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Inhaltsverzeichnins

Sibylle Meyer

 

Herr

der zwei

Welten

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erscheinungsdatum

Copyright - Sibylle Meyer

-Alle Rechte vorbehalten-

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Umschlaggestaltung –Sibylle Meyer

ISBN-10 : 1497429544

ISBN-13 : 978-1497429543 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Danksagung

Über mich

 

 

 

Die Nacht war lau und nur ein leiser Wind begleitete das Klacken ihrer Absätze auf der Betondecke der Straße. Julie Neumann war wütend. Sie hatte ausgerechnet heute Abend ihren Freund, nein, Exfreund, berichtigte sie sich selber in Gedanken, überraschen wollen. Seit sie mit Mark zusammen war, war es erst das zweite Mal, dass sie den Schlüssel zu seiner Wohnung benutzte. Aber anstatt eines gemütlichen Abends zu zweit, hatte sie etwas ganz anderes vorgefunden. Als Julie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, hatte sie schon Geräusche gehört, die darauf schließen ließen, dass Mark nicht allein war. Im Schlafzimmer überraschte sie ihn und seine Errungenschaft in eindeutiger Pose. Beide waren nackt und Mark starrte ihr plötzlich überrascht ins Gesicht. Vermutlich hätte er auch diesmal eine Erklärung parat gehabt, aber Julie hatte ihm nicht die Zeit dazu gelassen. Sie war auf dem Absatz umgekehrt und hatte die Wohnung beinahe fluchtartig verlassen. Jetzt könnte sie sich dafür ohrfeigen! Warum nur hatte sie ihm nicht gesagt, was in diesem Moment in ihr vorgegangen war? Aber was war eigentlich in ihr vorgegangen? Sie war wütend gewesen und das war sie immer noch. Aber auf wen eigentlich? Auf Mark, der sich offensichtlich sexuell mit einer Anderen vergnügte, oder auf sich selbst, weil sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte? Wenn sie es genau nahm, kam für ihre Wut auch noch eine andere Person in Betracht: Ihre Schwester Tina. Tina war es gewesen, die sie und Mark zusammengebracht hatte. Zusammengebracht? Lächerlich! Julie schnaubte beinahe vor Wut, während ihre Absätze noch immer ein wildes Stakkato schlugen. Tina hatte sie verkuppelt. Jawohl, verkuppelt! Sie, und wie es jetzt aussah, nicht einmal Mark wollten wirklich etwas voneinander. Die Einzige, die der Meinung war, dass sie ein tolles Paar abgeben würden, war Tina gewesen. Julie blieb kurz stehen und zog die, für diese Jahreszeit, es war Ende März, schon beachtlich laue Nachtluft tief ein. Ihre Wut legte sich, zumindest die auf Mark. Eigentlich musste sie sich nun eingestehen, dass er ihr einen Gefallen erwiesen hatte. Schon länger, eigentlich schon seit dem Tag, als sie ihn zu ihrem Freund genommen hatte, hatte sie versucht, diese Beziehung wieder zu beenden. Jetzt endlich hatte sie einen Grund dafür. Sie liebte Mark nicht, hatte es nie getan. Sie war diese Beziehung nur eingegangen, um ihrer Schwester einen Gefallen zu tun. Wenn sie das jemandem erzählen würde, sagte sie sich, würde man sie wohl für verrückt erklären. Oder ihr gar nicht glauben. Was in etwas auf dasselbe hinauslaufen würde. Julie seufzte. Es stimmte schon, dass ihr niemand glauben würde, jedenfalls keiner, der ihre Verhältnisse nicht kannte. Julie war Waise geworden, als sie gerade 10 Jahre alt war. Ihre Schwester, die neun Jahre älter war, hatte die Pflegschaft übernommen. Es war eine schwere Zeit gewesen, vor allem für Tina. Sie war damals gerade mal zwei Jahre jünger gewesen als Julie heute. Nicht auszudenken, wenn Julie jetzt schon die Verantwortung für ein Kind übernehmen musste. Aber irgendwie hatte Tina es tatsächlich geschafft. Sie liebte Julie wie eine Mutter ihr eigenes Kind, nicht wie eine Schwester. Aber das alles hatte Tina zu dem Menschen werden lassen, der sie heute war. Eine Glucke! Julie bereute ihre Gedanken fast augenblicklich, so etwas durfte sie nicht denken. Tina tat alles, um Julie glücklich zu machen. Aber das genau war ja das Problem! Tina hatte vor drei Jahren geheiratet und sie hatten eine Tochter bekommen; Nancy. Das war Tinas Welt, ihr Glück! Deshalb versuchte sie krampfhaft auch Julie zu ihrem Glück zu verhelfen. Sie meinte es gut, Julie wusste das, aber was für Tina Glück bedeutete, bedeutete es nicht zwangsläufig auch für Julie. Nur dies Tina klarmachen, das war das größte Problem. Immer wieder hatte Tina versucht ihr einen Mann, von dem sie überzeugt war, dass er Julie glücklich machen würde, anzudrehen. Irgendwann, vor einigen Monaten hatte Julie nachgegeben und war mit Mark zusammengegangen. Nur glücklich war sie nicht geworden, obwohl sie das Tina niemals gesagt hatte. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen. Na ja, jetzt war sie wieder frei. Julie tat noch einen tiefen Seufzer und setzte ihren Weg, diesmal viel langsamer, fort.

Sie hatte ihr Auto zwei Querstraßen von hier geparkt, weil in der Straße in der Mark wohnte, fast nie ein Parkplatz frei war. Sie kannte den Weg und beschloss nun die letzten Meter Nachtspaziergang zu genießen.

Plötzlich setzte ihr Herzschlag für einen Moment aus. Julie blieb abrupt stehen und starrte in die dunkle Straße, in der ihr Wagen stand. Was war das? Julie kniff die Augen zusammen. Etwas Dunkles bewegte sich dort. Etwas, das schwärzer war als die Nacht. Rot glühende Augen starrten sie an. Julie begann zu zittern. Ihre Ohren nahmen ein Surren wahr und der Wind blies plötzlich heftiger. Julie rieb sich über die Augen. Angespannt blinzelte sie in die Dunkelheit. Doch da war nichts. Kein Monster, nichts vor dem sie sich fürchten musste. Dennoch hatte Julie plötzlich Angst. Ihr Herzschlag, nachdem er beschlossen hatte, wieder einzusetzen, klang laut in ihren Ohren. Wie ein eiskalter Schauer zog die Angst über ihre Haut. Ihre Hände waren plötzlich feucht, und sie spürte wie die Härchen auf ihren Unterarmen sich aufstellten. Aber was war los? Julie blickte noch mal aufmerksam in die Straße vor ihr. Es sah alles aus wie immer. Die Straßenlaternen, die hier zwar nicht ganz so hell leuchteten wie in der Hauptstraße, zeigten die Straße genau so, wie sie sein sollte. Da war niemand vor dem sie Angst haben musste. Trotzdem, obwohl Julie sich versuchte zu beruhigen, wollte es ihr einfach nicht gelingen. Ihr Wagen stand da, nur wenige Meter vor ihr, und doch konnte sie sich nicht dazu aufraffen, diese paar Schritte zu gehen. Etwas hinderte sie daran auch nur einen einzigen Schritt in diese, doch so friedlich aussehende Straße zu setzen. Verflucht! Sie brauchte doch ihren Wagen! Aber ganz egal, wie deutlich sie sich einredete, dass dort nichts sei, vor dem sie Angst haben musste, sie konnte nicht weiter gehen. Die Angst blieb und sie wurde nur noch stärker!

Julie hastete herum und rannte wieder zur Hauptstraße. In diesem Moment kam ein Taxi und sie hielt es an. Immer noch außer Atem sprang sie rein. Sie spürte, wie der Taxifahrer sie im Spiegel beobachtete.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“

Der Taxifahrer klang wirklich besorgt. Julie konnte nur den Kopf schütteln. Dann nahm sie sich zusammen.

„Alles bestens. Ich, ich habe den Bus verpasst!“ Dann nannte sie ihm ihre Adresse.

Julie fluchte innerlich. Jetzt musste sie morgen eine Stunde früher aufstehen, weil sie erst den Wagen holen musste. Als Alternative blieb ihr nur, ganz mit der Öffentlichen zur Arbeit zu fahren. Sie schüttelte den Kopf. Das kam gar nicht infrage! Was hatte sie nur getrieben? Warum, verdammt, war sie nicht zu ihrem Wagen gegangen und gemütlich nach Hause gefahren? Da war doch nichts gewesen, rein gar nichts! Verflucht noch mal! Drehte sie jetzt durch?

Auch nachdem sie zuhause war, kam sie einfach nicht zur Ruhe. Immer wieder musste sie darüber nachdenken, was sie daran gehindert hatte ihr Auto zu holen. Julie kannte das Gefühl, dass irgendetwas tief in ihr sie vor Gefahren warnte. Manchmal war es als könnte sie die Gefahr wirklich körperlich spüren. Schon oft hatte sie auf ihre innere Stimme gehört. Aber diesmal war es anders. Da war nichts gewesen. Und auch ihr Gefühl war ein anderes gewesen. So, als würde sich direkt vor ihr der Schlund der Hölle auftun. So ein Quatsch! Unruhig lief sie die wenigen Quadratmeter ihrer Wohnung ab und blieb mal wieder vor dem Spiegel, der in ihrem Flur den größten Teil der Wand einnahm, stehen. Ihre Hände strichen beinahe liebevoll über das glatte Glas des Spiegels. Diesen Spiegel hatte sie von ihrem Vater bekommen, ein paar Wochen zuvor, ehe er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Das war schon so lange her und trotzdem hatte sie manchmal noch das Gefühl, ihr Vater könnte sie hören. Vor allem, wenn sie diesen Spiegel betrachtete. Der Spiegel gab ihr ein Gefühl der Nähe und zumindest jetzt wirkte er beruhigend. Sie verfluchte noch einmal ihre blankliegenden Nerven, warf ihrem Spiegelbild, oder vielleicht auch ihrem Vater, einen Luftkuss zu und beschloss sich nun doch noch ein Glas Wein zu genehmigen. Zwar war es schon sehr spät und der Wecker würde sie nach viel zu kurzem Schlaf wieder hochjagen, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Obwohl Julie alles tat, um sich noch weiter zu entspannen, blieb ihre Nacht doch ziemlich unruhig. Erst brauchte sie lange, um einzuschlafen und dann wachte sie auch noch ein paar Mal in der Nacht auf. Als sie am nächsten Morgen in die Firma fuhr, fühlte sie sich mies und zerschlagen.

2

„Hey, kleine Schwester!" klang Martinas Stimme an ihr Ohr. „Hör zu Kleine. Detlef ist heute Abend wiedermal zu einem seiner Geschäftsessen. Die Kleine ist bei Schwiegermama und nun bin ich ganz alleine. Da dachte ich, wir könnten mal wieder was zusammen unternehmen. Was hältst Du vom Riverboot?“

Auch das noch! Julie hatte doch heute vor, sich mal so richtig auszuruhen, abzuschalten von all den Aufregungen und Missverständnissen der letzten Tage, und nun wollte ihre Schwester ausgehen! Aber eigentlich, so ging es Julie durch den Kopf, war das nun auch wieder keine so schlechte Idee. Wann waren sie das letzte Mal zusammen wirklich aus gewesen? Julie stimmte schließlich zu. Das Riverboot war ein Tanzlokal, das in seiner Größe schon fast als Disco durchgehen konnte.

