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Über Mistakes

 

Mistakes ist schon mehr als 15 Jahre alt. Damals habe ich die Geschichte für mich selbst, meine Familie und Freunde geschrieben. Erst Jahre später habe ich es überarbeitet und einem Verlag angeboten. Im Jahre 2011 war es dann so weit und Mistakes erschien als Verlagsbuch bei Aavaa.

Leider haben mir dort viele Dinge nicht gefallen. Was mir am wenigsten behagt hat, waren die Preise und die Tatsache, dass ich den Roman in zwei Teile teilen musste. Deshalb wollte ich da wieder weg. Nun endlich ist es so weit: Mistakes gehört wieder mir!

Ich habe den Roman noch einmal überarbeitet und jetzt als Indieautor selber veröffentlicht. Jetzt ist Mistakes wieder nur ein Band und auch der überteuerte Preis ist Vergangenheit.

Wie ich dazu gekommen bin, gerade diesen Roman zu schreiben? Ich bin ein sehr tierlieber Mensch und es hat mich oft empört, wie der Mensch diese wirklich schönen und einzigartigen Geschöpfe behandelt. Liest sich im Klappentext nicht so? Na, ich hoffe, er hat euch zumindest neugierig gemacht!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zweite Auflage

 

Erscheinungsdatum : 16.11.2015

 

Copyright : Sibylle Meyer

 

*Alle Rechte vorbehalten*

 

Jegliche Vervielfäligung ist untersagt

 

Umschlagzeichnung : Angélique Meyer

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Inhalt



 

 

 

 

Mistakes

 

 

 

 

1.

 

Deutschland – Berlin

„Na, wen haben wir denn da?“

Der Tierarzt lächelte freundlich. Auf dem metallenen Behandlungstisch saß ein kleiner, zierlicher Siamkater. Er saß da wie ein brütendes Huhn. Die Pfoten hatte er unter seinem Bauch vergraben und starrte desinteressiert vor sich hin. Es war offensichtlich dass dem Tier all das, was man mit ihm machte, vollkommen gleichgültig war. Seine Besitzerin war eine ältliche Dame mit silberdurchzogenem, ansonsten aber noch dunklem Haar. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen. Irgendwo zwischen sechzig und siebzig vielleicht. Sie war ein zierliches Persönchen, der man unschwer noch die frühere Schönheit ansehen konnte. Sicherlich war sie früher einmal eine Frau gewesen, die etwas zu sagen hatte.

„Dr. Wolski“, begann sie mit einer, jetzt etwas dünn gewordenen, Stimme. „Der Alex will einfach nichts mehr essen. Schon seit vier Tagen hungert er lieber, als seine Leckerlis zu nehmen. Dabei habe ich ihm schon wirklich alles angeboten, das er sonst doch so gerne hat. Er sitzt immer nur so da. Wie jetzt. Völlig apathisch. Er reagiert nicht einmal, wenn ich ihn streicheln will. Dabei ist er doch sonst so verschmust. – Deshalb bin ich hergekommen. Irgendwas muss Alex doch haben! So kann es doch nicht weiter gehen! Bitte, Herr Doktor… “

Sie schaute ihn mit ihren graublauen Augen, um die sich kleine Fältchen gebildet hatten, flehentlich an.

Wolski nickte.

„Wie alt ist denn der Alex jetzt? – Dann brauche ich nicht erst in der Datei nachzusehen.“

Die alte Frau blinzelte. Schon befürchtete Wolski, dass sich Tränen in ihre Augen stehlen würden, doch dann antwortete sie doch noch mit fester Stimme:

„Ich habe ihn schon von ganz klein auf. Habe ihn mit der Flasche groß gezogen, weil seine Mama keine Milch hatte. Er ist jetzt vier Jahre alt. Aber das ist doch noch nicht alt. Oder?“

„Nein, nein! Natürlich nicht. – Noch ein ganz junges Ding ist er.“

Die ältere Frau lächelte. Der Tierarzt beugte sich zu dem Kater und sprach mit sanfter Stimme auf ihn ein.

„Na Alex, was ist denn mit dir? Willst du uns nicht sagen, was du hast?“

Während er weiter auf den Kater einredete, streichelte er behutsam den schlanken Körper. Sekundenlang dachte Wolski, dass es ja gar nicht nötig war den Kater zu beruhigen, denn schließlich war Alex alles andere als nervös. Aber er schien schon aus Gewohnheit so zu handeln.

Sachkundig tastete er nun Bauch, Hals und Hinterteil des Tieres ab. Dann holte er das Fieberthermometer und führte es sachkundig in den Anus ein. Nicht einmal dabei zuckte der Kater. Seine Temperatur betrug 39°, also durchaus noch normal, vor allem wenn man bedenkt, dass er ja die ganze Zeit im engen Körbchen gesessen hatte. Als Wolski dem Kater jetzt eine dünne Injektionsnadel einführte, um ihm einige Tropfen Blut abzunehmen, ließ er ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Aber es änderte sich nichts. Alex hockte dabei genauso da, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Er machte keinerlei Anstalten sich der Spritze zu entziehen. Einfach nichts. Keine Reaktion. Wolskis Gesichtsausdruck blieb unbeteiligt.

„Monika nimmst du das bitte mal.“, sagte er jetzt laut und reichte die Spritze, mit dem Katzenblut, an seine Sprechstundenhilfe weiter.

Dr. Wolski war ein stattlicher Mann, der sich mit seinen 1,86 m geradezu riesig neben seiner nur 1,50 m großen Sprechstundenhilfe ausmachte. Er hatte blondes, welliges Haar, das er kurz geschnitten trug und eine Nase, die irgendwie zu groß, für sein gütiges Gesicht wirkte.

Dr. Andreas Wolski war Tierarzt mit Leib und Seele. Schon als Schuljunge hatte er davon geträumt, Veterinär zu werden. Genau wie sein Vater und vor ihm sein Großvater. Er hatte hart dafür gearbeitet und dann, als sich sein Traum erfüllt hatte, war er zweieinhalb Jahre in einer Pferde- und Rinderklinik beschäftigt gewesen. Bereits nach dieser kurzen Zeit, in der er sich durch Fleiß und Ausdauer ausgezeichnet hatte, hatte er die finanziellen Mittel zusammen, um sich seinen sehnlichsten Traum zu erfüllen: Er eröffnete seine eigene, kleine Praxis.

Direkt im Herzen von Berlin. Das alles lag jetzt schon mehr als fünfundzwanzig Jahre zurück. Dr. Wolski war ein guter Tierarzt. In Fachkreisen zählte er zu einem der besten. Seine Patienten waren bei ihm in guten, fachkundigen Händen und deren Besitzer hatten vollends Vertrauen zu ihrem Tierarzt. Die Praxis ernährte seine kleine Familie, ihn selbst, seine Frau und ihre gemeinsame Tochter, ganz gut.

Dennoch hatte Wolski niemals nur seinen Profit gesehen. Wie an seinem allerersten Tag, damals als frischgebackener Tierarzt, war er auch heute noch voller Enthusiasmus und Optimismus. Das Wichtigste waren für ihn noch immer seine geflügelten und vierbeinigen Patienten. Es gab keine Krankheit, kein noch so kleines Wehwehchen, das der visierte Tierarzt nicht zu behandeln verstand.

Einem kranken Tier zu helfen, das war der Lebensinhalt, die größte Freude für den Achtundvierzigjährigen.

Dafür war ihm kein Weg zu weit, um neue Informationen zu bekommen. An jedem, sich ihm bietendem, Kongress nahm er teil. Niemals hatte er sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Hatte niemals aufgehört zu lernen. Bestand nur die leiseste Hoffnung auf Heilung, versuchte er immer sein Bestes zu geben. Aber diesmal stand er vor einem Rätsel!

Dennoch versuchte er der alten Dame Mut zu machen, sie zu beruhigen. Schließlich hatte der Kater ja tatsächlich weder Fieber, noch zeigte er andere Anzeichen von einer ernstzunehmenden Krankheit. Eigentlich sollte es Alex gut gehen! Wolski war sich sicher, dass nicht einmal die Laborwerte etwas anderes zeigen würden. Dennoch … Alex war nicht der erste Patient, der genau mit diesen Symptomen, in den letzten Tagen, hier in seiner Praxis aufgetaucht war. Grundlose Apathie! So jedenfalls hatte Wolski in Zwischenzeit diesen Zustand benannt. Er hatte all diese Patienten aufs Gründlichste untersucht. Ohne Ergebnis! Er hatte ihr Blut und ihren Urin ins Labor gebracht. Hatte Röntgenaufnahmen und Ultraschallbilder von fast allen Teilen ihrer Körper angefertigt. Nichts. Auf jede erdenkliche Art hatte er seine Patienten untersucht und geprüft. Bei Patienten, deren Besitzer nicht über die notwendigen, finanziellen Mittel verfügten, um derartige kostspielige Untersuchungen zu bezahlen, hatte er die Kosten selbst übernommen. Dennoch gab es bis heute kein Ergebnis zu verzeichnen. Kein einziger Grund, für das merkwürdige Verhalten der Tiere, die weder fressen noch spielen wollten, war zutage getreten. Sie waren einfach zu keinerlei Aktivitäten zu bewegen. Alle Tiere, Säuger wie Vögel, saßen nur stumm da. Brüteten einfach vor sich hin. Der Wellensittich, der einige Stunden vor Alex in seiner Praxis gewesen war, hatte sich mühelos greifen lassen. Es war, als wäre er aus Plastik gewesen. Weder Flügel noch Kopf hatte er bewegt. Kein ängstliches Zwitschern, keinerlei Reaktionen, als Wolski ihn von seiner Sitzstange hob. Er fühlte sich steif an, beinahe tot. Es war dieselbe Art von Apathie, an der auch Alex litt.

Wolski war froh, dass der Siamkater für heute sein letzter Patient war. Er freute sich fast auf seinen Feierabend. Noch nie zuvor hatte er sich derart hilflos gefühlt! Wolski riet der alten Dame, den Kater oft zu streicheln und ihm gut zuzureden. Mehr konnte er nicht tun. Vielleicht würde Alex ja seine Apathie überwinden, bevor er sein Gewicht zu stark reduzierte. Die Gefahr war jedenfalls da, dass die Tiere verhungerten, obwohl keine Krankheit zu erkennen war. Das war es, was ihn so wahnsinnig machte.

Als er Frau Riemer mit ihrem Kater zur Tür hinaus gelassen hatte, ging er in sein Privatzimmer, das gleich an den Behandlungsraum grenzte. Dort ließ er sich schwermütig, mit verschränkten Armen auf der Couch nieder; er fühlte sich ausgelaugt, entkräftet. Als er seine Assistentin zu sich rief, musste er sich alle Mühe geben, um seiner Stimme die notwendige Lautstärke zu verleihen, die nötig war, um von Monika gehört zu werden.

Sein Mund fühlte sich trocken an. Seine Augen brannten. Er rieb sie mit seinen Händen, doch es half nicht. Das Brennen blieb.

„Gibt es denn gar keine Erklärung? Könnte es nicht doch ein Virus sein? Irgendein ausländischer vielleicht?“

Monika war leise ins Zimmer gekommen und setzte sich jetzt dem Tierarzt gegenüber. Ihre Stimme hatte Wolski aus seinen trübsinnigen Gedanken gerissen. Erschrocken blickte er die junge Frau an. Aber er brauchte nicht zu überlegen. Er kannte die Antwort. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf und blickte wieder zu Boden.

