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Eine Einführung

Wenn Menschen diese Sprache lesen und verstehen können, bin ich bereits tot. Ich fühle, wie mein Ende immer näher rückt und das Schreiben mir schwerer fällt. Ich bin alt geworden. Aber ich greife wahrscheinlich viel zu weit der Zeit voraus, in der alles begann.

Der Beginn dieser unglaublichen Reise ist aus meiner Sicht nun schon Ewigkeiten her. Dabei könntest du ebendiese Zeilen noch vor dem Start meiner Reise lesen. Immer, wenn ich darüber nachdenke, verwirrt es mich, wie relativ die Zeit ist. Relativer, als die meisten ahnen oder je erleben werden.

Ich schreibe meine Geschichte nieder, um meine Gedanken zu ordnen, aber auch, damit jemand erfährt, woher die Menschheit wirklich kommt. Es existieren zahlreiche Bücher, bloß keines davon gibt die unglaubliche Wahrheit preis. Vieles erlebte ich selbst, einiges bekam ich berichtet oder schloss es aus den mir bekannten Informationen. Es ist also durchaus möglich, dass mich meine Erinnerung an der einen oder anderen Stelle im Stich lässt. Aber wer meinen Bericht liest, der wird verstehen, dass ich alles im Gedächtnis behalten musste, denn technische Hilfsmittel, wie Computer, stehen mir keine zur Verfügung.

Ich verlange keinesfalls, dass derjenige, dem diese Zeilen in die Hände fallen, glaubt, was er hier liest. Ich war immer ein Verfechter einer eigenen Meinung. Jeder sollte sie sich selber bilden.

Dabei bin ich eh unsicher, ob diese Informationen überleben. Der Gedanke deprimiert mich, dass meine Aufzeichnungen vielleicht schon zerstört sind, wenn jemand sie verstehen könnte. Dann wird allerdings ohnehin niemand das Geringste von mir erfahren. Ich werde es so oder so bestimmt nicht mehr miterleben.

Alles, was ich schreibe, unterliegt wohl der höchsten Geheimhaltung, trotzdem kann mir auch das egal sein. Kein Gericht wird mich je zur Rechenschaft ziehen können. Wenigstens ein kleiner Triumph nach all den Entbehrungen in meines Lebens.

Aber ich greife nun wirklich schon etwas zu weit vor. Vielleicht sollte ich nicht beim Ende anfangen, sondern damit wie meine Reise begann. Ich versuche, diese Geschichte chronologisch niederzuschreiben. Chronologisch natürlich nur aus rein subjektiver Sicht.

Abreise aus Köln


Es fing wohl an einem Samstagnachmittag auf dem Campus der Kölner Universität an.

In einem klimatisierten Arbeitsraum, an dessen Türschild die Aufschrift 'Ägyptische Abteilung der Archäologischen Fakultät' prangte. Darunter stand auch mein Name 'Michael Castermann'. Es erfüllte mich damals mit ein wenig Stolz, es bis hierhin geschafft zu haben und das mit 26 Jahren.

Als Student genoss ich noch die Freiheiten der universitären Welt. Trug eine schmale Brille mit durchsichtigem Gestell, meine Haare reichten im Nacken bereits bis an die Schultern. Glatt rasierte ich mich nur selten und mein Kleidungsstil war zudem überaus leger. Halt wie man es von einem Studenten erwartete.

Der Raum war überfüllt mit archäologischen Fundstücken, die meine Vorgänger und ich in den Jahren angesammelt hatten. Die vergleichsweise unempfindlichen Artefakte lagen verstaut in großen Regalen und Schubladenschränken. Wie oft hatte ich mir die wandbedeckenden Fotografien, unter anderem von Howard Carters Expedition und der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun und die Kunstdrucke angesehen? Ich wusste es nicht, aber an meine Tagträume, wie es wohl gewesen wäre, erinnerte ich mich nur zu gut. Jedes Mal, wenn ich mir die fast echt wirkenden Totenmasken ansah, dachte ich daran, wie ich diese noch vor Beginn des Studiums angefertigt hatte.

Immer wieder denke ich an meinen letzten Tag in diesen Raum zurück. Den Tag, als ich an meinem unordentlichen Schreibtisch, auf den das Licht durch ein vergittertes Fenster fiel, meine Sachen zusammen in einen Karton packte. Ein Kollege ging mir dabei zur Hand.

Er sah ein wenig gelangweilt von einer der Mappen auf und sagte: "Michael, was hast du denn bis zum Beginn deines Praktikums in Ägypten vor?"

So oft, wie ich meine Reiseplanung durchgegangen war, brauchte ich nicht zu überlegen. "Ich werde mich noch ein bisschen erholen. Als Erstes mach ich eine Nostalgiereise mit dem wiederbelebten Orientexpress und anschließend sehe ich mir ein paar Ausgrabungsstätten in Griechenland und der Türkei an. Das wird etwas mehr als einen Monat dauern."

Mein Gesicht verzerrte sich, als ich an den schmerzlichen Verlust meiner Freundin dachte, den ich zu vergessen hoffte. Mit aller Kraft hielt ich die Tränen zurück und versuchte, mich zu beruhigen.

Er schien meine Mimik zu übersehen oder zu ignorieren. "Das klingt ja toll. Ich beneide dich um dein Glück, dieses Praktikum zu kommen."

Wir packten noch ein paar Kartons, adressierten sie und brachten sie dann zum Postausgangsraum unseres Fachbereichs. Losgeschickt würden sie so, dass sie etwa zeitgleich mit mir bei der Ausgrabung ankämen.

Später an diesem Abend fand eine Abschiedsfeier in dem gut gefüllten kleinen Versammlungsraum für mich statt. Mitarbeiter der Abteilung bereiteten alles vor, während ich noch packte. Ich sah mich etwas um und erblickte an dem Buffet sogar Tiramisu. Nicht ohne Vorfreude nahm ich mir ein Stück und schnappte mir zudem ein Glas mit Orangensaft und Sekt.

Es erklang leise Musik von Bach und seinen Zeitgenossen, Rock und altägyptische Tempelgesänge. Letztere hatten wir erst vor Kurzem in Zusammenarbeit mit der archäomusikalischen Abteilung einer anderen Universität erstellt. Die dortige Arbeitsgruppe war auf die Umsetzung von ägyptischer Musik spezialisiert. Diese Klänge gaben uns das Gefühl, als würde die Geschichte wieder lebendig.

Wie es auf solchen Veranstaltungen normalerweise immer geschah, kristallisierten sich auch hier schnell einzelne Grüppchen heraus, die miteinander über die unmöglichsten Dinge sprachen.

Ich verstrickte mich in eine Diskussion hinsichtlich des Wahrheitsgehalts von Überlieferungen. Man durfte schließlich nicht alles glauben, auch wenn es manchmal noch so plausibel erschien. Mythen wurden von den Überliefernden mitgestaltet und waren so durch Fehler oder Absicht einer Wandlung unterworfen. Im Laufe von Jahrhunderten konnte es so zu großen Abweichungen kommen. Zudem gab es die Neigung zum Beschönigen bzw. zum Verschlechtern, je nachdem wer siegte. Vor einem Gericht hätten manche dieser 'Indizien' nicht standgehalten. Vielleicht war meine Wissenschaft etwas wie eine unendliche Gerichtsverhandlung, bei der es immer neue Hinweise und Beweise ohne abschließendes Urteil gab.

Aus der Menge löste sich eine Kollegin, die hier als Akademische Rätin tätig war. Man sah Frau Kulmuk die Mitte vierzig kaum an, obwohl gelockte Haare eine Frau häufig älter wirken ließen. Ihr stand es dagegen ausgezeichnet.

Während sie auf mich zu kam, sah sie mir in die Augen an und ich meinte, eine Spur Mitleid in ihrer Mimik zu erkennen.

"Hallo Michael! Wie geht es dir?"

Sie wusste von meinem schmerzlichen Verlust. Alles nur, weil dieser Kerl auf der Straße ins Schleudern geriet. Trotzdem kam es mir nach dem Unfall so vor, als nähme den anderen Fahrer Lindas Verletzung noch mehr mit als mich selber.

Bevor dieser Gedankenstrudel mich gänzlich mitriss, durchbrach ich die Stille.

