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Buchbeschreibung

Buchbeschreibung

Der Selbstmord eines geliebten Menschen ist für jeden Hinterbliebenen eine schmerzhafte Erfahrung. Zwei junge Frauen aus Berlin setzen ihrem Leben ein jähes Ende. Daniels Schwester ist eine von ihnen. Grade zurückgekehrt von ihrer New York – Reise, war sie ein lebensfroher Mensch, der keinen Grund hatte, mit der Zukunft zu hadern. Daniel will wissen, warum seine Schwester sich dennoch das Leben nahm. Aber die beiden Frauen sind nicht die Einzigen. Auch in Amerika nimmt sich ein junger Mann das Leben. Wie bei Lena und ihre Freundin, gab es auch bei ihm keinerlei Gründe. Und wie Daniel, so will auch dessen Vater, Sherriff in Medows Creek verstehen, was seinen Sohn zu solch einer Tat getrieben haben könnte. Doch schon bald ändert sich die Fragestellung. Es ist nicht mehr die Frage nach dem WARUM, der Daniel und Conner nachgehen, sondern der Frage nach dem WIE und WER. Wie können junge Menschen in den Selbstmord getrieben werden und wer kann das getan haben? Um endlich zur Ruhe kommen zu können, müssen Daniel und Conner hinunter tauchen, in die Tiefen eines genialen aber durch und durch kranken Geistes.

 

Über den Autor

Sibylle Meyer ist 1960 in Berlin geboren. Sie erlangte 1976 die mittlere Reife und hat zwei Berufe erlernt. Schon immer hat sie gerne gelesen und auch selber Geschichten zu Papier gebracht. Ihr erstes Buch veröffentlichte sie im Jahr 2008.

 

 

 

 

 

 

Sibylle Meyer

 

 

 

 

 

 

Klang des Todes

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erscheinungsdatum 24.11.2017

 

 

 

Copyright : Sibylle Meyer

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Matthias Müller – www.pho2gra4.de

Korrektorat: Sabine Jaensch

I

 

 

Klang des Todes

Lena saß auf dem noch warmen Gras und schaute ruhig auf den See. Sie saß nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Schon oft war sie hier gewesen, war in dem See geschwommen und hatte mit ihren Freunden am Grasstrand gesessen. Seit sie hier hergezogen waren, war sie auch öfter schon nachts hier gewesen. Mit ihren Freunden. Aber heute Nacht war sie zum ersten Mal allein. Sie schloss die Augen, lauschte in die Nacht. Es war so friedlich! Tagsüber, vor allem an solch heißen Tagen, wie es heute einer gewesen war, war hier der Teufel los. Die Stimmen von spielenden und schreienden Kindern und Erwachsenen, die sich unterhielten, vermischten sich zu einer einzigartigen Geräuschkulisse. Beinahe wie ein Konzert. Auch jetzt war es nicht still. Nur die Akteure hatten gewechselt. Jetzt wurde das Konzert von Grillen und den Tieren der Nacht gegeben. Lena lächelte entzückt. Neben ihr stand ein roter Trinkbecher aus Kunststoff. Das Getränk darin hatte Lena sich schon vor einer halben Stunde gemixt. Noch hatte sie keinen Schluck davon genommen. Sie hatte das einzigartige Flair dieser Nacht noch einmal genießen wollen. Doch jetzt wurde es Zeit. Sie nahm den Becher, schloss die Augen und zwang sich den bitteren Inhalt hinunter zu schlucken. Als sie zu würgen begann, setzte sie kurz ab, atmete tief ein und aus und konzentrierte sich, um den Drang, alles wieder von sich zu geben, zu unterdrücken. Dann setzte sie den Becher neu an und trank auch den Rest aus. Erst jetzt gestattete sie sich, einen Schluck des süßen Bananensaftes hinterher zu kippen. Aber der bittere Geschmack ließ sich nicht so schnell wieder loswerden. Also trank sie noch einen Schluck Bananensaft, behielt einen weiteren Schluck im Mund und spülte damit den Geschmack wenigstens etwas weg. Wieder erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie sah zum See, dessen Wasseroberfläche still und einladend wirkte.

Für den Inhalt des Plastikbechers war Lena heute durch die Stadt gezogen. 70 Schlaftabletten hatten sich in dem Becher befunden, aufgelöst in süßem Bananensaft. Es waren zwar keine Verschreibungspflichtigen darunter gewesen, aber Lena war nicht so dumm, zu denken, dass es auch nur einen Apotheker gab, der ihr sieben Packungen Schlaftabletten verkauft hätte. So war sie in verschiedenen Apotheken gewesen. Immer hatte sie dieselbe Geschichte erzählt. Ihre Mutter hätte starke Schwierigkeiten einzuschlafen, und weil sie dadurch schon so geschwächt war, hatte sie sie gebeten, ihr eine Packung zu besorgen. Niemand hatte sie nach ihrem Ausweis gefragt. Bereitwillig waren ihr die Tabletten verkauft worden. Lena seufzte, wie jemand der eine schwierige Aufgabe mit Bravour gemeistert hatte. Aber jetzt war keine Zeit mehr, über irgendetwas nachzudenken. Sie wusste nicht, wie lange die Tabletten brauchen würden, bis sie ihre Wirkung entfalteten. Wenn sie erst wirkten, da war sie sich sicher, war sie vermutlich nicht mehr in der Lage das zu tun, was sie tun wollte. Sie wollte in ihren See. Die letzten Minuten ihres Lebens wollte sie in seinem Wasser verbringen. Also stand Lena auf und lief langsam zum Wasser runter. Plötzlich war da etwas! Erschrocken fuhr sie herum. Blickte hinter sich. Da war … Nichts! Entschlossen ging sie weiter. Schon nach einigen Sekunden erschrak sie wieder. Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle. Etwas hatte sie berührt. An den Füßen. Lena sah hinab. Es war nur das Wasser, das sie viel schneller erreicht hatte als sonst. Sie zog die kühler werdende Nachtluft ein und ging weiter. Das Wasser stieg an. Wieder fuhr sie erschrocken zusammen. Der Wind hatte ihr Haar berührt, aber Lena hatte diese leichte Brise wie etwas wahrgenommen, das an ihrem Kopf zog. Sie blinzelte. Das Wasser reichte ihr ja bereits … Nein, sie schwamm ja schon. Wie war sie so schnell so tief hineingekommen? So also war das. Sie begriff, dass die Wirkung bereits eingesetzt hatte. Das Nächste, was sie bewusst wahrnahm, war, dass sie sich unter Wasser befand. Hastig kämpfte sie sich wieder nach oben. Nur schemenhaft erinnerte sie sich, dass das ja eigentlich das war, was sie vorgehabt hatte. Doch nachdem sie das nächste Mal Wasser schluckte und nur noch mit Mühe sich aus der Tiefe hinauf kämpfte, konnte sie nicht mehr denken. In diesen Minuten wollte sie nur noch raus. Aber wo war raus? Ihr Hirn weigerte sich, ihr die Auskunft zu geben, die sie doch unter normalen Umständen gar nicht erst hätte abfragen müssen. Lena spürte nicht einmal, wie sie absackte. Sie war einfach plötzlich in der Tiefe. Sie kämpfte weiter. Doch ihre Bewegungen wurden langsamer und dann war da nur noch Schwärze. Sie sank dem Grund entgegen. Oder war sie sogar in seine Richtung geschwommen? Ihre Gedanken setzten aus. Jetzt war es egal. Lena merkte nicht mehr, wie sie das Wasser atmete. Obwohl ihre Atmung nur noch schwach war, reichte sie aus, um das Wasser in ihre Lungen zu transportieren. Sie starb, während ihr Körper von den Wasserpflanzen umarmt wurde.

Jayden

„Machst´ Feierabend?“ Taylor Conner tippte sich kurz an die Hutkrempe und lächelte freundlich. „Hey Sunny. Ja ist heut nicht viel zu tun.“ „Mach das und grüß deine Familie von mir!“ Taylor mochte Sunny. Sie war schon mindestens siebzig, aber noch immer der Chef im Laden. Der Familie von Sunny gehörte das Diners Inn auf der anderen Straßenseite. Sie hatte zwei Söhne, die auch schon an die fünfzig sein mussten, aber trotzdem noch nach Mamas Pfeife tanzten. Was vielleicht nicht mal das Schlechteste war. Zumindest wenn es nach Taylor ging.

Er griente noch mal in seinen nichtvorhandenen Bart und stieg in seinen Mercury. Eigentlich hätte er das Auto gar nicht gebraucht, aber er wollte schnell nach Hause und er hatte vor allem keine Lust überall stehen zu bleiben, um sich mit irgendwem über Belanglosigkeiten zu unterhalten. Hier in Meadows Creek wäre das zu Fuß ein Ding des Unmöglichen.