„Ich kann es mir nicht denken. – Nein! Vögel und Säuger reagieren auf unterschiedliche Erreger. Das sollten Sie auch wissen, Monika. – Aber in diesem Fall hier sind beide Arten betroffen. – Ich frage mich, aus welchem Grund die Tiere in diese … Apathie verfallen sind.“

Wolski schwieg eine Weile, dann kam ihm ein anderer Gedanke.

„Monika, bitte rufen Sie doch mal bei einem Tierarzt an, der nicht in unserem Bezirk praktiziert. Ich möchte wissen, ob woanders auch derartige Probleme aufgetreten sind.“

Wolski hatte nicht einmal zu Ende gesprochen, da hatte die junge Frau bereits den Hörer in der Hand. Sie wählte die Nummer von Dr. Schwarz, der seine Praxis am anderen Ende der Stadt hatte. Monika ließ das Telefon mehrere Male klingeln. Sie wollte schon enttäuscht auflegen, doch dann hatte sie doch Glück. Es war noch jemand dort. Dr. Schwarz hatte seine Praxis ebenfalls noch nicht verlassen. Also musste es auch dort Probleme geben. Monika sprach ein paar leise Worte mit dem anderen Tierarzt, bevor sie Wolski rief.

„Doktor, ich glaube das sollten Sie sich selber anhören!“ Sie reichte ihm den Hörer.

Nach einer Weile legte Wolski den Hörer zurück auf die Ladestation. Er selbst hatte die ganze Zeit geschwiegen, nur stumm zugehört. Jetzt atmete er kräftig durch. Seine blaugrauen Augen suchten den Kontakt mit dem Mädchen. Sein Gesicht zeigte noch mehr Beunruhigung als zuvor.

„Als ob ich es nicht geahnt hätte! Diese merkwürdige Apathie hat die ganze Stadt befallen. Wenn doch nur jemand einen einzigen Grund herausfinden würde! Aber Dr. Schwarz ergeht es da genau wie mir. Er steht genauso vor einem Rätsel wie ich."

In die Augen des Tierarztes stahl sich eine tiefe Traurigkeit und Resignation. Monika lief ein Schauer über den Rücken. Noch nie hatte sie ihren Chef so gesehen! Sie konnte an seinem Gesicht die Sorgen erkennen, die er sich um jeden Einzelnen seiner Schützlinge machte. Sie schüttelte den Kopf.

„Wenn Sie keine Erklärung haben, wer dann? – Sie werden es schon schaffen, Dr. Wolski. So wie immer!“, versuchte sie ihn zu trösten.

Sie mochte ihren Chef. Sie hatte immer schon ein gutes Verhältnis zu ihm und auch zu seiner Familie gehabt. Er war ein guter Tierarzt! Monika wusste das und sie hatte Vertrauen in sein Können. Doch diesmal spürte sie, dass diese neue Krankheit über seine Grenzen ging. Wie sollte sie ihn da aufmuntern?

„Ich weiß, Sie meinen es gut.“, sagte er jetzt mit belegter Stimme. „Aber leider kenne ich keinen Erreger, der hierfür verantwortlich sein kann. Trotzdem … es muss einfach ein Virus sein! – Nur, dass weder ich noch jemand anderes bis jetzt einen entdeckt hat. Verflucht noch mal! -Ich muss einfach wissen, wie weit sich diese Krankheit bereits ausgebreitet hat. Bitte Moni, schicken Sie Faxe in die anderen Städte. Ganz gleich, wohin! – Hoffentlich bewahrheitet sich meine Vermutung nicht.“

Er schüttelte den Kopf. Genauso wie ein Mann, der einfach aufgeben wollte und es nicht konnte. Monika wusste, er würde kämpfen, bis er irgendetwas gefunden hatte, das seinen Patienten helfen würde. Koste es was es wolle!

„Am liebsten würde ich jetzt einfach beten.“, murmelte er auf einmal, dann hob er sein Gesicht wieder seiner Sprechstundenhilfe entgegen.

„Ich denke, es wird das Beste sein, wenn ich erst einmal nach Hause gehe. Wir werden dann morgen weiter sehen. Gehen Sie jetzt auch nach Hause, Monika. Es ist schon spät. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Vielen Dank, dass Sie so lange geblieben sind.“

Wolski hatte sich, schon während er sprach, Wagenschlüssel und Jacke geschnappt und verließ nun, hängenden Kopfes die Praxis.

2

Als Wolski am nächsten Morgen seine Praxis betrat, war es noch sehr früh. Dennoch wurde er bereits erwartet. Kaum dass er die Tür aufgeschlossen hatte, lief Monika ihm auch schon entgegen. Er konnte ihrem Gesicht unschwer die Spannung ansehen, unter der sie stand.

„Guten Morgen“, grüßte der Tierarzt freundlich. „Haben Sie denn kein Zuhause mehr?“

Er lächelte sie an. Wollte sie beruhigen. Doch sein Lächeln verfehlte wohl jede Wirkung. Aufgeregt drückte ihm Monika ein Fax in die Hände, den sie noch gestern, spät abends, erhalten hatte. Sein Inhalt hatte das junge Mädchen die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Jetzt bemerkte Wolski auch die dunklen Ringe unter ihren Augen. Monika stöhnte:

„Oh Gott, Doktor! Es ist weitaus schlimmer, als wir erwartet haben. Noch viel schlimmer! Hier, lesen Sie! – Im ganzen Land sieht es so aus. Überall benehmen sich die Tiere so apathisch. – Ein Arzt aus München hat uns gefaxt, dass nicht nur die Haustiere so reagieren. Nein, auch ganz Hellabrunn ist von diesem Virus, oder was immer es ist, befallen! – Natürlich habe ich danach sofort unseren Zoo kontaktiert. Dasselbe traurige Ergebnis! Die Leitungen dort laufen heiß. Zuerst wollten sie mir nicht einmal eine Auskunft geben. Dabei hatte ich fast zwei Stunden gebraucht, um dort jemanden an die Strippe zu bekommen. Mein Fax wurde gar nicht erst beantwortet. Haben zu viele davon. – Die Zootiere lungern apathisch in den Ecken ihrer Gehege rum. Sie verweigern das Futter. Die Pfleger können sogar ungehindert in den Raubtierkäfigen herumlaufen. Die Tiere beachten die Menschen nicht einmal. Es ist der reinste Wahnsinn! Unsere besten Tierärzte beschäftigen sich mittlerweile nur noch mit dieser Sache. Ohne Ergebnis! Niemand weiß eine Erklärung. Es scheint überhaupt keine Lösung zu geben!“

Monika erzählte und erzählte. Es schien, als bräuchte sie überhaupt keine Luft zum Atmen. Wolski hatte versucht das Fax zu lesen. Aber dank Monikas Redeschwall hatte er es nach kurzer Zeit aufgegeben. Stattdessen hatte ihn das Mädchen ja nun auch aufgeklärt. Sie war jetzt ganz außer Atem. Die ganze Zeit über war sie in der Praxis auf und abgelaufen. Nun blieb sie vor Wolski stehen. In ihren Augen standen stumme Fragen. Besorgt blickte Wolski seine Sprechstundenhilfe an. Das Mädchen schien einem Nervenzusammenbruch ziemlich nahe zu sein. In ihren Augen glitzerten bereits Tränen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Wolski wusste, Monika hatte ein Herz, so weich wie Butter. Bei den kleinsten Problemen begann es zu schmelzen. Sie war immer bereit gewesen, für seine Patienten wirklich alles zu geben. In dieser Hinsicht war sie wie er selbst. Das war auch der Grund gewesen, weshalb er sie vor zweieinhalb Jahren eingestellt hatte. Wie viele Nächte hatte sie sich eigentlich für ein krankes Tier um die Ohren geschlagen? Man würde sie wohl nicht mehr zählen können. Zu gerne hätte er sie jetzt mit aufmunternden Worten getröstet. Stattdessen starrte er sie nur an. Verdammt, was hätte er ihr denn auch sagen sollen? Er wusste ja selbst nicht, was das zu bedeuten hatte! Welch gefährlicher Virus trug die Schuld an dem seltsamen Verhalten der Tiere? Noch immer stand er stumm da. Ungeordnete Gedanken strömten durch sein Hirn. Machten ihn ganz konfus. Er war noch immer unfähig etwas zu erwidern, als sich das Faxgerät wieder meldete. Wolski schüttelte den Kopf, so als wenn er versuchen würde, wieder Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. Dann erst lief er zum Empfang. Wieder war das Fax von Hellabrunn abgesandt worden. Aber es betraf nicht den Tierpark selbst. Was dort los war, hatten sie ja bereits bekannt gegeben. Monika hatte es ihm ja gerade erzählt. Was da jetzt über das Gerät kam, waren Meldungen aus Tageszeitungen und tierthematische Berichte aus ganz Deutschland, Belgien, der Schweiz und Frankreich, sowie ein Bericht eines norwegischen Zirkus. In allen diesen Berichten wurden dieselben Auffälligkeiten beschrieben. Überall waren die Tiere passiv, apathisch und verweigerten das Futter sowie jegliche Art von Bewegung. Der Zirkus hatte sämtliche Vorstellungen absagen müssen, was natürlich ein beträchtliches Manko in die Kasse riss. Aber das war Wolski egal. Das ging ihn nichts an. Viel wichtiger waren die Gründe hierfür! Dieser verfluchte Virus hatte also nicht nur landesweit um sich gegriffen. Er schien bereits ganz Europa befallen zu haben. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er die ganze Welt befallen würde! Vielleicht hatte er es aber bereits getan! Niemand, weder Tierärzte noch Wissenschaftler, die sich seit Tagen mit dieser neuen Situation beschäftigten, waren einer Lösung auch nur nahe gekommen.

Wolski war sich plötzlich sicher, entgegen seiner anfänglichen Annahme, dass es sich doch um einen Virus handeln müsse. Neuartig und gefährlich, aber ein Virus. Man müsste diesen Virus doch wenigstens lokalisieren können! Verdammt, das müsste man doch wohl schaffen! Doch bisher hatte man nichts gefunden. Was nun?

Wolski hielt noch immer das Fax in den Händen. Jetzt blickte er auf. Monika stand händeringend vor ihm. Was sollte er jetzt tun? Ihr das Fax geben, oder ihr erzählen, was drinnen stand? Er hatte Angst, dass sie dann wirklich den befürchteten Nervenzusammenbruch bekommen würde. Am liebsten hätte er diese neue, schreckliche Nachricht verschwiegen. Sie war auch so schon fertig genug! Aber sie stand da. Wartete mit aufgerissenen Augen. Irgendetwas musste er ihr doch sagen! Was soll´s, Lügen hätten sich sowieso nicht lange halten können. Er seufzte, dann sagte er mit leiser Stimme:

„Moni, ich habe wirklich keine Ahnung, vor was für einem Problem wir hier stehen. – Genauso wenig wie alle anderen Ärzte. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Es ist etwas vollkommen Neues!“

Wolski schluckte schwer. Dann fügte er noch leiser hinzu:

„Etwas Gefährliches. – Ich spüre es.“

Er hatte eigentlich nicht so direkt sein wollen. Jetzt tat es ihm leid, so offen gesprochen zu haben. Das Mädchen zollte es ihm auch gleich, indem sie nun endgültig in Tränen ausbrach. Sie schlug ihre Hände vors Gesicht und versuchte krampfhaft ihr Schluchzen zu unterdrücken. Doch nach kurzer Zeit hatte sie sich wieder gefasst. Wolski staunte. So viel innere Stärke hätte er ihr gar nicht zugetraut. Nun stand sie da, und schaute ihn aus ihren traurigen Augen an.