"Mir geht’s sehr gut. Ich freue mich schon richtig auf mein Praktikum", sagte ich zwar, aber zweifelte daran, dass mein Gesicht diesen Eindruck vermittelte. Es zeigte sich wahrscheinlich eher leicht genervt, durch die fortgesetzte Fragerei, wie es mir ginge. Ein gewisser Anteil an Erschöpfung war natürlich genauso dabei, wie ein wenig Trauer, die noch immer aus meinen Augen schimmerte. Verbergen konnte ich meine Gefühle nur schlecht. Jedenfalls kam es mir morgens im Badezimmer so vor. Ich wollte einfach vergessen und nicht ständig daran erinnert werden, was war und was hätte sein können. Mir überlebte und Linda starb.

Frau Kulmuk unterbrach mich in meinen zermürbenden Grübeleien. "Du hattest ja auch ein großes Glück mit deiner Zuteilung für das Praktikum." Ob es wirklich am Glück lag? Eventuell hatte der Unfall damit zu tun. Die Fakultät hoffte vielleicht, ich käme so auf andere Gedanken, nachdem ich in letzter Zeit wohl weniger Geselligkeit zeigte.

Ich hoffte, Frau Kulmuk finge jetzt nicht wieder mit Geschichten über ihre Praktika an. Manchmal hörte sie sich an, als wäre sie schon bei Carter mit dabei gewesen. Ich räusperte mich, als sie gerade zu einer längeren Erzählung ausholen wollte.

"Würden Sie mich bitte entschuldigen, da drüben sehe ich meinen Betreuer. Ich muss mit ihm unbedingt noch ein paar Sachen vor der Abreise besprechen."

"Aber sicher doch, geh nur", sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. Mir war klar, dass sie sich wohl wirklich Sorgen um mich machte.

Ich hatte noch einmal Glück gehabt. Wenn sie erst mal in Fahrt kam, stoppte Frau Kulmuk selbst das Ende der Welt nicht mehr.

Die Abschiedsfeier dauerte bis in die späte Nacht. Ich beantwortete freundlich die sich wiederholenden Fragen nach meinem Wohlbefinden und was ich in nächster Zeit machen würde.

Es war etwa Mitternacht, da machten sich die Letzten auf den Weg. Ein Kommilitone und ich begannen anschließend aufzuräumen.

"Michael, geh besser nach Hause", sagte er. "Du musst morgen früh raus. Den Rest schaff ich schon noch."

Ich verabschiedete mich, ging dann durch die leeren Hallen der Universität und schließlich durch die sternenklare Nacht zu meinem Domizil. Mit eilendem Schritt betrat ich endlich meine Wohnung. Als ich mich auf mein Bett schmiss, fiel ich fast sofort in einen albtraumhaltigen, unruhigen Schlaf.

Es fünf Uhr morgens, als bereits ein schepperndes Klingeln ertönte. Mein Wecker riss mich viel zu früh an diesem Sonntag aus meinen unsanften Träumen.

Ich unterwarf mich im Halbschlaf meinen allmorgendlichen Ritualen und zog mich anschließend an.

In erzwungener Ruhe packte ich meinen Rucksack mit den restlichen noch verbliebenen Dingen aus dem Kühlschrank. Nachdem alles sicher verstaut war, holte ich eine Liste hervor und ging sie schnell ein letztes Mal Punkt für Punkt durch. Die Kampfsportschule war abgemeldet. Die Miete samt Nebenkosten für einen Monat war bezahlt, der Friedhofsgärtner hatte sein Geld erhalten, ebenso hatte ich den Semesterbeitrag überwiesen.

Ich dachte bei mir: 'Dann ist ja alles erledigt.' Natürlich in der Hoffnung, nichts vergessen zu haben. Um die Unterlagen kümmerte sich glücklicherweise die Uni. Das notwendige Gepäck würde auch rechtzeitig auf dem Weg ins Ausgrabungscamp gehen. Jedenfalls die Dinge, welche ich erst dort benötigte.

Gerade, als ich mit alledem fertig war, klingelte es an der Tür. Ich öffnete und vor mir stand eine junge Frau. Sie trug, passend zu ihren kurzen Haaren, elegante aber nicht versnobte Kleidung.

"Hallo Schwesterchen", begrüßte ich sie. Anschließend führte ich sie noch einmal durch die Wohnung und erklärte ihr, worauf zu achten war.

Ich übergab ihr den Wohnungsschlüssel und sagte schmunzelnd: "Dann pass mal gut auf meine Bude auf, während ich weg bin, und denk dran: keine Partys. Ich hänge nämlich an meiner Einrichtung."

"Das schaff ich schon, Michael. Mach dir da mal keine Sorgen." Ich vertraute ihr. Sie übernahm schließlich auch die Miete für einige Monate. So konnte sie bereits üben, wie es war, sich um eine eigene Wohnung zu kümmern.

"Schöne Grüße an die Familie." Dort hatte ich mich natürlich schon vorher verabschiedet. Am letzten Tag wäre dies einfach zu stressig geworden. Wir umarmten uns noch mal zum Abschied. Dann nahm ich meinen Trecking-Rucksack und brach auf.

Während ich durch den Flur runter zur Bushaltestelle ging, dachte ich nochmals darüber nach, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte. Mir fiel nichts ein, aber wahrscheinlich stellte ich vor Ort fest, was fehlte.

***

Zu der Zeit, als ich mich auf den Weg zu meinem vermeintlich größten Abenteuer machte, geschah wohl Folgendes in einem Fabrikviertel nahe dem Kölner Hauptbahnhof. Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Ich hatte leider keinen Einblick in alle Informationen, aber meine lebhafte Fantasie dürfte dies mehr als ausgleichen.

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren rannte in feinem Anzug durch die am frühen Sonntagmorgen noch unbelebten Straßen. Ein Stück zurück in der Richtung, aus der er kam, stand ein Sportwagen mit platten Reifen und zerschrammten Felgen sowie einem leeren Tank. Ein Einschussloch in der Beifahrerseite offenbarte auch deutlich, warum.

Eine Waffe wurde abgefeuert. Der Schuss zischte an seinem Ohr vorbei. Ein Knall war wegen des Schalldämpfers nicht zu hören. Lediglich ein Ton wie das Ploppen eines Sektkorkens.

Die Kugel schlug in eine Hauswand ein, was klarer zu hören gewesen sein müsste. Sichtbar zurück blieb nur ein rund ausgefranstes Loch.

Er ging hinter einer kleinen Mauer, in einem für diese Gegend ungewöhnlich gepflegten Vorgarten einer Gartenbaufirma, in Deckung. Wahrscheinlich fragte er sich, was da wohl schief gegangen war. Schließlich sollte niemand von seiner Anwesenheit in Köln wissen. Der vermeintlich einfache Auftrag hatte sich zu etwas Tödlichem entwickelt.

Hinter der Wand zog er vermutlich seine Waffe aus dem Holster. Es handelt sich um eine halbautomatische Pistole mit Schalldämpfer. Bei einem Revolver wäre ein Schalldämpfer auch ohnehin sinnlos gewesen und das Nachladen zu umständlich. Die Schusswaffe war aus speziellen Kunststoffen und Porzellan gedruckt worden. Selbst an Flughäfen hätte der Metalldetektor nicht angeschlagen.

In die verbergende Mauer schlug eine weitere Kugel ein. Wieder hatte er nur ein dumpfes Plopp und das Splittern des Steins beim Aufschlag gehört. Er legte seine Waffe auf den Rasen.

Mit professioneller Sorgfalt zog er ein Etui aus der Tasche, was so gar nicht zu seinem inzwischen durch die Schießerei sehr gebraucht aussehenden Anzug passte. Er klappte es mit einem leisen Klick auf und holte eine dunkle Sonnenbrille heraus, die sich oberflächlich betrachtet nicht im Geringsten von einer normalen unterschied.

Er setzte sie auf. Fasste an den Bügel. Die Umgebung wurde grün vor seinen Augen. Das eingearbeitete Nachtsichtgerät erschloss ihm den vormals fast stockfinsteren Straßenzug. Nun ließ sich die Position des Schützens ausmachen.