Als Tina um halb neun vor der Tür stand, war Julie zum Ausgehen bereit. Sie hatte sich für ein kurzes, weißes Kleid entschieden, das ihre langen, schlanken Beine wohlwollend zur Geltung brachte. Ihrem glatten, blonden Haaren hatte sie eine kräftige Innenwelle verpasst und ihr Make-up dezent gewählt. Ihre dunkelblauen Augen hatten ihren alten Glanz wieder. Dennoch fühlte Julie sich nicht wirklich gut. Irgendwas fraß immer noch in ihr. Auch wenn sie sich mittlerweile eingestanden hatte, dass sie froh war, nicht mehr mit Mark zusammen zu sein, war es doch kein gutes Gefühl, auf diese Art abserviert zu werden. Hätte er ihr nicht einfach sagen können, dass er sich trennen wollte? Stattdessen hatte er dafür gesorgt, dass sie ihn in den Armen einer anderen Frau sah und er hatte den Spieß auf eine Art umgedreht, die einfach unfair war. Tina unterbrach ihre Gedankengänge.

„Mensch Kleine, du siehst aus als gingst du zu Deiner eigenen Beerdigung! Dieser Kerl ist es einfach gar nicht Wert. Kopf hoch, heute werden wir uns amüsieren!“

Klar, dass Tina nicht verstand, was Julie wirklich empfand.

Sie schnappten sich ein Taxi und wenig später standen sie an der Bar im Riverboot. Doch hier ging es Julie fast noch schlechter. Kopfschmerzen hatten sich eingestellt und sie hatte an alles gedacht, außer daran, ihre Packung Aspirin einzustecken.

„Was willst du trinken?“ fragte Tina grade. Als Julie nicht gleich antwortete, bestellte sie kurzerhand zwei Bacardi-Cola. Eigentlich gehörte Bacardi-Cola zu ihren Lieblingsgetränken, aber heute blieb ihr der erste Schluck beinahe im Hals stecken. Sie hustete. Ärgerlich stellte sie fest, dass sie dadurch gekleckert und ihr schönes, weißes Kleid nun einen Fleck abbekommen hatte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und wieder gegangen. Aber ein kurzer Blick zu Tina sagte ihr, dass sie das gleich wieder vergessen sollte. Tina würde sie nicht gehen lassen. Also nahm sie sich vor, nun doch gute Mine zum bösen Spiel zu machen und ihrer Schwester den Abend nicht zu verderben. Aber allzu lange würde sie trotzdem nicht bleiben. Julie blickte auf ihre Armbanduhr. Bis Mitternacht würde sie es aushalten und danach einen Grund erfinden, um gehen zu können. Julie sah sich um. Im Stillen schüttelte sie den Kopf. Die Leute hier waren alle so öd! Hier wäre Mark wirklich gut aufgehoben. Kein Rückgrat, keine Prinzipien. Die Männer waren wohl das Schlimmste. Benahmen sich, als wären sie Ausstellungstücke einer Galerie! War ihr das vorher auch so vorgekommen? Innerlich zuckte sie die Achseln.

„Schau Dich doch mal um.“ sagte Tina plötzlich. „Ist hier denn niemand Interessantes dabei?- Sieh` doch mal, der da hinten. – Ist der nicht süß?“

Und schon wieder wollte Tina sie verkuppeln! Würde sie denn niemals aufgeben?! Julie hatte schon oft versucht ihrer Schwester klar zu machen, dass sie keinen Mann brauchte, um glücklich zu sein. Aber jedes Mal war es darauf hinausgelaufen, dass Tina ihr zwar Recht gab, aber ansonsten änderte sich nichts.

„Also weißt Du!“ sagte sie deshalb auch nur. „Diese Schickimickitypen hier! Als ob ich auf so was stehen würde. Mark war so einer. Erinnere dich bitte, den fandest du auch ganz toll.“

Das saß! Tina machte einen Rückzieher.

„Ok. Ok. Reg dich nicht auf. Ich will dich nicht wieder verkuppeln. Ehrenwort. Aber tanzen können wir doch? Dazu sind wir doch schließlich hier.“

Julie holte tief Luft. Na also! Sie stand auf und ließ sich von ihrer Schwester zur Tanzfläche ziehen. Schon bald gesellten sich die ersten Männer zu ihnen. Julie fand laufend neue Tanzpartner. Aber das war ihr alles egal. Sie wollte mit keinem einen Flirt anfangen, nicht einmal eine Unterhaltung. Ihr war schlecht und sie sehnte sich nach der Stille ihrer Wohnung. Sie schaute zu Tina, die sich köstlich mit einem jungen Mann zu amüsieren schien. Na, zumindest ihre Schwester hatte ihren Spaß heute Abend! Julie konzentrierte sich einfach auf die Musik und versuchte das ganze Drumherum auszublenden. Wenn die Männer nun langsam anfingen, sie blöde zu finden, interessierte das sie herzhaft wenig. Sie wollte einfach ihre Ruhe, es war sowieso niemand Interessantes unter ihnen. Noch eine Stunde, dann würde sie Tina sagen, dass sie gehen würde. Nur das zählte. Tina würde sicherlich maulen, aber das hatte sie dann umsonst! Julie war nur froh, dass der DJ keine langsame Schmusemusik spielte, denn sie hatte nun wirklich keine Lust, sich auch noch von einem dieser Schickimickitypen umarmen und begrapschen zu lassen. Wieder suchte ihr Blick Tina. Die Chancen, dass Tina die Tanzfläche verlassen hatte, um wenigstens mal einen Schluck zu trinken, standen äußerst schlecht. Da sah sie sie auch bereits. Noch immer tanzte sie mit dem jungen Mann, der mittlerweile deutlich näher an sie heran getanzt war. Na ja, sollte Tina doch ihren Spaß haben. Julie wusste, dass ihre Schwester niemals wirklich etwas anfangen würde. Dazu war sie zu treu. Julie schloss die Augen und stellte sich vor, sie wäre alleine hier.

Als sie sie wieder öffnete und dann doch einmal vom Boden aufschaute, war es reiner Zufall, dass sie einen Blick auf ihren jetzigen Tanzpartner warf. Ihr stockte der Atem! Dieser Mann, er war einfach der Inbegriff all ihrer Träume. Er musste einfach der Traum jeder Frau sein, dachte Julie. Julie war eigentlich keiner Bewegung mehr fähig, und doch tanzte sie weiter. Irgendwie. – Eine Gänsehaut lief ihr den Körper hinunter. Ihr wurde plötzlich heiß und kalt. Alles auf einmal. Ihr eigener Herzschlag drang ihr in die Ohren, laut wie Trommelschläge. Schweiß schien ihren Körper zu bedecken. Krampfhaft versuchte sie sich zu beruhigen, ihren Blick abzuwenden. Doch es war ein sinnloses Unterfangen in Anbetracht dieses Mannes! Sie starrte ihn an und in ihren Augen lag wohl derselbe Glanz, der in Kinderaugen liegt, wenn sie den Weihnachtsmann sehen. Julie zitterte. Ihr ganzer Körper schien zu beben. Dieser Mann- er war ihr Traum!

Sein Haar war tiefschwarz und wellig. Seine Augen- nie hatte Julie in solche Augen geblickt! Sie waren dunkel, fast schwarz und aus ihnen strahlte ein Feuer, das sie noch um den Verstand bringen würde. Plötzlich verblasste die Welt um sie herum. Alles rückte in weite Ferne, die Musik, die Menschen, die Lichter. Sie sah nur noch diese schwarzen Augen, die in einem phosphoreszierenden Licht zu leuchten schienen. Sie fühlte sich von einer starken Kraft gehalten; sie hätte sich fallen lassen können und hätte trotzdem keinen Millimeter ihrer Haltung eingebüßt. Sie versank in diesen Augen und ihr Wille, ihr rationales Denken war nicht mehr vorhanden. Sie fühlte sich wie ein atomares Teilchen, das schwerelos durchs All trieb, aber das, auch ohne sich Gedanken über das Wieso und Warum zu machen, in eine bestimmte Richtung getrieben wurde. Und all das war so verdammt richtig!

Doch plötzlich änderte sich wieder alles. Auf einmal war die Musik wieder da und auch die Tänzer um sie herum. Im gleichen Augenblick gaben ihre Knie nun endgültig unter ihr nach. Und wieder war da eine Kraft, die sie hielt. Diesmal waren es die starken Arme ihres Tanzpartners. Julie blinzelte, viel zu durcheinander, um die Situation als peinlich zu empfinden.

„Alles in Ordnung?“ fragte ihr schwarzhaariger Retter. Julie nickte nur stumm. Und dann brachte sie sogar ein Lächeln zustande. Sie versuchte sich nun wieder ganz auf die Musik zu konzentrieren, konnte aber nicht umhin, ihren Tanzpartner wieder zu bestaunen. Er besaß einen Body, den man nur als vollkommen bezeichnen konnte. Und wie er seine Hüften zur Musik wiegte- er schien jeden Ton erfunden zu haben. Wieder wechselten sich Hitze und Kälte in ihr ab. Niemals zuvor hatte sie so etwas bei einem Mann erlebt. Und dabei kannte sie ihn überhaupt nicht! Trotzdem verblasste ihr Umfeld wieder; wenn auch dieses Mal auf eine ganz andere Art, die ihr Denken nicht völlig ausschloss. Kurz blitzte in ihr der Gedanke auf, dass man das, was sie jetzt dachte, wohl kaum als Denken bezeichnen konnte. Sollte es ihr nicht wenigstens peinlich sein, wie sie ihn anstarrte? Vermutlich ja. Aber all diese Gedanken halfen nichts. Ihre ganze Konzentration galt nur noch ihm. Nichts war mehr von Belang, nur noch dieser Mann! Dabei war er nicht einmal auffällig gekleidet. Aber so etwas hatte er auch nicht nötig. Es gab sicherlich keine Frau, der dieser Mann nicht sofort aufgefallen wäre! Ein knallrotes enges T-Shirt umschloss seine maskuline Brust. Der dünne Stoff zeichnete seine starken Muskeln beeindruckend nach. Sein kleiner, fester Hintern steckte in Jeans, die ebenfalls mehr zeigten als sie verhüllten. Seine Haut hatte die Farbe heller Bronze und seine Zähne waren von einem nahezu strahlendem Weiß. Julie war hingerissen. Niemals würde sie diesen Mann wieder vergessen können! Sie hatte das Gefühl gleich die Besinnung zu verlieren. Doch schon der Gedanke daran, sich dann vielleicht völlig in seinen Armen wieder zu finden, ließ sie noch mehr taumeln. Was war nur mit ihr? Krampfhaft riss sie sich von seinem Anblick los. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein?! Es waren keine 15 Minuten her, seit er sich zu ihrem Tanzpartner gemacht hatte, und trotzdem war sie ihm verfallen. Das Gefühl brannte in ihr- heiß wie Feuer! Plötzlich sagte er etwas. Julie musste sich zwingen die Worte zu verstehen, und das, obwohl sie jeden Ton, jede Silbe regelrecht aufzusaugen schien.