Meadows Creek war eine kleine Ortschaft, etwa vier Autostunden von der äußeren Grenze von New York City entfernt. Aber hier war alles anders als in der City. Die Ortschaft hatte gerademal 300 Einwohner, wenn man es genau nahm, dann nur 298, und da war eben alles ein wenig familiärer. Da konnte man nicht einfach so mal eben schnell durch das Dorf laufen, ohne mindestens einmal angesprochen zu werden. Vor allem nicht er. Denn Taylor war hier der Sheriff. Meistens schaffte er seine Arbeit allein, aber es gab auch Zeiten, da wuchs das Dorf schlagartig an. Ferienzeiten. Da schien Meadows Creek regelrecht zu explodieren. Es wimmelte dann hier von jungen Leuten geradezu. Vor allem Eltern, die nicht über das nötige Geld verfügten, und solche, die es gar nicht wollten, schickten ihre Teenager gerne in den Ferien hier her. Vor allem aus New York City. Aber auch aus anderen Teilen des Landes kamen die jungen Urlauber, sogar seit einiger Zeit ein paar aus Europa oder Asien. Diese Leute wollten sich die City ansehen, aber da die Übernachtungskosten hier so weit unter dem Limit von New York lagen, übernachteten sie einfach hier. Dem Dorf tat das gut. Viele der Bewohner lebten fast ausschließlich vom Tourismus. So gehörten, trotz der geringen Größe des Dorfes, auch zwei Diskotheken, drei Bars, zwei Hotels, einschließlich des Diners Inn, ein Sportplatz mit Kegelbahn und so einige Restaurants zum Dorf. Eigentlich war das alles nicht schlecht, aber es war nun mal so, dass in diesen Zeiten hier der Bär tanzte. Oh Gott, Taylor grunzte vor sich hin. In den letzten Wochen hatte er so viele Arbeitsstunden geschoben, wie im ganzen letzten Jahr nicht mehr. Obwohl er für diese Zeit zwei Helfer hatte. Allein wäre das ganze Tohuwabohu gar nicht zu schaffen gewesen. Ständig angetrunkene Kids, die glaubten, dass allein Muskelkraft sie zu Königen werden ließ. Trotzdem genoss Taylor diese Zeit. Aber eigentlich nicht wegen den zusätzlichen Einnahmen oder der Abwechslung, die diese Ferien nach Meadows Creek brachten, sondern eher wegen seinem Sohn. Denn Ferien hieß auch, das Jayden nach Hause kam. Er studierte Medizin am Albany medical College in Albany. Da hatte er während des Studiums wenig Zeit, um nach Hause zu kommen. Aber in den Ferien war Taylors Familie wieder zusammen. Medizin, dachte Taylor, und sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Er dachte daran, wie überrascht er damals war, als Jayden ihm eröffnete, dass er studieren wollte. Medizin! Tja, Taylor wusste auch noch, wie schwer er sich damit getan hatte, denn eigentlich war er die ganzen Jahre davon ausgegangen, dass sein Sohn, wenn nicht der nächste Sheriff hier, so doch auf jeden Fall etwas im Polizeidienst machen würde. Als sich schon in den ersten Schuljahren gezeigt hatte, dass Jayden einmal studieren würde, da dachte Taylor doch an Rechtswissenschaften. Auf keinen Fall hatte er damit gerechnet, dass sein Sohn einmal Arzt werden wollte. Taylor schüttelte über sich selbst den Kopf. Dr. Conner! Tja, nun sah es eben so aus, als wenn der nächste Arzt hier aus der Connerfamilie kommen sollte. Auch kein so schlechter Gedanke, dachte er und grinste erneut. Überhaupt war er heute wirklich gut drauf. Aber jetzt fuhr er auf die Kiesfläche vor seinem Haus und schaltete den Motor aus.

Drinnen duftete es schon nach Hotdog und köstlichem Cheescake. Taylor umarmte seine Frau in der Küche. „Hey Darling. Du kochst?“, fragte er, obwohl er es ja eigentlich schon wusste. Klar, schließlich war ja auch Jayden da! Emely stellte sich auf die Zehenspitzen, obwohl sie das ja gar nicht gemusst hätte, denn sie war ja fast so groß wie er und erwiderte seinen Kuss.

„In einer halben Stunde ist alles fertig. Du kannst dich ja so lange etwas entspannen.“Damit gab sie ihm einen zärtlichen Stups vor die Brust und bugsierte ihn aus der Küche. Sollte ihm recht sein! Taylor ging in sein „Heimbüro“, wie er den Raum nannte, der nur ihm allein gehörte. Hier machte er sozusagen seine Schularbeiten, eben Dinge, die er im Büro nicht mehr geschafft hatte, oder einfach keine Lust dazu gehabt hatte. In der Mitte stand ein wuchtiger Schreibtisch, mit einem bequemen Bürostuhl dahinter. Aber es gab auch ein kleines Sofa, das zwei Personen Platz bot, einen Sessel und einen niedrigen Tisch. Außerdem stand hier auch ein Fernseher. Nur für den Fall, dass er einmal eine Sendung sehen wollte, die seine Frau nicht ausgesucht hatte. An zwei Wänden befanden sich Regalschränke. In einem waren Akten, Bücher mit Gesetzestexten und eben solche Dinge. Aber der andere enthielt sein Hobby! Jagdgewehre. Taylor war ein passionierter Jäger, und er liebte seine drei Gewehre. Nicht dass er ein brutaler Mensch war; er liebte selbst an der Jagd das Anschleichen und Warten, bis das gewünschte Tier endlich auftauchte, mehr als das Schießen. Aber trotzdem waren die drei Gewehre sein ganzer Stolz. Zwei Sauer und eine 357 Magnum. Taylor besah sich die Waffen, griff dann nach einer Sauer und nahm sich das Pflegemittel, das er im selben Schrank aufbewahrte. Seine Dienstwaffe, eine Beretta 92, befand sich noch im Halfter, das er jetzt achtlos auf den Couchtisch warf. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, stellte sein Waffenöl und einen Lappen darauf ab, und widmete sich dem Gewehr. Taylor hätte selber nicht zu sagen vermocht, weshalb ihn diese Tätigkeit so entspannte. Aber genau so war es. Er liebte es mit dem, mit Waffenöl durchtränkten Lappen, das Holz der Sauer einzureiben, bis es glänzte. Vermutlich hatte er diese Macke seinem Vater zu verdanken, dachte Taylor, denn der hatte ebenfalls eine Sammlung gehabt. Nur dass die seines Vaters viel größer war. Eigentlich waren drei Waffen ja auch keine Sammlung. Das musste er schon zugeben. Auch wenn er bei seinen Freunden das gerne anders erzählte.

In dem Moment hörte er die Haustür gehen. Sein Sohn war also gerade nach Hause gekommen. Taylor rechnete fest damit, dass Jayden sofort in die Küche ging, denn der schien immer vor Hunger zu sterben. Aber stattdessen kam er zu ihm. Er lächelte und wirkte irgendwie glücklich, als er so da stand.

„Hey Junge. Na, du strahlst ja so. Hast du etwa ein Mädchen kennengelernt?“, fragte Taylor und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. Jayden antwortete nicht. Auch gut, dachte er. Der Junge wird schon mit der Sprache rausrücken, wenn er es für wichtig hält. Doch nachdem einige Minuten vergangen waren und noch immer kein Ton von seinem Sohn kam, sah Taylor wieder zu ihm hinüber. Noch immer grinste er über das ganze Gesicht. Es lag ein Strahlen in seinen Zügen. Anders hätte Taylor es nicht ausdrücken können. Was war nur los mit ihm? Vielleicht war der Junge wirklich verliebt? Alt genug war er ja schließlich. Mit 22 hatte Taylor selbst ja schon seine Mutter gekannt. Und geliebt. Jayden sah ihn nicht an, sondern sein Blick schweifte verträumt über den Tisch. Dann griff er zu Taylors Halfter und zog die Beretta hervor. Er drehte die Waffe in seiner Hand und lächelte noch immer. Eigentlich hatte Taylor sich das immer gewünscht, dass sein Sohn etwas mehr Interesse an Waffen zeigte. Einfach nur, weil es zu seiner Familie gepasst hätte. Aber diesmal … „Gefällt sie dir? Pass aber auf, die ist geladen. Wenn du dich doch neuerdings für Waffen …“ Weiter kam er nicht. Es ging alles so schnell. Und doch sollten die nächsten Sekunden sich in Taylors Kopf einbrennen, als wäre alles in Zeitlupe abgelaufen.

Jayden winkelte seinen Arm an, entsicherte die Waffe, und öffnete den Mund. Er nahm den Lauf zwischen die Lippen, ohne dass sich sein Lächeln veränderte. Jayden drückte ab! Sein Kopf explodierte förmlich. Blut und eine grauweiße Substanz spritzten augenblicklich durch den Raum. Jaydens Körper knickte zuerst in den Kniekehlen ein. Ganz langsam. Dann erst schlug er hart auf dem Boden auf. Taylor saß wie versteinert. Er hörte eine Frauenstimme schreien. Seine Frau. Er sah sie an der Tür stehen, die Hände nach vorne gestreckt, rannte sie auf den toten, blutverschmierten Körper zu, der einmal sein Sohn gewesen war.

„Jaaaaaayden! Oh mein Gott. Tu doch was“,schrie sie. Taylor sah, wie auch ihre Hände jetzt blutig waren. Mit diesen blutigen Händen fuhr sie sich in die Haare, ließ ihren Oberkörper nach vorne kippen und weinte. Und schrie. Und weinte.

