„Schön, dass du da bist!“ Amano klopfte seinem Freund mit drei Armen gleichzeitig auf eine Schulter. So machte man das in einem richtigen Rennfahrerclub. Nur das Lapukon in keinem Club war. Aber von den Clubfreunden waren eben keiner gekommen, so musste das Ritual mit ihm auskommen.
„Tut mir leid, das mit Ewi.“
„Danke.“
„ Ja und das alle dir die Schuld geben ist natürlich bescheuert.“
„Das ist mit echt egal im Moment. Ich verstehe einfach nicht wie sowas passieren konnte. Oh Mann, ich werde nie wieder Rennen fahren.“
Vielleicht glaubte das Amano wirklich, Lapukon tat es nicht.
„Du musst mich mal in Plasmon besuchen, Lapi. In Übersee ist alles viel größer. Und die Uni ist doch das Zentrum für uns! Ich verstehe nicht, warum du hier noch rumhängst.“
„Ich suche eine richtige Stellung und ich könnte es mit meiner nächsten Publikation schaffen.“
„Ach was, ich habe auch nur 10 Monatsverträge. Die kriegt man immer irgendwie verlängert.“
Vielleicht würde Lapukon seinen Freund besuchen. Vielleicht würde er sogar in Plasmon arbeiten. Was auch immer passieren würde, zumindest würde Lapukon nie ein Rennen fahren.
Für den Moment musste eine Umarmung genügen. Eine innige, für Lapukon wenig ungeschickte Umarmung zweier Freunde, die wussten, dass sich ihr Wege nach dieser kurzen Stippvisite Amanos wieder für ungewisse Zeit trennen würden. Und die nicht wussten, in welcher Welt sie sich wieder treffen würden.
Der neue Kontinent war bekannt für seine weitausladenden Buchten, die der Küste eine beachtliche Länge verschafften. An der Westküste befand sich auf mittlerer Höhe die zentrale Universitätsstadt Plasmon. Die Universität Hibako, die größte und berühmteste ihrer Art, war unangefochtenes Zentrum Plasmons. Sie war architektonische Pionierleistung und Schandfleck zugleich. Und sie war namensgebend für die plasmonische Phase, auch wenn das zu weilen verdrängt wird und einige besonders peinlich berührte Architekten lieber nur noch von der kosmischen Phase sprechen. Die Reiseveranstalter Plasmons schieben die fehlende touristische Begeisterung aber lieber auf die kalten Nordwinde, die dem Sommer so oft ein katastrophales Ende bereiteten. Einzig die Landschaft profitierte von der eisigen und klaren Luft. Kein Wärmeflimmern trübte in dieser Zeit die Sicht auf die Küstenfelsen, von denen einige Namen von Horrorfiguren trugen. Berüchtigt war auch die üppig drogenproduzierende Fauna, die den Studenten den nötigen Mut verschaffte, um sich in gefährlichen und beliebten Outdoorsexparties zu amüsieren und sich nicht allzu selten dabei gleich umzubringen.
Da, wo sich der Meeresarm in den schmutzig-gelben Sand erschöpft, da beginnt auch schon der Campus. Es war ungewöhnlich mild für diese Klimazone, als Lapukon zum ersten Mal diesen Campus betrat. Aus seinem vorschriftsmäßig geparkten Flugmobil ausgestiegen, ging er sicheren Schrittes in die ihm unbekannte Landschaf und auch der strömende Regen störte ihn wenig. Bei jedem Schritt strafften sich die Fasern seiner Kleidung, um das eben aufgenommene Regenwasser an die Haut seiner vier Beine wieder abzugeben. Er genoss diese Erfrischung seiner unteren Extremitäten, ohne dabei den Regen selbst zu bemerken, der nach alter Überlieferung eher als schlechtes Omen gewertet werden müsste. Lapukons Gesicht war für seine nördliche Herkunft ungewöhnlich dunkel. Dafür verriet ihn das leuchtende Orange seiner großen Augen als ein Vertreter der nördlichen Hemisphäre.
