Sieben Jahre sind sie jetzt bei uns. Max war fünf als er zu uns kam und Maria Sieben. Geschwister – verwildert und verwahrlost, schwarze Stumpen im Mund, Gestank, kaputte Klamotten, geschlagen, ohne Vertrauen, ohne Zuhause.
Nach drei vorangegangenen Kontakten zogen sie zu uns. „Es ist schön jetzt auch Kindersitze im Auto zu haben“, vertraute ich mich meiner Mutter an. Romantische Vorstellungen die von der Realität bald eingeholt wurden. Die erste Zeit – anstrengend aber harmonisch. Die Zeit danach nur noch anstrengend. „Sie sind wie Gäste, die nicht mehr gehen wollen“, war die Stimmung meines Mannes. Wer sagt, Kinder muss man nur lieb haben irrt. Wer sagt, fremde Kinder genauso lieb zu haben wie eigene, weiß nicht wovon er spricht. Oder doch? Das schlechte Gewissen stellt sich schnell ein und bleibt ebenfalls Dauergast.
Die Zähne zuerst. Die müssen gemacht werden – die Kinder riechen unangenehm aus dem Mund. Max, völlig unkompliziert, öffnet den Mund, lässt spritzen, bohren, schleifen ohne Muxer. Maria nicht. Verweigert sich. Nach einer Stunde Zureden lässt sie sich eine Spritze geben. Mehr nicht. Der Bohrer bleibt unbenutzt und Marias Mund zu. Was tun? Uniklinik mit Narkose, oder Gewalt? Wir entscheiden uns nach langem Hin- und Her für Letzteres. Neuer Zahnarzt, sechs Helfer die festhalten. Marias Schreie gehen durch Mark und Bein. Ich sitze im Flur und habe Angst: Es war die falsche Entscheidung! Das wird sie nie vergessen. Traumatische Erfahrung. Dann ist endlich Stille. Alle verlassen abgekämpft das Behandlungszimmer. Der Assistenzarzt verlangt einen Cognac. Maria kommt raus. Hochroter Kopf vom Schreien. Kommt auf mich zu, streckt die Hand aus: „Schau mal, hier bekommt man viel schönere Sachen geschenkt als bei dem anderen Zahnarzt!“ Das ist Alles. Diese Einstellung bleibt ihr erhalten. Materielle Dinge sind ihr das Wichtigste. Nach einem Jahr teilt sie uns ernsthaft mit, dass sie uns gegen eine Familie mit Pferd jederzeit eintauschen würde. „Beziehungsunfähigkeit“, erklärt uns ihre Therapeutin. Ein Wort, das im Laufe der Jahre an Bedeutung gewinnt.
Schnell ist klar, die Kinder lügen. Bei jeder Kleinigkeit. Und sie klauen - auch jede Kleinigkeit. Bei Max finden wir ein ganzes Lager. Parfüm, Handy, leere Nutellagläser, Messer und Feuerzeuge, die noch eine besondere Rolle in unserem Leben spielen werden. Wir fangen an abzuschließen. Bisher hatten wir kein einziges Schloss im Haus. Nun werden Vorhängeschlösser angebracht.
Ist das noch ein Leben, wie ich es mir vorstelle?
Maria klaut weniger als Max. Sie ist eher die Sammlerin. Sie sammelt Schulbrote und versteckt sie zwischen den Puppenkleidern, in Schubladen, in Taschen. Überall „bewegen“ sich die Brote. Regelmäßige Zimmerkontrollen, um die vergammelten Brote zu finden, die sie immer wieder versteckt. Überhaupt besteht unser Leben hauptsächlich aus Kontrollen. Jackentaschen, Schulranzen, Zimmer, Grundstück.
Ist das noch das Leben, wie ich es mir vorstelle?
Mit der Schule müssen weitere Kontrollen eingeführt werden. Maria macht keine Hausaufgaben. Gespräche mit der Lehrerin, sie unterschreibt Marias Hausaufgabenheft. Maria fälscht die Unterschrift – das alles in der 1. Klasse.