Taylor konnte nichts tun. Er begriff nicht einmal, was wirklich geschehen war. Seine Beine, seine Arme, alles war gelähmt. Er konnte nur dasitzen und starren. Irgendwann nahm er wahr, dass Polizei und Ärzte und Sanitäter im Raum waren. Er wurde etwas gefragt. Aber sein Hirn weigerte sich, die Frage auch nur zu verstehen. Er wurde raus geführt. Er konnte seine Frau nicht sehen. Wo war sie? Er wollte fragen, aber er brachte einfach keinen Ton heraus. Er wollte sich nach ihr umsehen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Sein Hals blieb starr. Genau wie sein Körper. Ein Hubschrauber stand vor seinem Haus und Taylor wurde zu ihm gebracht. Als er eingestiegen war, fühlte er wie der Mann, der ihn drinnen in Empfang genommen hatte, seinen Arm ergriff und im irgendetwas injizierte. Dann wurde alles auf einmal unnatürlich leicht. Taylor wurde ins Krankenhaus nach New York gebracht, während andere die Leiche seines Sohnes in die Pathologie brachten und er war noch im Krankenhaus, als wieder andere Leute sein Blut von den Wänden wuschen.

Berlin

Daniel Schuster war gerade dabei seine kleine schwarze Werkzeugtasche zusammenzupacken, als sein Handy klingelte. Ein kurzer Blick aufs Display zeigte ihm, dass er rangehen musste. Er sah seinen Kunden, den Chef des Internetkaffees, entschuldigend an. „Mein Chef. Geht gleich weiter.“ „Mike, was gibt´s?“ „Wo bist du grade?“, fragte sein Chef. „Noch im I-Cafe. Aber bin gleich fertig. Dann fahre ich zu Vorwerk.“ „Nein, lass das mal. Andreas übernimmt Vorwerk. Komm bitte gleich in die Firma. Bis dann.“ Damit hatte Mike aufgelegt. Daniel runzelte die Stirn. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Erst war der Kunde dran. Nachdem Daniel sämtliche Erneuerungen, die er durchgeführt hatte, dem Kunden erklärt hatte, machte er sich auf den Weg. Er stieg in seinen Firmenwagen, einen weißen Smart, und machte sich auf zur Firma. Er arbeitete bei „Faster away - Kundenservice", einem Service Dienst für Computerdienste.

Während der Fahrt überlegte Daniel nun aber doch, weshalb er in die Firma kommen sollte, anstatt sich um seinen Kunden zu kümmern. Gerade Vorwerk! Da würden sie doch schon trommeln. Angst, dass er bei seiner Arbeit einen Fehler gemacht hatte, brauchte er nicht zu haben. Seine Systeme, die er installiert hatte, genau wie die Netzwerke, die er betreute, funktionierten einwandfrei. Also sollte auch kein Kunde unzufrieden sein. Warum also dann?

Mikes Stimme hatte seltsam ernst geklungen. Das fiel ihm erst jetzt, im Nachhinein, auf. Normalerweise war Mike immer lustig drauf. Was war also los? Wenig später parkte er den Smart auf dem Firmenparkplatz und steuerte das lang gestreckte, einstöckige Gebäude an, indem sich die Räumlichkeiten von Faster away-Kundenservice befanden. Conny, die als Sekretärin hier arbeitete, begrüßte ihn nur nickend und deutete aufs Büro des Chefs. Daniel klopfte und trat ein. „Was gibt´s denn so Dringendes?“ Daniel griente seinen Chef an. In dem Moment bemerkte er erst, dass Mike nicht allein war. Zwei Kunden waren mit ihm im Büro. Sie starrten ihn an. Daniel nickte beiden zu.

„Ich warte dann mal draußen“, sagte er und wollte schon wieder die Tür von außen schließen. Bei neuen Kundengesprächen hatte er nichts zu suchen. War doch so, oder? Doch er wurde überrascht, denn Mike hielt ihn am Arm fest. „Warte. Ich geh raus.“ Na nu, was sollte das denn? Sollte etwa er dieses Kundengespräch führen? Allein? Er blickte wieder die beiden Männer an, die noch immer nichts gesagt hatten. Daniel zog die Augenbrauen zusammen. Etwas stimmte nicht! Diese Beiden sahen nicht aus wie Kunden. Was also … „Herr Schuster? Mein Name ist Lehmann und das ist mein Kollege Nawotzki“, sagte der ältere der beiden und hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. Polizei? „Was kann ich für sie tun?“ Blöde Frage! „Sie sind der Bruder von Lena Schuster?“, fragte der Polizist in Zivil weiter. Daniel nickte. „Setzten sie sich bitte. Wir haben leider eine …“ Weiter ließ Daniel den Mann nicht kommen. „Was ist passiert? Sagen sie schon, ist meine Schwester etwa … vergewaltigt worden? Hat sie was angestellt? Hatte sie einen Unfall?“, sprudelten die Fragen aus ihm heraus. Er hasste es, wenn jemand versuchte, um den heißen Brei zu reden! „Setzten sie sich. Ich erzähle ihnen ja alles.“ Der Typ sprach wirklich erst weiter, als Daniel saß. „Ihre Schwester ist tot.“ Dieser eine Satz. Dann Schweigen. Daniel riss die Augen auf. Das konnte nicht sein! Quatsch! Er lachte auf. „Nein, da irren sie sich. Lena geht es gut.“ Aber seine Stimme klang seltsam. So, als wolle sie nicht glauben, was er da erzählte. Aber so musste es sein. Verdammt! Er musste Ruhe bewahren. „Wie ist es …?“ Anstatt zu antworten, fragte der Ältere weiter: „Wir konnten leider nur Sie ausfindig machen. Wo sind Ihre Eltern? Leben Sie auch in Berlin?“ Daniel zuckte die Schultern. „Sind tot.“ „Haben Sie noch andere Verwandte? Tanten? Onkel? Großeltern?“ „Nein.“ Verdammt, was sollte das? „Es gibt nur mich und meine Schwester. Also sagen Sie mir jetzt, was passiert ist?“ Die beiden Polizisten sahen sich an. Diesmal antwortete der Jüngere. „Ihre Schwester hat sich das Leben genommen.“ Diesmal lachte Daniel wirklich. Nein, nein, nein. „Das ist völliger Quatsch. Sie verwechseln da wirklich was.“ „Wir haben ihre Tasche gefunden, mit leeren Verpackungen von Schlaftabletten. Stand am Strand. Und wir haben ihre Leiche aus der Krummen Lanke geborgen.“ „Neiiiin!“ Diesmal schrie Daniel auf. Ohne es verhindern zu können, hatte seine Hand nach der kristallenen Bonbonschale gegriffen, die vor ihm auf dem Tisch stand. Mit aller Wucht holte er aus. Es krachte, als die Schüssel auf die gegenüberliegende Wand traf. Eine der harten Ecken hatte eine Delle in die Wand geschlagen, aus der jetzt leicht der Putz rieselte. Die Polizisten sprangen zurück, um dem Geschoss aus dem Weg zu gehen, und gleich wieder vor. Augenscheinlich dachten sie, dass er jetzt vollkommen ausklinken würde. Aber Daniels Wut war weg. Sein Körper sackte regelrecht in sich zusammen, er verschränkte die Arme auf den Knien und sein Kopf sackte herab. Wie bei einer Gummipuppe. Seine Schultern zuckten. Er weinte. Nein, er weinte nicht. Er heulte, wie er noch nie in seinem Leben geheult hatte!

Die Polizisten gaben ihm Zeit. Sie standen nur da, versuchten ihn nicht so offensichtlich zu beobachten und ließen ihn gewähren. Nach einer Weile hatte er es geschafft. Der Heulkrampf war vorüber. Normalerweise wäre ihm so ein Ausrutscher peinlich gewesen. Doch diesmal nicht. Er blickte die beiden Männer fragend an. „Aber wieso?“, fragte er wieder hilflos. Der Ältere zuckte die Schultern. „Ihre Schwester war siebzehn? Ein schwieriges Alter manchmal“, antwortete er ohne Überzeugung. „Und sie haben wirklich nichts bemerkt? Dass sie Sorgen hatte? Dass ihr etwas so sehr zugesetzt hat?“ Daniel schüttelte den Kopf. „Nein. Nichts. Sie schien glücklich zu sein. Lena war erst seit zwei Tagen wieder zuhause. Sie war in New York. Sie war so begeistert gewesen, als sie mir von dem Urlaub erzählt hat. Ich verstehe einfach nicht …“ wieder musste er abbrechen, weil ein Schluchzen seine Stimme lähmte. „USA? Teuer. Was hat sie gearbeitet?“ Daniel verstand. „Lena hatte die Schule erst beendet gehabt. Wir hatten geerbt. Ziemlich viel Geld. Weil Lena noch nicht volljährig war, konnte sie über ihren Anteil noch nicht bestimmen. Ich habe ihre Reise bezahlt.“Er zuckte die Schultern. „Unterschrieben habe ich auch. Sie hatte sich so sehr gewünscht, New York zu sehen. Schon als Kind hat sie davon geträumt.“ Der Polizist schaute ihn mitfühlend an. „Ich denke, sie brauchen erst mal Zeit. Wir bringen sie nach Hause. Wenn sie sich besser fühlen, dann kommen sie doch bitte aufs Revier. Sagen wir am Donnerstag? Vielleicht wissen sie dann auch den Grund.“ „Woher?“ „Die meisten Menschen schreiben einen Abschiedsbrief. Wirklich grundlos machen so etwas die wenigsten Menschen. Kommen Sie.“ Daniel nickte stumm. Der Polizist machte eine unterstützende Handbewegung, als er das Büro verließ. Sein Chef stand mit drei anderen, die hier arbeiteten, nicht weit von der Tür. Mitfühlende Blicke trafen ihn und schnitten tief in seine Seele. „Daniel, es tut mir so leid. Melde dich, wenn ich dir helfen kann. Ok? Bleib zu Hause, solange du´s brauchst. Ok?“, sagte sein Chef und nickte ihm traurig zu. „Danke.“ „Wir fahren Herrn Schuster nach Hause. Sein Auto kann hier stehen bleiben?“, sagte der Polizist. Sein Chef nickte. „Natürlich.“