Während Lapukon die schwere Tasche vom zweiten in den dritten Arm warf, strich sich mit einem Arm über den Kopf, um seiner Nervosität ein Ventil zu verleihen. Dabei bewegte sich der vierte Arm ungewollt mit, wie es bei Wissenschaftlern des Öfteren zu beobachten ist. Es war ihm anzumerken, wie sehr er in Gedanken schon bei seinem Vorstellungsgespräch war.
Wie automatisch schwenkte er auf die Eingangshalle eines ihm völlig unbekannten Instituts zu, als eine Frau direkt Kurs auf ihn nahm. Sie trug ein perfekt auf ihre vier langen Beine abgestimmtes Kleid. Der Stoff sah auch nicht gerade billig aus und ihre Schuhe glänzten in sattem Rot. Ihre Augen leuchteten im begehrten grün und ihre Haut schimmerte rötlich. Lapukon fiel es schwer irgendwelche, geschweige denn solche Mädchen anzusprechen. Deshalb bemerkte Lapukon solche Äußerlichkeiten eigentlich auch gar nicht mehr. Auch achtete er nur aus seinem Ordnungssinn heraus auf die eigene Bekleidung. Diesmal war es anders. Denn obwohl er dachte, sie würde gleich an ihm vorbeiziehen, ärgerte ihn seine eigene, doch eher pragmatische Erscheinung.
Ihr Blick und ihre Worte trafen ihn dann auch dementsprechend unvorbereitet: „Hi hi, du bist sicherlich Lapukon, nicht? Ich heiße Laria und mache hier manchmal die Einführung. Na ja, eigentlich ist das eine Ausnahme, aber ich habe deinen coolen Artikel über unsere Ahnen gelesen und ich dachte, ich könnte dich bei dieser Gelegenheit etwas fragen.“
„Natürlich,... was willst du denn wissen?“
Die unbekannte, wenig um Worte verlegene Laria führte Lapukon sicheren Schrittes durch den Campus und begann sofort eine ausführliche Befragung.
„Naja, ist ja wohl klar was ich wissen will?! Es geht um deine letzte Expedition auf dem alten Kontinent. Also da schreibst du einfach so, es gebe Hinweise auf intelligente Oktiden die noch im Meer lebten und das auch noch wirklich weit vor unserer Zeit. Ich meine, das wär nun wirklich mehr als krass. Ich meine das wär doch wohl mal wirklich eine Sensation.“
Laria sah Lapukon direkt in die Augen. Der hatte Mühe sich seinem Naturell entsprechend abzuwenden.
„Ich habe bei einer Expedition Kanäle am Meeresboden erkennen können, die, nach der Carbonmethode zu urteilen, älter als unsere ersten Unterseebote sind.“
Verwundert über das unbedarfte Interesse dieser mehr als attraktiven Frau fühlte er seine Pulse steigen und seine drei Herzen schienen einen Wettkampf in der Disziplin „höchstmögliche Frequenz“ zu starten. In ihren Frage schien keine Spur von Ironie zu liegen und Lapukon hatte noch nie jemand mit cool oder ähnlichem in Verbindung gebracht.
„Woher weist du, dass es künstliche Kanäle sind und keine natürlichen Unebenheiten? Oder könnten nicht Außerirdische unsere Urmeere durchstreift haben? Natürlich glaubt niemand an Außerirdische, aber unverständlich bleibt doch die Tatsache, das es keine direkte Verbindung zwischen uns und diesen Kanälen gibt, oder?“
Also doch, dachte Lapukon fast erleichtert, sie glaubt es natürlich nicht. Er versuchte dennoch möglichst wenig von seiner Verärgerung spüren zu lassen.