„Wollen wir etwas trinken? Kommen Sie.“ Seine Stimme vibrierte vom angenehmen Timbre, einer durch und durch maskulinen Stimme.

Als Julie nicht gleich reagierte, nahm er sie kurzerhand am Arm und zog sie von der Tanzfläche. Also musste er ihr doch etwas angesehen haben. Sah sie wirklich so schlecht aus, dass er annahm, sie bräuchte Ruhe? Bei dem Gedanken, er könne ihr den Grund dafür angesehen haben, schoss die Farbe in ihre Wangen. Verdammt Julie, nimm dich endlich zusammen! Erst jetzt bemerkte sie, dass sie bereits am Tresen waren und er ihr einen der runden, roten Barhocker anbot. Selbst die Getränke hatte er schon bestellt. Na fabelhaft! Hoffentlich hielt er sie jetzt nicht für einen dieser ausgeflippten Teenies. Doch in seiner Mimik war nicht auszumachen, was er dachte. Dann wanderte ihr Blick zum Tresen. Er hatte keinen Longdrink, wie etwa Bacardi-Cola bestellt, sondern da stand ein schick zurechtgemachter Cocktail. Der Farbe nach zu urteilen, schien es sich um Swimmingpool oder Blue Ocean zu handeln. Na wenigstens würde sie von diesem Drink nicht gleich umkippen. Was war nur los mit ihr? Sie sah den Mann an ihrer Seite wieder an und stellte überrascht fest, dass sie ihn jetzt irgendwie mit anderen Augen sah. Nicht, dass sie ihn jetzt weniger attraktiv fand, aber er war jetzt nicht mehr so etwas wie, na wie was denn eigentlich? Jedenfalls war er plötzlich ein ganz normaler Mann für sie. Na ja, dachte Julie, so ganz stimmte das ja nun wieder auch nicht. Er sah einfach zu gut aus, um ein ganz normaler Mann zu sein! Verträumt spielte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Erst jetzt merkte sie, dass er sie beobachtete. Hatte er das schon die ganze Zeit über getan? Oh Gott!

„Ich bin Julie.“, versuchte sie leichter zu klingen, als es ihr ums Herz war. „Und nach dem ungeschriebenen Gesetz im Riverboot, ganz ohne Nachname.“ Sie versuchte unbekümmert zu lächeln.

Eine Braue hob sich in seinem markanten Gesicht. Irgendwie hatte Julie das Gefühl, dass er etwas anderes zu hören erwartet hatte. Doch dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem sehr, sehr netten Lächeln.

„Ungeschriebenes Gesetz? Ich bin Eugeñio, ohne Nachname.“ Sagte er und hob sein Glas, um ihr zuzuprosten.

Julie lachte, nahm ihr Glas ebenfalls in die Hand und nippte am Strohhalm. Sie hatte richtig geraten; es handelte sich um einen Swimmingpool.

„Das ungeschriebene Gesetz besagt, dass Nachnamen und vor allem Adressen vor der Tür zu bleiben haben. – Hier spricht sich jeder nur mit Vornamen an.“ erklärte sie, nachdem sie ihr Glas wieder vorsichtig auf dem Tresen abgestellt hatte.

Er nickte. „Schon verstanden, damit sind spätere Verabredungen Zuhause ausgeschlossen.“

Julie lachte. Er stimmte in ihr Lachen leise mit ein.

„Und ich bin Tina!“ erklang hinter ihr die Stimme ihrer Schwester. Eine Hand schoss an ihr vorbei und stoppte kurz vor Eugeñio.

Eugeñio neigte leicht den Kopf und stellte sich vor.

„Meine Schwester.“ ergänzte Julie die Vorstellung. „Du tanzt gar nicht mehr?“

„Nö, ich brauch mal ne Kippe. Kommt ihr mit?“ fragte Tina.

Julie sah Eugeñio an.

„Ein wenig frische Luft könnte ich auch gebrauchen. Begleiten Sie uns?“ fragte sie ihn.

Eugeñio stand auf und machte eine galante Bewegung mit seiner rechten Hand.

„Ich folge Ihnen, meine Damen.“

Das Riverboot verfügte über einen Garten, der irgendwie einzigartig war. Eigentlich handelte es sich um einen Hof, der ziemlich unschön von einer hohen Backsteinmauer umgeben war, aber der Besitzer des Riverboots hatte diesen kahlen Hof zu etwas Wunderschönem verwandelt. In seiner Mitte gab es eine ca. 9 m² große Pflanzfläche, wo Mahonien neben Stechpalmen, Mispeln und einigen Rankepflanzen ein dichtes Grün stellten, in deren Mitte ein großer Springbrunnen eingebaut war. Die hohe Fontaine wurde durch einen Strahler und einer Buntglasscheibe, in immer wieder andere Farben getaucht. Grün, Rot, Blau und Gelb, das durch die Wasserperlen eher wie Gold wirkte. Das ganze Arrangement wurde durch eine leichte Umzäunung, die nur aus einer einzigen Holzlatte bestand, umrandet. Drumherum war die Bank aufgestellt, die aus zwei hellen Holzlatten bestand und ganz ohne Lehne auskam. An den Mauerseiten waren Pflanzkübel aufgestellt, die im Abstand von eineinhalb Metern den Blick auf die hässlichen Steine verwehrten. In ihnen blühten Bougainvillea in Pink und Plumbago in Weiß.

Das Ganze wurde durch eine dezente Beleuchtung in anheimelnder Farbe getaucht. Eigentlich war dieser Hofgarten ein echter Schatz für jeden Verliebten, dachte Julie und fragte sich, weshalb sie gerade Eugeñio ansah. Peinlich berührt senkte sie ihren Blick.

„Nun kommt schon, setzt euch! Meine Füße brauchen mal ´ne kleine Pause!“ rief Tina ihnen zu, die schon auf der Bank saß und ihnen zwei Plätze frei hielt.

„Eugeñio hört sich so nach Bella Italia an. Sind Sie Italiener?“ platzte Tina heraus.

Eugeñio lächelte. Oh Gott, dachte Julie, sie hatte noch nie ein so charmantes Lächeln gesehen.

„Spanien. Ich komme aus Spanien.“, antwortete er, immer noch dieses Lächeln im Gesicht.

„Aber Sie haben gar keinen Akzent. Ich meine ...“

Eugeñio nickte. „Ich lebe auch schon sehr lange hier. – Und Sie beide haben sich heute also mal einen freien Abend gegönnt?“

Bei jedem anderen hätte so eine Frage sicherlich überheblich geklungen; nicht so bei ihm. Tina lachte.

„So in etwa! Sieht man mir etwa die Familie an?“

„So habe ich es nicht gemeint. Aber vielleicht, so ein wenig.“

„Na, dann werd ich mich mal wieder ins Getümmel stürzen. Ihr zwei könnt ja noch eine Weile hier bleiben.“ sagte Tina und war auch schon verschwunden.

Oh Gott, war das peinlich! Tina versuchte also mal wieder ihr Glück, sie zu verkuppeln, dachte Julie zähneknirschend. Doch Eugeñio lächelte nur wieder.

„In der Tat, mir gefällt es hier ganz gut. Die Luft ist so angenehm. Aber wenn Sie gerne tanzen wollen …“

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, etwas von dieser süßen Nachtluft könnte ich auch noch vertragen.“

„Sie sind nicht oft hier? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.“ Plapperte sie drauf los.

Eugeñio schüttelte den Kopf.

„Sie haben mich ertappt. Eigentlich brauche ich nur selten solch laute Musik. Ich bin eher der stille Typ. Und Sie?“

„Na ja, eigentlich mag ich Discomucke ganz gerne. Aber so oft bin ich auch nicht hier. Tina hat mich heute sozusagen überredet.“

„Da bin ich ihrer Schwester aber dankbar, dass ich Sie kennenlernen durfte. Sie sind eine außergewöhnliche Frau, Julie.“

Verblüfft sah Julie in seine Augen. Machte er Scherze? Er kannte sie doch gar nicht!

„Sie kennen mich doch gar nicht. Woher also wollen Sie das wissen? Oder sagen Sie so etwas jeder Frau gleich beim Kennenlernen?“

„Denken Sie, dass es so viele Frauen in meinem Leben gibt?“

Wieder zog sich eine Augenbraue etwas nach oben, das hatte sie vorhin auch schon einmal bei ihm gesehen. Seine Augen blieben bemerkenswert ernst.

Julie zuckte die Schultern. „Ist es so?“

Oh Gott, was machte sie hier eigentlich? Diskutierte sie tatsächlich mit einem Mann, den sie vor wenigen Minuten kennengelernt hatte, wie viele Frauen er kannte? Das war doch albern! Aber sie ertappte sich dabei, dass es sie wirklich interessierte. Hoffentlich merkte er das nicht!

Sie saßen noch beinahe eine Stunde draußen, unterhielten sich, und die Unterhaltung wurde immer persönlicher. Dann nahm er plötzlich ihre Hand, zog sie von der Bank und steuerte wieder das Lokal an.

„Komm lass uns tanzen!“

Julie folgte ihm lachend.

Von Tina war nichts zu sehen, und der DJ spielte gerade die langsamen Songs. Eugeñio zog sie fest an sich, legte seinen starken Arm um ihre Taille und dann begannen sie sich, wie von selbst, zur Musik zu bewegen. Wieder spürte sie, wie ihre Knie ganz weich wurden.

Oh Gott, bitte lass diesen Tanz nie enden! Betete sie stumm. Julie erschrak. Sie hatte diesen Satz nicht nur gedacht; sie hatte ihn laut ausgesprochen! Ihr Kopf fuhr hoch. Hatte er es gehört? Doch dann beruhigte sie sich wieder; die Musik war schließlich so laut, dass man Schwierigkeiten hatte, sein eigenes Wort zu verstehen. Nein, er hatte sie sicherlich nicht verstanden. Dennoch lächelte er sie zärtlich an. Dieses Lächeln traf ihr Herz- genau mitten drin!

Plötzlich spürte sie, wie sein Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Sie fühlte seinen Atem an der zarten Seite ihres Halses. Gleich würde er sie küssen! Sie zitterte vor Erwartung. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass eine einzige zarte Berührung solch starke Gefühle hervorrufen könnte! Doch da hatte er seinen Kopf schon wieder gehoben. Schade- warum versuchte er es nicht? Vielleicht mochte er sie doch nicht genug? Schon allein der Gedanke tat weh! Doch sein Blick suchte den ihren. Julie hätte in diesen Augen versinken können!

