HOFFNUNGSLOS
Ich mache die Augen zu. Noch immer sehe ich ihn vor mir. Seine Augen blitzen auf, wenn ich ihn ansehe. Ich weiß, vielleicht bilde ich mir das ein, aber es fühlt sich doch richtig an. Seine dichten Augenbrauen, so dunkel wie seine etwas verstrubbelten Haare, seine Stimme, sein verschmitztes Lächeln, das ist es, was ich an ihm so liebe. Ich weiß, es ist hoffnungslos, aber es ist zu spät. Ich kann ihn nicht mehr loslassen.
Es ist dunkel. Stockdunkel. Stille. Nur ein schwacher Lichtstrahl zwängt sich durch eine Ritze des Vorhangs vor dem Balkonfenster. Wo bin ich? Zuhause oder...? Angestrengt versuche ich mich zu erinnern. Langsam nehme ich das Zimmer war, in dem ich die Nacht verbracht hatte. Da, ein Bett, seltsam verwühlt, ein Schrank, ein Tisch. Nach und nach erreicht mich die Gegenwart wieder. Der Bus, die Schüler.Skilager. Siebte Klasse. Wie lange ich mich darauf gefreut habe. Auf den Schnee, unsere Jugendherberge, und endlich Skifahren zu lernen.„Hey, Elly! Lebst du noch?“ Verstohlen grinse ich in mich hinein. Das war meine Freundin Julia. Noch etwas verschlafen werfe ich ein Kissen nach ihr und grummle: „Ne! Weißt du!“ Nathalie, eigentlich nennt sie jeder Nathi, taucht aus dem Bad auf. „Wurde aber auch Zeit, Schlafmütze!“, kichert sie. Überrascht blicke ich auf. Was ist denn plötzlich mit Nathi los? Seit wann KICHERT sie? Inzwischen hat Julia mal wieder einen ihrer Lachanfälle bekommen, als ich das Kissen nach ihr geworfen habe. „Julia!!!“, rufe ich empört. Daraufhin lässt sie sich auf mein Bett fallen und prustet munter weiter. Schnell laufe ich ins Bad und mache mich fertig. Noch weiß ich nicht, was heute geschehen wird. Ehrlich gesagt, ich bin froh darüber, dass ich es nicht ahnen konnte.
„Schnell, schnell!“, rufe ich Julia und Nathi zu, „ab in den Tischtennisraum!“ Während wir die Treppe hinunter rasen, erinnere ich mich an das Skifahren heute früh. Von mir aus hätte das immer so weiter gehen können! So müssen sich Pinguine fühlen, wenn sie auf Eis gleiten.
Die letzte Stufe.
Plötzlich stoße ich mit jemandem zusammen. Als ich mich wieder gefangen habe, blicke ich auf. Mein Herz macht einen Satz. Vor mir steht einer von unseren Skilehrern. Hilfe! Der hat ja nur ein Handtuch um! Mist, ist das peinlich! Hmm... der sieht ja eigentlich ganz süß aus. Sehr sogar! Und seine Muskeln... Oh Gott, nimm dich zusammen, Elina! Meine Knie werden weich. „Sorry!“, stammelt er genauso überrascht wie ich. Seine Stimme erfüllt meine Körper und mir wird ganz warm. Mein Herz flattert. Verlegen blicke ich zu Boden. Benebelt nehme ich seine Geruch war. Ich sehe zu ihm hinauf, kann meinen Blick nicht abwenden. Seine Haare, sein Mund. Er erwidert meinen Blick. Da reißt mich ein anerkennendes Pfeifen aus meinen Gedanken. Ihr wisst schon, so eines das Männer machen, wenn sie einer Frau hinterher sehen. Es ist ein anderer Lehrer. Was sich der jetzt wohl denkt? Egal. Er steht vor mir. So nah, aber doch so weit entfernt. Wir sehen uns an. Die Welt existiert nicht mehr. Da sind nur noch wir zwei.