Der Schusswinkel passte nicht. Der Mann schlich hinter einen Müllcontainer aus Plastik. Diese Entscheidung erwies sich sofort als idiotisch. Sein Angreifer hatte wohl ebenfalls einen Restlichtverstärker und ihn bereits zuvor ausgemacht. So ein Container bot nur Sichtschutz. Die abgefeuerte Kugel durchschlug den Kunststoff des Müllbehälters mühelos. Praktisch ungebremst bohrte das Projektil sich in sein Bein. Er unterdrückte den Schmerz. Kämpfte darum, bei Besinnung zu bleiben. Mit zitternder Hand legte er an und drückte ab. Sein Gegner ging tödlich getroffen zu Boden. Dann wurde dem Mann schwarz vor Augen.

Als er sie wieder öffnete, war er vermutlich erst mal orientierungslos, wie es nach einer Ohnmacht ganz normal war. Ein leichter Schwindel war bestimmt immer noch in seinem Bewusstsein.

Er stemmte sich mühsam hoch und ließ die nun zerstörte Brille liegen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte er zurück zur Hauptstraße.

Die nahenden Sirenen trieben ihn zur Eile an.

Auf der Straße kämpfte er darum, sein Gleichgewicht zu halten. Eine leichte Übelkeit versuchte, ihn zu überwältigen, als er ein Straßenschild sah, das ihm den Weg wies. Groß und breit stand dort ein dicker Pfeil, der ihn in Richtung Hauptbahnhof leitete. Mühsam, aber zielstrebig ging er in diese Strecke, welche ihn über eine Brücke führte.

Auf einer Toilette im besagten Bahnhof geschah zu etwa gleicher Zeit ebenso Schicksalhaftes. Ich erfuhr später vom gesamten Hergang aus dem sehr detaillierten Report des für diese Operation verantwortlichen Geheimdienstes. Als mir der Einblick in den Bericht gewährt wurde, sah ich vom Ablauf sogar ein paar Fotos. Ich nahm mir allerdings die Freiheit, es so niederzuschreiben, wie ich es mir vorstellte.

Die Toiletten des Bahnhofs waren, trotz der Tatsachen, dass keine unverschämten Gebühren verlangt wurden, sehr sauber. Es gab keine Graffiti oder Ähnliches. Was wohl auch der Kameraüberwachung im Eingangsbereich der Sanitäranlagen und überall im Umfeld zu verdanken war.

Ein Herr, englisch elegant gekleidet, etwa Mitte dreißig, wusch sich gerade die Hände.

Draußen lief ein anderer Mann herum. Er war ebenfalls gut gewandet und scheinbar vergleichenbaren Alters. Seine Gesichtsstruktur und die Haarfarbe sprachen für eine osteuropäische Abstammung. Aus seiner Jacketttasche zog er immer wieder ein Bild heraus. Der wachsame Blick fiel auf die Toilettentür. Ihm schien ein Licht aufzugehen, weswegen er kurz darauf die sanitären Räumlichkeiten betrat. Dort sah er den Kerl vom Foto und ging auf ihn zu.

Im Flüsterton fragte der Osteuropäer mit leichtem Akzent: "Sind Sie Michael Castermann?"

"Sie sollten mich doch am Schalter treffen", antwortete der Agent Michael Castermann, der sich unvorsichtigerweise dem falschen Kontaktmann gegenüber identifizierte.

"Wäre das nicht ziemlich dumm gewesen, Sie vor all den Leuten zu abzuknallen", erwiderte der Osteuropäer in einem sarkastischen Tonfall. Seine rechte Hand zog da bereits die Automatik mit Schalldämpfer aus dem Schulterholster. Die Kamera des Vorraums entging ihm dabei vollkommen oder war ihm egal.

Den noch jungen, sich in der Ausbildung befindliche, Agent Michael Castermann überforderte die unerwartete Situation völlig. In blinder Panik versuchte er unter sein Jackett zu fassen und aus der Schusslinie zu springen. Der Gegner war aber schneller und drückte ungerührt ab. Viel Deckung bot der Raum allerdings ohnehin nicht.

Die Kugel raste aus dem Lauf der Waffe. Die Hohlräume des Schalldämpfers schluckten den Knall nahezu komplett. Das tödliche Projektil durchschlug eine Stofflage nach der anderen. Dann erreicht es das Fleisch. Widerstand, gegen die Energie des Geschosses leistete es nicht. Das Gewebe wurde mitgerissen und zurück blieb ein ausgefranstes Loch.

Der Agent sank verwundet zu Boden. Durch die Wunde entwich sein Blut und damit sein Leben. Die entstehende Lache auf dem Fliesenboden vergrößerte sich zusehends. Seinen Vorgesetzten war bei der Situationseinschätzung ein fataler Fehler unterlaufen.

***

In diesem Moment stieg ich, der Student Michael Castermann bepackt aus einem Linienbus.

Ich ging vom Seiteneingang am Busbahnhof in Richtung Bahnhofshalle. An einem Verbindungsgang befand sich der Servicebereich der Bahn. Die automatischen Türen öffneten und ich wandte mich dem um die Uhrzeit einzigen besetzten Schalter zu. Nach der Fahrplanübersicht war sogar noch ein wenig Zeit, da aber niemand vor mir wartete, kam ich sofort an die Reihe. Ganz im Gegenteil zu Situationen, wo man es deutlicher eiliger hatte.

"Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?", fragte mich die junge, attraktive Bahnmitarbeiterin.

"Tag. Ich habe eine Fahrkarte für den ICE nach Paris hinterlegen lassen." Zu diesem Zeitpunkt gab es in Köln eine Probeaktion der Bahn. Den Hinterlegeservice, wo man per Telefon oder Internet den Fahrschein orderte und entweder per Kreditkarte oder am Schalter bezahlte. Zur Einführung kostete die Fahrt in der 1. Klasse weniger als die Hälfte des normalen 2. Klassepreises, was ich natürlich nutzte. Schließlich zahlte ich die Reise selber. Nur der Aufenthalt in Ägypten unterstützte der Deutsche Akademische Austauschdienst.

"Auf welchem Namen bitte."

"Castermann. Michael Castermann." Meinen mir etwas peinlichen zweiten Vornamen ließ ich wie immer weg. Wie meine Eltern auf diesen Namen kamen, wollten sie einfach nicht verraten.

Sicherheitshalber buchstabierte ich noch einmal, was die Frau sofort in ihren Computer eintippte.

Im Laufe der Zeit hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es entweder Leute gab, die gern Namen falsch schrieben. Anderseits mochte meine Fähigkeit mich verständlich auszudrücken vielleicht auch unterdurchschnittlich ausgeprägt sein.

Meine Hand griff während dieses Gedankenganges in die Hosentasche, wo sich die Geldbörse befand. Ich zog sie heraus und öffnete bereits das Geldfach.

"Können Sie mir bitte ihren Ausweis zeigen."

Leicht überrascht holte ich meinen Reisepass hervor und hielt ihn ihr vor die Nase.

Die Frau drückte eine Taste und der Drucker spuckte eine Fahrkarte aus.

"Hier ist Ihr Fahrschein."

"Danke. Was bin ich Ihnen schuldig?"

"Die Karte war schon bezahlt, deshalb brauchte ich ja auch den Ausweis", erklärte sie mir etwas irritiert.

Ich wunderte mich damals darüber, ob dies eine Überraschung meiner Kollegen oder ein Fehler im System war. "Danke und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag." Es erfreute mich ein wenig mehr Geld zu haben. Vielleicht fand ich ja für die Ersparnis ein paar ansehnliche Souvenirs. Vor dem Herausgehen wandte ich mich zurück zum Schalter.

"Ich hätte da noch eine Frage. Zu welchem Gleis muss ich?"

"Der Zug steht auf Gleis 8 und fährt bald ab", sagte sie offensichtlich verwundert, dass ich so ruhig blieb.

Ich beeilte mich, zu Gleis 8 zu kommen. Bei der Herfahrt hatte ich mir wohl doch zu viel Zeit gelassen. Ein Blick auf meinen Plan zeigte mir aber, dass die Fahrkarte für einen anderen Zug war. 'Solange ich nichts zahlen muss, tut mir ein wenig Rennen nicht weh', dachte ich und ging schneller. Ich wusste, ich müsste nur noch den Gang runter und links um die Ecke.

Hinter einer Informationstafel für Fahrpläne vor dem Fahrkartenverkaufsbereich verbarg sich ein Mann, welcher die ganze Szene mitbekam. Es war der im Fabrikviertel angeschossene Agent. Er sah bleich aus und man erkannte Schweißperlen auf seinem Gesicht.