„Ich muss jetzt gehen! – Es tut mir leid. – Wie schon so lange nicht mehr!- Tschau Bella Juliea!“

Julie war entsetzt! Er war verschwunden, noch ehe sie etwas erwidern konnte. Wo war er so schnell hin? Sie starrte auf die Stelle vor ihr, an welcher er doch noch vor einer Sekunde gestanden hatte. Jetzt war sie leer. Nein! Schrie alles in ihr. So durfte das doch nicht enden. Ganz gleich, wie kurz sie ihn erst kannte. Sie hatte sich verliebt! Wie Schuppen fiel es von ihren Augen.

„Hey Traumsusi! Willst du hier Wurzeln schlagen? Du wirst schon beobachtet. Ausruhen solltest du dich wirklich an der Bar. Wo ist denn Eugeñio“?

Julie schüttelte den Kopf und blinzelte ihre Schwester verwirrt an.

„Er ist gegangen. Gerade eben.“

„Und hat dich einfach so stehen gelassen? Hätte ich gar nicht gedacht. Er machte so einen sympathischen Eindruck.“ Tina sah sie ruhig an.

„Er hat dir gefallen?“ fragte sie dann, währenddessen sie Julie von der Tanzfläche zog. „Ich habe es bemerkt. Er sah wirklich verdammt gut aus- zugegeben. Aber irgendwie fremdartig- vielleicht sogar etwas- unheimlich?! – Ach Quatsch- vergiss es!“

Julie starrte zu Boden. „Tina, ich glaube, ich liebe ihn. Ich habe niemals einen Mann wie ihn kennengelernt!“

Jetzt wurde Tinas Blick wirklich skeptisch. Julie sah irgendwie die unausgesprochene Frage in ihrem zweifelnden Blick: Ist etwa der frühe Tod unserer Eltern Schuld daran?

Normalerweise hätte sie das wütend gemacht, aber nicht heute.

„Das kannst du doch nicht ernst meinen?! Du hast ihn doch gerade erst kennengelernt! Man Julie, nimm dich mal zusammen!“

Julie musste ihr Recht geben, wenigstens im Stillen. Trotzdem wusste sie, von dem Moment an, als er sagte, dass er gehen würde, dass es genau so war. Sie hatte sich tatsächlich, innerhalb einiger weniger Stunden hoffnungslos verliebt! Sie konnte ihn noch immer vor sich sehen. Seine Augen. Sein Lächeln. Sein Gesicht. Es hatte eine Traurigkeit in seinen Augen gelegen, als er sich verabschiedete, die so unsagbar tief gewesen war. Niemals hatte Julie so eine tiefe Trauer in den Augen eines Menschen gesehen. Sie konnte es sich nicht erklären, und das machte alles noch schlimmer. Dieser Mann war etwas ganz Besonderes! Ihr Geist, ihr Körper, alles an ihr rief seinen Namen, so als wären sie schon seit Ewigkeiten ein Paar. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie von Tina noch immer beobachtet wurde. Aber sie konnte ihr auch keine Erklärung geben. Sie wusste ja selber keine!

„Vielleicht ist das die berühmte Liebe auf den ersten Blick.“, sagte sie nur und ließ es auf sich beruhen. Sie wollte sich nicht länger mit ihrer Schwester darüber unterhalten. Sie musste erst selber mit diesen unerklärlichen Gefühlen klarkommen. Seltsam, dachte sie, als sie heute mit Tina hier hergekommen war, hatte sie gelitten. Zwar nicht wegen Mark, aber doch wegen ihrer eigenen Dummheit, sich von ihm verarschen zu lassen. Jetzt litt sie wegen ihm. Trotzdem hatten diese beiden Gefühle nichts miteinander zu tun. Dieses Gefühl war anders, ganz anders! Es war nicht diese ohnmächtige Wut, sondern es war ein Gefühl, als fehlte ihr etwas. Etwas, ohne das kein Mensch auf der Welt leben konnte. Sie fühlte sich leer. Allein und einsam.

 

3

 

 

Es hatte sich nichts geändert. Es war einige Tage her, genug Zeit um sich zu sagen, dass so etwas nicht sein konnte. Sie konnte sich nicht verliebt haben! Jedenfalls nicht so sehr, wie sie an jenem Tag in dem Tanzlokal, gedacht hatte. Trotzdem vermisste sie ihn noch immer. Manchmal war es ihr, als spüre sie seine Gegenwart. In den Nächten hatte sie das Gefühl, er liege direkt neben ihr, im selben Bett und träume mit ihr denselben Traum. Julie konnte sich das nicht erklären. Doch so sehr sie auch versuchte sich dagegen zu wehren; es gelang ihr nicht Eugeñio aus dem Kopf zu bekommen.

„Papa, ich vermisse dich!“ sagte sie in den Spiegel. „Du hättest bestimmt gewusst, ob so etwas möglich ist.“

Julie spielte die Songs, nach denen sie getanzt hatten immer wieder, so oft, dass die Nachbarn sicher schon mit dem Gedanken spielten, die Notrufnummer zu wählen.

Am nächsten Wochenende ging Julie wieder ins Riverboot. Und sei es nur, sagte sie sich selbst, um festzustellen, dass ihre Gefühle nicht echt und ihre Erinnerung falsch war. Um nicht allein zu gehen, hatte sie Tina und Detlef eingeladen. Tina hatte ihrem Mann nichts davon erzählt, dass Julie sich verliebt hatte. Vermutlich wollte sie nicht, dass er ihre Schwester jetzt für total übergeschnappt hielt. Julie hätte kotzen können! Es war in der Tat schon komisch, wie Tina sich benahm. Die ganzen letzten Jahre hatte sie immer wieder versucht, Julie zu ihrem Glück zu verhelfen; so jedenfalls nannte sie die Versuche, sie unter die Haube zu bekommen. Aber diesmal, als Julie selber etwas fühlte, tat Tina ihre Gefühle als Wahnsinn ab. Wenn sie ihre Schwester nicht so sehr lieben würde, hätte sie ihr wohl mehr als nur die Meinung gesagt!

Aber eigentlich, so musste Julie es sich dennoch eingestehen, hatte Tina auch ein wenig Recht; man konnte sich doch nicht in jemanden wirklich verlieben, den man gerade mal ein paar Stunden kannte. Wobei kennen ja auch ein wenig übertrieben war. Doch kaum waren sie im Riverboot angekommen, war Julie weder als Gesprächs- und schon gar nicht als Tanzpartnerin zu gebrauchen. Sie durchlief das Tanzlokal, wie ein Spürhund, der verbissen die Fährte eines verlorenen Wildes suchte, setzte sich dann an die Bar, das Gesicht der Eingangstür zugewandt. Natürlich fiel ihr Verhalten auf.

„Was ist denn mit deiner Schwester los?“ fragte Detlef grade.

„Ach lass sie mal, sie denkt, sie habe sich verliebt.“

Diese Antwort hätte Julie nun wirklich nicht erwartet! Sie fuhr herum und starrte Tina böse an. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf und ließ es auf sich beruhen. Hatte sie sich nicht grade erst selber eingestanden, dass sie es ebenso wenig verstanden hätte, wäre sie an Tinas Stelle? So verging der Abend. So sehr sie es sich auch wünschte, Eugeñio tauchte nicht auf.

Nicht an diesem Abend und auch nicht an den nächsten Wochenenden, die Julie nun nicht mehr in Begleitung aber dennoch im Riverboot verbrachte. Ganze fünf Wochen war es jetzt her, und Julie hatte es schon aufgegeben, auf Eugeñio zu warten. Es war eher zur Gewohnheit geworden, die Samstagabende im Riverboot zu verbringen. Sie hatte dort inzwischen ja auch einige coole Leute kennengelernt, mit denen sie sich die Abende angenehm vertreiben konnte. Mina war eine der jungen Frauen, die sie hier kennengelernt hatte. Schon in den vergangenen Wochen hatten die beiden bemerkt, dass sie gut miteinander auskamen. Sie liebten dieselbe Musik und ihre Unterhaltungen wurden allmählich immer privater. Julie saß an der Bar und hatte grade zwei Cola-Weinbrand bestellt, als sie plötzlich hinter sich ihren Namen hörte.

Blitzschnell fuhr sie herum. Da stand er! Eugeñio lächelte ihr zu. Julies Herz schien auszusetzen. Sie hatte ja schon selbst mit dem Thema abgeschlossen. Aber nun war er da!

„Hallo. Du bist heute alleine hier?“ fragte er.

Im ersten Moment wusste Julie gar nicht, wie sie antworten sollte. Dann blickte sie sich nach Mina um, doch die war wohl grade mal zur Toilette.

Julie nickte also. „Mehr oder weniger.“ Und als sie sah, wie Eugeñio das zweite Glas, das direkt neben ihrem stand, ansah, fügte sie schnell hinzu:

„Eine Freundin. Ich treffe mich hier jetzt öfter mal mit einer Freundin. – Und du? Auch mal wieder auf Feiertour?“ Julie versuchte locker zu sein. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er ihre Maske durchschaute. In dem Moment tauchte Mina auf. Sie hatte einen Typen im Schlepptau, der sich nun als Hendrik vorstellte.

„Du Süße,“ fragte Mina. „Bist du sauer, wenn ich dich für heute mal alleine lasse? Hendrik hat mich grade ins Kino eingeladen.“

Julie musste sich ein Lachen verkneifen. Ins Kino? Als wenn sie da nicht mitgehen könnte! Aber es war schon klar; Mina wollte mit dem Typen alleine sein. Julie konnte es ihr nicht mal verübeln.

„Geht nur ihr Beiden,“ sagte sie und gab Mina noch ein Küsschen auf die Wange. Dann waren die Zwei auch schon verschwunden.

Eugeñio hatte sich einen freien Barhocker gegriffen und setzte sich zu ihr.

Sie redeten über dies und das; nichts Weltbewegendes, nur einfach lockere Kommunikation. Dann forderte er Julie zum Tanzen auf.

Wie an ihrem ersten Tag spielte der D.J. wieder langsame Musik. Eugeñio zog sie in seine Arme und Julie hätte sterben können!

„Bella Juliea, ich dachte, dass wir uns nicht wieder sehen …“ hauchte er in ihr Ohr. Dennoch sog Julie jede Silbe in sich auf.

„Ich habe es gehofft.“ flüsterte Julie zurück.

Plötzlich schlang er seine Arme um sie und zog sie fester an sich. Doch genauso schnell ließ er sie wieder los. Er hielt sie nur noch an den Händen. Aber dann legte er wieder seine Arme um sie und sie drehten sich weiter zur Musik.

Julie schmiegte sich noch enger in diese Umarmung. Sie spürte den Hauch eines Kusses, den er ihr sanft ins Haar gab. Julie blickte auf und versank in seinen Augen.

Nach einer Weile zog Eugeñio sie wieder von der Tanzfläche. Julie hatte nichts dagegen, mal eine Pause einzulegen. Ihr war heiß.

„Puh! Mir ist richtig warm. Ich würde gerne mal ein wenig vor die Tür. Hast du Lust?“

Vor dem Eingang sammelten sich die Menschen. Manche rauchten, andere standen eng umarmt an die Häuserwand gelehnt.

„Du hast nicht zufällig Appetit auf Eis? Zwei Straßen weiter ist eine Eisdiele.“ Julie wusste nicht, ob es wirklich der Appetit war, oder einfach die Tatsache, dass sie mit ihm allein sein wollte.