Wenig später stand Daniel vor dem Haus, in dem er zusammen mit Lena wohnte. Die Polizisten wollten ihn erst bis in seine Wohnung begleiten, doch er hatte das abgelehnt. Er brauchte Zeit. Jetzt stand er vor dem Haus, wandte sich ab und lief die Straße hinunter. Er wollte nicht nach oben; er konnte sich einfach nicht vorstellen, die Wohnung jetzt zu betreten. Daniel hatte das Gefühl, als wenn irgendetwas ihn am Atmen hindern wollte. Dort oben würde ihm vermutlich die Luft ganz und gar wegbleiben. Doch dann dachte er daran, was der Polizist gesagt hatte. Niemand tat so etwas ohne Grund! Was, wenn dort oben, im gemeinsamen Wohnzimmer, in der Küche oder sogar in ihrem Zimmer ein Brief darauf wartete, von ihm geöffnet zu werden? Der Abschiedsbrief. Es wären ihre letzten Zeilen, die letzten Worte, die sie für ihn hätte. Daniel schluchzte auf. Seine Hände krampften sich zu Fäusten und seine Knie zitterten wieder. Es wäre ihm egal gewesen, wenn ihn jetzt Leute so gesehen hätten, aber die Straße war leer. Niemand würde sehen, wenn er sich jetzt einfach fallen lassen würde, um über den kühlen Pflastersteinen zu heulen. Daniel schluckte. Doch dann straffte er sich wieder und zwang seinen Körper dazu, weiter zu laufen. Diesmal aber wieder auf das Haus zu. Er musste einfach wissen, warum Lena es getan hatte! Wenn es einen Brief gab, so musste er ihn einfach lesen. Mit jeder Stufe, die er nahm, zitterten seine Beine mehr. Als er in ihrer Wohnung angekommen war und er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, blieb Daniel stehen. Im Flur hing ein großer Spiegel, den Lena einmal gekauft hatte. Weiß der Teufel, warum sie ausgerechnet hier im Flur so einen riesigen Spiegel brauchte, aber da hing er nun und zeigte Daniel ein Gesicht, das er so kaum wiedererkannte!

Als er heute früh die Wohnung verlassen hatte, hatte sein Spiegelbild einen ausgeschlafenen, jungen Mann gezeigt. Doch jetzt? Seine Haut wirkte fahl und unter roten Augen hatten sich dunkle Ringe abgesetzt. Es wunderte ihn, dass sein fast schwarzes Haar nicht grau geworden war, so sehr ähnelte er jetzt einem alten Mann. Doch darüber machte er sich keine Gedanken. Nichts war jetzt so unwichtig wie sein Äußeres. Er musste nach diesem Brief sehen! Und das musste er schnell tun. Denn er musste aus der Wohnung wieder raus. Lange würde er das hier nicht durchstehen. Daniel schrie auf. Er hielt es kaum aus, hier zu sein und zu wissen, dass seine Schwester das niemals mehr tun würde. Alles hier atmete regelrecht Lena aus. Überall war sie zu spüren. Ihre lustige, freie Art, ihr übersprudelndes Temperament, ihre verträumten Gesichtszüge. Daniel konnte all das in beinahe jedem Quadratmillimeter der Wohnung erkennen. Genau genommen 104 m², bestehend aus einem Wohnzimmer, das sie gemeinsam genutzt hatten, Lenas eigenem Zimmer, seinem Schlafzimmer und einem Raum, den er als Arbeitszimmer nutzte. Ferner gehörten eine Küche, ein Badezimmer, das beinahe ausschließlich Lena genutzt hatte und ein Duschraum dazu. Die Wohnung hatte er vor etwas über einem Jahr gemietet. Da sein Chef der Vermieter war, hatte er einen günstigeren Mietvertrag abschließen können, als die anderen Mieter des Hauses. Erst nachdem er eine so große Wohnung vorweisen konnte, einen gültigen Arbeitsvertrag hatte er da schon seit vier Jahren in der Tasche, hatte man ihm erlaubt, seine Schwester zu sich zu holen. Sie waren beide Heimkinder gewesen, und da er fünf Jahre älter als Lena war, hatte er dementsprechend vorher bereits auf eigenen Beinen gestanden. Lena war das Einzige gewesen, das er jemals als Familie gekannt hatte. An seine Mutter konnte er sich zwar noch schwach erinnern, aber sie war ihm egal geworden. Er selbst war fünf Jahre alt, Lena gerade mal ein Baby von drei Monaten, als das Jugendamt sie aus der Wohnung seiner Mutter geholt hatte. Nur ungern dachte Daniel an diese Zeit zurück; warum tat er es dann jetzt? Lenas Tod schmerzte doch schon genug, warum tat er es sich dann noch an, die Erinnerungen zuzulassen? Ihre Mutter war damals alleinstehend gewesen, seinen Vater hatte er nie gekannt. Sie waren oft umgezogen, und er hatte immer das Gefühl gehabt, dass seine Mutter lieber ohne ihn gewesen wäre. Aber als dann noch Lena zur Welt kam, und auch diesmal gab es keinen Mann in ihrem Leben, war alles noch viel schlimmer geworden. Daniel dachte daran, wie ihm seine Mutter gezeigt hatte, wie man die Babynahrung zubereitete und die Windeln wechselte. Danach war sie oft ausgegangen und erst spät in der Nacht hatte er dann gehört, wie sie nach Hause gekommen war. Bis zu jenem Tag. Er hatte auf das Geräusch der Tür gelauscht, aber er hatte es nicht gehört. Auch am nächsten Tag war sie nicht aufgetaucht. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, um seine kleine Schwester zu versorgen. Vermutlich hatte er es, mit seinen fünf Jahren, gar nicht so schlecht gemacht, denn Lena war ruhig gewesen. Er selbst aß das alte Brot, bestrichen mit Margarine, einmal, so erinnerte er sich, hatte er versucht, sich Eier in der Mikrowelle zu machen. Es hatte geknallt und gefunkt, die ganze Küche hatte bestialisch gestunken, aber etwas Warmes zu essen hatte er nicht gehabt. Als ihre Mutter auch nach drei Tagen noch nicht wieder aufgetaucht war, ging die Babynahrung zur Neige. Es gab nichts mehr, das er Lena anbieten konnte. Als ihr Schreien dann immer länger gedauert hatte, waren wohl die Nachbarn aufmerksam geworden. Er dachte daran, wie er vor Angst unter sein Bett gekrabbelt war, als es geklingelt hatte. Eigentlich hätte er doch froh sein müssen, dass sich jemand um sie kümmern wollte. Aber Kinder in dem Alter reagieren nun mal nicht vernünftig. Aber Lena hatte weiter geschrien und es hatte weiter geklingelt. Dann, als das Klingeln endlich aufgehört hatte, hatte er sich zaghaft wieder unter dem Bett hervor getraut. Er wusste noch, wie er versucht hatte, Lena zu beruhigen. Aber sie hatte Hunger und so war sie natürlich nicht zu beruhigen gewesen. Einige Zeit später klingelte es abermals an der Tür. Auch diesmal verhielt Daniel sich still. Doch dadurch ließen sich die Leute, die vor der Tür standen, nicht mehr aufhalten. Daniel hatte gehört, wie jemand sich an dem Schloss zu schaffen gemacht hatte. Augenblicke später standen fremde Leute, zwei Frauen und ein Mann, im Wohnzimmer. Später erfuhr er, dass es Leute vom Jugendamt gewesen waren, die von den Nachbarn alarmiert worden waren. Die Polizei hatte draußen gewartet. So waren sie ins Heim gekommen. Weder er noch Lena hatten danach noch irgendetwas von ihrer Mutter gehört. Sie interessierte sich einfach nicht für ihre Kinder. Der Teufel sollte sie holen! Er fragte sich, ob es sie interessieren würde, wenn sie wüsste, dass ihre kleine Tochter sich umgebracht hatte, noch ehe sie volljährig war? Ganz kurz kam ihm der Gedanke, dass seine Mutter ja vielleicht damals genau das Gleiche getan hatte. Hatte sie sich ebenfalls selbst getötet? War das der Grund, warum sie niemals zu ihren Kindern zurückgekommen war? Aber das konnte nicht sein. So etwas hätten sie ihm doch erzählt. Oder etwa nicht? Zumindest als er 18 geworden war, hätten sie es ihm doch sagen müssen. Doch obwohl seine Gedanken für eine Zeit lang abgeschweift waren, jetzt holten sie ihn mit der Kraft eines Bulldozers ein. Lena! Jetzt war sie auch nicht mehr da. Der Schmerz brachte ihn beinahe um den Verstand. Jetzt, wo sie endlich als Familie hätten zusammen sein können, beging seine kleine Schwester Selbstmord! Daniel stand noch immer im Flur, aber nun dachte er wieder daran, weshalb er hier stand. Der Brief. Der Abschiedsbrief! Daniel schluckte noch einmal heftig, straffte seinen Rücken und ging auf die Suche. In Lenas Zimmer verlor er noch einmal die Kontrolle über seine Tränen. Aber er wischte sie sich energisch aus dem Gesicht und durchsuchte ihre Schubladen, sogar ihr Bett, nach solch einem Brief. Er startete ihren Laptop, in der Annahme, dass sie ihm da wenigstens etwas hinterlassen hatte, aber er fand nichts. Immer weniger konnte er glauben, dass sie sich selbst getötet hatte. War es möglich, dass sie dazu gezwungen worden war? Vielleicht war es gar kein Selbstmord gewesen? Vielleicht wurde seine kleine Schwester umgebracht? Aber konnte irgendjemand sie wirklich gezwungen haben, so viele Schlaftabletten zu nehmen und danach schwimmen zu gehen? Und warum dann ausgerechnet in der Krummen Lanke? Die Antwort ergab sich von selbst. Dort war ihr Lieblingsplatz, die Krumme Lanke ihr Lieblingssee. Nur dort hätte ein Unbekannter ihr auflauern können, denn nur dort war sie allein hingegangen.