Humpelnd bewegte er sich auf mich zu, während ich in Gedanken schon im Zug saß und mich beeilte, die Fahrkarte im Rucksack zu verstauen. Er rempelte mich an, zu diesem Zeitpunkt hielt ich das für ein Missgeschick. Später stellte ich fest, dass er mir offenbar eine Musik-CD zugesteckt hatte.

Mit zittriger Stimme wünschte er mir mit osteuropäischen Akzent viel Glück.

Verwundert verließ ich die Fahrkartenausgabe. Ich fragte mich, was der Mann geschluckt hatte? Auf jeden Fall war es wohl zu viel davon gewesen, auch wenn er freundlich blieb. Sicherheitshalber checkte ich das Vorhandensein meiner Brieftasche, die sich glücklicherweise in der Tasche befand und sprintete dann endlich los. Am Gleis angekommen, stieg ich durch die nächstbeste Tür ein und schaute anschließend auf die Platzreservierung. Zufällig erwischte ich genau den richtigen Wagen und saß noch, bevor der Zug anfuhr, an meinem Platz.

Nur ein paar Minuten, nachdem ich die Fahrkartenausgabe verlassen hatte, betrat sie der Killer, der sein Werk in der Toilette beendet hatte.

"Ich würde gerne die reservierte Fahrkarte für Michael Castermann abholen. Er hat mich angerufen und mir gesagt, ich sollte die Karte schon mal holen, falls er es nicht mehr rechtzeitig schafft."

"Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Er hat es noch geschafft. Sie haben Ihn nur um wenige Minuten verpasst."

Die Mimik des Killers zeigte für einen Augenblick den empfundenen Ärger, aber er war zu gut, um unüberlegt zu handeln.

Man sah ihm an, dass er überlegte und dann wirkte sein Gesicht wieder freundlich.

"Von welchem Gleis fährt der Zug denn ab? Ich würde mich gerne von Ihm verabschieden und fragen, ob Ihn das Abschiedsgeschenk noch erreicht hat."

"Der Zug fährt in einer Minute von Gleis 8 ab."

Er stürmte aus der Fahrkartenausgabe. Weiter vorbei an Gleis 1, 2 und 3. Sprang über mehrere Koffer. Umkurvte wartende Passanten. Sprintete die Treppe zu Gleis 8 hinauf und hörte er einen Pfiff. Kurz danach sah er die letzte Tür des ICE zuklappen, welche sich hinter dem Schaffner schloss.

Der ICE nahm bereits Fahrt auf als er endlich die oberste Stufe erreichte und ließ einen verdrossenen auf dem Bahnsteig stehenden Killer zurück. Er schien sich wohl zu fragen, warum er so ein Pech hatte. Wieso dieser Zug denn ausgerechnet heute pünktlich abfuhr. Ich sah von meinem Platz aus sein wütendes Gesicht und erfuhr erst später, wer er war. Bei meiner Abfahrt damals tat er mir einfach nur leid, weil ich dachte, er hätte seinen Zug verpasst.

***

Der Killer drehte sich um und stürmte in Richtung der Treppe. Dort suchte er hektisch ein öffentliches Telefon. Der Ortungsmöglichkeit wegen verwendete er kein Handy. Gehetzt wählte er eine internationale Nummer. Nach dem zweiten Klingeln nahm jemand ab.

"Ich höre."

"Unsere Freunde schickten anscheinend zwei Gäste. Den einen habe ich beschenkt, aber der Andere hat es abgelehnt."

"Ich werde mich darum kümmern."

Glücklicherweise hatte das Telefonnetzüberwachungssystem Echelon alles mit aufgezeichnet. Den Rest ergänzten die Profiler der WSO und meine Phantasie.

Bei der Abfahrt des Zuges hatte ich das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht bildete ich mir das im Nachhinein auch nur ein. Aber mir war so, als hätte mich ein älteres Pärchen vom Bahnsteig aus angeschaut und mir sogar zugewunken.

Zu mir selbst sagte ich in dem Moment im Zug sitzend: "Und so beginnt es." Ich würde endlich bei einer Ausgrabung in Ägypten dabei sein. Schon damals, als mir ein Buch über Ägyptologie auf einem Trödelmarkt in die Hände fiel, wurde dieser Augenblick zu meinem Schicksal. Bereits nach den ersten Seiten hatte ich von diesem Zeitpunkt geträumt. Eignete mir in meiner Freizeit mehr und mehr Wissen übers ägyptische Altertum an. Gab in der Schule mein Bestes, um zum Studium zugelassen zu werden. Wie konnte ich ahnen, wie dieses Buch das Schicksal der Menschheit bestimmte, wäre ich wohl damals auf dem Trödelmarkt erschaudert.

Auf meinem Platz im Zug hoffte ich einfach nur, ich würde das Abenteuer meines Lebens erleben. Mit zur Enträtselung der Menschheitsgeschichte beitragen.

***

Etwa zur gleichen Zeit unter der Erde von Paris. In einem Büro saß ein Mann mit dunklen Haaren und von kleiner Statur hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm stand eine Agentin von der Nachrichtenabteilung und berichtete. Dabei machte sie auffällig lange Pausen.

"Es kam gerade eine Mitteilung. Am Kölner Hauptbahnhof hat es einen Zwischenfall gegeben. Es gab einen Toten. Unser Agent mit dem Codenamen Michael Castermann. Außerdem wurde ein Osteuropäer mit einer Schussverletzung von der deutschen Polizei aufgegriffen, er entkam aber. Wir vermuten, dass er entweder unser Kontakt oder ein feindlicher Spion war. Die Fahrkarte wurde von einem Studenten gleichen Namens abgeholt. Unsere Recherche hat anscheinend geschlampt bei der Decknamenswahl. Möglicherweise befindet sich auch die CD nun in seinem Besitz. Eine Kopie der Kameraaufnahmen aus der Überwachung ist bereits in der Videoabteilung zur Sichtung."

Nachdem sie geendet hatte, überlegte der Mann hinter dem Schreibtisch ein paar Augenblicke.

"Kontaktieren Sie Agent Bird. Anscheinend wurde die Situation falsch eingeschätzt. Nur sie kann es jetzt noch richten."

***

Derweilen saß ich in meinem 1. Klasse-Abteil im ICE. Die Beinfreiheit und die breiten Sitze größer als jene, welche ich aus der 2. Klasse kannte. Ich las in einem Buch des Autors Erich von Däniken und amüsierte mich köstlich darüber, dass er alle Legenden von Göttern, auf Außerirdische zurückführte. Als wenn die Menschen nicht ausreichend Fantasie besaßen, um Großartiges zu schaffen. Oh Mann, was hatte ich damals wenig Ahnung.

Aus dem Lautsprecher ertönte eine Durchsage.

"Willkommen an Bord des ICE nach Paris. Unser Endziel werden wir voraussichtlich in drei Stunden erreichen, über den nächsten Halt werde ich Sie kurzfristig informieren. Das Bordpersonal wünscht allen Fahrgästen eine angenehme Fahrt."

Diese Mitteilung wiederholte sich noch in Englisch und Französisch.

Der ICE raste scheinbar unaufhaltsam auf den Gleisen dahin.


Unterdessen in Paris


Am Sonntag um 7.00 Uhr morgens, in einem, dieser für unsere Zeit so typischen Bürogebäude. Ein Gebäude mit einer Fassade aus Glas und Metall in der Seine-Metropole Paris. Dort drehten sich die Räder meines Schicksals weiter, auch wenn ich erst später davon erfuhr.

Die Automatiktüren öffneten sich geräuschlos und gewährten einer jungen brünetten Frau den Eintritt. Ihre schwunghaften Schritte ließen ihre langen Haare hin und her schwingen, was gut zu der einladenden Bewegung ihrer Hüften passte. Der Wachmann in der ansonsten verwaisten Halle hatte bereits den Blick auf sie gerichtet. Sie war es gewohnt, dass sie diese Wirkung auf Männer hatte. Die scheinbare Unschuld ihres Gesichtes, betont durch den Pony, die hohen Wangenknochen und die schmale Nase, war nur eine schöne Fassade. Hinter ihrer Stirn wohnte tödlicher Intellekt gepaart mit entsprechenden Kenntnissen in den verschiedensten Arten des Kampfes.