Eugeñio nickte und hob seinen Arm, als wolle er ein Taxi rufen.

„Nein, bitte nicht! Lass uns doch laufen. Es ist doch auch nicht weit.“

Sie hakte sich bei ihm unter und so eng neben ihm fühlte sie sich wie im siebten Himmel.

„Ich gehe gerne nachts spazieren. Die Nacht ist herrlich. Findest du nicht?“

„Du magst die Nacht?“ Seine dunklen Augen waren auf sie gerichtet.

Julie nickte. „Die Luft ist sogar hier nachts anders.“

Wenige Augenblicke später betraten sie die Eisdiele. Natürlich war es auch hier voll. Aber Julie entdeckte einen freien Tisch, den sie auch sofort ansteuerte. Als die Bedienung kam, bestellte sie sich einen Hawaiibecher mit Sahne. Eugeñio wollte nichts.

„Gehst du oft nachts spazieren?“ wollte er wissen.

Julie lachte. „Na ja zugegeben, das habe ich eine Zeit lang wirklich getan. Wenn ich könnte, wie ich wollte, wäre die Nacht wohl mein Tag. Ich bin ein ausgesprochener Nachtmensch.“ Eugeñio wollte etwas antworten, aber in diesem Moment kam die Bedienung mit ihrem Eis. Sie stellte den Becher vor sie, aber ihre Augen waren auf Eugeñio gerichtet. Komisch, aber ihre Hand zitterte. Dann drehte sie ab und verschwand. Julie runzelte die Stirn.

„Scheint ziemlich nervös zu sein. Ist vielleicht doch besser, wenn man einen Tagesjob hat. Der macht einen wenigstens nicht so fertig.“ Julie nahm den langstieligen Eislöffel und begutachtete ihren Eisbecher.

„Lass es dir schmecken.“

Sie nickte ihm zu. „Und du bekommst wirklich keinen Appetit?“

„Ich habe vorhin so viel gegessen, dass ich nichts mehr runter bekomme.“

Während Julie aß, ließ sie ihre Blicke durchs Lokal wandern. Schließlich konnte sie nicht die ganze Zeit Eugeñio beobachten. Auch wenn sie das gerne getan hätte. Die Eisdiele war nicht wirklich groß, aber bot trotzdem ungefähr zehn Tischen Platz. Auf den Tischen lagen bunte Deckchen und in der Mitte stand eine weiße Kerze, die man allerdings vergessen hatte anzuzünden. Da sie einen Fensterplatz hatten, konnte Julie auch einen Blick auf die Straße werfen. Auf dem Fenstersims, nur leicht verdeckt von den weißen Bistrogardinen, lagen alte Zeitungen. Eher zufällig fiel ihr Blick auf die Schlagzeile der oberen Tageszeitung. Sie erstarrte. Der Löffel fiel ihr aus der Hand. Hastig riss sie die Zeitung vom Stapel.

FRAUENLEICHE IN DER MÖLLERTSTRAßE

„Was ist?“ Eugeñio klang alarmiert.

Julie las den Artikel. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Kehle war zugeschnürt.

„Kanntest du die Frau?“

„Nein, aber ich weiß, wo das ist. Ich war an dem Tag auch da. Oh mein Gott! In dieser Straße hatte ich mein Auto geparkt. Aber ich bin … Taxi gefahren. Sonst .. vielleicht …“ Sie verschluckte die letzten Worte. Wäre sie wirklich sonst dem Mörder begegnet? Vielleicht war die Frau zu einem ganz anderen Zeitpunkt umgebracht worden. Vielleicht sponn sie sich jetzt in ihrer Fantasie einfach zu viel zusammen? Aber dieses merkwürdige Gefühl von drohender Gefahr hatte sie ja vor dieser Straße stoppen lassen. Also war sie doch nicht verrückt! Sie sah Eugeñio an. Etwas in seinen Augen sagte ihr, dass er im Moment richtige Angst hatte. Angst um sie! Irgendwie fühlte sie sich plötzlich wieder besser. Sie lächelte ihn an.

„Na ja, ist ja nichts passiert! Also lassen wir uns davon nicht den Tag vermiesen. Jetzt, wo ich mein Eis hatte, würde ich zu gerne, die Kalorien wieder abtanzen.“

Auf dem Rückweg schmiegte sie sich an ihn. Zuerst hatte Julie das Gefühl, er würde versuchen sie auf Abstand zu halten, doch dann spürte sie, wie er sie in diese Umarmung zog. Der Weg zum Riverboot war für Julie plötzlich viel zu kurz. Die Zeit verging wie im Flug. Plötzlich waren Stunden vergangen und sie tanzten noch immer.

„Yo te quiero! – Bitte verzeih´ mir. Ich muss jetzt gehen. – Ich kann dir nichts erklären, aber wir dürfen nicht zusammen sein.“

Sanft strich er über ihr Gesicht. Wieder war diese unendlich tiefe Traurigkeit in seinem Blick. Dann drehte er sich um und ging. Doch wenige Sekunden später wandte er sich ihr wieder zu. Julie hätte nicht sagen können, was sie erwartete, aber sie betete, dass er es sich anders überlegt haben könnte.

„Was machst du nächstes Wochenende? Samstag?“

Julie war zu verblüfft, um etwas sagen zu können! Ihr Herz machte einen Freudensprung.

„Ich hole dich Samstag gegen 20 h ab. Ist das in Ordnung für dich? Zieh etwas Schönes an. Ein Abendkleid oder so etwas.“

Julie nickte. Natürlich! Was für eine Frage!

Dann war er plötzlich verschwunden. Genau wie beim ersten Mal. Julie war verwirrt. Wo war er hin? Wie nur schaffte er es immer wieder, so schnell zu verschwinden? Aber das Glück, das sie spürte wog schwerer als der Wunsch zu verstehen, wie er das machte. Julie holte ihre Jacke und ließ sich ein Taxi rufen. In der kurzen Zeit die das Taxi vom Riverboot bis zu ihr nach Hause brauchte, fiel ihr etwas auf: Er wusste doch gar nicht, wo sie wohnte!

Julie hätte wieder nicht sagen können, woher sie diese Sicherheit nahm, war sich aber dennoch sicher, dass er auftauchen würde. In ihrer Wohnung angekommen ging sie gleich ins Bett. Allerdings mit dem Einschlafen war das so eine Sache. Immer wieder gingen ihre Gedanken zurück zu dem Moment, als er ihr sagte, sie könnten nicht zusammen sein. Wie nur hatte er das gemeint? War er verheiratet? Nein, das konnte sie nicht glauben. Aber schließlich hatte er es sich ja anders überlegt. Sie würde ihn schon in der nächsten Woche wiedersehen!

Die ganze Woche lang konnte kaum jemand etwas mit ihr anfangen. Sie gab sich zwar alle Mühe, um sich wenigstens auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber es gelang ihr nur selten. Den Kollegen und sogar ihrem Chef war wohl schon längst aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Doch es herrschte ein gutes Betriebsklima in der Agentur, sodass ihre Kolleginnen taktvoll schwiegen und sie sogar hin und wieder beim Chef deckten, wenn sie mit ihren Gedanken mal wieder ganz woanders war.

Je näher der Samstag rücke, desto nervöser wurde Julie. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Gedanken waren ständig bei ihm. Aber nicht nur die Freude wuchs, sondern auch Unsicherheit und Angst. Was, wenn er nun wirklich nicht wusste, wo sie wohnte? Konnte er das denn eigentlich so einfach in Erfahrung bringen? Schließlich hatte sie ihm ihre Adresse nicht verraten, und er hatte sie auch nicht danach gefragt. Sie dachte daran, dass er ihr nahegelegt hatte, ein Abendkleid anzuziehen und sie war dankbar, dass sie sogar ein solches besaß. Es war eher ein Cocktailkleid als ein Abendkleid, aber Julie hoffte, dass es seinen Zweck erfüllte. Es war ein knielanges Chiffonkleid in hellgrauem Batikmuster. Bustier und Halsausschnitt waren mit glitzernden Perlen und Glassteinen reichlich verziert. Eine dazu passende Stola gehörte ebenfalls zum Outfit. Sie hatte es sich vor vier Jahren für Tinas Hochzeit gekauft. Genau genommen hatte Tina ihr damals das Geld dafür gegeben, denn ihre Ausbildung war noch nicht vorbei und das nötige Geld hätte sie damals nicht aufbringen können. Julie war froh, dass es noch genauso saß wie damals. Sie hatte kein Gramm zugelegt. Gott sei Dank! Schon mehrmals hatte Julie das Kleid nur vor ihrem Spiegel probiert. Jedes Mal hatte ihr Herz geklopft, als hinge ihr Leben davon ab.

„Du siehst gut aus. Lass es endlich dabei. Sonst schaffst du noch, dass ein Fleck drauf kommt.“, ermahnte sie sich selbst.

Am Samstag stand sie schon sehr früh auf. Sie konnte einfach nicht mehr schlafen, auch wenn es bis zu ihrer Verabredung noch mehr als 14 Stunden Zeit hatte. Diese Stunden waren die Schlimmsten! Sie war froh, als es endlich soweit war, dass sie sich fertigmachen konnte. Also: Badewanne, cremen, schminken, stylen parfümieren und dann rein ins Kleid. Silberne Schuhe dazu und fertig! Julie war außer Atem, als sie endlich das fertige Resultat begutachten konnte.

Wieder wuchs die Unsicherheit in ihr. War sie richtig angezogen? Würde sie ihm gefallen? Was, wenn er wirklich gar nicht auftauchte? Sie kam sich vor wie ein verrückter Teenager, nicht wie eine erwachsene junge Frau. Verflucht noch mal! Du blamierst dich noch! Ich schwöre es Dir! Schimpfte sie mit sich selbst. Aber dann war es soweit. Es klingelte. Julie eilte zur Gegensprechanlage.

Wenige Minuten später begrüßten sie sich an Julies Haustür mit einem Kuss. Julie stockte der Atem, beinahe wäre sie stehen geblieben. Er sah einfach fantastisch aus! Er trug einen schwarzen, taillierten Anzug mit glänzendem Seidenkragen und dazu ein weißes Hemd und schwarze Fliege. Dieses Outfit kostete sicherlich eine Menge Geld.

Mein Gott, wo will er mit mir hin?, fragte Julie sich.

Jetzt fühlte sie wieder die Unsicherheit, die ihr schon die letzten Tage zur Hölle gemacht hatte.

„Du siehst einfach umwerfend aus!“ sagte er stattdessen.

Eugeñio deutete auf ein Taxi, das am Straßenrand wartete.

„Wo gehen wir hin?“ fragte Julie.

„Du wirst schon sehen! – Nein, besser, wenn ich es dir sage. – Wir gehen in die Oper, zu Les pêcheurs de perles.“

„In eine Oper?“

Eugeñio nickte.

„Du warst noch nie zu einer Opernaufführung?“ fragte er erstaunt.

„Doch … Nein, war ich noch nicht. Ist das schlimm?“ stotterte Julie.