„Da sind vierkantige Vertiefungen die über weite Strecken exakt das gleiche Maß und keinerlei Kurven aufweisen. Es müssen Straßen für Unterwassergefährte sein oder sie sind Abnutzungsspuren von solchen, die sich dann über lange Zeiträume gebildet haben müssten. Natürliche Vertiefungen mit diesen exakten geometrischen Dimensionen gibt es nicht, oder kennst du welche? Auf Außerirdische muss ich wohl nicht ernsthaft eingehen, es ist ja wohl selbstverständlich, das Kreaturen die über solche Energieressourcen verfügten uns auch heute ohne weiteres kontaktieren könnten und wohl auch würden. Intelligentes Leben neigt zur Neugier und warum sollten sie unseren Meeresboden erforschen und dann wieder stiften gehen?“
„Interessant“, stutzte sie, „das von der geometrischen Gleichmäßigkeit der Vertiefung hast du so übrigens nicht in deinem Artikel vertieft.“
Sie schaute irritiert aber immer noch geradewegs in seine Augen. Er schielte wiederum verschämt zur Seite. Ihm wurde bewusst, sie hatte wirklich nur aus Neugier gefragt. Aber er war nun mal davon ausgegangen, dass es sich um die übliche Abwehrrhetorik handelte. Durch seine negativen Erfahrungen konnte er sich nicht mehr auf sein Anfangsgefühl verlassen. Nun fühlte er es: Sie musste seine Antwort als Rechthaberei interpretieren und das war ihm besonders unangenehm. Keine Ahnung wie er da wieder rauskommen konnte, senke er merklich seinen Kopf.
So gingen sie ein paar Schritte schweigend in Richtung Zentralgebäude. Dieses Gebäude war ein wenig klein geraten und kontrastierte so seine Funktion. Während sie über den Campus schritten, gab Laria exakte Anweisungen wo und wie man sich anmelden, vollstopfen, amüsieren oder sportlich betätigen konnte. Sie ließ sich auch allzu gern und ungefragt über die verbotenen Spielstätten aus, die Lapukon faszinierten ohne dass er sich vorstellen konnte, praktisch daran teilzuhaben. Offensichtlich schien sie ihm zuzutrauen, die umfangreichen Bildungsangebote selbst zu erkunden, jedenfalls erwähnte sie nichts, was damit in Verbindung stand. Schließlich erreichten sie den Wohnturm für Archäologen und Paläontologen. Lapukon hielt sich nicht lange mit der Inspektion seiner Wohnetage auf und erkundigte sich umgehend nach der Bibliothek. Die war sehr großzügig gestaltet und durch ihre Weitläufigkeit durchaus auch für einen Spaziergang geeignet. Das Interieur des flachen, ovalen Gebäudes sollte an den Glanz früherer Zeiten erinnern, da man die meisten Texte noch auf Papierrollen und Klappbücher schrieb. Im Allerheiligsten der Bibliothek, dem Lesesaal angekommen, war Lapukon erstaunt wie leer dieser war. Beherzt griff er nach einer Konserve über Tintenschnecken und fragte dabei beiläufig, warum sich kaum jemand hier aufhielt.
„Nun, das ist eine Bibliothek und nicht die Mensa“, Laria drehte sich vielsagend lächelnd um und wollte in Richtung Mensa starten. Lapukon reagierte aber nicht wie erwartet, sondern sichtlich irritiert. „Ich habe bereits im Großraumgleiter gegessen. Ich würde mich gern erst hier umschauen.“
„Schade, da muss ich wohl allein gehen“, nun war Laria irritiert.
„Nein, warte... ich könnte vielleicht ein Dessert vertragen. Hier soll es doch diese süßen Baumfrüchte geben, die, wenn man sie bei uns kauft immer nach einer bizarren Mischung aus schimmliger Seife und ranzigen, lauwarmen Maschinenöl schmecken. Ich meine, die würde ich gerne mal im Original probieren. Vielleicht ändert das ja meine Meinung über dieses Zeug.“ Laria lachte und Lapukon konnte einen Blick auf den zartrosa glänzenden Innensaum ihres kleinen Schnabels werfen.