Im Vorbeigehen hielt sie ihm mit einem bezaubernden Lächeln einen Ausweis der Omnicron Company hin, worauf er nur nickte und sie weiter winkte. Die Firma hatte wirklich Büros in einem höheren Stockwerk, aber das war nur Tarnung. Dort gab es nur eine Empfangsdame.

Sie betätigte den Fahrstuhlrufknopf und nach scheinbar endlosen Sekunden kam der Lift und die Türen öffneten sich. Sie betrat die verspiegelte Kabine, verharrte an jenem Platz, bis sich die Türhälften wieder schlossen und ein auf eine Eingabe wartendes Ping ertönte. Sie legte die Hände auf die Schalttafel und drückte auf mehrere Knöpfe gleichzeitig. Auf diese Weise aktivierte sie die Sonderfunktion des Fahrstuhls. Eine weitere Kombination von Knöpfen ließ dann eine unangenehme, vom Computer generierte Stimme ertönen. "Please identify yourself."

Leider war sie erst sehr spät, um nicht zu sagen früh, schlafen gegangen. Sie dachte für einen Augenblick daran, alles kurz und klein zu schlagen aber ihren Ärger, der nervigen Stimme wegen, verdrängt sie recht schnell. Es wäre einfach unprofessionell gewesen.

"Britanny Bird, Agent 314, Security Level Epsilon, Destination Sublevel 27."

Der Computer antwortete schnarrend "Affirmative." Der eingebaute Scanner hatte verschiedenste Biosignale ausgewertet und über die Knöpfe gleichzeitig die Fingerabdrücke gescannt. Die Experten waren der Ansicht, eine Kombination der unterschiedlichsten Techniken sei sicherer, um Unbefugten den Eintritt möglichst stark zu erschweren.

Die Kabine nahm langsam Fahrt auf. Das Blitzen von Energie erhellte den dunklen Schacht, als die Fahrstuhlkabine auf ihren Energiekufen dahinglitt. Das bekannte Achterbahngefühl stellte sich in ihren Magen ein, als der Aufzug mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe schoss. Dann bremste der Fahrstuhl allmählich ab, bis auf der digitalen Anzeige Sublevel 27 stand.

Es gab nur diesen einen Zugang zum Hauptquartier, auf den anderen Levels existierten nur Pseudoeingänge mit Fallen. Notausgänge müssten, wenn nötig, erst von innen aus freigesprengt werden. Agenten, die mit Gewalt gezwungen wurden, eine unbefugte Person hereinzulassen, wurden zu den falschen Eingängen geleitet. Sie verschwanden einfach. Niemand war unersetzlich.

Durch die sich öffnenden Fahrstuhltüren sah man einen kleinen weißen Raum, der hell erleuchtet war. Zu ihrer linken befand sich ein vom Fahrstuhl aus nicht einsehbarer Bereich. Dort waren in Bauchhöhe zehn Konsolen angebracht. Diese stellten sich beim näheren Hinsehen als Handscanner zur Identifikation heraus.

Sie wusste, dass sie schon die ganze Zeit von versteckten elektronischen Sensoren beobachtet wurde, die sie längst biometrisch identifiziert hatten. Alles an ihr war durchleuchtet worden. Selbst die Gangart und Gestik wurden abgeglichen.

Die unangenehme Stimme des allgegenwärtigen Computers unterbrach Britannys Gedanken. "Identifizieren Sie sich an dem Ihnen beim letzten Besuch zugeteilten Handscanner. Sie haben von jetzt an 30 Sekunden."

Mit schnellen Schritten durchschritt sie den großen Raum und bewegte sich auf einen der Scanner zu, dem Dritten von rechts. Mit einem kaum merklichem Zögern legte sie ihre Handfläche darauf. Sie hoffte, wie immer, den Richtigen zu erwischen. Auch wenn sie sich nichts anmerken ließ, war sie manchmal doch genauso unsicher wie jeder andere Mensch. Bisher hatte noch keiner herausgefunden, was passierte, wenn man den falschen biometrischen Abtaster erwischte. Es gab die wildesten Gerüchte, vom Haifischbecken unter dem Boden, über Giftgas bis hin zu einem tödlichen Stromschlag.

Ein Lichtstreifen glitt von ihren Fingerkuppen beginnend über ihre ganze Hand. Es ertönte ein bestätigendes Piepsen, woraufhin sich ein Teil der Wand lautlos öffnet. Als die Bewegung der einen Meter dicken Titanstahlwand stoppte, ging die junge Frau mit energischen Schritten hindurch.

An der bloßen Betonwand vor ihr prangte das Symbol der WSO. Es bestand einfach nur aus den drei schnörkellosen Buchstaben. Schließlich bezahlte ein echter Geheimdienst keine Designer für die Inneneinrichtung der sieben weltweit verteilten Hauptquartiere, obwohl einen das so mancher Film Glauben machen wollte. Alles war hell erleuchtet. Dies verhinderte, für den extrem unwahrscheinlichen Fall des Eindringens von Unbefugten, ein Verstecken. Absichtlich vermied die Bauweise sämtliche Nischen und Ecken. Die langen Flure hatten keinen Knick oder Versatz. Die Türen boten nicht den geringsten Raum, sich zu verbergen. Auch hatte man auf jegliche Verkleidung verzichtet, um das Anbringen von Überwachungsgeräten zu erschweren. Der ganze Komplex konnte zudem durch mehrere unabhängige Generatoren mit Energie versorgt werden.

Britanny wandte sich nach rechts. Lautlos wie eine Katze schlich sie durch den Gang, der sie weiterhin mit allerlei Sensoren überwachte. Was mochte bloß diesmal wieder auf sie warten? Wie jedes Mal prickelte diese leichte Aufregung der Vorfreude in ihr.

Am Ende des Flurs sah man einen bewaffneten uniformierten Wächter an einem Pult stehen. Sie schritt auf ihn zu und hielt ihren Ausweis vor sein Gesicht.

Innerhalb dieser Anlage gab es verschiedene Sicherheitsstufen, was ständige Aufsicht notwendig machte. Teilweise fanden diese Kontrollen elektronisch und teils durch Menschen statt. Dies erhöhte die Sicherheit noch zusätzlich.

Hinter dem Kontrollpunkt wandte sie sich nach links und ging auf einen anderen Lift zu. Aus einem ihr nicht bekannten Grund war dieser extrem nostalgisch gestaltet.

Anstelle eines Displays gab es einen Zeiger, welcher auf negative Zahlen von -27 bis -1 zeigte.

Der Fahrstuhl schoss mit, seinem Aussehen nach zu urteilen, erstaunlich hoher Geschwindigkeit empor. Wenige Augenblicke später stieg sie schon aus dem Aufzug und stand kurz darauf vor einer Tür. Auf dieser waren zwei ineinander verschlungene 'L's zu sehen, wodurch man meinte, ein verzerrtes und verdrehtes 'W' auszumachen.

Sie klopfte an und auf einem größeren Display neben der Tür erschien die Anzeige: "Bitte treten Sie ein", in den wichtigsten europäischen Sprachen. Alle Räume in diesem Komplex waren schallisoliert, schließlich sollte niemand auf dem Gang mithören, was im Innern besprochen wurde.

Lautlos drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür.

In dem ansonsten sehr schlichten Büro dominierte der prunkvolle Schreibtisch samt Sessel den Eindruck. Tief versunken saß dort ein unscheinbarer Mann mit gefalteten Händen und von kühler Gelassenheit.

Er war von kleiner Statur und hatte glatte schwarze Haare.

"Danke, dass Sie sich so beeilt haben, Agent 314. Ich vermute, Sie sind bereits mit den Unterlagen vertraut. Diese lagen ja wie gewöhnlich im Wagen, der Sie abholte."

"Ja, Double L, allerdings verstehe ich nicht ganz, warum ich deswegen gerufen wurde, dies scheint eine Operation unterer Kategorie zu sein."

"Das dachten wir auch, aber seit einer unserer Kuriere tot ist, vermuten wir, dass die Daten irgendetwas Hochbrisantes enthalten."

"Gemäß den mir vorliegenden Informationen sollten sich auf dieser begehrten CD nur einige Übergabepunkte und -zeiten für Rauschgift befinden, keineswegs etwas, was diesen Aufwand rechtfertigt."

Unbeeindruckt von ihren Einwänden fuhr Double L fort.