Er musste hier raus! Keinen Augenblick länger konnte Daniel sich in ihrer gemeinsamen Wohnung aufhalten, ohne den Verstand zu verlieren. Daniel zog die Tür hinter sich zu, er nahm sich nicht die Zeit abzuschließen, und stürmte die Treppen hinab, raus aus dem Haus und die Straße entlang. Erst als er die Straße, in der sie wohnten, hinter sich hatte, gestattete er sich langsamer zu gehen. Er musste mit jemandem reden. Und er wusste auch mit wem! Jetzt verfluchte er die Tatsache, dass er seinen Wagen hatte stehen lassen. Obwohl er sicher nicht in der Lage gewesen wäre selbst zu fahren, hätte er in diesem Moment viel darum gegeben, jetzt in sein Auto steigen zu können. Daniel schaute auf die Straße und hielt ein Taxi an. Er gab ihm die Adresse von Dennis. Dennis war sein Kumpel, sein Bruder. Er war derjenige gewesen, mit dem er die ganzen Jahre seiner Kindheit und Jugend abgehangen hatte. Der Gedanke daran löste einen bitteren Geschmack in seinem Mund aus. Eigentlich war Dennis damals mehr sein Bruder gewesen, als Lena seine Schwester. Die fünf Jahre Altersunterschied und die Tatsache, dass er ein Junge und Lena ein Mädchen war, hatten sie getrennt. Lena war immer in einem anderen Haus, in einer anderen Gruppe gewesen, als er. Damals, vor allem in der ersten Zeit im Heim, hatte er das noch als zusätzliche Strafe empfunden. Er hatte nicht verstehen können, warum sie ihm Lena auch noch weggenommen hatten. Hatte er sich nicht, so gut er nur konnte, um sie gekümmert gehabt? Er liebte dieses kleine Bündel Mensch damals mit der ganzen Kraft seines jungen Herzens. Das hatte sich zwar nie geändert, aber seine Kindheit und später auch seine Jugend verbrachte er dennoch weit öfters mit Dennis. Obwohl sie, oder vielleicht auch gerade weil sie so verschieden waren, wurden sie unzertrennlich. Bis vor einem Jahr. Da hatte Daniel Dennis zum letzten Mal gesehen. Danach hatten sie noch ein paar Mal telefoniert, aber das war dann auch alles. Er selbst hatte einfach zu viel zu tun gehabt. Seine Arbeit, die Wege zum Jugendamt, seine Bemühungen, Lena ab jetzt ein tolles Leben zu bescheren, hatten ihn vollkommen vereinnahmt. Da war auf einmal keine Zeit mehr gewesen, sich um seine alte Freundschaft zu kümmern.

Daniel stieg aus, als das Taxi vor Dennis´ Haus hielt. „He“, begrüßte ihn sein Kumpel. „Dass es das noch gibt“, rief er freudig aus. Doch dann schwieg er so plötzlich, als hätte ihm jemand den Mund zugehalten. Seine blauen Augen wanderten über Daniels Gesicht. „Was ist passiert?“, fragte Dennis dann nur noch und zog ihn in seine Wohnung. Es war also noch immer so zwischen ihnen. Ein Blick hatte genügt, um Dennis zu sagen, dass das hier kein einfacher Freundschaftsbesuch war. Daniel hätte aufgeatmet, wenn ihm nicht so verdammt übel gewesen wäre. „Lena ist tot.“ Dennis riss die Augen auf. Dann zog er ihn in seine Arme und drückte ihn an sich. Verdammt! „Komm. Setz dich“, sagte Dennis und stellte beinahe gleichzeitig, wie er ihn in den Sessel drückte, eine Flasche Bier vor ihm ab. Dann setzte er sich selbst auf die Couch und wartete ruhig ab. Daniel griff nach der Flasche, nahm einen kräftigen Schluck, obwohl er eigentlich keinen Alkohol mochte. Aber heute hatte mit eigentlich nichts zu tun! Dann erzählte er seinem Kumpel, was heute passiert war. Und warum er vermutlich so scheiße drauf war. Dennis hörte zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. „Scheiße!“, war alles, was er dazu sagte. Typisch Dennis. „Ich möchte nur verstehen, warum Lena es gemacht hat. Es ist so … Verdammt, es macht mich verrückt. Warum habe ich nichts gemerkt?“, schluchzte Daniel. „Und du bist sicher, dass sie dir keine Nachricht hinterlassen hat?“, fragte Dennis. „Nichts. Das ist es ja!“ „Sie war doch im Urlaub. Vielleicht hat sie da was …?“ „Woher weißt du das?“ Dennis winkte ab. „Du hast es Lydia erzählt. Und die mir.“ Daniel nickte. Tja, die Welt war klein. Lydia war eine der Betreuerinnen im Diakonie Zentrum gewesen, dem Heim, in dem sie aufgewachsen waren. „Sie war doch nicht allein verreist, oder?“ Daniel riss die Augen auf. Warum war ihm das nicht selbst eingefallen? Natürlich war sie nicht allein in New York gewesen, sondern mit Jana. Lena hatte sich mit Jana angefreundet, als sie sich im Tierpark Berlin um eine Lehrstelle als Tierpflegerin bemüht hatte. Dank Jana, die dort im Büro saß, wurde sie auch angenommen. Nächste Woche wäre ihr erster Arbeitstag im Tierpark gewesen. Sie hatte sich doch so darauf gefreut! Noch ein Grund mehr, an ihrem Selbstmord zu zweifeln. „Du hast recht. Jana. Sie muss einfach was wissen!“ Als Lena vor ein paar Monaten begonnen hatte, sich regelmäßig mit Jana zu treffen, hatte er sich ihre Telefonnummer gespeichert. Jetzt zückte Daniel sein Handy und gab Janas Namen ein. Sobald die gewünschte Telefonnummer erschien, drückte er auf den kleinen, grünen Hörer.

Es dauerte eine Weile, bis sich eine Frauenstimme meldete. Doch es war nicht Jana. Die Stimme klang viel älter. Und sie klang irgendwie … belegt. „Guten Tag“, meldete er sich. „Mein Name ist Schuster. Ich bin der Bruder von Lena, einer Freundin von Jana. Bitte, ich muss sie dringend sprechen.“ Am anderen Ende hörte er ein Schluchzen. Und dann, als wenn jemand hart schluckte. „Ja, ich kenne Lena. Sie ist ein nettes Mädchen. Bitte sagen sie ihr, dass ich mich gerne mit ihr unterhalten würde.“ „Aber …“ „Jana ist tot. Sie hat sich gestern das Leben genommen. Würden sie Lena …“ Geschockt ließ Daniel das Handy sinken und legte auf. Er konnte nicht glauben, was er da gehört hatte! „Was ist?“ Dennis´ Stimme klang, als wenn sie vom anderen Ende der Welt kommen würde. „Sie ist tot.“