„Ah, du meinst Riesenmelonen. Gut, dann folge mir und vielleicht erzählst du mir doch noch etwas mehr von deiner auf jeden Fall abgefahrenen Expedition.“
‚Abgefahren! ‘, dachte Lapukon und versuchte nach außen ein wenig Fassung aufzubauen.
Die Mensa war zweiteilig konzipiert. Ein kurzer ockerfarbener Zylinder war in einen meerwasserblauen Quader versenkt. Diese Konzeption erinnerte nicht von ungefähr an die sie umgebene Landschaft.
Der blaue Teil war lichtdurchlässig. Man sah das rege, innere Treiben und fühlte sich an einen Fischwarm erinnert. Dieser Schwarm machte sich nun auf zwei weitere Studenten einzuverleiben, ohne dabei sichtbar an Größe zu gewinnen.
Nach dem Essen, das auf viereckigen, metallisch überzogenen, polierten Steingut von ebenso metallischen und polierten Maschinen serviert wurde, bedankte sich Lapukon höflich. Noch nie vorher hat er eine so große Massenabspeisung gesehen. Das eigentliche Erlebnis blieb dabei seine Begleitung. Schon während der Verabschiedung sann er fieberhaft nach einer Möglichkeit, sie möglichst bald wiederzusehen. Auch war er nicht besonders begierig, seine Wohnung näher kennen zu lernen. Sie schien ihm dann auch gleich viel zu groß, zu ungemütlich. Kaum angekommen, lud er die Computerstation hoch und durchsuchte die Seiten seiner Fakultät. Aber er konnte Laria nicht finden. Auch ein illegaler Datenscheck über die Universitätsbank brachte nichts. Entweder war sie nur besuchsweise hier oder ihre Berufung brachte eine Spezialsicherung ihres Datensatzes mit sich. Diese Nacht musste aber auch aus einem anderen Grund schlaflos bleiben: Der nächste Tag schon konnte allentscheidend für seine Karriere sein. Völlig hin- und hergerissen zermarterte er sich sein Gehirn mit der ständigen Rekapitulation aller eventuell bevorstehenden Fragen im Bewerbungsgespräch und dem ständigen mentalen suchen nach Larias Aufenthaltsort.
Fältchen legten sich über Larias Augen, als sie die medizinische Fakultät betrat. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was sie an Lapukon so faszinierte. Er wirkte spröde, abweisend, unbeholfen und unsportlich. Ein Akademiker aus einer verstaubten Geschichte den nur ein Irrtum hierher verschlagen haben konnte, an eine Universität mit diesem Ruf. Einen Ruf, den man eben nicht durch kluge Ideen, sondern nur durch die geeigneten, imposanten Personen und eine aufwendige Publicity erreichen konnte. Wie auch immer, sie hoffte ihn bald wiederzusehen.
„Laria, du möchtest bitte noch einmal zum Studienleiter kommen. Die Seminare für das Abschlusstrimester der Neurosensoriker sind wohl eine völlige Fehlplanung. Der Chef tobt und sie waren wie immer nicht zu erreichen.“ Die nervöse Empfangsdame hatte Laria zu einem guten Teil wieder in die Realität zurückgeholt. Die anstehende Nachtschicht würde den Rest erledigen.
„Ach mein lieber Primus Injumat, setzen sie sich doch.“ Lapukon setzte sich. Schon seit Wochen hatte er auf diesen Moment gewartet, hatte sich perfekt vorbereit und alle Eventualitäten durchgekaut. Nun war die Tür zu und er saß. Das tat er auf seine Weise. Er schien dabei eine nur von ihm erspürte Schleudervorrichtung, durch Körperwiderstand in Balance halten zu wollen. Lapukon musterte den Chef der berühmtesten archäologisch-paläontologischen Fakultät. Er hatte schon als Kind von ihm gelesen. Damals war dieser Man die schillernde Gestalt eines öden wissenschaftlichen Betriebes. Seine Theorien zur Entstehung der Staaten waren revolutionär, aufregend und von einer Präzession wie man sie bis dato noch nicht gekannt hatte. Kein Zweifel, er hatte dem alten, zähen und wirkungslosen Wissenschaftszweig wieder Leben eingehaucht. Jetzt, Unzeiten später, hatte dieser Mann nichts an Ausstrahlung verloren. Er stand immer noch sehr gerade und die gelben Augen wirkten kaum trübe. Die ergraute Haut störte wenig, sie machte ihn nur seriöser. Das Alter und die familiären Schicksalsschläge konnten ihn seiner Würde nicht berauben.