"Erschwerend kommt noch hinzu, dass ein wahrscheinlich Unbeteiligter in unsere Operation hineingeraten ist. Eine Namensgleichheit durch schlechte Vorbereitung führte zu einer Verwechslung unseres Agenten mit einem Studenten. Ihr Auftrag ist diese Person möglichst schnell abzufangen. Am besten noch vor dem Pariser Hauptbahnhof. Nehmen Sie Ihm die CD, ohne allzu großes Aufsehen ab."

"Ja, Sir! Wir müssen unbedingt wissen, was auf dieser CD so einen Aufwand rechtfertigt."

"Hier haben Sie ein Dossier über den Studenten. Ihre Ausrüstung holen Sie bitte bei der 'Requisite' ab."

"Jawohl Sir, mache ich."

Sie begab sich auf den Weg zum Sublevel 16, wo sich die 'Requisite' genannte Ausgabe von Ausrüstungsgegenständen befand. Eine Fahrstuhltür öffnete sich kurz darauf und entließ sie auf Sublevel 16 in einen großen Vorraum. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine lange Theke. Durch das Gitter sah man unzählige Regale mit Kisten, die wohl die unterschiedlichsten Dinge enthielten. Die ganze Ebene war ein riesiges Lager mit nahezu allem, was jemals gebraucht werden könnte.

Britanny ging auf die Öffnung zu. Dahinter kam ein Mann zum Vorschein, welcher ein paar Kartons abstellte.

"Ah, Agent 314! Ich habe schon auf Sie gewartet."

Er war bereits etwas älter mit einer von dunklen, langen Haaren umsäumten Halbglatze und einem harmlos wirkenden Gesicht. Er legte ein Smartphone auf den Tisch.

"Sie bekommen wie immer Ihr bevorzugtes Phone mit einem extrem zuverlässigen Betriebssystem." Das war eine besondere Leistung für Geheimdienste. Natürlich kaufte die WSO so etwas nicht offiziell, sondern über andere Nachrichtendienste. Kein Außenstehender sollte auch nur das Geringste von der WSO wissen. Zusätzlich enthielt das System eine spezielle App, welches die in so ziemlich alle Betriebssysteme integrierten Hintertürchen nutzte. Durch diesen sogenannten Gates-Opener umging man nahezu jede Passwortkontrolle.

Dann holte er eine Handtasche hervor und legte diese ebenfalls auf den Tisch.

"Die Tasche hat natürlich Platz für das Phone und enthält bereits ihre persönliche Standardausrüstung."

Im Laufe der Zeit hatte Britanny die empfohlene Ausrüstung ihren individuellen Bedürfnissen angepasst. In den Lehrbüchern wurde immer alles nur sehr theoretisch beschrieben. Ihre eigenen Erfahrungen hatten sie so manches gelehrt, was sich nun in ihrer effizienteren Ausstattung ausdrückte. Dieses unterrichtete sie natürlich auch in der Ausbildung von Nachwuchsagenten.

Sie öffnete die Handtasche und überprüfte deren Inhalt. Die Tasche war so präpariert, dass sie in Kontrollen, zum Beispiel am Flughafen, ein falsches Signal erzeugte. Dadurch erschien auf den Bildschirmen der Röntgenscanner statt der wirklichen Ausrüstung etwas Harmloses. Selbst die modernen Terahertzdetektoren wurden so getäuscht. Zusätzlich bestanden alle Waffen aus einem Spezialkunststoff, welcher mit den Eigenschaften von Stahl versehen war. Kein Metalldetektor würde dies bemerken.

Sie überprüfte sorgfältig, ob nichts fehlte. Die geladene Pistole, dutzende Wurfsterne, einige Messer, etwas plastischer Sprengstoff samt Zündkapseln und ein Elektroschocker.

Es war 7:20 Uhr. Sie musste sich nun beeilen, um den Zug noch rechtzeitig zu erreichen. Von einem Hochgeschwindigkeitshubschrauber sollte sie zum nächsten erreichbaren Halt des ICE befördert werden. Der Helikopter wartete bereits auf dem Dach des Gebäudes mit laufenden Rotoren. Britanny stieg unverzüglich ein. Während der Pilot die Turbinen des Hubschraubers auf Vollschub brachte und startete, ging sie in aller Ruhe noch mal die Informationen durch. In den eiligst zusammengestellten Unterlagen fand sie sämtliche relevanten Daten zu meiner Person, angefangen von meinem vollständigen Namen Michael Samael Castermann, über die Stationen in meinem Leben bis hin zu meinem Lieblingsessen. Auch der tragische Tod meiner Freundin stand natürlich drin.

Um 8.00 Uhr in dem ICE auf der Eisenbahnstrecke nach Paris. Dieser verlangsamte, während er sich dem nächsten planmäßigen Halt näherte. An diesem Bahnhof hastete Britanny aus ihrem Fluggerät zum Bahnsteig. Beim Anblick der Bahnstation wunderte man sich schon, warum ein ICE hier überhaupt hielt.

Ich las in diesem Augenblick immer noch in meinem Buch. Es war wirklich ein Thema zum Schmunzeln.

Der ICE, welcher nun bereits merklich langsamer fuhr, bremste nun stärker. Gemächlich rollte der Schnellzug in die Station ein.

An einer Tür weiter vorn stiegen zwei zwielichtige Gestalten ein. Alles in ihrer Körperhaltung weckte ein ungutes Gefühl beim Betrachter. Dies ließ sich nicht einmal so richtig an einem Umstand festmachen. Sie waren ganz in schwarze Anzüge gekleidet, trugen dunkle Sonnenbrillen und hatten Allerweltsgesichter.

An einer anderen Tür betrat zeitgleich Britanny in den Zug. Sie hatte sich während des Fluges hierher umgezogen und trug nun ein elegantes, blaues Kleid, das leicht im Wind flatterte. Sie wusste natürlich genau, welchen Sitz die WSO für "ihren" Michael Castermann reserviert hatte. Ohne Umschweife ging sie direkt zu dem Abteil. Ihre Hand umfasste den Türgriff, sie spannte die Muskeln und öffnete die Abteiltür.

Vor ihr saß ich, der Mann den sie schon aus den Unterlagen kannte und über den sie vieles wusste. Dem akademischen Werdegang, der kürzliche Verlust und selbstverständlich auch seine Familie.

In Englisch, ihrer Muttersprache, fragte sie: "Sitzt jemand auf diesem Platz?", während sie auf den Sitz gegenüber von mir deutete, wo ich dreist meinen Rucksack abgestellt hatte. Sie wusste natürlich, dass ich nicht sonderlich gut in Englisch war, konnte selbst allerdings kaum Deutsch. In Realität gab es halt nur wenige Agenten, die mehrere Sprachen konnten und zudem in anderen Dingen gut waren.

Ich war so in mein Buch vertieft, dass ich richtiggehend hochschreckte, als sie mich ansprach. Ich schaute auf und sah diese extrem attraktive Frau.

Einen Moment lang wurde ich an meine erste Begegnung mit Linda erinnert. Ich versuchte die schrecklichen Erinnerungen, wie lästige Fliegen abzuschütteln aber genau wie diese Insekten kamen auch die quälenden Gedanken immer wieder.

"Äh ... Nein ... ich mein No."

Ich nahm meinen großen Rucksack von dem Platz mir gegenüber und stellte ihn auf den Sitz neben mir.

Unauffällig betrachtete ich sie, während ich mich scheinbar wieder in das Buch vertiefte. Sie war exakt mein Typ Frau und so häufig begegnete man nicht einer Traumfrau. Ich war hin und her gerissen, zwischen dem Verlust von Linda und der Frage, ob ich nicht zumindest eine Konversion versuchen sollte. Würde ich die Erinnerung an Linda betrügen, wenn ich nun mit ihr flirtete? Meine Augen blickten glasig auf das Buch. Mir fehlte die Konzentration, um weiterzulesen. Innerlich wurde ich von einem Orkan der Gefühle überrumpelt.

Abrupt wurde ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als sie mich ansprach.

"Hallo ich bin Britanny", stellte sie sich in Englisch vor. Es war schon ungewöhnlich, dass sie ihren wirklichen Namen angab. Ohne Argwohn erwiderte ich die Geste und nannte meinen Namen. Nicht ahnend, was an Tragik und Glück die Zukunft bzw. Vergangenheit noch bringen sollte.