„Nein, nur traurig. Du weißt nicht, was dir entgangen ist. Na gut, zugegeben, es ist nicht jedermanns Sache, aber ich glaube, dass es dir gefallen wird.“

Wenn Du dabei bist, immer!

Julie ging in Gedanken die Opern durch, von denen sie wenigstens mal was gehört hatte. Zuhause beschränkte sich klassische Musik auf eine CD von Beethoven, es war die Fünfte, Julie war sich aber nicht sicher, und eine CD mit der Oper Carmina Burana, die sie einmal von einem Schulkameraden in der Oberschule geschenkt bekommen hatte.

Das Opernhaus war gewaltig. Es war ein mächtiges, ein berauschendes Gefühl als Julie sich umsah. Eugeñio schob sie sanft zum Lift und sie fuhren zwei Etagen höher, wo sie sich eine Loge zu viert teilten.

Eugeñio lächelte.

Die Oper wurde in Französisch gesungen. Schade dachte Julie, dass sie in der Schule nicht besser aufgepasst hatte. So verstand sie nicht alles, was die Sänger von sich gaben. Aber die Darbietung ging ihr unter die Haut. Schon nach wenigen Minuten war sie ganz und gar darauf konzentriert. Ihr Herz spielte die Musik und sang mit den Sopranisten. Eugeñio griff ihre Hand und es passte einfach zur Musik. Im dritten Akt spürte Julie, wie ihr plötzlich Tränen die Wangen herunter liefen. Beschämt wischte sie sie fort und blickte dabei in Eugeñios Augen. Hatte er sie schon die ganze Zeit über beobachtet? Julie spürte Wärme und Glück bei diesem Gedanken.

Sie waren einer der Letzten, die die Oper verließen.

„Es war wirklich sehr schön.“ sagte Julie. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass …“

„Warte ab“, unterbrach sie Eugeñio. „Der Abend ist noch nicht zu Ende.“

Er winkte ein Taxi und sie fuhren etwa eine halbe Stunde durch die Stadt. Die ganze Fahrt über hielt er sie im Arm.

Julie staunte. Das, wohin Eugeñio sie diesmal gebracht hatte, war ein Ballsaal. Ein richtiger Ballsaal! Hier gab es keine Bluejeans und auch keine kurzen Röcke. Jeder hier war in Abendrobe gekleidet. Julie kam sich vor, als wäre sie in einem Sissifilm gelandet. Es wurden Walzer, Tango und andere klassische Lieder gespielt.

Zuerst hatte Julie Angst sich hier total zu blamieren, doch Eugeñio war ein hervorragender Tänzer. Er führte sie so sicher übers Parkett, dass sie schon glaubte, sie hätte niemals zuvor etwas anderes getanzt als Walzer, Slow Fox und all die herrlichen Tänze, die nach ihrer Meinung nur Prinzessinnen tanzten.

Immer war er da für sie. Er streichelte sie mit Händen und Augen, zog sie enger in seine Umarmung, hauchte ihr Küsse ins Haar. Es war wundervoll. Doch nur ein einziges Mal küsste er sie richtig. Julie schloss die Augen und gab sich ganz dem Gefühl hin, das seine Lippen in ihr hervorriefen.

„Ich habe mich in dich verliebt:“ gestand sie ihm. Ihre Blicke sogen sich gegenseitig ein. Die Welt verblasste. Der Boden schwankte leise. Da waren nur noch sie beide.

„Julie, ich liebe Dich!“

So tanzten sie die Stunden durch. Es war schon spät, oder eigentlich früh, als sie den Ballsaal verließen. Wieder fuhr ein Taxi sie nach Hause. Eugeñio stieg vor ihrer Haustür mit aus und ließ das Taxi fahren.

„Kommst du noch mit hoch?“ fragte Julie hoffnungsvoll.

Doch er schüttelte den Kopf.

„Ich sage dir hier Auf Wiedersehen! Bitte Julie, glaube mir, ich liebe Dich! Ich weiß nicht, ob ich jemals für eine Frau so wie für dich empfunden habe, und es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde, als mit dir zusammen zu sein. Aber es geht nicht. Es darf nicht sein! Wir dürfen uns nicht wieder sehen. Es ist … zu gefährlich. Bitte verzeih mir.“

Er drückte ihr noch einen zärtlichen Kuss aufs Haar, dann drehte er sich um und ging.

Julie starrte ihm sprachlos und geschockt hinterher. Ihr Verstand weigerte sich zu funktionieren. Warum?

Dieser Abend war wunderschön! Warum also jetzt wieder diese Worte? Julie glaubte und betete gleichzeitig, dass er auch diesmal wieder zurückkommen würde, weil er es sich anders überlegt hatte. Aber er kam nicht. Nur langsam erholte sie sich von dem Schrecken. Sie hetzte ihm nach. Doch sie konnte ihn nicht mehr sehen. Wo war er hin? Im Riverboot hatte sie ja noch eine Erklärung, wie er so schnell verschwinden konnte. Dort war es voll mit tanzenden und herumlaufenden Menschen. Da konnte man schnell mal eben verschwinden. Aber jetzt? Hier? Die Straßen waren leer! Wo also war er so schnell hingegangen? Julie blickte von einer Straßenecke zur anderen. Sie schaute in jedes Auto, doch er war nirgends mehr zu sehen.

Julie fühlte sich geschlagen; verletzt!

„Mein Gott, merkst du denn nicht, wie sehr du mich verletzt?“ fragte sie leise den Nachtwind, der allerdings bereits den sich nahenden Morgen ankündigte. Trotzig, wie ein kleines Kind, hob sie der Nacht ihr Gesicht entgegen.

„Aber ich will, dass wir uns wiedersehen! Hörst du? Ich will dich nicht vergessen!“ rief sie. Sie blieb noch eine Weile stehen, sie hätte später nicht mehr sagen können, wie lange, dann ging sie traurig nach Hause.

Julie lag auf ihrem Bett. Sie trug immer noch ihr Kleid und auch die silbernen Schuhe hatte sie nicht ausgezogen. Nur ihre Stola hatte sie im Flur auf den Boden geworfen, kaum dass sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Wieder fühlte sie, wie heiße Tränen ihre Haut nässten. Warum? Er hatte ihr diesen wundervollen Abend geschenkt, sie hatte sich gefühlt wie eine Prinzessin im Märchenland. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte, und Julie hatte gespürt, dass er es ernst meinte. Wieso hatte er das alles beendet, noch ehe sie Zeit gehabt hätte, diese Liebe zu genießen?

Oh Gott Eugeñio! Warum tust du das?“

Was hatte er gemeint, als er sagte, es sei zu gefährlich? War er vielleicht verheiratet? Das konnte sie nicht glauben. Er war einfach nicht der Mann für solch eine ungeheuerliche Lüge! Aber was dann? War er ein gesuchter Verbrecher? Oder ein Spion? Julie lachte auf. Nein, sicher nicht! Sie war sich in all diesen Fragen so sicher, warum also hatte er sie dann allein gelassen? Julie konnte das nicht verstehen, und sie wollte es nicht! Sie vergrub ihr Gesicht in ihr Kopfkissen und weinte laut.

4

Drei Monate später.

„Julie, zum Chef!“ rief die junge Frau und tippte weiter an ihrem Bericht.

Julie nickte kurz, schob ihren Stuhl zurück und machte sich auf den Weg.

„Fräulein Neumann, Sie wissen von dem Haus in der Rosenchaussee 9? Gut, es kann jetzt endlich verkauft werden. Arbeiten Sie sich da durch.“

Julie grübelte. Dann fiel es ihr wieder ein.

„Rosenchaussee 9? Das dürfte nicht schwierig sein. Es ist ein wundervolles Haus. Und auch das Grundstück ist immer noch sehr gepflegt. Soweit ich informiert bin, arbeitet die Gartenbaufirma dort auch noch regelmäßig.“

„Ja, aber das Haus hat auch einen ziemlich hohen Preis. Leider sind uns diesbezüglich die Hände gebunden. Null Spielraum. Wir können nicht runter gehen. Keinen Cent. – Also tun Sie, was Sie können und verkaufen es! Übrigens- Sie haben diesen Auftrag bis zum Abschluss.“

Julie nickte und zwang sich ein Lächeln ab. Sie hatte das Büro schon fast verlassen, als sie ihren Chef sagen hörte:

„Ach ja, Sie haben doch noch zwei Wochen Urlaub, oder? Nehmen Sie sich also … sagen wir mal … drei Tage. Aber dann machen Sie sich an die Arbeit.“

Julies Herz schlug höher. Das hier war ihr erster wirklich großer Auftrag, seit sie nach der Lehre hier angefangen hatte und ihr Chef verordnete ihr zuerst drei Tage Urlaub! War sie so leicht zu durchschauen? Eigentlich war die Tatsache, dass sogar ihrem Chef es nicht egal war, wie sie sich fühlte, etwas, das einem das Herz erwärmen konnte. Trotzdem sagte sie nur:

„Danke“ und verließ das Büro.

Am liebsten hätte sie sich gleich an ihren Computer gesetzt, um nach geeigneten Interessenten zu suchen. Aber schließlich hatte sie eben drei Tage Urlaub verschrieben bekommen. Na ja, in letzter Zeit war sie oft mit ihren Gedanken woanders gewesen, auch wenn die Zeit, in der sie rumgelaufen war, als käme sie aus einer anderen Welt, der Vergangenheit angehörte. Aber jetzt würde sie sich auf diesen Auftrag konzentrieren! Zuallererst musste sie sich das Haus ansehen. Vielleicht mussten ja doch noch die einen oder anderen Dinge geändert werden. Sie wollte diesen Auftrag auf gar keinen Fall verpatzen!

Also fuhr sie erst einmal nach Hause. Erst jetzt merkte sie, dass sie müde war. Nachdem sie eine heiße Dusche genommen hatte, legte sie sich aufs Bett und schlief, ohne es beabsichtigt zu haben, gleich ein.

Es war eine lange Zeit vergangen, seit sie Eugeñio das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte längst aufgehört zu weinen. Trotzdem war seither kein Tag, keine Stunde vergangen, wo sie nicht an ihn gedacht hatte. Auch diesmal schlich er sich in ihre Träume. Sie träumte davon, in seinen Armen zu liegen. Sie träumte von seiner Stimme und von seinen Augen. Diese Augen, voll mit Traurigkeit, die sie nie wieder loslassen würden!

Ein Klingeln riss sie aus ihrem kurzen Schlaf. Verschlafen griff sie nach ihrem Handy, das sie auf ihrem Nachtschränkchen vermutete. Erst dann merkte sie, dass es nicht ihr Handy, sondern das Festnetz war, das ununterbrochen läutete. Sie war müde. Verspürte wenig Lust an den Apparat zu gehen. Zumal sie ihn nicht ins Schlafzimmer mitgenommen hatte. Doch das Telefon blieb hartnäckig. Ergeben in ihr Schicksal stand sie auf und schlürfte ins Wohnzimmer.

„Hey Süße, wie geht es Dir?“ Es war Tina. Sie und Julie hatten sich schon seit mehreren Tagen nicht mehr gesprochen und noch um einiges länger nicht mehr gesehen.