„Lena. Ja, aber …“

„Jana. Auch sie hat sich das Leben genommen“, hauchte er. Und er hatte gerade ihre Mutter einfach weggedrückt. Verflucht! „Ich muss das geradebiegen. Oh Gott, warum habe ich die arme Frau grade weggedrückt?“ sagte er. Dennis verstand augenscheinlich nur Bahnhof. Trotzdem sagte er nichts. „Ja, hier ist noch mal Daniel Schuster. Bitte entschuldigen Sie, dass ich … Meine Schwester … Sie hat … auch sie ist tot. Deshalb wollte ich Jana sprechen.“ Am anderen Ende hörte er jemanden heftig Luft holen. Ihm war klar, wie seine Aussage auf die Frau gerade wirkte. Vermutlich nicht anders, als vor einigen Minuten auf ihn. „Hat ihre Schwester auch ... Selbstmord begangen?“, hauchte die Stimme. Daniel nickte. „Ja. Sie hat Schlaftabletten genommen.“ „Oh mein Gott! Was haben die Beiden … denn nur angestellt?! Bitte, können wir uns treffen? Ich muss wissen, was da passiert ist. Jana war doch immer … Oh entschuldigen Sie bitte, Sie trauern ja sicher genauso um ihre Schwester. Was sagen sie?“ „Ja. Ich möchte gerne mit Ihnen reden. Jana hat Ihnen auch nichts hinterlassen? Keinen Brief? Genau wie Lena.“ Daniel machte mit Janas Mutter einen Termin für den nächsten Tag. Er würde zu ihr nach Hause gehen. Die Öffentlichkeit war kein Ort für solch ein Gespräch. Zu viele Tränen würden fließen. Daniel wusste das. Er brauchte eine Weile um das, was er jetzt wusste, zu verdauen. Erst dann erzählte er Dennis alles. Der reagierte genauso, wie er ihn kannte. „Da stimmt doch was nicht! Mensch, was ist, wenn das gar kein Selbstmord war? Oder die beiden haben so großen Mist gebaut, dass sie damit nicht länger …“ die letzten Worte verschluckte er lieber. Dennis war eigentlich sein ganzes Leben lang Verfechter von irgendwelchen Verschwörungstheorien gewesen. Deshalb wunderte Daniel sich jetzt nur darüber, dass jetzt nichts mit Mafia oder so kam. Trotzdem! Die beiden begingen doch keinen Selbstmord! „Vielleicht waren sie in so einer Sekte? Du weißt schon, im Internet gibt’s doch so Chatrooms, wo sich Leute zum gemeinsamen Selbstmord verabreden.“ „Dennis!“, brüllte Daniel seinen Freund an. „Lena war in keiner Sekte und mit Sicherheit hat sie auch mit niemandem gemeinsamen Selbstmord geplant!“ „Entschuldigung“, stammelte Dennis. Daniel winkte ab. „Ich weiß ja, dass du dir auch Gedanken darüber machst. Und ich bin dir dankbar.“ „Schon klar! Lena war auch nicht der Typ für so was. Wir bekommen schon raus, warum sie es getan hat. OK? Ich helfe dir. Das weißt du doch.“

*

Daniel hatte die Nacht bei Dennis verbracht. Nach Hause hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Dennis und er hatten die ganze Nacht durch geredet. Nicht nur über Lena, auch wenn sich die meisten Gespräche natürlich um sie gedreht hatten. Aber Dennis hatte es immer mal wieder geschafft, ihn abzulenken. Bestimmt hatte er niemals damit gerechnet, dass er einschlafen könnte. Trotzdem waren ihm irgendwann die Augen einfach zugefallen und er war in einen erschöpften Schlaf gefallen. Dennis hatte ihn wohl zugedeckt. Daniel blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und sah zur Uhr. Die zeigte 8h früh. Wann war er etwa eingeschlafen? Es hatte bereits begonnen zu dämmern. Also konnte er nicht lange geschlafen haben. Vielleicht zwei Stunden? Leise setzte er sich auf. Lena! Die Gedanken an seine Schwester trafen ihn wie ein Stromschlag. Würde es jeden Morgen so sein? Daniel fuhr sich verzweifelt übers Gesicht. „Oh Gott! Warum hast Du das getan?“, stöhnte er auf. Da hörte er ein Geräusch. Dennis? Bevor er sich wieder in seine Verzweiflung stürzen konnte, ging die Tür auf und sein Freund spazierte herein, zwei Tassen mit dampfendem Kaffee in den Händen. Eine davon stellte er auf dem Tisch ab. „Guten Morgen! Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.“ Daniel schüttelte den Kopf. „Wieso bist du schon wach?“ Erstaunt sah er seinen Freund an. „Du hast gar nicht geschlafen“, stellte er fest. Dennis schüttelte den Kopf. „Ich hau mich aufs Ohr, wenn du weg bist.“ Stimmt, die Verabredung! Er sah noch mal zur Uhr. 8,05H. Um 10h wollte er bei Janas Mutter sein. „Kann ich dein Auto nachher haben?“ Seines stand ja noch auf dem Firmengelände. Dennis zuckte die Achseln und grinste verlegen. „Ich habe keines. Aber du kannst mein Fahrrad nehmen. Wenn du willst.“ Verblüfft blickte Daniela auf. „Wie jetzt? Was hast du mit deinem Wagen gemacht?“ Wieder zuckte sein Kumpel nur die Schultern. „Das Auto wäre schon ok. Aber meine Fleppen …“

„Du hast deinen Führerschein verloren?“ „Na ja, hab ihn auf Urlaub geschickt. Wenn du so willst. Für neun Monate. Jetzt sind es noch sieben.“ Daniel schüttelte den Kopf. „Was hast du angestellt? Alkohol?“ „Na ja, war auf ´ner Party und wollte den Wagen nicht stehen lassen.“ Daniel nickte und schüttelte fast im selben Augenblick den Kopf. „Und du hast wieder den Samariter gespielt, und hast eine Frau nicht alleine fahren lassen wollen.“ Dennis musste ihm das nicht erzählen. Daniel kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie er tickte. Sobald ein hübsches Mädchen ihn bat, sie nach Hause zu bringen, tat Dennis ihr selbstverständlich den Gefallen. Ob er was getrunken hatte oder nicht, spielte dann keine Rolle mehr. Eigentlich sollte er ihm jetzt eine Standpauke halten. Oder es zumindest wollen. Aber da war nichts in ihm, das überhaupt zu so etwas in der Lage gewesen wäre. Nur Leere. „Kann ich duschen?“, fragte er stattdessen nur. Dennis Kopf zuckte zur Tür. „Klar doch. Frische Handtücher sind im Schrank.“

Das Badezimmer war seltsamerweise wirklich sauber und ordentlich. Ganz im Gegenteil zum Rest der Wohnung. Dennis hielt nicht viel von Ordnung. Jedenfalls nicht, seit er seine eigene Wohnung hatte. Im Heim hatte er natürlich sein Zimmer aufgeräumt halten müssen. Da achteten die Erzieher drauf. Aber jetzt schien sich nichts in Dennis mehr daran erinnern zu können, wie man seine Sachen wegräumt. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen leere Kakao-und Colaflaschen, ein übervoller Aschenbecher, Stapel Zeitungen, die Reste von irgendwelchen Knabbereien, und allerhand mehr. Dennis Klamotten waren fast im ganzen Zimmer verstreut. Socken auf den Sesseln, wobei auf jedem einer lag. Seine Lederjacke hing ebenfalls schief auf einem herum. Das Schlafzimmer und die Küche sahen genauso aus. Der einzige Platz in Dennis Wohnung, der ordentlich war, war wohl hier. Die Unordnung war vielleicht Dennis´ Art zu rebellieren. Sein Leben anders zu leben, als man es von ihm im Heim verlangt hatte. Kurz überlegte Daniel, ob er auch rebellierte? Auf irgendeine Art vielleicht? Ihm fiel nichts ein. Aber er hätte ja auch gar keine Chance dazu gehabt. Bei ihm wurde immer darauf geachtet, wie er seine Wohnung und sein Leben unter Kontrolle behielt. Früher im Heim von den Erziehern. Wer damals sein Zimmer nicht in Ordnung hielt, wurde mit einer Woche Abwaschdienst bestraft. Dieses Aufgabenfeld war wahrlich nicht beliebt gewesen und die Jungs hatten sich so gut sie konnte davor gedrückt. Und später, als er endlich seine eigene Wohnung hatte, stand er wegen Lena unter ständiger Beobachtung des Jugendamtes. Er hätte sich Unordnung also gar nicht leisten können. Genauso wenig wie alkoholisierte Ausschweifungen. Deshalb hatte er aber wenigstens seinen Führerschein noch. Ganz im Gegenteil zu Dennis, wie er jetzt dachte. Nachdem er geduscht hatte, fühlte er sich zwar nicht besser, aber zumindest sauberer. Er trank noch eine zweite Tasse Kaffee und verabschiedete sich dann. „Leg dich hin und schlaf ein wenig. Und Dennis ... Danke!“

Daniel war wirklich mit Dennis´ Fahrrad zur Firma gefahren, hatte das Rad dort angeschlossen und war in seinen Passat gestiegen. Er würde später, zusammen mit Dennis, noch mal hinfahren, damit sein Freund das Rad nach Hause fahren konnte. Daniel war froh, niemandem aus seiner Firma begegnet zu sein. Er hatte keine Lust auf Mitleidsbekundungen. Und was sonst sollten seine Kollegen sagen? Jetzt stand er vor der Wohnung von Janas Mutter. Er klingelte. Als hätte die Frau schon hinter der Tür auf ihn gewartet, wurde ihm aufgemacht, kaum dass er den Finger vom Klingelknopf genommen hatte. Janas Mutter war klein, kaum 160cm groß. Ihre blondierten Haare trug sie kurz und ihr Gesicht war weiß, nur ihre Augen waren gerötet. Sie wirkte so zerbrechlich, wie sie jetzt vor ihm stand und ihn mit einem Blick ansah, der so resigniert wirkte, dass er schlucken musste.