„Meinen Sie, dass alle unsere Tiere an diesem Virus sterben werden? Haben wir dann vielleicht keine Tiere mehr? Das kann doch nicht wirklich sein!“

Monika blickte den älteren Mann an, wie ein verängstigtes, kleines Kind, den Weihnachtsmann. Erst jetzt bemerkte Wolski, welcher Art Monikas Gedankengänge tatsächlich waren. Sie hatte geklungen, wie ein kleines Mädchen. Und doch! Hatte sie nicht recht?

Dieses Virus, das die Tiere, ganz gleich ob Haus- oder Wildtier, zu völliger Apathie verdammte, verurteilte sie ebenfalls dazu, einfach zu verhungern! Das alles konnte, beachtete man den natürlichen Kreislauf des Lebens, tatsächlich zum Aussterben aller Tierarten führen. Die einzige Ausnahme würden dann wohl Insekten, oder vielleicht auch Reptilien bilden. Oh Gott! Über kurz oder lang konnte das nicht zum Aussterben sämtlichen Lebens, also auch des menschlichen, führen?

„Setzten Sie sich.“ Wolski zog das Mädchen, das unruhig, wie ein junger Wolf den Tisch umrundete, wieder neben sich auf die Couch. Tröstend legte er einen Arm um die jugendliche, zerbrechlich wirkende Schulter. Monika hob ihr Gesicht dem älteren Mann entgegen und schaute ihn aus großen, traurigen Augen an. Sie wandte sich an ihn, hilfloser und hoffnungsvoller als seine eigene Tochter es jemals getan hatte. Wie ein Kind, das den Weihnachtsmann um ein Wunder bitten wollte. Wolski wunderte sich über seine eigenen Gedankengänge. Wie konnte er Monikas Verzweiflung nur mit kindlichem Verhalten vergleichen?! Es tat ihm leid, aber er konnte selber nur ratlos mit den Schultern zucken. Wie gerne hätte er sie jetzt getröstet! Doch er wusste, wenn er das jetzt nur versuchte, wäre es eine Lüge und würde ihr Vertrauen für alle Zeiten zerstören. So sagte er nur:

„Ich weiß es wirklich nicht. – Wenn heute keine Patienten mehr gebracht werden, ich meine wegen eines normalen Leidens, dann werde ich heute Abend nach London fliegen. Ich denke, wir brauchen einen Ort, wo sich Tierärzte und Wissenschaftler treffen, um gemeinsam über die Sache nachdenken zu können. Ich werde mich in London darüber informieren. Nur so können wir dieser verfluchten Krankheit auf die Spur kommen. – Wenn überhaupt!“

Wolski starrte geradeaus. In seinen Gedanken jagten sich sämtliche existierende und nicht existierende Möglichkeiten. Er hätte nicht einmal sagen können, wie er ausgerechnet auf London gekommen war. Überall saßen Wissenschaftler und Tierärzte schon zusammen. London war ihm nur gerade so in den Sinn gekommen.

Er hatte noch immer seinen Arm um Monika geschlungen; aber er bemerkte es nicht einmal. Diese Sache war zu viel für ihn! Sie rieb ihn allmählich auf. Er spürte ein leichtes Zittern unter seinen Handflächen. Als er nun seine Sprechstundenhilfe ansah, bemerkte er, dass ihr Blick nun noch ängstlicher geworden war.

„Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist.“, sagte sie jetzt.

In ihrer Stimme klang angehende Hysterie. „Sehen Sie, Zusammenarbeit kann doch auch über den Computer funktionieren. Warum wollen Sie denn gleich weg? Man müsste doch nur eine extra Seite anmelden, die auf ihren Namen geht. Und schon haben Sie jeden Kontakt, den Sie wünschen. – Na kommen Sie, Sie wissen doch, was ich meine?!“

Jetzt schwieg sie eine Weile, in der sie ihn nicht aus den Augen ließ.

Dann fuhr sie mit ruhiger gewordener Stimme fort: „Sie werden hier gebraucht! Das ist Ihnen doch wohl klar. Zu ihnen haben ihre Kunden Vertrauen. Sie dürfen sie jetzt doch nicht allein lassen! Wer sonst sollte sich jetzt hier um die verunsicherten Besitzer kümmern, wenn Sie nicht hier sind? – Was machen eigentlich ihre Hunde? Denen geht es doch sicherlich auch nicht besser, oder?“

Monika hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt. So jedenfalls war das Gefühl, das er jetzt verspürte. Einige Minuten starrte er das junge Mädchen nur an. Wie zerbrechlich und gleichzeitig auch stark sie doch wirkte! Dann nickte er ernst.

„Die meisten Probleme macht mir meine Tochter. Ihr geht das alles so sehr ans Herz. Manchmal befürchte ich, dass sie selber krank wird. Stumper und Rondo scheinen sie nicht mehr zu kennen. Trotzdem habe ich lange Zeit gehofft, dass es sich von allein wieder geben würde. Ich glaube, wenn es um meine eigenen Hunde geht, bin ich genauso blind, wie jeder andere auch. – Komisch, nicht?! –Oh Mann, ich mach mir wirklich Sorgen um Melanie! Sie sitzt den ganzen Tag nur bei den Hunden. Sie versucht alles, um sie aus ihrer Lethargie herauszuholen. Manchmal bleibt sie die ganze Nacht wach. Ich denke, wenn das so weiter geht, fallen ihre Zeugnisse diesmal nicht so gut aus. Aber wie will ich ihr verbieten, was ich eigentlich selbst gern tun würde? Glauben Sie mir Moni, wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass es sinnlos ist, würde ich …“

„Welche Klasse ist Melanie jetzt?“

„Sie kommt in die Elfte. Da ist die Schule ja auch nicht mehr so leicht zu meistern. Sie muss schon etwas dafür tun. Da braucht sie doch ihren Schlaf und ihre Konzentration. – Aber ich bin machtlos! Sie hängt so sehr an den beiden Rottis. Na ja, schließlich haben wir Rondo nun schon seit elf Jahren. Am liebsten würde ich ihn einschläfern. Ich weiß, es wäre für den alten Raufer am humansten. Das würde ich doch jedem anderen auch sagen; das wissen Sie! Aber wie soll ich das meiner Tochter beibringen? Sie hat ihn damals selbstständig mit der Flasche aufgezogen, weil die Mutter zu viele Welpen hatte. Oh Gott, war Rondo damals klein, und Melanie war schon so selbstständig. Sie hat das damals wirklich gut gemacht, obwohl sie ja auch noch so jung war.

Stumper ist wiederum der erklärte Liebling meiner Frau. Sie sagt zwar nichts, - aber ich glaube, im Stillen macht sie mir Vorwürfe. Sie kann einfach nicht verstehen, weshalb ich unseren Hunden nicht helfen kann. Denkt vielleicht sogar, ich mache mir zu wenig Gedanken darüber! – Ach, was weiß ich …! Wissen Sie Moni, das alles geht ziemlich an die Nieren. Am liebsten würde ich wirklich einfach abhauen!“

Wolski blickte wieder die junge Frau an seiner Seite an. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wangen.

„Sie glauben also auch, dass man den Tieren nicht helfen kann? Dass sie sterben werden? – Sie werden verhungern. Das wollten Sie doch sagen, oder?“

Monika drehte sich weg. Wolski hatte plötzlich das Gefühl, auch in ihrer Frage eine stumme Anklage zu hören. Doch anstelle einer Antwort fasste er Monika an den Schultern und drehte sie wieder zu sich herum.

„Sagen Sie Monika, Sie haben doch auch Tiere? Nein, ich meine nicht ihre Katze. Sie halten doch Schlangen, wenn ich richtig informiert bin. Wie geht es denen? Sind die auch krank?“

Wolskis Blick verriet, dass irgendeine neue Idee in seinem Kopf herumspukte. Monika unterdrückte tapfer die Tränen. Verstört von der plötzlichen Heftigkeit, mit der Wolski sie jetzt festhielt, schüttelte sie den Kopf.

„Nein, bis jetzt habe ich nichts dergleichen bemerkt. Nur merkt man das bei Reptilien ja sowieso nicht sofort. Sie wissen doch, Schlangen fressen nicht täglich und es gibt sowieso Tage, an denen sie sich kaum bewegen. – Aber nein, ich denke, sie fressen normal. Aber die Mäuse sind auch krank. Ich wundere mich, dass die Schlangen sie überhaupt annehmen. Normalerweise gehen sie gar nicht an kranke Beute.“

Das war zwar nicht richtig, aber Wolski nickte nur gedankenverloren. Jetzt erst ließ er die junge Frau wieder los. Er starrte geradeaus und nickte noch immer vor sich hin. Dann sagte er:

„Rufen Sie doch mal im Aquarium an. Nein, lassen Sie es. Das mache ich selber.“

Wolski stand auf und wollte zum Telefon. Aber Monika hielt ihn am Ärmel fest.

„Doktor! Ich habe bereits dort angerufen. Reptilien und Fische sind wohlauf. – Vielleicht sollte ich meiner Python ein Halsband kaufen?! Werden sie dann die Haustiere von morgen sein?“