Für den Moment war Lapukon erleichtert, dass keine erdrückende Schwermut das Gespräch in eine quälende Atmosphäre tauchte.
Auch der ebenfalls anwesende Assistent des Direktors Garnuka störte kaum. Garnuka war eine jener Wissenschaftler, die sich immer an wichtige Zeitgenossen hefteten und erst dann von ihrem Wirt abließen, wenn dieser ihnen die gewünschte Position verschafft hatte. Für jeden anderen wäre es eine nicht zu ertragende Demütigung gewesen, so übergangen zu werden und das auch noch mit ansehen zu müssen. Garnuka aber war immer auf alles vorbereitet. Er wartete auf seine Chance, die kommen musste. Alles andere schien er nur als Vorspiel zu registrieren, als Herausforderung die es zu meistern gilt. Während des Gesprächs, diesem unbedeutenden Bruchteil eben jenen Vorspiels, versteckte er sich gekonnt hinter einem feisten Grinsen.
„Ich muss sagen, eine solche Arbeit wie die ihre habe ich lange nicht mehr gelesen.“
Mit dieser Steilvorlage begann der Direktor das gängiger Weise immer noch strengen Protokollen unterworfene Bewerbungsgespräch ungewohnt locker.
„Oh danke, sehr freundlich Herr Direktor“, während Lapukons übereilt antworten wollte, vibrierten seine Arme aufgeregt.
Schließlich fuhr der Direktor doch in der erwartet altbackenen Weise fort: „Um es gerade her auszusagen, ich habe da gewisse Pläne mit ihnen, die einen jungen Oktiden wie sie vielleicht überraschen dürften, meiner Ansicht nach der Fakultät aber von größtem Nutzen sein könnten.“
Der Alte lächelte etwas verkrampft und schaute Lapukon dabei tief in die Augen. Der suchte offensichtlich nach Worten, hatte aber keine Chance welche zu formulieren. Ein Umstand, der ihm später die Rückschau erleichtern sollte.
Der Alte setzt sich auf einen blauen Doppelsitzer, der unter ihm knautschend nachgab, so als wäre es aus echtem Leder. Lapukon glaubte dennoch an einen speziell verarbeiteten Kunststoff, da Leder schon lange aus der Mode war. Das wusste er, da seine Mutter leider lange darauf schwor. Leder wurde aus der Unterhaut von großen Krebsen gewonnen und präsentierte sich meist in marmorierter, grünbrauner Musterung.