„Daniel?“, fragte sie. „Kommen Sie doch bitte …“ Janas Mutter lief voraus und deutete dann auf einen Platz am Wohnzimmertisch. Auf dem Tisch standen eine Kanne mit Kaffee und zwei Tassen. Daniel setzte sich. „Sie sehen aus wie ihre Schwester!“, stieß Frau Wagner plötzlich hervor und sah ihn müde an. „So viel Ähnlichkeit.“ Daniel nickte. Ja, da hatte sie wohl recht. Lena und er sahen sich wirklich sehr ähnlich. Oder hatten sich ähnlich gesehen. Als Lena noch lebte! Sie beide waren schlank, und obwohl Lena natürlich kleiner war als er, er selbst war 1,96m, war sie doch für eine Frau mit ihren 1,72 auch hochgewachsen. Beide hatten dunkles, beinahe schwarzes Haar, das sich leicht wellte und blaue Augen, unter dichten, langen Wimpern. Seine waren sogar noch länger als Lenas. Er erinnerte sich, wie sie diese Tatsache immer moniert hatte. „Das ist ungerecht“, hatte sie gemeckert. „Du als Mann hast so lange Wimpern und ich muss mir falsche ankleben.“ Natürlich musste sie das nicht, denn ihre waren selbst ungeschminkt lang genug gewesen. Seine Mundwinkel zuckten, als er ihr Gesicht jetzt vor sich sah. Den Schmollmund, den sie gezogen hatte. Vor seinem geistigen Auge war sie jetzt so nah, dass er nur zugreifen musste, um sie zu berühren. Er schluckte. Er wünschte es sich so sehr, genau das zu tun. Nicht nur sie berühren zu können, sondern sie zurückzuziehen, von dort, wo sie jetzt war. Aber es war ein Trugbild. Nie wieder würde er seine Schwester anfassen können. Sie war nicht mehr da und würde es nie wieder sein. Warum?

Daniel hob den Blick und sah sein Gegenüber an. Die zierliche Frau schien, genau wie er, in ihren eigenen traurigen Gedanken versunken zu sein. Sie saß zusammengesunken da, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und starrte darauf, als wenn sie in ihnen einen Kinofilm betrachtete. Sie wirkte so zerbrechlich. Er musste was sagen. Irgendetwas! Aber seine Lippen schienen zugeklebt zu sein. „Warum?“ Als hätte Frau Wagner seine Gedanken gelesen. „Warum haben die beiden das getan?“ Ihr Blick hob sich und ihre vormals blauen Augen sahen ihn bittend an. Doch Daniel konnte nur mit Schulterzucken darauf antworten. „Ich weiß es nicht!“ Seine Stimme klang verzweifelt und viel zu laut. Er spürte die Tränen, die über sein Gesicht liefen. Aber er wischte sie nicht weg. War gar nicht dazu in der Lage. „Hat Jana denn nichts hinterlassen? Einen Brief vielleicht?“ Frau Wagner schüttelte den Kopf. „Ich … Wir haben nichts gefunden. Nur die Fotos. Die hat Jana schon entwickeln lassen.“ Entwickelt? Wie hatte sie das denn so schnell hinbekommen?

„Jana muss die Bilder schon im Urlaub eingeschickt haben. Sie ist doch so eine gute Hobbyfotografin. Fotos waren ihr immer wichtig. Mein Gott, was das Kind nicht alles fotografiert hatte!“ Jetzt lächelte Janas Mutter sogar. Daniel nickte. Dann hatte er eine Idee. Konnte es sein, das auf Janas Fotos ein Hinweis zu sehen war? Wenn sie doch so gerne fotografiert hatte, hatte sie doch bestimmt mehr Bilder gemacht als Lena. Er wollte grade Frau Wagner darum bitten, aber da war sie schon aufgestanden und hatte eine Fototasche vom Küchentresen genommen, die sie ihm jetzt vorlegte. Daniel sah ihr ins Gesicht, das jetzt sehr gefasst wirkte. „Wollen Sie sich die Bilder ansehen? Wir hatten bisher nicht den Mut dazu. Aber Sie haben recht. Vielleicht ist etwas drauf …“ Daniel nickte und nahm den Fotostapel aus der Tasche. Es waren tatsächlich viele Fotos. Er schätze so um die fünfzig Stück. Seine Hände zitterten, während er sich die Bilder ansah. Jana und Lena inmitten New Yorks. Beide, wie sie vor einem See standen, im Hintergrund die Zwillingstürme San Remo. Also der Central Park. Es folgten weitere Bilder von Lena in diesem Park. Dann wieder ein Foto. Lena mit einem jungen Mann, auf der Brooklyn Bridge. Jana mit demselben Mann vor der Freiheitsstatue. Dann der Time Square und so weiter. Dann kam zu dem jungen Mann, den Daniel nun bereits von mehreren Fotos kannte, noch ein junges Mädchen hinzu, das nun auf den nächsten Fotos, gemeinsam mit Jana und Lena, posierte. Vermutlich war der junge Mann da der Fotograf gewesen. Dann kamen Fotos, die nicht mehr in NY aufgenommen worden waren. Eine Kreuzung zweier Feldwege, dazwischen ein Ortsschild: Meadows Creek. Jana und Lena rechts und links von dem Schild, beide sahen lachend in die Kamera. Dann ein Haus, zwei Etagen, und Jana posierte vor dessen Eingang. Dann kamen Aufnahmen vom Zimmer der beiden. Ein Doppelbett, ein Schrank, Tisch mit zwei Stühlen. Nichts Besonderes. Daniel blätterte weiter. Die beiden Mädchen beim Frühstück, wieder vor dem Haus und dann in einem Tanzlokal. Lena machte irrwitzige Verrenkungen und grinste breit in die Kamera. Daniel lachte auf. Es war so echt. So greifbar. Er blätterte weiter, die nächsten Fotos waren in und vor dem Tanzlokal aufgenommen.

„Sie waren in NY tanzen? War das nicht ein wenig spät, um dann noch ins Hotel zu fahren?“, fragte er und sprach dabei mehr mit sich selbst, als eine Antwort zu erwarten. Doch Janas Mutter hatte seine Frage gehört. „Nein, die Möglichkeiten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von New York nach Meadows Creek zu fahren, bestehen nur tagsüber. Tanzen waren sie in Meadows Creek.“ Daniel runzelte die Stirn. Die Fotos von dem Kaff sahen nicht so aus, als wenn es dort solche Diskotheken gab. „Es ist zwar nur so etwas wie ein Dorf, aber sie sind dort auf Touristen ausgelegt“, erklärte Frau Wagner. „Jana hat mir von dem Tag erzählt, als wir telefoniert hatten. Die Mädchen hatten Spaß.“ Frau Wagner schluchzte. Dieser Ton ging Daniel durch und durch. Er hatte, während er die lustigen Fotos betrachtete, fast vergessen, was passiert war. Doch dieser Ton hatte ihm den Teppich unter den Füßen weggerissen! Seine Hände krampften sich zusammen und er musste die Fotos aus der Hand legen. Ansonsten hätte er sie zerknüllt. Daniel schluckte schwer und raffte die Schultern, ehe er sich den restlichen Bildern widmete. Da waren wieder zwei Fotos von der Tanznacht. Jana, Lena und wieder der junge Mann, den er schon von den Fotos in NY kannte. Daniel stutzte. Wieso war dieser Mann auch hier gewesen? Er blätterte die Fotos zurück und besah sich noch mal die Bilder aus NY. Ja, kein Zweifel, es handelte sich um denselben Mann. „Hat Jana auch was über den Typen hier erzählt?“ Daniel drehte das Foto so, dass Frau Wagner genau darauf blicken konnte. „Der wohnte auch dort. Ich weiß nicht, ob er aus Meadows Creek kam oder ebenfalls ein Urlauber war. Aber Jana hat mir erzählt, dass sie oft zusammen etwas unternommen hatten. Warum? Glauben Sie …?“ Daniel starrte die Frau an. Ob er was glaubte? Aber dann schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung!“ Er besah sich noch die restlichen Fotos und steckte sie dann wieder zurück. Es fiel ihm schwer, die Fotos aus der Hand zu geben. Lena hatte nicht einmal halb so viele Fotos auf ihrem Laptop. Frau Wagner schien seine Gedanken zu erraten. „Ich mache ihnen Abzüge.“ Daniel nickte und nahm einen Schluck von seinem, in Zwischenzeit kalt gewordenen, Kaffee. Er wollte sich grade verabschieden, als er hörte, wie die Haustür aufging und gleich danach ein schwarzer Pudel die Küche stürmte. Frau Wagner strich dem Hund gedankenverloren über die gut frisierte Krone. Sein Herrchen folgte einige Augenblicke später. Herr Wagner kam schweren Schrittes in die Küche, nickte Daniel kurz zu und verschwand gleich wieder. „Er kann mit niemandem darüber reden. Hat sich vollkommen zurückgezogen. Bitte entschuldigen Sie.“ Daniel nickte und stand dann auf. Er reichte Frau Wagner die Hand. „Vielleicht erfahren wir den Grund doch noch. Oh Gott“, stammelte er plötzlich. „Ich weiß sonst nicht, wie ich das ertragen soll. Warum …?“Doch dann verstummte er, drehte sich weg und verließ die Wohnung.