3

Schweden

Annicka Lundgren bot ihren Hunden nun schon zum x. mal das Futter an. Der Tierarzt, dem sie ihre Hunde vor zwei Tagen erst vorgestellt hatte, hatte keine Diagnose stellen können. Im Gegenteil: Er war ratlos gewesen. Zuerst hatte Annicka sich über sein Verhalten gewundert, aber dann hatte sie den Grund dafür erfahren. Ihre Hunde waren nicht die einzigen Tiere, die unter dieser, scheinbar grundlosen, Apathie litten; alle Tiere im Umkreis zeigten dieselben Symptome. Heute früh erst hatte der Tierarzt angerufen. Er hatte Annicka erklärt, es handel sich um einen völlig neuartigen Virus, der nicht einmal lokalisiert werden konnte. Er hatte sie gebeten, sich sofort bei ihm zu melden, wenn irgendwelche Änderungen eintreten sollten. Annicka beobachtete ihre Hunde intensiv. Aber der Anruf des Tierarztes war nicht der einzige Grund für die erhöhte Beachtung, die sie ihren Hunden schenkte. Nick, Annickas Mann, arbeitete wieder in seiner Autowerkstatt, die direkt an das Wohnhaus grenzte. Auch ihre beiden Söhne, Ronny und Busse, waren nicht zuhause. Sie besuchten die drei Kilometer entfernte Schule. Sie war also allein im Haus. Ihre Hausarbeit hatte sie schon früh erledigt und bis zum Mittagessen waren es ebenfalls noch zwei Stunden Zeit. Genug Spielraum also, um sich intensiv mit den Tieren zu befassen. Såra, ihre Altdeutsche Schäferhündin und Riek, ihr Pudelpointer, waren beide im Zwinger untergebracht. Riek war der Jagdhund ihres Mannes. Såra hatte eher die Aufgabe eines Wachhundes. Nachts wurde sie aus dem Zwinger gelassen, sodass sie das einsam gelegene Grundstück bewachen konnte. Da Såra ihrer Aufgabe aber mehr als gerecht wurde, durfte sie tagsüber den Zwinger nicht verlassen. Zu oft bekamen die Lundgrens unverhofften Besuch. Dafür sorgten schon allein die beiden Jungs. Aber auch Kunden kamen oft vorbei. Deshalb wäre es zu gefährlich, den scharfen Hund frei laufen zu lassen. Zu ihrer Familie aber war Såra liebevoll und zärtlich. Annicka schmunzelte bei dem Gedanken. Aber auch Riek durfte, dank seiner Jagdpassion, nicht unbeaufsichtigt im Garten herumlaufen. Annicka dachte an die Tage, als Riek gerade den Zwinger verlassen hatte und aufgeregt schnüffelnd durch den Garten gerannt war. Auf der Suche nach einem Kaninchen oder vielleicht sogar einer kleinen Katze. Jetzt aber war alles anders. Apathisch saßen sie in ihren Zwingern. Kaum dass sie sich einmal bewegten. Genau wie die beiden anderen Hunde der Familie, die im Haus gehalten wurden. Jetzt standen Rieks und Såras Zwingertüren offen. Es interessierte beide Hunde nicht! Wehmütig beobachtete Annicka Riek, während sie hoffte, doch noch einmal seinen freudigen Blick zu sehen wenn er, stolz wie ein Pfau, ihr seine Beute zu Füßen legte. Nick hatte Riek immer etwas von seiner erlegten Beute nach Hause tragen lassen, dass ihr der Hund dann, mit Hoffnung auf Belohnung, präsentieren durfte. Annickas Blick wanderte zur Schäferhündin. Wann würde Såra wieder mutig aufspringen, wenn sich draußen ein Fremder dem Grundstück näherte? Heute geschah jedenfalls nichts dergleichen! Aber was für Annicka noch schwerer zu tragen war, war die Tatsache dass auch Raya, ihre zweieinhalb Jahre alte Stockhaarschäferhündin und Puk, ihr kleiner, schwarzer Zwergpudel dieselben Reaktionen zeigten. Nämlich gar keine! Im Haus war es still geworden. Niemand tobte mehr ausgelassen herum. Kein dargebotener Leckerbissen, kein liebes Wort brachte da auch nur eine kleine Veränderung. Trotzdem! Die Apathie war nicht alles, worüber Annicka sich Sorgen machte. Vor zwei Tagen hatte Nick die Idee gehabt, eine Katze in Rieks Zwinger zu setzen. Zuerst hatte Annicka protestiert. Aber dann hatte auch sie eingesehen, dass dieses wahrscheinlich das Einzige war, das den Hund aus seiner Apathie reißen könnte. Doch nichts geschah. Katze und Hund waren sitzen geblieben. Keiner von beiden hatte das Interesse des anderen wecken können. Sie schauten sich nicht einmal an. Wenige Tage zuvor wäre eine derartige Reaktion der Tiere unvorstellbar gewesen!

Doch Riek hatte reagiert. Auch wenn Nick nichts davon bemerkt hat. Sie hatte es registriert! Riek hatte Nick angesehen. Annicka hatte den Eindruck, dass Vorwurf in Rieks braunen Hundeaugen gelegen hatte, als er den Blick auf Nicks Rücken gerichtet hatte. Aber als Annicka es Nick sagte, hatte der nur gelacht und gesagt, sie hätte eine ausgeprägte Fantasie. Trotzdem hätte sie schwören können…!

Gedankenversunken starrte sie auf die beiden Hunde. Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken und verschaffte ihr eine Gänsehaut, als wäre es tiefster Winter. Såra und Riek lagen in ihren Zwingern, die Pfoten lang ausgestreckt und schienen vor sich hinzu dösen; dennoch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, von ihnen beobachtet zu werden. Auch heute früh, als sie den Kaffee gebrüht hatte, war es ihr so vorgekommen, als ob Puk sie nicht aus den Augen ließ.

Sein Blick schien sie zu verfolgen. Aber jedes Mal, wenn sie sich dem Hund zuwandte, starrten seine braunen Augen ins Leere. Seltsam, ihre Hunde waren eindeutig krank. Sollte ihre Sorge dann nicht allein deren Gesundheit gelten? Dennoch, es war bereits so, dass sie sich ausgesprochen unwohl in deren Gesellschaft fühlte. Warum nur? Nick konnte ihre Bedenken auch nicht verstehen. Jedes Mal, wenn sie ihn darauf angesprochen hatte, was in den letzten zwei Tagen häufiger geschehen war, hatte er ihr nur mit einem Lächeln geantwortet. Sie glaubte ja selbst schon an eine Sinnestäuschung. Aber heute Morgen, als Ronny aus dem Badezimmer gekommen war, hatte der Pudel vor der Tür gelegen. Zwar in sich zusammengerollt, wie eine kleine schwarze Kugel, aber er hatte sich zumindest bewegt. Sie hatte ihn noch liegen gesehen und es als gutes Zeichen gewertet, dass der Pudel seinen Platz gewechselt hatte. Sie war wieder in die Küche gegangen, hatte aber kurz darauf ihren Sohn rufen gehört. Als sie dann zu ihm geeilt war, hatte das Kind geweint. Er sagte, Puk hätte geknurrt und die Zähne gefletscht. Allerdings hatte sie nichts dergleichen gesehenen. Puk hatte sich benommen, wie zuvor. Er lag nur still da und starrte geradeaus. Skeptisch hatte sie den kleinen Hund beobachtet. Aber auch als sie ihn vorsichtig streichelte, hatte der Hund sich nicht bewegt. Dennoch, der Junge konnte sich doch seine Geschichte nicht nur aus den Fingern gesogen haben! Annicka hatte sich vorgenommen, nicht mehr mit Nick über ihre Gefühle zu reden. Bis zu diesem Moment! Noch immer stand Annicka vor dem Zwinger und beobachtete die Schäferhündin und den Pudelpointer. Keiner von ihnen schien sich bewegen zu wollen. Alles war beim Alten geblieben. Trotzdem kroch die Angst in ihr hoch. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Apathie nur Schein war. Dass etwas ganz anderes dahinter steckte! Sie nahm sich vor, heute Abend doch noch einmal mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Vielleicht, wenn Ronny ihm erzählte, was heute Morgen geschehen war, würde er sie nicht mehr auslachen!

4

Petra Wolski glaubte zu träumen. Doch da war es wieder. Dieses Geräusch! Es läutete an der Haustür. Um diese Zeit! Petra blinzelte verschlafen auf die Leuchtziffern ihres Weckradios. 2h. Neben ihr schnarchte ihr Mann in tiefem Schlaf. Neuerdings hatte er damit begonnen, ganze Bäume nachts zu fällen. Petra wusste, wie viel er in letzter Zeit arbeitete. Er brauchte ihr nichts zu erklären: Sie wusste, wie sehr ihn diese neuartige Krankheit mitnahm. Also raffte sie sich auf. Zwar ebenfalls widerwillig tastete sie nach ihrem Morgenmantel aus hellblauer Seide, den sie ordentlich über das Fußende gehängt hatte und machte sich daran, die Treppe hinab zu steigen. Da läutete es wieder. Diesmal musste der nächtliche Besucher seinen Finger auf der Klingel gelassen haben. Das Geräusch schrillte durch das ganze Haus und kostete beinahe ihre letzten Nerven.

„Ja, ja! Ich komme ja schon!", rief sie unwirsch.

Bevor sie die Haustür öffnete, zog sie den Gürtel, ihres Morgenmantels, noch mal fest und schaltete das Licht an.

„Ich muss sofort den Doktor sprechen! – Wo ist er?“, rief der Mann und setzte bereits seinen Fuß in die Tür.

Ja, wusste er denn nicht, wie spät es ist?!

Petra musterte den nächtlichen Besucher irritiert. Er atmete schwer. Schien sich wirklich keine Gedanken um die Uhrzeit zu machen. Seine Augen blinzelten nervös. Treffender wäre es wohl, seinen Blick gehetzt zu nennen.

Noch immer stand der Mann zwischen Tür und Angel.

„Aber er schläft doch. Wissen sie eigentlich, wie spät es ist…?“, presste Petra leise hervor. Doch dann blieben ihr die Worte im Halse stecken. Der Eindruck, den dieser Mann machte, verbot ihr einfach jedes weitere Wort. Der korpulente, alte Mann stand, völlig durchnässt, im strömenden Regen. Obwohl er ja bereits fast im Haus war, prasselten die dicken Regentropfen auf seinen Rücken und ließen ihn hin und her schwanken. Der Himmel hatte wohl sämtliche schwere Wolken über der Stadt zusammengezogen und entleerte sie gerade in diesem Moment. Der Alte begann zu zittern. So stark, dass sein künstliches Gebiss übereinanderschlug. Wie er so dastand, und sie mit ängstlichen Augen ansah, wirkte er wie das berühmte verlorene Schaf.

„Na, kommen Sie erst mal rein. – Warten Sie, ich hole ihnen ein Handtuch. Sie sind ja klitschnass!“, sagte sie versöhnlich und gab den Eingang frei. Der Alte schien Sekunden zu zögern, dann sagte er plötzlich mit fester Stimme:

„Holen Sie ihren Mann. Es ist wichtig!“

Trotz seiner Stimme, die jetzt wie ein Befehl und kein bischen mehr nervös klang, war er völlig verstört. Petra sah ihn an. Seine Augen machten den Eindruck, als wollten sie gleich aus ihren Höhlen springen. Was hatte er nur? Was war denn so wichtig, dass es nicht bis zum nächsten Tag warten konnte? Schließlich war ihr Mann ja kein Humanmediziner! Sie blickte den Mann fragend an. Doch plötzlich schrie er:

„Frau Wolski! Verflucht noch mal! Holen sie endlich ihren Mann! – Meine Frau…“

Er verstummte wieder abrupt. Doch schlagartig brach er in Tränen aus. Von einem Moment zum anderen schien ihn seine Wut verlassen zu haben. Und die war wohl das Einzige gewesen, was ihn noch aufrecht gehalten hatte. Petra fühlte sich hilflos. Konnte sie es überhaupt wagen, den Mann jetzt allein zu lassen? Doch wie sonst sollte sie Andreas benachrichtigen?

„Bitte beruhigen Sie sich! Ich bin gleich wieder da. Ich werde meinen Mann ja holen. Beruhigen … „, sagte sie beschwichtigend und wollte nach oben laufen. Doch da hörte sie schon seine vertraute Stimme.

„Ich bin ja schon hier. – Es ist schon gut, Petra. Lass uns mal kurz allein, bitte.“, sagte er und war schon dabei herunter zu kommen.

Der Lärm hatte ihn natürlich bereits geweckt. Mit Morgenmantel und Hausschuh bekleidet, kam er jetzt auf sie zu. Petra hörte noch, wie der Alte einen lauten Seufzer tat. Dann stürzte er händeringend an ihr vorbei, auf den Veterinär zu.