„Gut- danke der Nachfrage. Was machst du so? Stell dir vor, ich habe heute einen neuen Auftrag bekommen. Wenn ich den erledigt habe, bin ich sicherlich eine Stufe höher geklettert. Ich freue mich schon darauf! – Aber leider hat er mir drei Tage Zwangsurlaub verabreicht.“ platzte Julie hervor.

Sie hörte ihre Schwester am anderen Ende deutlich den Atem anhalten, aber nur um ihn dann geräuschvoll wieder auszustoßen.

„Ist doch super! Aber du, wir haben uns überlegt, dass wir mal wieder raus wollen. Aufs Grundstück. Wenigstens für ein paar Tage. Was hältst du davon? Kommst du mit?“

Julie dachte nach. Sie war schon lange nicht mehr auf ihrem alten Campingplatz gewesen. Es wäre sicher mal eine gute Idee. Außerdem konnte sie dann auch mal wieder mit ihrer kleinen Nichte spielen. Es würde sicher Spaß machen. Also willigte sie ein.

Am nächsten Tag stand sie schon am Vormittag vor Tinas Tür. Unter den Arm hatte sie sich einen riesigen, rosafarbenen Plüschteddy geklemmt, den sie kurz zuvor noch schnell erstanden hatte. Sie lächelte, als Detlef die Tür öffnete. Sie steckte Nancy, ihrer Nichte, den Teddy entgegen, die das neue Geschenk auch gleich mit lautem Jauchzen feierte.

„Ja meine Kleine, der ist ganz allein für dich!“ sagte sie und nahm das kleine Mädchen mitsamt dem neuen Teddy auf den Arm. Nancy drückte ihr freudestrahlend einen feuchten Schmatzer auf und schlang ihre zarten Kinderärmchen um Julies Hals. Es tat gut, die Kleine mal wieder zu sehen. Julie hing sehr an ihrer Nichte, schließlich war sie bei der Geburt dabei gewesen. Jedenfalls fast.

„Hilfst du mir?“ Tina kam gerade aus der Küche, ein Tablett mit Tellern und Gläsern in den Händen. Julie nickte.

„Na klar!“ und nahm ihr das Tablett ab. Julie hatte zwar keinen Hunger, aber sie wusste, sie würden das Haus nicht eher verlassen, bevor sie nicht was Richtiges gegessen hatten. Tina war da ziemlich konservativ. Vor allem seit Nancy auf der Welt war, sie war jetzt zwei Jahre alt, bestand sie auf gemeinsames Essen zu festgelegten Zeiten.

Julie warf Detlef einen gequälten Blick zu. Aber auch er hatte sich schließlich zu fügen. Da kannte Tina kein Erbarmen!

Am Esstisch herrschte diesmal beinahe eisiges Schweigen. Selbst Nancy schien auf einmal zu spüren, das heute etwas nicht stimmte. Julie räusperte sich.

„Sagt mal, ist vielleicht jemand gestorben?

Oder warum herrscht hier plötzlich biblische Ruhe?“

Tinas Blick wurde beinahe schuldbewusst. Julie ahnte, dass wohl sie der Grund hierfür war.

„Wie geht es dir denn nun wirklich?“ fragte Tina leise. „Du spielst uns doch nur Theater vor. Das merke ich doch. In Wirklichkeit geht es dir nicht so gut. Stimmt doch, oder?“

Aha, daher wehte also der Wind! Tina ahnte wohl, dass Julie die Sache mit Eugeñio nicht so einfach begraben hatte. Deshalb wohl auch dieser gemeinsame Ausflug, dachte sie. Einfach um sie auf andere Gedanken zu bringen.

„Ich bin darüber hinweg.“ log Julie. „Alles ok. Danke, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast. Aber war nicht nötig. – Wann fahren wir also?“

Tina lächelte ihr Mamalächeln.

„Gleich Süße! Sobald der Tisch wieder abgeräumt ist und Detlef alles verstaut hat, kann’s losgehen.“

Die Fahrt dauerte knapp vier Stunden. Julie und Tina spielten abwechselnd oder auch gemeinsam mit Nancy, während Detlef sich die Zeit damit vertrieb, auf den Verkehr zu schimpfen.

Pünktlich zum Abendessen hatten sie das große Zelt und den Grill aufgebaut.

Abendessen? Julie hätte sich schütteln mögen, aber ein Blick zu ihrer Schwester sagte ihr, dass ihr das auch nicht helfen würde. Ergeben zwang sie sich dann doch ein paar Bissen vom Steak und ein wenig Salat hinunter.

„Mich wundert nur, dass du noch in deine Klamotten passt.“, konnte sie sich allerdings nicht verkneifen zu sagen. Dabei sah sie Tina bissig an.

Doch die zuckte nur die Schultern.

„Ein vernünftiges Essen hält Leib und Seele zusammen.“

„Amen!“

Nancy war so müde, dass sie kurz nach dem ihre Mutter ihr erlaubt hatte aufzustehen, auf dem Rasen einschlief. Da Tina damit beschäftigt war, den Tisch abzuräumen und Detlef sowieso überfordert war, schnappte Julie sich das Kind und brachte es zu Bett. Das Zelt bestand aus dem großen Innenraum und drei Schlafkabinen, wobei Nancy die linke innehatte. Im Reisebettchen türmten sich etliche Stofftiere, die Julie erst beiseite räumen musste, ehe sie die Kleine hinlegen konnte. Nancy bekam von all dem nichts mehr mit; sie schlief tief und fest.

Als Julie aus dem Zelt kam, hörte sie Detlef sagen:

„Ihr geht es doch gut. Ich weiß wirklich nicht, was du wieder hast. Du bist nicht ihre Mutter und deine Schwester ist erwachsen.“

„Glaube ich nicht. – Es ist nur eine Schau, die sie uns vorspielt. In Wirklichkeit denkt sie immer noch an ihn. Sieh doch nur ihre Augen an. Ich mache mir wirklich Sorgen. Was hat dieser Kerl nur an sich?“ konterte Tina.

Es war also wirklich so! Die ganze Fahrt, die Tage hier, all das war nur wegen ihr geplant worden. Manchmal ging Tina Julie wirklich auf die Nerven. Detlef hatte doch recht; sie war schließlich kein kleines Kind mehr! Sie kam mit ihren Problemen auch sehr gut selber zurecht.

Am liebsten hätte Julie Tina das jetzt an den Kopf geworfen, doch sie wollte keinen Streit provozieren. Detlef hatte sich die Kühltasche geangelt und griff sich eine Flasche Bier.

„Für mich bitte auch.“ sagte Julie.

Tinas Kopf flog herum. Nun war es ihr doch peinlich, dass Julie zugehört hatte. Geschah ihr Recht!

„Ihr habt das alles wegen mir gemacht?! Stimmt doch? Danke Tina, aber ich bin erwachsen, auch wenn du das einfach nicht kapieren willst!“ sagte Julie nun doch und warf ihrer Schwester einen schnippischen Blick zu. Sie schnappte sich einen der roten Klappstühle.

„Entschuldige bitte, dass es Leute gibt, die sich deinetwegen Sorgen machen!“ entgegnete Tina beleidigt.

Sie hatte ja recht. Julie entschuldigte sich. Die Situation war wirklich zu dumm. Natürlich konnte sie froh sein, so eine Schwester wie Tina zu haben. Worüber regte sie sich also auf? Detlef rettete die Situation.

„Hey“, warf er ein. „Warum macht ihr denn so ein Drama draus? Für uns ist es schließlich auch nicht schlecht, mal aus dem gewohnten Trott rauszukommen. Ich jedenfalls bin hier um mich zu amüsieren! Morgen will ich ins Dorf. Mit dem Boot. Kommst du mit?“

Die Frage war an Julie gerichtet. Sie kannte diese Dorfausflüge mit Detlef nur zu genau. Wie oft war sie mit ihm unterwegs gewesen? Tina hatte an solchen Ausflügen keinen Spaß gefunden, also waren sie zumeist alleine gefahren. Jedes Mal hatten sie alte Freunde und Bekannte getroffen und das Wiedersehen war dann immer feuchtfröhlich gefeiert worden.

Doch diesmal schüttelte Julie den Kopf.

„Nein, ich denke, es wird besser sein, wenn du diesmal alleine gehst.“

„Prima!“ lachte Tina. „Dann brauche ich ja diesmal nur ein Aspirin bereit zuhalten.“

Julie lachte mit. Nur Detlef machte ein ernstes Gesicht.

„Was ihr nur wieder denkt!“

Der Abend wurde noch gemütlich. Erst gegen Mitternacht fanden sie den Weg ins Zelt. Julie war auch müde. Es war ein anstrengender Tag gewesen und die frische Luft hatte das Übrige getan. Nach kurzer Zeit hörte sie auch Tinas gleichmäßige Atemzüge, zu denen sich auch bald schon Detlefs Schnarchen gesellte. Doch trotz der Müdigkeit konnte Julie nicht einschlafen. Ihre Gedanken kehrten fast augenblicklich zu Eugeñio zurück. Verdammt! Sie gab sich alle Mühe einzuschlafen, zählte Schäfchen, versuchte ihren Gedanken andere Wege aufzudrängen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen! Nach einer halben Stunde gab sie den Versuch zu schlafen auf. Sie schlüpfte in ihre Jeans, zog sich ihre Sportschuhe über und verließ das Zelt. Sie wollte einfach ein wenig herumlaufen. Dann kam ihr der Gedanke, zum See zu gehen. Vielleicht, so dachte sie, traf sie dort auf alte Bekannte, mit denen sie noch ein wenig Small Talk machen konnte. Oben am See schlief kaum jemand. Dort machte man leichte Konversation, spielte Musik und trank Bier und Wein. Es war dort eigentlich immer recht lustig zugegangen, erinnerte sie sich. Die Stille des Waldes tat ihren angespannten Nerven gut. Julie schnupperte in die Luft. Der würzige Duft nach Fichtennadeln stieg ihr in die Nase. Nachts roch der Wald immer noch intensiver als am Tage. Sie liebte diesen Geruch und die Stille. Nur die verschiedenen Tierstimmen und der Wind unterbrachen die Ruhe. Die Frösche gaben ihr nächtliches Konzert. Wie laut sie doch nachts klangen! Irgendwo rief eine Eule, Julie fühlte sich von ihrem Ruf gegrüßt. Es war albern, aber so fühlte sie nun mal. Hier oben hatte Julie noch niemals Furcht verspürt; nur einen tiefen entspannenden Frieden. Dies hier, das war ihr Wald! Sie erinnerte sich wage: Letztes Mal war sie mit Mark hier gewesen. Wie lange lag das nun schon zurück! Kaum noch vorstellbar, dass sie mal an der Seite dieses Mannes gegangen war. Ohne ihr Zutun und erst recht gegen ihren Willen, begann sie zu träumen. Mit Eugeñio musste es hier wunderschön sein! Hier, an seinem Arm, durch den nächtlichen Wald spazieren, musste ein nahezu himmlisches Gefühl sein. Jeder Schritt verstärkte ihren Traum. Bald schon hatte sie das Gefühl, er liefe direkt neben ihr. Es war, als hörte er ihr zu. Sie sprach laut. Niemand würde sie hier hören. So lief sie beinahe eine halbe Stunde lang. Völlig in ihrem Traum versunken. Wie schön das doch wäre! Doch die Wirklichkeit würde sie wohl niemals erleben können, so war der Traum das Einzige, das sie hatte. Diesen Traum konnte ihr niemand nehmen.