Der Direktor hatte seine feierliche Mine aufgesetzt. Seine ganze Erscheinung wirkte beängstigend heiter. Mit einer merkwürdigen Armbewegung schritt er zur Verkündigung seines Ansinnens: „Ich möchte, das sie die Leitung des Frühoktidenseminars übernehmen, Herr Primus Injumat. Sie sollen die Studenten für unsere Forschung begeistern. Exkursionen unter ihrer Anleitung werden wieder Schwung in diese beschissen lahme Fakultät bringen. Sie können sich voll auf mich verlassen. Ich habe noch ausgezeichnete Beziehungen zum Forschungsministerium. Finanzielle Probleme werden also nicht auftreten. Auch alle anderen Anliegen können sie jederzeit mit mir direkt besprechen. Für sie bin ich einfach immer erreichbar. Natürlich können sie auch auf meine Privatbibliothek, mein Sekretariat und sämtlich elektronische Speicher zurückgreifen. Und wenn irgendetwas sie bremsen sollte, lassen sie es mich einfach wissen. Für weitere Details steht ihnen mein Assistent Garnuka gern zu Verfügung.“
Alles war gesagt. Kurz. Ohne Hintertürchen. Nach Luft schnappend hatte der Alte seine Ausführungen beendet. Während des Dozierens hatte sich seine Stimme mehrfach überschlagen und sein Kopf war in einen deutlich besser durchbluteten Zustand übergegangen. Dennoch, Lapukon zeigte keinerlei Reaktion. Völlig überrascht saß er wie angenagelt auf seinem Sitz und starrte ins Leere. Woran dachte er? Vielleicht erinnerte sich an die vielen Gedankenspiele, die ihn auf diese Situation vorbereiten sollten. Vielleicht wunderte er sich einfach nur über die nahezu aufdringliche Art diesen großen Wissenschaftlers ihm dem unbekannten, kleinen, oft unbeholfenen und belächelten Niemand eine solche Anstellung anzubieten. Er selbst wusste nicht woran und ob er überhaupt an irgendetwas dachte.
Die Stille zog sich ins Unerträgliche, da wurden Lapukon endlich die Anstandsregeln klar, die es in der höheren Gesellschaft zu beachten galt. Es wäre ein nicht wieder gut zu machender stilistischer Fauxpas die Stelle sofort anzunehmen. Dennoch konnte er es kaum über sich bringen, eine solche, klare Sache zu verwässern.
Der Direktor hatte Lapukon keine Sekunde aus den Augen gelassen und studierte nun genüsslich jede Regung im Gesicht des von ihm so großzügig Beschenkten. Nachdem dieser sich gefasst hat, versteifte er sich auf die einfachste, mögliche Antwort: „Ich danke ihnen für diese ungeheure Ehre, die mir in dieser Form eigentlich nicht zusteht, dennoch bitte ich sie um eine kurze Bedenkzeit um meine Familie und meine Lehrer konsultieren zu können.“
„Selbstverständlich, mein hochgeschätzter Kollege. Ich erwarte ihre Antwort am ersten Tag des neuen Trimesters, hier pünktlich 4 Uhr.“
„Ich werde da sein, Herr Direktor und die besten Empfehlungen an ihre Familie.“
Der grinsende Garnuka beglückwünschte seinen Konkurrenten, was dieser kaum registrierte.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Lapukon war unsicher. War es wirklich vorbei? Hatte er bestanden? Wo waren die versteckten Fallstricke? Hatte er selbst es nicht bisher immer glänzend verstanden, sich gute Gelegenheiten zu vermasseln?
Eigentlich war es ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt zum Grübeln. Es war der Moment in einer oktidischen Karriere sich zu freuen, zu explodieren und die Welt zu umarmen. So viele Widerstände hatte er überwunden. Erniedrigungen und Ausgrenzung waren oft genug die Antwort auf sein wissenschaftliches Interesse. Ein Beschluss musste her. Ein Vertrag mit sich selbst sollte die letzten Zweifel tilgen. In diesem Moment beschloss Lapukon sich alle negativen Gedanken zu verbieten. Dieser Moment musste zur Ewigkeit werden.
Auf dem breiten Flur kam ihm tatsächlich genau jetzt Amano mit seiner Aura des Unbesiegbaren entgegen. Damit stach er immer noch klar aus der sonst so trüben Archäologengemeinschaft heraus.