Sie fuhr fließend in ihrer Muttersprache fort, während ich mir die Sätze zusammen stotterte. Mit der Sprache war ich einfach noch nicht so recht warm geworden. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, auf dem Weg nach Ägypten bereits etwas zu trainieren. Auch bei der Ausgrabung würde überwiegend Englisch gesprochen werden. Den Englischtest für die Teilnahme an der Grabung hatte ich gerade so bestanden. Ich nahm die Herausforderung sportlich an und hatte zudem direkt eine Möglichkeit diese attraktive Frau besser kennenzulernen.

"Die Landschaft ist wirklich schön", sagte sie und deutete auf die an uns vorbeiziehenden Wälder, Wiesen und Gewässer.

Ich fragte mich, was sie gesagt hatte und ärgerte mich, nicht doch an einem dieser Englisch-Vertiefungskurse an der Uni teilgenommen zu haben. In Altgriechisch war ich deutlich besser, aber ich würde irgendwie schon in Ägypten klarkommen.

Endlich hatte ich den Sinn ihrer Worte verstanden und antwortete: "Yes." Unsere erste Unterhaltung setzte sich in holprigem Englisch fort.

So langsam aber sicher überwand ich die Sprachhemmung und redete fließender, wenngleich noch sehr knapp. Schließlich hatte ich in der Schule ja mal diese Sprache gehabt und es vor dem Test in einem Volkshochschulkurs aufgefrischt.

"Fährst du auch bis zur Endstation?"

"Ja, aber Paris ist für mich trotzdem nur eine Zwischenstation. Ich habe lediglich ein paar Tage dort eingeplant."

"Eine Zwischenstation wohin?"

Sie sah mich mit einem Blick an, der offenbarte, dass sie mich attraktiv fand. Zumindest bildete ich mir das ein. Was natürlich im Widerspruch zu ihrem Auftrag stand. Trotz der augenscheinlichen Ablenkung durch die gegenseitige Anziehung schien sie fieberhaft die beste Möglichkeit zu suchen, mir die CD abzunehmen. Selbstverständlich erst, wenn sie wusste, wo diese war.

"Ich fahre nach Ägypten."

"Und was willst du dort?", nur bei genauem Hinsehen, konnte man erkennen, dass die stockende Konversation sie etwas nervte.

"Ich bin Archäologiestudent und dort findet ein wichtiges Praktikum statt."

Unser Frage- und Antwortspiel wurde von der sich öffnenden Abteiltür unterbrochen. Wir beide schauten wie auf Kommando in die Richtung der Tür und sahen den eintretenden Schaffner. Seine Uniform passte ihm nicht so recht. Ich störte mich nicht daran und Britanny schien es zu übersehen.

"Die Fahrkarten bitte. Your tickets please."

Sie holte ihren Fahrschein aus der Tasche, während ich aus dem Fenster blickte. Ich überlegte, weiterzulesen, aber dann würde die Unterhaltung ganz ersterben. Das wollte ich natürlich nicht, sondern unser Gespräch weiter genießen. Ich versank richtig in diesen mehr oder weniger philosophischen Gedanken. Deswegen schaute ich verwirrt zu den nun vor mir stehenden Schaffner auf. Er wollte meine Fahrkarte sehen.

"Ich wurde doch gerade erst kontrolliert."

"Tut mir leid, aber mein Kollege hat beim letzten Halt seinen Dienst beendet", sagte der Kontrolleur mit einem Schmunzeln, was ich erst im Nachhinein verstand. Nämlich als ich vom Tod des wirklichen Schaffners erfuhr.

Das Ticket hatte ich natürlich gut weggepackt, weil ich glaubte, es nicht mehr zeigen zu müssen. Ich kramte genervt in meinem Rucksack auf der Suche nach der Fahrkarte. Er schaute genau zu, was ich tat. Erst später realisierte ich warum. Auch Britanny beobachtete mich unauffällig. Ich schrieb es unserer gegenseitigen Anziehung zu, sie war aber hauptsächlich an der CD interessiert.

Der Schaffner begutachtete die Karte sehr intensiv, als ich diese endlich fand.

Während wir beide unsere Tickets wieder verstauten, entfernte sich der Kontrolleur aus dem Abteil und schloss die Tür. Mir der Typ suspekt vor, denn so gewissenhaft hatte bisher noch niemand meine Fahrkarte betrachtet.

Von einem Zugbegleiter wurde in diesem Augenblick ein Stromkreis geschlossen, was eine Membran durch einen Magneten in Schwingungen versetzte. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Durchsage: "In einer halben Stunde erreicht dieser Zug Paris. Unser Speisewagen hält weiterhin Gerichte für Sie bereit und zusätzlich ist natürlich ein Servicemitarbeiter in der ersten Klasse unterwegs. Wir wünschen Ihnen noch eine angenehme Fahrt."

Anschließend wiederholte der Zugbegleiter die Mitteilung in Holländisch, Englisch und Französisch.

Kurz darauf öffnete sich die Abteiltür erneut. Mit bedrohlicher Langsamkeit. Es kam einer der heutzutage üblichen Servicewagen samt Servicemann zum Vorschein. Er kam mit einem schleimigen Lächeln auf dem Gesicht in unser Abteil.

"Kaffee die Dame oder der Herr?", bevor jemand auch nur antworten konnte, fragte er schon auf Englisch.

"Ich hätte gerne eine Tasse", unterbrach Britanny ihn und erklärte mir schmunzelnd: "Ich muss erst mal richtig wach werden."

"Das kenne ich. – Danke, für mich nichts", lehnte ich das Angebot ab. Ich hatte mir für die Fahrt schließlich extra etwas eingepackt und ohnehin war mir die Bahn zu teuer, was die Bordverpflegung anging.

"Möchten sie Milch, Zucker oder Süßstoff?"

"Ich nehm ihn schwarz", sagte Britanny und schmunzelte über einen Witz, den wohl nur sie selbst verstand.

Sie bekam ihren Becher überreicht. "Bitte sehr hier ist Ihr Kaffee. Das macht dann drei Euro."

Sie nahm das Trinkgefäß in Empfang. "Merci." Britanny hielt ihre Hand über seine geöffnete und ließ das Geld in diese klimpern. Er verstaute es und ging weiter auf seiner Tour.

Sie hob das dampfende Getränk vor ihre Nase und genoss das Aroma. Vorsichtig nippte sie an der heißen schwarzen Flüssigkeit.

Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während ich scheinbar wieder in meinem Buch las. Sie fing an zu gähnen und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. In ihrem Gesicht konnte ich zunehmende Müdigkeit erkennen. Es war schade, dass wir nun erst mal nicht mehr weiter reden würden. Ein wenig seltsam fand ich es natürlich schon, dass sie durch den Kaffee einzuschlafen schien.

Sie erzählte mir später, dass die Umwelt vor ihren Augen zu verschwimmen begann und dass ihre Lider immer größere Schwierigkeiten hatten, der Schwerkraft zu widerstehen. Mit wachsender Anstrengung versuchte sie, wach zu bleiben, bis sie schließlich doch einschlief. Es kam mir beklemmend vor, betäubt zu werden und so hilflos zu sein. Abgesehen von der Wirkung der Betäubung sprach sie nie über den Vorfall. Wahrscheinlich war es ihr ziemlich peinlich, wie ein Anfänger überrumpelt zu werden. Sich von der Anziehung zu mir ablenken lassen. Jedenfalls bildete ich mir ein, dass ich der Grund war und nicht nur die Müdigkeit, welche nun einmal zu Fehlern verleitete.

Ich beobachtete, wie sie so friedlich aussah, als sie da im Sitz lag und schlief. Prägte mir jedes Detail ihres Gesichtes ein. Ich war dabei so vertieft gewesen, dass ich richtig zusammenschreckte, als die Tür aufgerissen wurde. Diese ständigen Störungen nervten mich. "Was denn nun schon wieder?", entfuhr mir kaum hörbar, da ich sie nicht wecken wollte.

Zwei Männer kamen in das kleine Abteil. Ich identifizierte sie als Schaffner und Servicemann. Beide trugen nun schwarze Anzüge, die für sie so etwas wie Uniformen zu sein schienen, und hielten die unvermeidlichen Automatikpistolen mit Schalldämpfer in ihren Händen.

Die Waffen richteten sich auf uns, während die Tür wieder geschlossen wurde.

"Ich bin kein Außerirdischer", versuchte ich in Englisch, die Lage aufzulockern. Mehr fiel mir in der Situation nicht ein.