Mit Max Einschulung fängt die Hölle an. Wutanfälle. Er zerschlägt sein Zimmer – zum Schluss ein mal pro Woche. Schreie, Beschimpfungen: blöde Fotze, verfickte Schweine. Und immer wieder zerstörte Stühle, Schränke, Türen. Bei akuten Anfällen wird er nach draußen gesetzt. Wir wohnen in einem kleinen Dorf, da ist das möglich. Eine „liebevolle Mutter“ zeigt uns beim Jugendamt an. Das Jugendamt steht zu uns.
Die „liebevollen richtigen Eltern“ sind ein Problem. Ständige Diskussionen. Rechtfertigungen die eine zusätzliche Belastung sind. Einzige Unterstützung durch die Therapeuten und Psychologen, die hinzugezogen werden. Sie geben Rückhalt, Anregung und bestärken uns. Auch Max bekommt endlich einen Termin in der Kinderpsychiatrie. Erste Gespräche, erste Tests. Nach weiteren massiven Wutanfällen wird er stationär behandelt.
An seinem Geburtstag kommt er in die Kinderpsychiatrie. Ein Häuflein Elend. Er sitzt im Auto, sagt immer wieder: „Ich kann nicht mehr, ich bin total fertig.“
Er ist gerade sieben geworden.
Für uns eine Verschnaufpause. Wir können durchatmen. Maria genießt die Ruhe und das Alleinsein mit uns. In der Kinderpsychiatrie wird ADSH diagnostiziert. Wir sind erleichtert. Endlich hat der Schrecken einen Namen. Endlich gibt es Erklärungen. Nach sechs Wochen kommt Max wieder nach Hause. Er nimmt jetzt Ritalin. Das Leben verändert sich. Max wird ruhiger, aufmerksamer, konzentrierter. Er hat weniger Schwierigkeiten in der Schule. Er ist beherrschter. Kontrollieren müssen wir immer noch. Aber kein Vergleich zu vorher.
Wir haben seit langem mal wieder eine harmonische Phase. Die Kinder sind seit zwei Jahren bei uns. Harmonie hat leider auch immer einen kleinen aber verheerenden Nebeneffekt. Wir werden vertrauensseliger und damit auch nachlässiger was die Kontrollen betrifft – aber kann eine Familie ohne Vertrauen funktionieren? Früher verhasste Sprüche wie „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ verlieren ihren Schrecken, wirken sogar tröstlich.
Wieder ein „Lager“ von Max gefunden, gefüllt mit vertrauten Dingen - die alle mal uns gehört haben. Im Geschäft hat er mittlerweile auch geklaut. Blöde Pokemonkarten. Jetzt will ich alles wissen. Zimmer durchsuchen, Schulranzenkontrolle, Hefteinträge – keine Hausaufgaben – letzte Warnung. Im ganzen Zimmer kleine Verstecke. Brandspuren.
„Max, was riecht hier so seltsam?“
„Das kommt von draußen“
„Max, das kommt nicht von draußen. Es riecht verbrannt in deinem Zimmer!“
„Das kommt von draußen.“
Ich hole meinen Mann. Berufsfeuerwehrmann. Dem kann er nichts vormachen.
„Max hier brennt etwas!“
„nein, das kommt von draußen.“
Das alte Muster, Lügen bis zum bitteren Ende. Mein Mann schaut sich um. Der Mülleimer! Auf dem Deckel liegt eine Decke. Er zieht sie weg – Rauch.
„Max, was ist das für Rauch!“
„Ich weiß nicht, das war ich nicht.“
Wir finden noch einige andere Brandspuren, abgebrannte Streichhölzer, angezündete Knete, verkohltes Papier. Zimmertausch. Max ist nun unten, in Sichtweite. Das alte Programm. Regelmäßige Kontrollen. „Selbst schuld“, sagt die Psychologin. „Max braucht diese Kontrollen. Es ist zu seinem eigenen Schutz!“
Ist das noch ein Leben, wie ich es mir vorstelle?