Er rief schon von weitem: „Hi Lapi, alter Lehrbuchfetischist!“
Damit war die Ewigkeit erst einmal unterbrochen. Lapukon freute sich seinen alten Studienfreund wiederzusehen. So verschieden beide auch in ihren sozialen Beziehungen waren, sie liebten sich immer noch. Daran hatte auch der Tod Ewis nichts geändert und auch die Zeit seit der letzen Begegnung war wie ausgelöscht. Sie hatten viel zu viel erlebt. Die speziellen Mysterien über prähistorische Knochentiere kannten beide. Sie hatten bei ihrer ersten Expedition ein versteinertes Knochenschädelfragment eines zweibeinigen Wirbeltieres in der Nähe einer alten Feuerstätte gefunden. Merkwürdiger Weise waren die Rückstände der Verbrennung so alt wie das Knochenfragment. Damit war die Theorie von einer alten Siedlung von Oktiden vom Tisch. Für den Leiter der Expedition gab es nur eine Erklärung: Das Feuer war durch einen Blitzeinschlag zufällig entstanden und das prähistorische Knochentier war in den Flammen umgekommen. Die Freunde waren überrascht wie schnell sich alle mit dieser Erklärung zufrieden gaben, denn die Ausgrabung zeichnete eindeutig das Bild einer angelegten Feuerstelle. Lapukon war einen Moment in dieser Erinnerung gefangen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig befreien.
Denn im Moment wollte er einfach nur froh sein, sein Glück mit einem Weggefährten teilen zu können.
„Schön dich wiederzusehen, Amano.“ Sie umarmten sich.
„Bleibst du länger.“ Amano fragte das ehrlich bittend. Er versuchte die Antwort aus Lapukon Blick zu lesen, aber es war nahezu aussichtslos eine Gefühlsregung in den Augen eines stets introvertierten Lapukons zu ergattern.
„Ja sieht ganz danach aus.“ Plötzlich sprühten die eben noch so verschlossenen orangenen Augen. Jetzt erschrak Amano über den verzögerten Ausbruch. Vielleich hatte er kurz das Gefühl, er selbst oder zumindest seine körperlich Erscheinung wäre der Grund für diese überschäumende, freudige Erregung.
„Na komm erzähl schon, Lapi einem Talent wie dir wird doch fast Festes angeboten...“
„Ich habe ein unglaubliches Angebot…“
Amano verstand etwas enttäuscht und beruhigt zugleich, das ein unerwarteter Karriereschub der Grund für die Entladung des Lapukonschen Gefühlstaus war.
„Oh mein Phoni, natürlich Ma.“ Lapi schaute Amano vielsagend an.
„Ich gehe nachher noch in die Bibliothek, wie wär’s?“
„Gerne. Ich komme gleich nach... Hallo Ma, ja hat alles noch viel besser geklappt. Mir wurde die Leitung eines wichtigen Seminars angeboten. Die Stelle ist gut dotiert. Ach, der räumliche Abstand ist doch längst keine große Hürde mehr. Mein Flugmobil ist auch noch für mindestens 30 Monate gerüstet...“
Obwohl er kein besonders gutes Verhältnis zu seiner Mutter hatte, war sie doch bis jetzt der wichtigste Ansprechpartner für ihn. Sie hatte ihn immer unterstützt, auch wenn sie freilich keinen Schimmer hatte, was er da tat. Irgendwie hatten beide gelernt mit der Situation umzugehen und so gab es zumindest häufige Telefonate mit meist versachlichten Gesprächen. Auch diesmal wusste sie nicht welche Bedeutung diese Anstellung für ihren Sohn hatte. Allein aus seiner Erregung konnte sie es aber eindeutig heraushören. Und so sprang diesmal seine Freude auf sie über. Aber sein Herz schien sich nur zum Teil zu öffnen. Er bedankte sich und bemerkte dabei schnell, dass seine Mutter gern mehr über die letzten Tage wissen wollte. Also berichtete er über seine Ankunft, die Bibliothek, die Mensa, das Wetter und was ihm noch so einfiel. Seine Mutter mochte keine Bildprompter, so musste Lapukon an ihrer Stimme den Grad ihrer Zufriedenheit bemessen.
Nach dem Lapukon seiner Pflicht Genüge getan und der nun endlich ermüdeten Mutter alles in kleinsten Einzelheiten widergegeben hatte, eilte er in die Bibliothek.
Amano zeigte ihm die Schätze der Universität. Zwei uralte Ausgaben von Andero über die Entstehung des Lebens.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2013
ISBN: 978-3-7309-2483-9
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