Die Welt dreht sich. Sie kommt nicht mehr zum Stillstand. Ich blicke nach oben. Verloren in meinen Gedanken. Das Zimmer, Skifahren, Schnee. Alles ist bedeutungslos. In meiner kleinen Welt existiert nur eines: Er. Ich liege auf meinem Bett, starre zur Decke hinauf. Alles dreht sich weiter. Nichts erreicht mich mehr. Für mich gibt es nur noch ihn. Es ist, als würden tausende Sterne in meinem Inneren explodieren und immer weiterglühen.
Frieden. Das ist es, was ich will. Frieden zwischen mir und meinem Herzen.
Warum er? Wie ein Echo hallt diese Frage in meinem Kopf wieder. Warum ich? Seufzend drehe ich mich auf die andere Seite meines Bettes. Ich kann nicht schlafen, muss dauernd an ihn denken. Verloren in meinen Gedanken blicke ich aus dem Fenster. Das Mondlicht lässt den Schnee glitzern. Kurz entschlossen tappe ich von meiner inneren Unruhe getrieben aus unserem Zimmer. Vorsichtig spähe ich in den Flur unserer Unterkunft. Niemand zu sehen. Es ist kalt in meinem Snoopie-Schlafanzug und doch öffne ich leise die Tür und trete in die verschneite Nacht hinaus. Schneeflocken fallen sanft auf die Erde. Die Kälte dringt langsam unter meinen Schlafanzug, doch meine Gedanken sind immer noch gefangen, können nicht entkommen.
„Was machst du hier?“, ertönt plötzlich eine Stimme hinter mir. Mein Herz bleibt für einen Moment stehen, bevor es rasend weiter schlägt. Ich schließe die Augen und drehe mich um.
Ich muss ihn nicht ansehen, ich weiß, dass er es ist. „Ich konnte nicht schlafen.“, murmle ich verlegen. Ich versuche, ihn nicht anzusehen, doch mein Blick schweift immer wieder zu seine tiefbraunen Augen. Sie glitzern im Mondlicht und ich kann meinen Blick nicht abwenden. Als ich merke, dass er mich genauso anstarrt, schaue ich schnell weg. Verlegen murmelt er: „Ich konnte auch nicht schlafen.“ Betreten schweigen wir. Da kommt er plötzlich zu mir und stellt sich neben mich. Ich weiß nicht, wie lange wir so verharren. Mein Herz schlägt wie verrückt, so laut, dass er es hören muss.
Ein Mann und ein Mädchen stehen draußen, umgeben von aufwirbelnden Schneeflocken. Es ist hoffnungslos und doch fühlt sich das Mädchen zu ihm hingezogen. Es betrachtet ihn verstohlen von der Seite. Ihre Gedanken sind nur bei ihm. Das Herz droht ihr aus der Brust zu springen.
„Hey, ist dir nicht kalt? Wir sollten besser wieder ins Haus gehen.“, meint er und schiebt mich sanft zur Tür. Seine Hand liegt warm auf meinem Rücken. Meine Hände zittern, doch nicht von der Kälte, sondern von seiner Berührung. Ich versuche krampfhaft, sie zu kontrollieren und nicht nach seiner Hand zu greifen. Er ist ein Lehrer! Diese Erkenntnis holt mich wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. „Erzählen Sie das bitte nicht den anderen Lehrern! Wir dürfen nachts nicht raus!, flehe ich ihn an und ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme zittert. Er grinst und erwidert: „Was soll ich ihnen denn sagen? Dass du kurz draußen warst, weil du nicht einschlafen konntest, genauso wie ich?“ „Sie sind Lehrer, Sie dürfen so etwas!“
„Glaub mir, so verschieden sind wir gar nicht wie du denkst!“ Daraufhin dreht er sich um und macht sich auf den Weg zu seinem Zimmer. „Gute Nacht!“, flüstere ich enttäuscht in die Dunkelheit. Da blickt er noch einmal zurück und meint lächelnd: „Dir auch!“ Noch lange stehe ich im Flur und blicke ihm nach.