Die beiden ignorierten mich, abgesehen von der auf mich gerichteten Pistole, komplett.

"Hab doch gesagt, dass wir es mit Britanny Bird zu tun haben. Sie sieht genau aus wie auf dem Foto", sagte der Servicemann zum Schaffner in einem Englisch mit leicht osteuropäischem Akzent.

"Glücklicherweise hast du Sie wiedererkannt und betäubt."

Mir war zwar nicht klar, was gespielt wurde, aber trotzdem versuchte ich, gelassen zu bleiben. Wie viele andere hatte ich eine Schusswaffe vorher noch nie real gesehen. Die unbekannte Situation überforderte mich, dennoch wollte mich nicht einschüchtern zu lassen.

"Hey! Was wollen Sie! Ich habe nur wenig Geld, aber Sie kriegen es. Tun Sie uns nur nichts", begann ich, ohne großartig nachzudenken.

'Service' fuchtelte bedrohlich mit seiner Waffe herum. "Ich muss sagen, die WSO bildet ihre Leute immer schlechter aus. Und nun darf ich Sie bitten, uns die CD zu übergeben."

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht, was die Beiden meinten. "Häh?"

"Na los, gib Sie uns schon."

Ich stand langsam auf und versuchte dabei, unbedrohlich zu wirken.

Der 'Servicemann' näherte sich mir, vermutlich um irgendwelche Dummheiten meinerseits zu verhindern.

Ich war froh, dass ich bei den Selbstverteidigungsstunden aufgepasst hatte. Mit diesem Gedanken riss ich 'Service' die Pistole aus der Hand und hielt ihn in die Schusslinie des anderen.

Während wir kämpften, drückte ich meinen Gegner gegen den falschen Schaffner. Dabei löste sich ein Schuss mit einem dumpfen Plopp aus der Waffe. Ich bemerkte einen leicht schwefligen Geruch. So roch wohl das verbrannte Pulver nahm an.

Erst befürchtete ich, die Kugel hätte mir gegolten, aber dann stellte ich fest, dass mir nichts fehlte. Ich hatte schon aufgeatmet, weil ich dachte, dass der Schuss daneben gegangen wäre.

Dann fiel mein Blick auf Britanny. Ihr elegantes Kleid hatte nun ein Loch über der Brust. Es sickerte Blut hervor. Ein wachsender Fleck in dem blauen Stoff bildete sich.

Vor meinem inneren Auge lief erneut eine andere Katastrophe ab. Ich hockte am Steuer meines VW-Kleinwagens. Neben mir saß eine gutaussehende junge Frau, meine Freundin Linda, die ich innig liebte. Dann passierte es, der Wagen kam von der Straße ab, weil ein vor mir fahrendes Fahrzeug ins Schleudern geriet und ich ausweichen musste. Noch immer konnte ich dem Fahrer des anderen Automobils keinesfalls vergeben. Nicht einmal bei der Beerdigung hatte ich ihn gesehen. Ein Verfahren wurde keines eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft, vertrat die Ansicht, dass es einfach nur ein Unfall wäre.



Im Krankenhaus



Es vergingen nur Millisekunden der geistigen Abwesenheit, dann war ich wieder in der Gegenwart. Sofort schubste ich die Beiden gegeneinander. Zog ihnen heftig eins mit dem schweren, gebundenen Buch über den Schädel, welches ich noch immer in der Hand hatte.

Erneut bewahrheitete sich, dass das 'Wort' die mächtigste Waffe war. Besonders in gedruckter Form. Ich war froh mich trotz der Gewichtsersparnis gegen ein Pad entschieden zu haben.

Ich überlegte fieberhaft, womit ich sie fesseln sollte, während eine innere Stimme drängte, dass es wegen Britanny eilte.

Dann kam mir die Idee: Sicherheitshalber hatte ich eine Rolle stabilen Klebebandes, auch als Panzertape bekannt, eingepackt. Wie in einer Fernsehserie meiner Jugend, so erwies es sich hier gleichermaßen als sehr nützlich. Wenn ich es mehrfach um die Handgelenke fest herumwickelte, müsste das eigentlich halten. Zumindest, bis die Polizei einträfe. Also fesselte ich die Ganoven, rannte anschließend auf den Flur und suchte nach einem Handy. Meins hatte ich noch nicht auf das französische Netz umgestellt und nun zählte jede Sekunde. Schnell wurde ich fündig. Ein älterer Mann telefonierte gerade im Nachbarabteil. Mit Gewalt riss ich ihm sein Telefon aus der Hand, unterbrach das Gespräch und wählte die Nummer der französischen Polizei. Glücklicherweise waren diese Telefonnummern innerhalb von Europa mittlerweile angeglichen und überall galt die 110. Es verging dennoch wertvolle Zeit, bis sich ein Polizist fand, der mich verstand. Ich erklärte dem Gendarmen, was im Abteil vorgefallen war.

Der Zug stoppte unplanmäßig am nächsten Bahnhof, wo auch schon Polizei und Krankenwagen bereitstanden. Die Beamten führten die beiden Halunken ab und beabsichtigten, mich zu verhören. Meine Verpflichtung galt aber Britanny, da ich schuld an ihren Zustand war und mein Gewissen beruhigen musste.

In gebrochenem Deutsch erklärte ein bereits etwas älterer Polizist mir: "Bitte nehmen Sie ihr Gepäck mit! Wir protokollieren nur kurz Ihre Aussage und bringen Sie dann zu Ihrer Freundin."

Ich wollte erst sagen, dass sie doch gar nicht meine Freundin war, überlegte es mir aber schnell anders. Dies hätte die Lage nur verkompliziert.

"Okay."

Ich sah dem davon rasenden Krankenwagen hinterher und fragte mich, was die Angreifer begehrten. Normalerweise waren heutzutage Überfälle in Zügen eher selten. Zumindest in der EU. Mir fiel ein, dass einer etwas von einer CD gesagt hatte. Ich erinnerte mich an den Zwischenfall im Kölner Hauptbahnhof und die seltsame Sache mit dem Ticket. Irgendetwas ging hier vor, was ich nicht verstand. Ich verdrängte diese Gedanken und fokussierte wieder auf Britanny. Sie war momentan wichtiger, als zu verstehen, was gespielt wurde. Die kurze Zeit mit ihr hatte mich verändert. War mein Herz etwa wieder bereit? Obwohl die Aufnahme des Protokolls nur wenige Minuten dauerte, schien mir eine Ewigkeit zu vergehen. Als ich dann endlich im Krankenhaus ankam, bekam ich von der freundlichen Frau am Empfang - nach einer anstrengenden Unterhaltung mit Händen und Füßen - Britannys Zimmernummer. Vor der Zimmertür erfuhr ich von einem ungewöhnlich redseligen Pfleger in Englisch, dass sie sehr großes Glück gehabt hatte. Der Schuss war knapp über der Lunge glatt durchgegangen, sie könne das Hospital bald schon wieder verlassen. Der vom Projektil erzeugte Schock hatte sie mehr mitgenommen, als die Verletzung selbst. Das mit dem Betäubungsmittel fand ich erst später heraus. Sicherlich hatte auch dieses Britanny körperlich belastet.

Nach der Erleichterung, dass es nicht so ernst war, wie es aussah, ging es mir etwas besser. Ich machte mir noch immer Vorwürfe, dass sie der Schuss nur durch mein Handeln getroffen hatte. Leise klopfte ich und sah nach dem Eintreten eine friedlich schlafende Frau vor mir. "Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser Britanny! Das war alles meine Schuld." Mir war zwar klar, dass sie mich vermutlich nicht hörte, aber es musste einfach raus. Auf einem wie für mich bereitstehenden Stuhl setzte ich mich hin.

Eine ganze Weile saß ich nur so da. Erinnerungen an ein anderes Krankenhaus und Gesicht erwachten. Erneut lag Linda vor mir im Sterben. Nichts war schmerzlicher, als einen geliebten Menschen so zu sehen. Der Unfall, welcher mich abgesehen von leichten Prellungen verschonte, hatte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: ulrics
Bildmaterialien: ulrics
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2015
ISBN: 978-3-7368-9477-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch der deutschen Bahn, welche mir mit ihren den zahlreichen Verspätungen viel Gelegenheit gab an meinem Werk zu arbeiten.

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