„Dr. Wolski!“, schrie er. „Meine Frau… sie ist tot! Verstehen Sie?! Sie haben sie umgebracht!“

Petra und Andreas Wolski hatte den Mann ins Wohnzimmer geschoben, wo Petra ihm einen der Essstühle zurechtgestellt hatte. Beide stützen den alten Mann jetzt, bis er sicher saß. Hatte Petra das richtig verstanden? Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Bestürzt sah sie ihren Mann an. Doch der deutete ihr nur, das Zimmer zu verlassen. Schulter zuckend und mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, ließ sie die beiden Männer allein.

Beruhigend wandte der Arzt sich jetzt an den alten Mann.

„Bitte beruhigen Sie sich, Herr Schuhmann. Wer hat ihre Frau umgebracht? Wen meinen Sie?“

Zur halb offen stehenden Tür gewandt sagte er laut:

„Petra, bringe doch bitte einen Kaffee und einen Cognac für Herrn Schuhmann. – Dann erzählen Sie bitte, alles der Reihe nach.“

Als Petra nach kurzer Zeit, in der Schuhmann geschwiegen hatte, mit dem Geforderten zurückkam, nahm er ihr alles mit zitternden Händen ab. Er versuchte sogar, ihr dankend zuzulächeln; was allerdings nicht ganz glücken wollte. Doch Petra konnte den Mann natürlich verstehen. Er musste Schlimmes erlebt haben! Während sie sich wieder diskret zurückzog, rückte Wolski sich einen Stuhl zurecht und setzte sich Schuhmann gegenüber. Wolski kannte den Alten. Er wusste, dass Schuhmann erst vierundsechzig Jahre alt war, obwohl er heute eher wie achtzig aussah. Seine Frau war zwei Jahre jünger gewesen. Der Tierarzt kannte beide schon seit Jahren. Jetzt lebte Frau Schuhmann nicht mehr. Sie war ermordet worden! Aber von wem? Wolski war fassungslos. Dennoch konnte er beim besten Willen nicht verstehen, weshalb Schuhmann ausgerechnet zu ihm kam. Schließlich war er Veterinär und kein Polizist! Eine schreckliche Ahnung überkam ihn.

Der Alte unterdrückte sein Schluchzen nur mit Mühe. Aber schließlich hatte er sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er berichten konnte.

„Die Hunde… sie haben… sie getötet!“, stammelte er verzweifelt. Jetzt hob er seinen Blick, den er bisher stumm auf den Teppich gerichtet hatte, Wolski entgegen. Der Tierarzt wusste nichts zu sagen. Er brauchte einige Minuten, ehe er verstand.

„Ihr Schäferhund war aber doch nicht bissig.“, sagte er nur und merkte selber, wie dümmlich das klang.

Aber jetzt war auch er wirklich verstört. Er kannte doch den Harras. Der Hund war seit seiner sechsten Lebenswoche sein Patient gewesen. Jetzt war der Hund fünf Jahre alt. In der ganzen Zeit hatte Wolski Harras nur als ruhiges, versöhnliches Tier kennengelernt. Er war ein Hund, der sich fast alles bieten ließ. Kaum etwas brachte dieses Tier aus der Ruhe. Und nun sollte er Schuld am Tode seines Frauchens haben? Unfassbar!

Doch Schuhmann schüttelte den Kopf.

„Nein, nicht der Harras. Den haben wir vor ein paar Wochen, nach Bielefeld, zu meiner Schwester gegeben. Sie hat ein großes Grundstück. Seid der Schwager im Krankenhaus ist, hatte sie immer solche Angst, so allein. Is´ besser so! Nein, nicht der Harras. Die Dackel waren es. Die haben meine Frau umgebracht!“

Jetzt hätte Wolski am liebsten gelacht. Das konnte doch wohl nur ein Scherz sein! Noch dazu ein schlechter! Aber er nahm sich zusammen. Fragte mit ruhiger Stimme:

„Die Dackel haben Ihre Frau gebissen?“

Er brachte es nicht fertig, umgebracht zu sagen. Das klang doch alles ziemlich verrückt! An einem Dackelbiss war noch niemand gestorben! Trotzdem… Schuhmanns Blick verriet den Ernst der Situation.

„Doch! Ich weiß, es hört sich verrückt an. Ich hätte es auch nicht glauben wollen. – Aber genauso ist es! Die Dackel haben meine Frau getötet. Sie… haben… sie… beinahe aufgefressen!“

Tränen traten wieder in Schuhmanns Augen. Plötzlich überzog eine Gänsehaut Wolskis Rücken. Seine Hände waren schlagartig schweißnass. Verstört fuhr er sich über die Augen. Träumte er nur? Er hoffte es inbrünstig! Doch die Situation blieb dieselbe; ganz gleich, wie oft er seine Augen zusammenkniff. Leise fragte er schließlich nach einer Erklärung.

Herr Schuhmann röchelte nach Luft. Sein linker Arm begann unvermittelt stark zu zittern. Wahrscheinlich das Überbleibsel eines erlittenen Schlaganfalls, dachte Wolski. Er hatte gar nicht gewusst, dass Schuhmann so etwas gehabt hatte. Er hatte den Mann immer für kerngesund gehalten. Wolski wunderte sich über sich selber. Dass er überhaupt noch zu derartigen Wahrnehmungen fähig war! Dabei hatte er selbst das Gefühl, als wenn er gleich ersticken müsste. Schuhmann selbst war das Zittern auch nicht entgangen. Mit der rechten Hand griff er jetzt nach seinem zitternden Arm und versuchte diesen ruhig zu stellen. Dann begann er:

„Ich war nicht zu Hause. War im Lokal an der Ecke, als es passiert ist. Meine Frau wollte nicht mitkommen. Sie war schon im Bett, als ich ging. Unsere Hunde, ich meine natürlich nur die Dackel, schliefen schon von Anfang an mit bei uns im Zimmer. Meine Frau wollte das so. Ich war machtlos dagegen. In der letzten Zeit, als die Hunde so krank waren, hat sie die Dackel sogar mit ins Bett genommen. Na ja, sie machte sich halt so große Sorgen. Sie wissen schon, wegen dieser schlimmen Apathie. Ich war doch deshalb erst… letzte Woche?, bei Ihnen. Sie hatten noch immer nichts fressen wollen. Meine Frau war ganz fertig mit den Nerven. Sie hat sie doch so geliebt… Diese Mistviecher! Jedenfalls, als ich dann abends nach Hause gekommen bin, fand ich sie! Diese verfluchten Biester hatten ihr die Kehle zerbissen! - Ich glaube, sie hatte nicht die geringste Chance. Wäre ich doch nur da geblieben! – Oh Gott! – Sie hatten immer noch ganz blutige Schnauzen! – Einfach alles – war voller Blut! Lisbeth war… ihre Gurgel war zerbissen. Es war ein furchtbarer Anblick! Und was machen diese Höllenviecher? Sie knurren mich an! Sie wollten mich beißen. Ich habe sie weggetreten.“

Schuhmann fing wieder laut zu weinen an. Wolski musste ihm Zeit geben, sich erneut zu fangen.

„Ich habe dann die Polizei gerufen. Ich musste die Tür schließen. Musste diese Viecher bei meiner toten Lisbeth lassen. Damit ich überhaupt telefonieren konnte. Die Polizei hat die Hunde dann auch mitgenommen. Es war das reinste Affentheater! Sie haben um sich gebissen, als hätten sie den Verstand verloren. Haben sich wohl als Doggen gefühlt! Sogar einen der Polizisten haben sie in die Hand gebissen. – Dr. Wolski, warum ich hier bin… Haben sie die Tollwut? Sind die Dackel tollwütig?“

Dr. Wolski konnte nicht gleich antworten. Etwas hielt seine Zunge fest. Er konnte sie nicht bewegen. Er brauchte Zeit. Nicht für die Antwort, denn die war klar! Aber er brauchte Zeit, um diese fürchterliche Geschichte zu verarbeiten. Doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.

„Nein Herr Schuhmann, Ihre Hunde waren geimpft. Nein, sie haben auf keinen Fall die Tollwut. Das kann ich Ihnen versichern. Außerdem zeigt diese Krankheit auch ein ganz anderes Bild. – Die Apathie, unter der Ihre Hunde gelitten haben, hat landesweit um sich gegriffen. Vielleicht sogar europaweit. Nicht nur Hunde, sondern auch Katzen und Vögel und auch alle anderen Tiere leiden darunter. – Aber Ihre Dackel sind die einzigen Tiere, die bisher jemanden angefallen haben.- Leider kann Ich ihnen nicht mehr sagen. Die Wahrheit ist, dass ich es selber auch nicht verstehen kann. Es tut mir leid! – Wir Tierärzte stehen, zumindest was diese Apathie angeht, vor einem Rätsel. Aber das habe ich Ihnen ja bereits alles erklärt, als Sie bei mir in der Praxis waren. – Nein, ich kann Ihnen wirklich nicht erklären, was da passiert ist. Oder, weshalb gerade Ihre Hunde… Es tut mir so leid, Herr Schuhmann. Aber ich kann Ihnen da nicht helfen.“

Der alte Mann hatte, während Wolski gesprochen hatte, seinen Blick in dessen Gesicht vertieft. So als hoffe er darin etwas lesen zu können, das der Tierarzt ihm lieber verschweigen würde. Aber es hatte sich nichts gezeigt, dass diese Annahme bestätigen könnte. Jetzt schien Schuhmann über etwas anderes nachzusinnen. Er öffnete seinen Mund, so als wenn er etwas sagen wollte. Aber dann nickte er nur stumm. Wolski hatte ihn überzeugt, dass seine Hunde nicht an der gefürchteten Tollwut erkrankt waren. Aber das half ihm jetzt auch nicht weiter. Eigentlich hätte er es sich selber denken können, dass es nicht diese Krankheit war. So jung war er ja nun auch wieder nicht!

Wolski betrachtete das Gesicht des Mannes. Er schien in den letzten Stunden um Jahre gealtert zu sein. Der Eindruck, den er zu anfangs gemacht hatte, schien sich nur noch zu verstärken, je länger Wolski ihn ansah. Ganz langsam stand er jetzt auf, seine Hände stützten sich auf die Lehne des Stuhls. Schweigend, ohne Wolski auch nur noch einen Blick zuzuwerfen, lief er zur Tür. Er öffnete bereits die Haustür. Der Mann schien so in seine Gedanken vertieft zu sein, dass es schon an ein Wunder grenzte, dass er nicht gegen die Wände lief.

„Warten Sie doch!“, rief Wolski ihm nach. Er war aufgestanden und setzte dem Mann hinterher. „Ich werde Sie nach Hause fahren.“

Doch Schuhmann winkte nur teilnahmslos ab. Schon fiel die Tür ins Schloss. Wolski überlegte kurz, ob er ihm folgen sollte. Er entschied sich allerdings dagegen. Er konnte den Alten verstehen. Er wollte keine Hilfe. Er wollte ganz einfach alleine sein. Wahrscheinlich passte das Wetter, draußen regnete es noch immer, auch zu seiner inneren Stimmung. Vermutlich tat ihm das Laufen in der feuchten, nächtlichen Luft besser, als von jemandem gefahren zu werden, mit dem er sich hätte unterhalten müssen.