Plötzlich hielt sie erschrocken den Atem an. Sie blieb stehen und lauschte. War da nicht etwas? Ja, es waren Schritte. Jemand kam dort den Weg entlang. Genau auf sie zu. Nun bekam sie doch ein beklemmendes Gefühl. Sollte sie sich verstecken? Doch sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Sicher war es auch nur ein Camper, der nicht schlafen konnte. Genau wie sie. Vielleicht aber hatte er nur den Weg zum See verpasst. Sie würde es sicher gleich erfahren, denn die Schritte waren jetzt sehr nah. Julie lief langsam weiter. Nach wenigen Schritten stand er vor ihr.

„Hallo. Guten Abend.“ grüßte er. „Sagen Sie junge Frau, kennen sie sich hier aus? Ich wollte eigentlich zum See, habe mich aber wohl verlaufen.“

Julie lächelte. Sie hatte es ja bereits geahnt. Sie nickte.

„Den haben Sie dort hinten verpasst. Sie sind gerade daran vorbei gelaufen. Ich will auch hin, also wenn Sie mich begleiten wollen, zeige ich Ihnen gerne den Weg.“

Er sah sie lächelnd an.

„Sind Sie denn ganz alleine hier?“ fragte er. Julie war in Alarmbereitschaft. Doch seine Stimme klang nicht aufdringlich, deshalb schob sie das Misstrauen beiseite.

„Wir campen hier in der Nähe. Ich konnte nicht schlafen, da dachte ich mir, ich könnt ja mal sehen, ob oben am See noch was los ist.“

Er lachte erfreut auf.

„Ja, genau so ist es mir auch gegangen! Ich hatte allerdings den Weg nicht als so lang in Erinnerung.“ Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jeansjacke und bot Julie eine an. Julie zuckte die Schultern und griff zu.

„Hauptsache, wir stecken den Wald nicht in Brand. In letzter Zeit war es sehr trocken.“

Er nickte zustimmend. Gemeinsam liefen sie weiter. Der Mann schien, wie sie selbst, seinen eigenen Gedankengängen nachzuhängen, denn nun schwieg er den Rest des Weges. Kurze Zeit später waren sie am Ziel. Aber nur um festzustellen, dass sie beide wohl die Einzigen waren, die nicht schlafen konnten. Der See lag ruhig und verlassen im Licht des vollen Mondes. Man konnte die gesamte Strecke gut überblicken.

Die kleinen Kringel, welche die Fische, bei ihrer nächtlichen Mückenjagd verursachten, waren die einzige Bewegung, die sich auf der spiegelglatten Wasseroberfläche zeigten. Julie zog die Luft tief ein. Es sah alles so friedlich aus. Einfach wunderschön! Julie liebte diesen Anblick; er sank tief in ihre wunde Seele. Es ging ihr einfach gut, hier oben! Es störte sie schon nicht mehr, dass hier niemand mehr war. Sie brauchte keine Unterhaltung, wenn sie nur die Ruhe des Sees genießen konnte. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht alleine war. Sie drehte sich um. Der Mann stand etwas abseits von ihr und blickte, genau wie sie zuvor, aufs Wasser raus. Sein Blick schien in weite Ferne zu schweifen. Ihm schien es wirklich genauso zu gehen, wie ihr. Auch er genoss augenscheinlich die Ruhe hier. Julie beobachtete ihn jetzt etwas intensiver. Er machte einen sympathischen Eindruck. Wahrscheinlich war er so um die fünfzig, schätzte sie, das Leben hatte jedenfalls bereits deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Aber gerade diese Spuren machten sein Gesicht einfach vertrauenserregend. Wieder wanderte Julies Blick auf das stille, dunkle Wasser. Was soll´s, dachte sie sich, warum sollte sie nicht bleiben? Es machte doch nichts, dass heute hier keine Party stattfand. Vielleicht würde sie ja auch mit diesem freundlichen Mann ins Gespräch kommen. Und falls nicht? Nun, sie hatte nichts dagegen, einfach ihre Umgebung und die Stille zu genießen. Sie kletterte auf den alten Baumstamm, der zur Hälfte im Wasser lag. Irgendwann, vor vielen Jahren, war er, entweder durch einen Sturm oder sonst was, umgekippt und zur Hälfte entwurzelt. Seit dieser Zeit befand sich seine halbe Krone unter Wasser, während die andere Hälfte noch immer grüne Triebe hervorbrachte. Der alte Baum war zum erklärten Lieblingsplatz aller Camper geworden. Wie oft hatte auch Julie schon auf seinem rissigen Stamm gesessen und ihre Beine ins Wasser baumeln lassen? Nicht lange und ihr fremder Begleiter setzte sich neben sie. Er hatte seine Schuhe am Strand zurückgelassen und war barfuß auf den Stamm geklettert. Nun ließ er, genau wie Julie, seine Füße ins Wasser baumeln und starrte lange Zeit vor sich hin. Julie war es recht, denn so konnte sie, ganz nach Belieben, ihre Traumwelt neu gestalten. Der Mann sagte nichts, störte sie nicht. Er schien ebenfalls in Gedanken versunken zu sein. Sie hatte schon beinahe vergessen, dass sie nicht alleine war. Doch plötzlich spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Schultern legte. Sie sah ihren zufälligen Begleiter überrascht an. Was dachte er sich dabei? Sie wollte aufstehen, doch sein Griff wurde härter. Jetzt bekam Julie doch Angst. Doch es war zu spät! Was wollte er von ihr? Wieso nur war sie nicht gleich umgekehrt?

Seine Hände hielten sie fest, wie zwei eiserne Zangen.

„Hab dich nicht so!“ knurrte er. „Du bist schließlich nicht umsonst hier draußen. – Oder gefalle ich dir etwa nicht?!“

Sein Gesicht hatte alle Freundlichkeit verloren. Hatte Julie vor Kurzem noch gedacht, dass sein Gesicht vertrauenserweckend war? Dieser Scheißkerl! Sie wehrte sich, trat nach ihm, versuchte zu entkommen. Doch er war viel zu kräftig für sie. Hart zwang er sie an sich heran. Er zerrte an ihrem Arm, zog sie vom Baum und schubste sie brutal in den Sand.

Julie drehte und wand sich. Sie schluchzte.

„Lass mich in Frieden du Schwein!“ schrie sie ihn an. „Hilfe!“

Doch hier würde sie niemand hören. Tief in sich erkannte Julie ihren Fehler. Sie war diesem Ungeheuer ausgeliefert. Trotzdem versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen. Vergeblich. Er gab ihr einen Tritt und zwang sie auf den Rücken.

„Hab dich nicht so, du kleine Nutte!“ fauchte er. Er stand jetzt direkt über ihr, seine Beine hielten sie fest. Seine Hose hatte er bereits geöffnet und sein erigiertes Glied schien sie auszulachen. Angeekelt drehte Julie den Kopf und versuchte wieder seine Beine beiseitezuschieben. Doch dieser Mistkerl hatte Bärenkräfte! Schon roch sie seinen stinkenden Atem auf ihrem Gesicht. Sie schrie wieder und noch immer versuchte sie verzweifelt alle ihre Kräfte zu mobilisieren, um hier wegzukommen. Doch es nützte nichts. Er hielt sie eisern fest und es schien ihn nicht einmal sonderlich anzustrengen. Seine linke Hand schloss sich brutal um ihren Hals, erstickte ihr Schreien, während er mit der anderen Hand jetzt ihre Hose befummelte. Keuchend warf er sich auf sie. Julie wimmerte und schluchzte, doch die große Hand um ihren Hals ließ keine lauten Töne mehr zu. Die Luft wurde immer knapper. Julie spürte, wie sein ekelhaftes Glied an ihren Beinen rieb. Sie hatte Todesangst. Ihre Finger gruben sich in den Sand. Sie betete. Aber es gab kein Erbarmen- keine Rettung! Dieser Kerl wurde nur noch durch seine abnormen sexuellen Gelüste gelenkt. Julie würgte trocken. Zu mehr war sie nicht mehr fähig. Sein Griff war zu fest. Wenn sie sich jetzt übergeben musste, würde sie an ihrer eigenen Kotze ersticken, dachte sie noch. Lieber Gott hilf mir doch!

Der Kerl stöhnte, versuchte den Eingang in ihr Heiligtum zu finden. Speichel troff aus seinem vor Geilheit verzogenem Mund. Doch plötzlich geschah etwas Seltsames!

Julie konnte es nicht begreifen. Der Mann wurde von ihr … gehoben und segelte einige Meter durch die Luft. Nach Atem lechzend, dass blanke Entsetzen in den Augen, setzte sie sich auf und starrte in die Nacht. Doch sie konnte irgendwie nichts erkennen. Es war nicht neblig, trotzdem konnte sie ihren Peiniger nirgends mehr entdecken. Was war geschehen? Doch Julie ließ sich keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie hechtete hoch und stolperte die ersten Schritte, ehe sie, wie von Furien gehetzt, durch den Wald rannte. Schon nach wenigen Schritten schmerzten ihre Füße, da ihre Schuhe ja noch auf dem Baumstamm standen, und der Boden mit Steinen und Fichtenzapfen bedeckt war. Ihre Seiten stachen und der Atem wurde wieder knapper. Trotzdem hielt sie weder an, noch wurde sie langsamer. Die Angst gab ihren Beinen den nötigen Antrieb. Endlich sah sie den Campingplatz vor sich. Schweiß lief in ihre Augen und sie schien dem Erstickungstod nahe zu sein. Endlich hatte sie das Zelt erreicht. Noch niemals war ein Ort ihr schöner vorgekommen! Nie zuvor ein Haus sicherer. Keuchend warf sie sich auf ihr Nachtlager. Erst jetzt kamen die Tränen. Haltlos schluchzte sie ins Inlett ihres Schlafsackes. Plötzlich spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Julie unterdrückte den Drang, einfach weiter zu schluchzen. Tina war aufgewacht und Julie fühlte, wie sie nun von ihrer Schwester beobachtet wurde.

Tina kam in ihre Kabine und kniete sich neben Julie. Sie streichelte ihren Rücken und Julie hörte sie fragen:

„Hey Kleines, was ist denn mit dir? Denkst du schon wieder an ihn?

Obwohl Julies Kopf noch immer tief im Schlafsack steckte, war ihr als könne sie das besorgte Gesicht ihrer Schwester vor sich sehen. Tina massierte nun ihren Rücken, das hatte sie immer getan, wenn sie Julie beruhigen wollte. Auch schon damals, als sie noch ein Kind gewesen war und der Kummer, den sie damals verspürte, andere und weit geringere Ursachen kannte. Langsam schaffte Julie es, sich soweit zu beruhigen, dass sie wenigstens sprechen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.01.2014
ISBN: 978-3-7309-7484-1

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