Mit dem Ärmel wischte er sich übers Gesicht, das wieder feucht von fließenden Tränen war. Es war ihm egal. Er zwang sich schneller zu gehen, stieg in sein Auto und fuhr los. Doch er ging diesmal nicht zu Dennis. Gestern hatte er seinen Freund gebraucht, und es hatte ihm gut getan, mit ihm zu reden. Doch jetzt wollte er niemanden sehen. Er konnte einfach nicht wieder über Lena reden. Er brauchte eine Pause von seiner Trauer. Obwohl er wusste, dass er diese Pause wohl nicht erzwingen konnte, hielt er den Wagen vor einer Kneipe, stieg aus und betrat das Lokal. Das hier war eine Pinte mit dem üblichen Mobiliar solcher Gaststätten. Der Qualm von unzähligen Zigaretten hing in der Luft, vermischt mit dem Geruch zahlloser alkoholischer Drinks. Zwei Gäste saßen am Tresen und diskutierten lauthals über irgendetwas Belangloses. Ihren Stimmen war anzuhören, dass sie die polizeilich erlaubte Promillegrenze schon lange hinter sich gelassen hatten. Daniel trat an den Tresen und bestellte Whiskey Cola. Das erste Glas kippte er mit einem Schluck hinunter und bestellte gleich noch einen.

New York

Taylor Conner stand am Fenster und sah hinaus auf die Silhouette der Stadt. Seit vier Tagen war er jetzt hier im Queen Hospital. Von seiner Einlieferung wusste er nichts mehr. Laut Ärzten musste es ihm da echt scheiße gegangen sein. Er hatte auf nichts mehr reagiert, hatten sie ihm erklärt. Wie ein lebender Toter hatte er nur vor sich hingestarrt. Seine Mentalfunktionen waren auf Null gestellt gewesen. Na gut, Taylor erklärte es sich als einen Anfall, den er wohl erlitten hatte. Überarbeitung? Taylor konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber seinetwegen … Aber bereits am nächsten Tag war doch alles wieder in Ordnung gewesen. Warum ließen ihn die Ärzte dann nicht gehen? Ihm ging es doch wieder gut. Doch die dachten anscheinend gar nicht daran! Heute Morgen hatte er eine Unterredung mit dem Chefarzt gehabt, der ihm nahelegte, eine vierwöchige Kur anzutreten. In einem Sanatorium. Mein Gott, was sollte das? Ein Klopfen unterbrach seine Gedanken, gleich darauf ging die Tür auf und seine Frau trat ein.

„Emely“, begrüßte er sie und ging ihr schnell entgegen. Er breitete seine Arme aus und wollte sie grade an sich ziehen, als sie einen Schritt zurückwich. Taylor runzelte die Stirn und sah Emely an. Wie sie aussah! Ihr blondes Haar wirkte völlig glanzlos und sie war so blass, wie er sie in den ganzen Jahren seiner Ehe niemals gesehen hatte. Auch schienen die kleinen Fältchen, die sie um die Augen hatte und die Taylor einfach so liebte, tiefer geworden zu sein. Sie machte sich Sorgen. Um ihn?

„Was ist los? Du musst dir doch keine Gedanken machen, Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ich werde bald entlassen“, versuchte er sie zu trösten. Emely warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Dann schüttelte sie den Kopf. Er war baff! „Ich habe auch mit dem Arzt gesprochen Taylor. Ich finde, er hat recht. Du solltest zu Kur fahren.“ „Aber ich sehe keine Veranlassung dafür. Em, Schatz, mir geht es wirklich gut. Könnte Bäume ausreißen. Warum sollte ich da zu einer Kur? Die brauche ich nicht!“ „Wollen wir uns nicht erst mal setzen?“ Emely deutete auf die beiden Stühle, die vor einem kleinen Tischchen stehend, hier die Wohnlandschaft bildeten. Taylor seufzte und griff nach ihr. Er wollte sie endlich in seinen Armen spüren, doch kaum, dass er seine Arme um sie geschlungen hatte, spürte er, wie sie sich versteifte. „Was stimmt nicht? Em sag mir doch, was mit dir los ist!“ „Entschuldigung!“ Es klang wie ein Schluchzen. „Es ist nichts. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn du die Kur machst, wird sicher alles wieder gut. Du brauchst sie. Versprich mir, dass du nicht einfach auf eigene Rechnung abhaust.“ „Aber …“ „Versprich es mir!“ Whow! Was war denn nur los? Ihm ging es gut und er hatte wahrlich nicht das Gefühl, gleich sterben zu müssen. Aber Em hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er diese blöde Kur machen sollte. Da musste er wohl durch. Tschitt! „Gut, du hast gewonnen. Ich lasse mich verlegen. Ok, aber wie geht es zu Hause? Ferien sind ja keine mehr, da schafft Jonny es sicher, ein wenig auf Ordnung zu achten.“ „Sie haben jemanden aus New York geschickt. Heinz Mechow.“ „Was?“ Taylor riss die Augen auf. „Sie haben einen neuen Sheriff geschickt? Aber …?“ „Beruhige dich. Es ist nur für so lange, bis du wieder gesund bist. Danach geht er wieder zurück. Ja, Sheriff Mechow ist ganz in Ordnung. Du wirst ihn mögen, glaube mir.“ „Aber war das nötig? Ich meine, ich bin ja nicht todkrank. Nur ein kleiner Aussetzer und die schicken gleich Vertretung?“ Als er sah, wie Em sich wieder für ihn ins Zeug legen wollte, beeilte er sich hinzuzufügen: „Ok, ok, ich hab´s ja verstanden. Nur so lange, wie ich weg bin. Heinz Mechow? Ist er Deutscher?“ Emely sah ihn an, als hätte er sie grad aus Gedanken gerissen, die ganz woanders gewesen waren. „Was hast du gesagt? Deutscher? Mh, ich weiß nicht. Vielleicht.“

Taylor beobachte seine Frau, wie sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Normalerweise war Emely eine stolze Frau, die nur so vor ungebändigtem Lebensmut sprühte. Doch heute war das anders. Er hatte es schon gesehen, als sie rein kam. Doch da hatte sie getan, als wenn nichts wäre. Sie hatte sich ihr eigenes Ich wie einen Mantel übergeworfen. Doch jetzt war der Mantel verrutscht und er konnte auf die wahre Frau sehen, die jetzt vor ihm saß. Sie hätte eine Kur um vieles nötiger als er! Ihre Augen wirkten müde und auf eine grauenhafte Art gehetzt.

„Was ist los mit dir? Schatz rede mit mir!“ Er wagte es nicht, die Hände nach ihr auszustrecken. Nicht nachdem sie zweimal derart darauf reagiert hatte. Ihm kam ein furchtbarer Gedanke! Hatte etwa er etwas damit zu tun? Hatte er vielleicht irgendetwas gemacht, das ihr wehgetan hatte? Vielleicht als er diesen Zusammenbruch gehabt hatte und dermaßen hohl in der Birne gewesen war? „Habe ich …“, stotterte er, doch wurde er gleich von Em unterbrochen. „Nein, du hast nichts gemacht. Es … es ist auch nichts. Weißt du, das Haus, es ist jetzt so leer“, gab sie leise zurück und diesmal kam sie auf ihn zu. Em kniete sich vor ihn und legte ihren Kopf auf seinen Schoß. Gott sei Dank! Taylor strich ihr sanft über die blonden Locken. Ja, überlegte er, sie war wohl zum ersten Mal allein in ihrem Haus. Über Nacht. Jayden war ja sicher wieder in der Uni. Es waren ja keine Ferien mehr. Und er war hier. Ich mach keine Kur. Ich komm nach Hause. Heute oder spätestens morgen! Im selben Moment, als die Gedanken Gestalt annahmen, wurde alles schwarz.

Das Nächste, was er wahrnahm, war, dass er wieder auf seinem Bett lag und ein Arzt war bei ihm. Er blickte sich suchend um. Wo war Emely? Wo war seine Frau? „Sie musste nach Hause. Sie lässt Sie aber schön grüßen und Ihnen ausrichten, dass sie Sie im  Wiktionary besuchen wird“, erklärte der Arzt, der seinen Blick wohl richtig gedeutet hatte. Seltsam, dachte Taylor. Warum war sie denn nicht geblieben, und verdammt noch mal, was war mit ihm los gewesen? „Ist nichts Schlimmes passiert. Sie hatten nur wieder einen kleinen Schwächeanfall. Deshalb sollten Sie ja auch die Kur machen. Oder?“ Der Arzt sah ihn mit einem Blick an, der Taylor daran erinnerte, wie man ein Kind ansah. Was bildete dieser Kerl sich denn ein? Nur weil er anscheinend Gedanken lesen konnte, musste er ihn schließlich nicht behandeln, als wäre er bekloppt. Die Widerrede hing ihm schon auf den Lippen, aber dann schluckte er die Worte doch ungesagt hinunter. Brachte schließlich nichts, sich jetzt noch mit dem Arzt anzulegen! „Wann soll es denn losgehen?“ fragte er stattdessen. „Gleich morgen. Nach der ersten Visite wird man Sie rüber fliegen.“ „Fliegen? Aber ich dachte …? „Das Wiktionary ist in Maine. Mit dem Flieger sind Sie in einer halben Stunde da. Liegt direkt am Ufer des Atlantik. Ist schön dort.“ Der Arzt wandte sich zu gehen, blieb aber in der Tür

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4269-4

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