Trotz der verschlossenen Zimmertür hatte Petra doch fast alles hören können, was gesprochen wurde. Jetzt kam sie herein und reichte diesmal ihm einen doppelten Cognac. Ja, sie wusste, wie sehr er das jetzt brauchte! In seinem Gesicht spiegelte sich die Angst. In seinen Gedanken lieferten sich die schlimmsten Dinge harte Schlachten. Aber sie würde warten müssen, bis er von selbst reden wollte. So setzte sie sich nur stumm neben ihn und beobachtete sein Gesicht.

5

Der kleine, blonde Junge, er mochte vielleicht so um die fünf Jahre alt sein, versteckte sich scheu hinter dem Rücken seiner Mutter. Seine dunkelblauen Augen blickten skeptisch hinter ihrem Rücken hervor.

„Was ist denn mit dir?“, wollte seine Mutter wissen. Sie gab sich alle Mühe, das Kind hinter sich hervor zu ziehen. Doch der Junge stemmte sich mit aller Kraft dagegen.

„Aber du warst doch sonst immer gerne hier und hast dir die schönen Vögel angesehen.“, sagte sie jetzt erstaunt.

„Schau mal, Mami!“, rief der Knirps und deutete mit ausgestrecktem Arm hinter ihrem Rücken hervor.

„Die Vögel sehen uns heute so komisch an. Ich habe Angst. Bitte komm. Ich will nicht hier bleiben!“

Seine Mutter schaute in die Voliere, in der die Gelb- und Weißhaubenkakadus untergebracht waren und schüttelte nur lächelnd den Kopf. Was hatte das Kind nur heute? Die Vögel machten doch gar nichts Besonderes! Trotzdem ließ sie sich dann doch von ihrem Sohn fortziehen.

Ralf Borowski, der Revierleiter der Vogelhäuser, blickte Mutter und Sprössling nachdenklich hinterher. Anders als die Mutter des Steppke, dachte Borowski über die Angst des Kindes nach. Er ahnte, was der Junge gesagt hatte, entsprach der Wahrheit! Er selbst hatte das auch schon vor Tagen festgestellt. Die Vögel benahmen sich seltsam. Sie beobachteten die Besucher, die vor ihren Käfigen standen. Etwas Hinterlistiges war in ihren runden Augen. Jedenfalls hatte Borowski dieses merkwürdige Gefühl, dessen Ursprung er sich allerdings nicht so recht erklären konnte. Er hatte sich selber schon den sprichwörtlichen Vogel gezeigt; das konnte doch nicht sein! Dennoch, das Gefühl blieb.

Die Zootiere litten jetzt beinahe schon vier Wochen an dieser seltsamen Apathie. Regelmäßig kam der Zootierarzt, um nach ihnen zu sehen. Doch jedes Mal, wenn Borowski ihn nach dem Zustand seiner Schützlinge fragte, bekam er dieselben ausweichenden Antworten. Der Tierarzt wusste einfach keine Erklärung für das merkwürdige Verhalten der Tiere. Seit Tagen hatte Borowski jetzt aber das Gefühl beschlichen, dass diese Apathie nur gestellt war. Er gehörte zwar keineswegs den Leuten an, die den Tieren eine menschenähnliche Intelligenz andichteten: Dazu arbeitete er schon zu lange in seinem Beruf. Aber die Augen seiner Vögel blickten keineswegs krank! Er konnte sich nicht helfen; es lag so etwas, wie Heimtücke in deren Blick. Fühlten die Tiere sich nicht gerade selbst beobachtet, wie zum Beispiel durch den Tierarzt, beobachteten sie ihrerseits die Menschen. Ihre Augen strahlten Kälte aus. Schon oft hatte der alte Pfleger sich gefragt, ob das überhaupt noch dieselben Tiere waren, die er nun schon so lange kannte. Waren das seine Papageien, Kakadus und all die anderen Vögel, die er nun schon so viele Jahre lang betreute? Einer seiner jungen Pfleger hatte ihm erst heute Morgen berichtet, einer der Fischertukane habe nach ihm gebissen, als er heute früh den Käfig reinigen wollte. Aber gerade Tukane waren friedliche Vögel. Doch diesmal hatte einer dieser Vögel seinem Pfleger in den Rücken gehackt. Nur der Beschaffenheit der Dienstkleidung war es zu verdanken, dass der Pfleger keine Verletzungen davon getragen hatte. Obwohl nichts geschehen war, war diese Geschichte ungewöhnlich und machte Borowski Angst. Diese ganzen Ereignisse passten weder zu einem Tukan noch zu der Apathie!

Noch etwas kam Borowski seltsam vor: Seit die Tiere unter eben dieser Apathie litten, hatten sie ihr Verhalten nicht mehr umgestellt. Aber nur in den ersten Tagen hatten sie tatsächlich das Futter verweigert. Jetzt fraßen sie genauso gut und viel, wie vor dieser Krankheit. Aber sie fraßen nur nachts; wenn kein Mensch anwesend war. Es war ein heimliches Fressen. Das alles kam dem Revierleiter mehr als merkwürdig vor.

Ralf Borowski stand bewegungslos vor der Voliere und beobachtete intensiv einen Gelbhaubenkakadu. Der Vogel schien ihm direkt in die Augen zu starren. Sein Blick jagte Borowski regelrechte Schauer über den Rücken. Er hatte das Gefühl, der Vogel versuche ihn zu hypnotisieren. Der alte, routinierte Revierleiter fühlte beinahe Angst in sich aufsteigen. Angst vor diesem harmlosen und sonst so liebenswürdigen Vogel! Er nahm sich vor, bald mit seinem langjährigen Freund, Lutz Bergner, zu reden. Er hatte sich das nun schon öfters vorgenommen. Aber nun hatte er beschlossen, es nicht mehr auf die lange Bank zu schieben. Noch heute würde er den Freund aufsuchen. Lutz war, wie er selbst, Revierleiter hier im Zoo. Aber er war im Raubtierhaus tätig. Wenn es wirklich so war, wie Borowski annahm, musste es gerade bei den großen Katzen offensichtlich zutage treten. Dann musste Lutz es ebenfalls bemerkt haben. Borowski warf dem Gelbhaubenkakadu noch einen grimmigen Blick zu, dann steckte er die Hände in die Taschen seines grünen Arbeitsanzuges und lief zielstrebig dem Ausgang des Papageienhauses zu.