Dann der Zusammenbruch. Mein Mann und ich haben uns einen Abend in der Oper gegönnt. Ein Handy klingelt - mein Handy klingelt. Maria ruft an: „Bei uns brennt es! Die Polizei ist da. Sie sagen Max hat das Feuer gelegt!“
Er streitet alles ab. Nachbarn bestätigen, sie haben ihn gesehen. Er hat eine Lagerhalle voll mit Antiquitäten fast in Brand gesetzt. Ein bisschen gezündelt, Feuer außer Kontrolle geraten , abgehauen. Wir packen seine Sachen und bringen ihn ein weiteres mal in die Kinderpsychiatrie.
Maria besucht mittlerweile das Gymnasium. Ich war dagegen. Aber sie wollte unbedingt. „Lass sie, sie hat so wenig Chancen im Leben gehabt, gib ihr diese jetzt“, denke ich mir und stimme zu. Schulstress Teil Zwei beginnt. Jede Stunde muss ich mit ihr nachbereiten, weil sie im Unterricht nicht mitkommt. Lernpläne, Karteikästen, Hausaufgabenkontrolle, Schulranzen durchsuchen nach versteckten Aufgaben, Proben, Exen – und wieder vergammelte Brote. Wut, Tränen, Beschimpfungen. Wir halten durch bis zur siebten Klasse. Erst da gibt sie auf. Es fällt ihr sehr schwer. Sie lässt ihre einzige „Freundin“ zurück.
Freunde sind rar bei unseren Kindern. Sie werden geschnitten, gehänselt, verstoßen. Ihr Heimkinder, Zigeuner. Ihr habt ja gar keine „richtigen“ Eltern! Kindergeburtstage ohne Kinder. Einladungen doch niemand kommt. Keiner sagt ab. Aussage des Rektors der Grundschule: „Da haben Sie sich was ins Haus geholt, die lügen und klauen alle, das ist genetisch bedingt. Flucht. Wir besorgen uns eine Dienstwohnung in München für die Wochenenden. Endlich wieder Luft. Abtauchen in die Anonymität. Max ist mittlerweile wieder bei uns. Die Kinder lernen Weltoffenheit kennen, spielen mit griechischen und afrikanischen Kindern im Hirschgarten.
Die nächste harmonische Phase: Der selbe Kreislauf. Harmonie - mehr Vertrauen - Kontrollen lockern - Chaos. Und was für eins!
Max wurde vom Kaufhausdetektiv beim Klauen geschnappt. Er besucht mittlerweile die Realschule. Statt an der Bushaltestelle auf den Bus zu warten ging er klauen. Und Maria erpresste ihn. „Entweder du klaust für mich mit, oder ich verrate dich!“
Der berühmte Boden ist weggezogen. Angst. Was soll werden? Wir schaffen es nicht! Ernsthafte Überlegungen aufzugeben.
Wieder einmal.
Den Stress beenden. Ein ruhiges und beschauliches Leben führen, ohne Kinder. Wir machen weiter.
Wieder einmal.
Es finden sich noch Reserven. Wir finden Erklärungen für sein Verhalten. Absetzung des Ritalins, Stress in der Klasse, Stress mit einem Lehrer, zu wenig Zeit für ihn, zu viel Zeit für Maria. Er wechselt die Schule, besucht nun eine andere Realschule. Maria geht mittlerweile in die achte Klasse der Hauptschule. Sie ist Klassenbeste. Beide fühlen sich wohl in den Schulen. Für uns eine große Erleichterung. Sie haben auch im Dorf Freunde gefunden. Auch Pflegekinder und ein paar andere „Außenseiter“.
Es bleibt anstrengend. Wir müssen immer auf der Hut sein. Das Misstrauen bleibt. Aber der Graben zwischen Misstrauen und Vertrauen ist nicht mehr so groß. Wir erleben sehr intensive Momente mit den Kindern. Gute Phasen und schlechte Phasen gibt es nicht mehr. Es gibt schöne Momente und nicht schöne Momente. Aber die Gesamtsituation ist zufriedenstellend. Wir sind eine Familie geworden.
Sieben Jahre sind sie jetzt bei uns. Max ist zwölf und Maria vierzehn. Geschwister – lebhaft und wild, hübsch und gepflegt, hilfsbereit und mitfühlend, freundlich und höflich, mit immer mehr Vertrauen und einem Zuhause.
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2009
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