder ein Stück abstumpften. Sein Körper schien ihm eiskalt zu sein, doch er war es gewohnt. Er würde es sich später ansehen- würde später trauern. Jetzt stieg er die Treppen im inneren des Gebäudes hinunter- aber eine Gewissheit hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Er würde wiederkommen- doch bei dem nächsten mal würde er nicht nachdenken.  Er würde nicht zusammenbrechen und weinen.
Er würde lächeln und springen.

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Tag der Veröffentlichung: 20.11.2013

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