Unterwegs versuchte er soviel wie möglich die Tiere, an denen er vorbei kam, zu beobachten. Aber eigentlich, sagte ihm sein Gefühl, war es genau anders herum. Die Tiere waren es, die ihn nicht aus den Augen ließen! Es war, als ob sie ahnten, dass der alte Pfleger mehr wusste, als die Besucher. Dass er ihnen nicht länger traute! Fühlten sie wirklich, dass Borowskis langjährige Erfahrung mit ihnen, ihm die Wahrheit über ihr geschicktes Schauspiel zugeflüstert hatte? Hatten die Tiere wirklich so viel Verstand? Vor wenigen Tagen erst hätte Ralf Borowski das lächelnd verneint. Doch nun …? Aber wenn er recht hatte, was dann? Was hatten die Tiere vor? Wollten sie tatsächlich die Menschen angreifen? Wurden sie wirklich gefährlich? Dann wären sie der schlimmste Feind, den der Mensch sich vorstellen konnte. Das war Borowski klar. Daran gab es dann nichts mehr zu rütteln! Doch warum? Waren die Tiere schwachsinnig geworden, oder hatte, im Gegenteil, ihr Verstand beträchtlich zugenommen? Borowski hoffte inständig, nein, er betete sogar, dass dem nicht so war. Dass er es war, der so langsam seinen Verstand verlor. Doch dagegen sprachen nun mal seine langen Dienstjahre hier im zoologischen Garten Berlin. Sein Gefühl für die Tiere hatte ihn noch nie getäuscht. Es waren vierzig lange Jahre, die er, allein den Tieren im Zoo Berlin, gewidmet hatte. Vierzig Jahre waren eine sehr lange Zeit! Er war stets voll und ganz in seinem Beruf aufgegangen. Niemals hatte er daran gezweifelt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er war immer glücklich, mit seinen Tieren zusammen sein zu dürfen. Niemals hatte es etwas oder irgendjemanden gegeben, der für den jetzt neunundfünfzigjährigen Pfleger, wichtiger gewesen wäre, als seine Arbeit. Borowski hatte nie geheiratet, hatte keine Kinder. Natürlich hatte es Zeiten gegeben, in denen er daran gedacht hatte, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Aber die Frauen hatten seine langen Dienstzeiten nicht ausgehalten. So waren die Tiere, in den letzten Jahren insbesondere die Vögel, seine einzige Familie geblieben. Seit siebzehn Jahren war er jetzt Reviervorsteher der Vogelhäuser. Der Mann, dessen dicker Bauch jetzt genüsslich über den Gürtel seiner Arbeitshose hing, hatte es niemals bereut, keine andere Familie zu haben. Niemals hatte er ein ungutes Gefühl gespürt, wenn er mit seinen Tieren zusammen war. Doch jetzt war plötzlich alles anders! Und, so sagte er sich, wenn er sich jetzt von seinen Tieren beobachtet fühlte, dann war es auch so. Verdammt noch mal! In Ralfs Kopf schien etwas explodieren zu wollen. Er musste unbedingt mit jemandem darüber reden. Na, gleich würde er es ja mit Lutz tun. Vielleicht würde er sich danach besser fühlen. Lutz hatte genau dieselbe Einstellung wie Borowski. Lutz hatte auch nur einige, wenige Wochen nach ihm die Arbeit hier aufgenommen. Damit war auch Lutz hier einer der am längsten Beschäftigten. Und auch für ihn zählten nur seine Tiere, insbesondere seine Katzen. Immer wieder blieb Borowski stehen und warf den Tieren, an deren Gehegen sein Weg vorbei führte, einen längeren Blick zu. Da waren die Eisbären, die stur auf ihren Felsen hockten. Keiner von ihnen schien Lust auf ein kühlendes Bad zu verspüren. Das war auch etwas, das sehr ungewöhnlich war. Auf der anderen Seite befand sich die Fasanerie. Fasane und all die anderen Hühnervögel, die dort untergebracht waren, nebst den vielen Wasservögeln, die die Teiche in der näheren Umgebung besiedelten, gehörten alle zu Borowskis Schützlingen. Auch diese Vögel standen nur apathisch in den Ecken ihrer Käfige. Kein Wasservogel befand sich auf den Teichen. Scheinbar teilnahmslos hockten sie unter den Ästen der verschiedenen Sträucher. Dennoch spürte Borowski ihre Blicke starr auf sich gerichtet. Niedergeschlagen und beunruhigt lief Borowski langsam weiter. Jetzt war er am Flusspferdbecken angelangt. Wahrscheinlich würde er keines der Tiere zu Gesicht bekommen, dachte er. Deshalb beschleunigte er auch hier seinen Schritt. Doch plötzlich blieb er abrupt stehen. Er hatte etwas entdeckt, wusste aber nicht so genau, was es eigentlich war. Das Wasser des Beckens war wie immer; schmutzig und bewegungslos. Flusspferdkot, versetzt mit Stroh, bedeckte die Oberfläche. Das Wasser lag beinahe spiegelglatt vor ihm. Keine Welle kräuselte die Oberfläche. Wahrscheinlich war schon einige Zeit vergangen, seit eines der Tiere, zum Atem holen, aufgetaucht war. Jetzt standen sie vermutlich regungslos am Boden des Beckens. Alles schien so wie immer. Dennoch, irgendetwas hatte Borowski gestört. Langsam ließ er seinen Blick noch einmal über das Becken gleiten. Die völlige Stille, die ringsum herrschte, reizte seine Nerven. Die Sonne schickte ihre Strahlen auf das dunkelbraune Wasser und ließ einen goldenen Glanz zurück. Eigentlich hätte all das beruhigend gewirkt, kündigte es doch die bevorstehende Schließung des Gartens an und somit den Feierabend. Sonst hatte Borowski es immer genossen, wenn der letzte Besucher den Zoo verlassen hatte. Aber jetzt störte ihn irgendetwas. Was nur? Er konnte seinen Blick nicht von dieser glatten, braunen Oberfläche wenden. Obwohl er sich doch schon darauf gefreut hatte, endlich mit seinem Freund über seine Sorgen reden zu können, stand er bewegungslos da. Die Uhr tickte weiter. Bald schon würde Lutz keine Zeit mehr haben, um sich mit ihm zu unterhalten. Doch sein Körper wollte ihm nicht gehorchen; wollte sich nicht vom Flusspferdbecken fortbewegen. Systematisch suchten seine Augen jetzt die Oberfläche ab. Da! Inmitten des von Stroh durchtränkten Kots schimmerte etwas Rotes auf. Borowski strengte seine Augen an. Versuchte zu erkennen, was es war. War es ein Tuch? Es sah jedenfalls aus der Entfernung so ähnlich aus. Borowski sah sich um. Um diese Zeit waren nicht mehr viele Besucher unterwegs. Seltsam, ging es ihm durch den Kopf, die Besucherzahl war überhaupt nicht zurückgegangen, seit die Tiere sich so apathisch zeigten. Im Gegenteil: Die Neugierde trieb gerade jetzt die Menschen in steigender Anzahl in den Zoo. Aber nun ging die Öffnungszeit stetig ihrem Ende entgegen. Borowski ließ seinen Blick den großen, breiten Weg entlang wandern. Aber niemand war mehr zu sehen. Auch gut. Borowski trat nahe an das Geländer der Freianlage. Plötzlich bewegte sich die Wasseroberfläche und ein paar prustende Nasenlöcher tauchten auf. Das braune Wasser spritzte. Knautschke der VI. brauchte wohl Sauerstoff. Jetzt schauten seine Nüstern, gefolgt von seinen wackelnden Ohren, aus dem Wasser. Nur Sekunden vergingen. Borowski entfuhr ein entsetzter Schrei. Halt suchend fassten seine Hände nach dem Geländer. Der gewaltige Flusspferdbulle hielt einen Schuh in seinem Maul. Wahrscheinlich hatte er sich mang den riesigen Hauern verfangen. Die Augen des Tieres blinzelten bösartig auf den verdatterten Mann. Borowski starrte auf den Schuh. Jetzt konnte er auch erkennen, dass der weiße Schnürsenkel sich tatsächlich um einen der Hauer geschlungen hatte. Die leichte Bewegung des Wassers ließ den Sportschuh jetzt gespenstisch um den Kopf des Bullen kreisen. Borowski rieb sich die Augen, starrte auf das Rote, das noch am Schuh haftete. Blut! Der Sportschuh war, trotz des schmutzigen Wassers, noch voller Blut. Die kleinen Augen des Bullen blickten, unter den hervorstehenden Höckern, Borowski herausfordernd an. Es lag etwas ausgesprochen Böses in diesem Blick! Diesmal war sich Borowski sicher, dass er keiner Einbildung unterlag. Dies hier war die bittere Beweisführung seiner Angst! Ralf Borowski taumelte entsetzt zurück. Er brauchte einige Zeit um seinen Schock unter Kontrolle und seine Atemwege freizubekommen. Dann erst wirbelte er herum, viel gelenkiger, als man es ihm, aufgrund seiner Dickleibigkeit, zugetraut hätte und hastete dem Eingang des Flusspferdhauses entgegen. Ihm fiel ein, normalerweise müsste Schmidt jetzt mit dem Verteilen von Heu und Stroh beschäftigt sein. Erst danach würde er seine Tiere ins Innenbecken lassen. Von dort aus würden sie, nach ca. einer halben Stunde, in ihre Boxen trotten, wo bereits das Futter auf sie wartete. Dort verbrachten die Tiere dann auch die Nächte, ehe sie in der Frühe wieder in die Außenanlagen gelassen wurden. Kaum hatte Borowski das Haus betreten, schrie er aus Leibeskräften nach dem jungen Pfleger. Doch das Haus blieb still. Nur das leise Gebrumme der Zwergflusspferde durchschnitt die Stille. Nichts war vorbereitet. Kein Heu oder Stroh in den Boxen. Borowski schrie noch einige Male, dann gab er es auf. Er zückte sein Handy, mit dem man allerdings nur innerhalb des Gartens telefonieren konnte. Seine Blicke wanderten nervös über die Boxen der Zwerge. Ihm schien es, als wüssten sie, was passiert war. Der Mann musste sich wegdrehen, um nicht gleich wieder laut zu schreien. Endlich meldete sich das Büro.

Borowski gab seine Meldung ab und drückte die Endtaste. Hastig hangelte er in den Taschen seiner Hose nach den Schlüsseln. Da er Revierleiter war, hatte er passende Schlüssel für beinahe jedes Haus. Mit zittrigen Fingern schloss er die Tür zu den Innenbereichen auf. Es dauerte einige Zeit, ehe sich das erste, schwere Tier endlich in Bewegung setzte. Normalerweise warteten die Tiere bereits vor verschlossener Tür darauf, eingelassen zu werden. Heute ließen sie sich Zeit. Knautschke, das Flusspferd, das er draußen, mit dem Schuh, gesehen hatte, war das Letzte, der vier Flusspferde, das gemächlich in Richtung der Boxen marschierte. Irgendwie hatte er sich nun doch von dem Schuh befreien können. Borowski konnte jedenfalls keine Anzeichen dafür erkennen, dass er ihn noch im Maul trug. Als er langsam an Borowski vorüber trottete, nur durch die massiven Gitter getrennt, öffnete er sein Maul bedrohlich und starrte den Mann aus blutunterlaufenen, böse blinzelnden Augen an. Doch dann entschloss der Bulle sich doch, einfach in seine Box zu gehen. Borowski atmete auf. Die Tiere schienen sich l nicht einmal daran zu stören, dass der Weg zu den Boxen diesmal nicht über das Innenbecken führte. Jedenfalls verharrten sie keinen Moment vor dem leeren Becken. Borowski hatte gerade die letzte Tür verschlossen, als sich einige Männer von der Zooaufsicht sehen ließen. Kurz nach ihnen folgte der Direktor. Er war blasser, als Borowski ihn in Erinnerung hatte. Um seine Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Man konnte ihm ansehen, wie gut er seine Nächte verbrachte. Borowski wunderte das nicht. Wie auch? Schließlich machte jeder, der hier arbeitete, sich seit Tagen nur noch Sorgen. Warum also nicht auch der Direktor? Borowski erklärte in kurzen Worten, was er gesehen hatte. Das Wasser des Außenbeckens wurde abgelassen. Bereits zwanzig Minuten später, das Wasser war noch nicht ganz verschwunden, stieß man auf die Leiche des Tierpflegers Schmidt. Sein verstümmelter Körper wippte grauenerregend, mit dem abfließenden Wasser, auf und ab. Sein halbsitzender Torso war völlig vom schleimigen Kot der Tiere bedeckt. Blut und Kot gaben dem Leichnam eine groteske Farbe. Sein linkes Bein war unnatürlich vom Körper abgewandt. Der alte Pfleger musste sich beherrschen, um sein Essen bei sich zu behalten. Es war ein fürchterliches Bild, das sich ihm da bot. Kurz darauf wurde offensichtlich, dass vom Bein zum Körper keinerlei Verbindung mehr bestand. Es hatte sich nur in den Armbeugen des Leichnams verfangen, sodass Körper und Bein noch am Platz blieben. Die Flusspferde hatten gründliche Arbeit geleistet. Mit ihren starken Kieferknochen und den mächtigen Hauern hatten sie das Bein gründlich abgebissen. Auch Schmidts Kopf war stark deformiert. Eigentlich war es nur der Zookleidung zu verdanken, dass man den jungen Mann gleich identifizieren konnte. Vermutlich waren an der Verstümmelung alle Tiere beteiligt gewesen. Sein Leib wies viele starke Wunden auf. Borowski wurde für Sekunden schwarz vor Augen. Er klammerte sich mit den Händen am Gitter fest und drehte den Kopf jetzt doch zur Seite. Sein Mageninhalt wollte nicht länger an Ort und Stelle bleiben. Der Anblick des toten Pflegers, aus dessen Körper überall deformierte Knochen ragten, war nun doch zu viel für ihn. Mittlerweile war die halbe Zoobelegschaft am Flusspferdbecken eingetroffen. Viele der jungen Leute würden danach wohl selbst einen Arzt brauchen, ging es Borowski noch durch den Kopf. Den meisten von ihnen gingen schon jetzt die Nerven durch. Mindestens die Hälfte würde wohl heute oder morgen kündigen. Borowski konnte sie verstehen! Was, zum Teufel, hatte die Tiere nur dazu bewegt, ihren Pfleger anzugreifen und derartig zuzurichten? Gut, Flusspferde waren alles andere als ungefährlich. Freilebende Tiere galten sogar als äußerst aggressiv. Aber diese hier? Das waren reine Zootiere! Sie alle waren in der, weiß der Himmel, wievielten, Generation in den Zoos von Deutschland oder Belgien geboren worden. Knautschke, der Bulle um dessen Zahn sich der Schnürsenkel verfangen hatte, war hier im Berliner Zoo geboren worden. Genau wie sein Vater und dessen Vater. Deshalb auch sein Name: Knautschke der VI. – Die Tiere hatten ihren Pfleger doch schon seit Jahren gekannt. Schmidt war ein guter Mann gewesen! Er hatte gewusst, wie er mit seinen Tieren umzugehen hatte. Niemals zuvor war es, soweit Borowski informiert war, zu irgendwelchen Zwischenfällen gekommen. Und jetzt das hier! Was war nur mit diesen verdammten Viechern los? Langsam bekam Ralf Borowski wieder einen klaren Kopf. Seine Umgebung wurde ihm wieder bewusst. Da stand der Direktor, noch weißer im Gesicht als vorher, und sprach mit dem Veterinär. Beim Anblick seiner genauso entsetzten Kollegen fiel Borowski wieder ein, weshalb er an diesem Abend eigentlich hier vorübergekommen war. Seine Augen begannen die Umstehenden zu mustern. War Bergner vielleicht jetzt auch hier? Wahrscheinlich sogar! Die Nachricht, vom Tod im Flusspferdbecken, hatte sich ja wie ein Lauffeuer verbreitet. Dann entdeckte er ihn. Bergner stand gar nicht weit von ihm, hatte sich ebenfalls vom Becken abgewandt und sprach mit einigen anderen Kollegen. Borowski sah ihm sofort an, dass er genauso fassungslos war, wie er selbst. Er straffte sich und machte sich steif auf den Weg zu den diskutierenden Männern. Doch jählings stoppte er wieder seinen Schritt. Was war das nun schon wieder? Ein lautes Geräusch, welches sich schwer einordnen ließ, näherte sich schnell. Es kam von links. Irritiert blickte Borowski zum Himmel. Das Geräusch erinnerte an ein sich näherndes Gewitter. Doch der Himmel war klar und wolkenlos. Außerdem kam das Geräusch auch aus einer bestimmten Richtung; das konnte kaum ein Gewitter sein. Doch das Geräusch des Donners wurde immer lauter und stetiger. Borowski blinzelte gegen das Licht der Sonne, die blutrot ihre letzten Strahlen auf die Erde schickte. Doch direkt über dem Boden, begannen sich jetzt Staubwolken zu bilden. Die Staubwolke wurde dichter, stieg höher, sodass man kaum noch etwas erkennen konnte. Borowski blickte kurz in die Richtung, in der er zuvor Bergner gesehen hatte. Auch er und die anderen Männer hatten bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Auch sie suchten nach der Herkunft des donnernden Geräusches. Irritiert starrten alle in diese merkwürdige Staubwolke, die immer näher kam. Doch es erschien sinnlos, etwas Eindeutiges erkennen zu wollen; der Staub drehte sich zu schnell. Zu viel Sand war in der Luft. Doch dann erkannten sie die Ursache! Borowski glaubte nun, zum zweiten Male heute, seinen Augen nicht zu trauen. Ihnen entgegen stürmten an die sechsundzwanzig Tonnen lebende Fleischmassen. Was da donnernd auf die Menschenmenge zustürzte, waren die vierzehn Bisons und zwanzig Wisente des zoologischen Gartens. Wuchtige Schädel, mit kurzen, aber dennoch starken Hörnern, tauchten aus dem Staubnebel auf. Ihre Hufe ließen den Boden erschüttern. Der heiße Dampf, der aus ihren schwarzen Mäulern drang, ließ den Eindruck antiker Dampflokomotiven entstehen. Borowski glaubte, im Kino zu sitzen. Das dort musste einfach Teil eines alten Westerns sein! Doch es war die Wirklichkeit; Borowski musste das sehr schnell einsehen. Wie waren diese Tiere freigekommen? Weshalb hatten diese Tiere, die eigentlich in getrennten Freianlagen untergebracht waren, sich genau diesen Weg ausgesucht? Diesen Weg, an dessen Ende erst vor kurzer Zeit ein Mensch zu Tode gekommen war. Der erste Mensch. Borowski wollte diesen Gedanken verscheuchen, aber er blieb. Der erste Mensch! Würde Schmidt wirklich der erste Mensch, in einer langen Reihe sein? Oder war es wirklich nur ein bedauerlicher Unfall? Aber jetzt blieb keine Zeit mehr, über derartige Fragen nachzudenken. Die Zeit drängte! Jetzt galt es nur noch, sich so schnell wie möglich, in Sicherheit zu bringen. Jede Sekunde zählte. Schreiend stoben die Menschen auseinander. Zum ersten Male, und das gerade jetzt, zum unpassendsten Zeitpunkt, spürte Borowski sein fortgeschrittenes Alter. Immer war er stolz gewesen, noch so vital und beweglich zu sein. Keine Anstrengung war ihm zu viel gewesen. Er hatte immer mit seinen jungen Kollegen mithalten können. Aber gerade heute verursachte ihm sein Herz ernsthafte Beschwerden. Aber gerade heute konnte er keine Rücksicht darauf nehmen. Wenn er nicht unter den sich schnell nähernden, dröhnenden Hufen, der rasenden Herde, begraben werden wollte, musste er schnell handeln. Sollte er es nicht schaffen, konnte er sich unschwer vorstellen, was dann von ihm übrig bleiben würde.

Bitte lieber Gott, lass das alles nicht wahr sein! Er hatte noch nie gebetet. Jetzt tat er es. Dann rannte er röchelnd, so schnell, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, den Weg an den Vogelfoliieren vorbei, zurück. Er nahm genau denselben Weg, den er vor ein paar Stunden bereits genommen hatte. Da hatte er sich Rat bei seinem Freund holen wollen; jetzt wurde er von Dämonen verfolgt! Keine Fragen waren noch in seinem Hirn, nur noch die Möglichkeiten zur Flucht. Vorhin hatte nur ein vages Gefühl ihn vor möglichen Gefahren gewarnt; Borowski kam es vor, als liegen Ewigkeiten dazwischen. Noch heute Morgen hätte er sich nicht träumen lassen, wie schnell seine Befürchtungen grausame Realität werden sollten. Borowski rannte immer noch. Plötzlich hörte er ein Keuchen, das nicht von den Tieren stammte. Als er einen flüchtigen Blick über seine Schultern warf, bemerkte er Bergner, der ihm direkt auf den Fersen war. Natürlich hatte auch er erkannt, dass wirkliche Sicherheit nur in den Häusern zu suchen war. Doch die Büffelherde näherte sich stetig. Die Tiere hatten sich an ihre Fersen geheftet und kamen jetzt schnell näher. Wenn sie nicht bald die Tür erreichten, waren sie verloren! Borowski merkte jetzt, am Lärm der fliehenden Hufe, dass die Herde nicht zusammengeblieben war. Nein, sie hatten sich in einzelne Gruppen geteilt. Wieder etwas Ungewöhnliches! Als wenn die Tiere es drauf anlegten, so viele Menschen, wie nur möglich, unter ihren dampfenden Hufen, zu zermalmen. Vier der mächtigen Büffel hatten sich den beiden, um ihr Leben laufenden, Männern angenommen. Bergner drehte sich kurz um, versuchte auszumachen, um welche Tiere es sich handelte. Aber es war nicht zu unterscheiden, ob es sich um Indianerbüffel oder um die europäische Form, die Wisente handelte. Es war wohl auch völlig egal, unter welchen Hufen sie den Tod fanden, wenn die Tiere es erst schafften, sie einzuholen. Überleben würden sie diese Attacke auf keinen Fall! Schon spürten sie den heißen, dampfenden Atem in ihren Rücken. Staub wirbelte überall durch die Luft und trieb ihnen das Wasser in die Augen. Und wieder dachte Borowski sekundenlang an alte Westernfilme, in denen riesige Herden dieser Tiere, dem Zuschauer vorgegaukelt wurden. Er hatte diese suggerierten Bilder immer bewundert. Nie hätte er sich vorstellen können, wie schrecklich es wäre, nur von vier dieser riesigen Tiere verfolgt zu werden! Keuchend, nach Atem ringend, liefen sie weiter. Nur noch wenige Meter und die Tiere würden sie erreichen. Mit letzter Kraft schafften es die beiden Männer, die erste Tür der Fasanerie zu erreichen. Bergner war als Erster im Haus und hielt seinem Freund den einen Moment, den er brauchte, um ebenfalls die Sicherheit des Gebäudes zu erreichen, die Tür auf. Endlich! Die Tür schloss sich hinter den erschöpften Männern. Doch noch war keine Zeit, sich auszuruhen! Schnell hatten sie die Verankerung der zweiten Tür, zum Glück handelte es sich hier um Sicherheitsglas, gelöst. Kurz darauf war auch diese zweite Tür fest hinter den Beiden verschlossen. Draußen schnauften die vier Tonnen wütender Grausamkeit. Gereizt scharrten sie mit ihren Hufen den Boden auf. In ihren kleinen Augen blitzte es boshaft. Die Büffel waren schier von Mordgier getrieben! Im ersten Moment schienen sie verwirrt zu sein. Ihre Opfer schienen entkommen zu sein. Nun wussten sie nicht, wie sie sich weiter verhalten sollten. Doch diese Verwirrtheit hielt leider nur für Momente. Die Männer waren in Zwischenzeit durch den langen Gang gehetzt. Für Sekunden wähnten sie sich in trügerischer Sicherheit. Doch schon hörten sie, wie die mächtigen, klobigen Schädel gegen die Außentür brachen. Plötzlich war ein leises Knirschen zu hören, das aber im Schnauben, der auf Mord versessenen Büffel, beinahe unterging. Das Sicherheitsglas zersplitterte. Zuerst in haarfeine Risse, um sich dann in würfelförmigen Teilchen auf den Boden zu ergießen. Jetzt war auch ein kurzes Knacken zu hören. Die Flügeltür hatte endgültig nachgegeben. Als sie vor Jahren eingebaut wurde, hatte man wohl nicht getestet, ob sie dem wütenden Ansturm von vier Indianerbüffeln standhalten könnte. Schon drückte sich das erste Tier durch die Türfassung. Hier, im engen Gang der Fasanerie waren die Tiere gezwungen, hintereinander zu laufen. Ihren heißen Atem wolkengleich verströmend, stürmten sie hinter den flüchtenden Männern her. Dabei rissen sie die meisten Volieren mit ihren gebogenen Hornwaffen aus. Borowski registrierte, trotz seiner lebensbedrohlichen Lage, dass keiner der Vögel echtes Panikverhalten zeigte. Ruhig schienen sie nur darauf zu warten, dass der Weg in die Freiheit für sie offen stand. Borowski glaubte sogar zu sehen, wie die ersten Vögel ihre Anlagen verließen, kaum dass die lebenden, tonnenschweren Fleischmassen, an ihnen vorüber waren. Aber so genau hätte er es nun doch nicht sagen können. Er hatte ja auch gar nicht die Zeit, wirklich darauf zu achten. Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven und hastete prustend an Bergner vorbei. Sein Atem ging unregelmäßig und raschelnd. Hier im Vogelhaus musste er die Führung übernehmen, wollten sie ihre letzte Chance nicht ungenutzt vorüberstreichen lassen! Er winkte Bergner hinter sich her. Sein Kollege hatte die Tür, die zu den Brutkästen führte, entdeckt und wollte sie gerade passieren. Doch Borowski zog ihn weiter hinter sich her. Nach wenigen Schritten, die Tiere waren ihnen dicht auf den Fersen, hatten sie die Tür zur Vogelküche erreicht. Hechtend flüchteten sie durch die Küche ins Freie. Bergner hatte jetzt ebenfalls begriffen. Vom Ausgang der Küche waren es nur drei oder vier Schritte, welche in das Papageienhaus führten. Dieses Gebäude besaß auch noch ein Obergeschoss. Oder wenigstens, so etwas Ähnliches. In Wirklichkeit handelte es sich eher um eine Art Balustrade, die von den Pflegern dazu benutzt wurde, die Käfige von oben einsehen zu können. Außerdem befanden sich die Brutkästen hier oben. Die Treppe und auch die Einfassung der Balustrade bestanden aus solidem Mauerwerk. Nur die Gänge waren aus metallenem Gitter. Da es sich außerdem um eine Wendeltreppe handelte, die auf die Balustrade führte, hofften die Männer auf eine echte Chance. Vorausgesetzt natürlich, die Büffel würden die steilen Stufen nicht erklimmen können, und würden unten endlich aufgeben. Die beiden alten Pfleger hasteten schwer atmend die Treppe hinauf.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2354-2

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