Schritte. Sie kommen näher. Langsam erwache ich aus meiner Starre. Mist, wer kommt da? Was soll ich bloß als Ausrede sagen? Kurz entschlossen verstecke ich mich hinter einem Vorhang. Die Schritte kommen immer näher. Da, sie sind genau vor mir! Was soll ich nur tun? Die Gestalt bleibt direkt vor mir stehen. Ich halte den Atem an. Wenn der jetzt den Vorhang wegzieht...! Da höre ich, wie sich die Schritte wieder entfernen. Puhh...!
Erleichtert atme ich aus. Ich luge kurz durch eine Lücke meines Verstecks, dann husche ich wie der Blitz nach oben. Leise schiebe ich unsere Zimmertür auf. Gut, Nathi und Julia schlafen! Noch einmal vergewissere ich mich, dass keiner etwas von meinem nächtlichen Ausflug mitbekommen hat und verkrieche mich dann in meinem Bett.
Wir sind gar nicht so verschieden wie du denkst. Mit diesem Gedanken schlafe ich endlich ein.
Schicksal. Ist es das? Musste es so kommen? Warum er, warum ich?
Es ist Morgen. Tausend Gedanken schwirren in meinem Kopf herum wie Glühwürmchen. Die Sonne scheint grell, vom Schnee reflektiert in unser Zimmer. Ich will ihn sehen und doch habe ich Angst davor, mich endgültig zu verlieren. Es ist der Hass, jemanden zu lieben, wenn man nicht zurückgeliebt wird. Dieser eine Satz geistert in meinem Kopf herum. Ein Satz, der mich noch davon abhält, aufzugeben. Ich weiß, dass ich meine Gefühle verdrängen muss. Ich kämpfe gegen sie an, versuche sie aus meinem Herzen zu treiben. Vergeblich.
Ein Radierer. Von meinem Verstand geschickt bahnt er sich gewaltsam einen Weg durch die kleinsten Ritzen meines Kopfes. Er will ihn auslöschen, aus meinem Gedächtnis verbannen. Fast ist er am Ziel, doch. Er explodiert, zerfetzt in tausend Stücke. Keine Chance, er kommt nicht durch. Vergebungslos. Hoffnungslos.
Mit Worten spielen. Mit Gefühlen spielen. Ein und dasselbe.
Bumm. Stille.
Bumm. Bumm. Stille.
Bumm. Bumm. Bumm. Stille.
Herzschlag.
Mein Innerstes krampft sich zusammen, bäumt sich auf. Meine Finger krallen sich gewaltsam in meine Bettdecke. Bin ich verrückt? Bin ich verrückt, weil ich mich darauf freue, zum Frühstücken zu gehen, nur um IHN zu sehen, obwohl ich das Frühstücken dort hasse?
Skifahren. Es heißt oft in Büchern, die ganze Welt war schneeweiß und nichts war zu sehen, nur Schnee. Für mich ist die ganze Welt rot und ich sehe nur IHN. Ich sehe nur IHN, als wir an unserem zweiten Skitag in unserem Leben einen kleinen Hang hinunterrutschen. Später sehe ich nur IHN, als ein Sportlehrer uns mitteilt, was wir jeden Tag zu erledigen haben, während ER danebensteht.
Ich bin nervös. Er steht vor mir in der Schlange zur Gondel. Nur noch unser Skilehrer steht hinter mir. Gerade hilft er einem Jungen aus der Parallelklasse in die Gondel, der gelähmt ist. Wie süß er ihm hilft! Mist, muss ich da jetzt auch noch rein, mit IHM? „Komm rein, hier ist noch Platz!“, ruft er. Na toll, das war so klar! Kommt wenigstens der andere Lehrer noch mit? Dann bin ich nicht allein mit IHM.Ja! Glück gehabt! Als ich nervös in die Gondel stolpere, blicke ich ihn nicht an. Ich muss ihn jetzt nicht erst anschauen, um ihn zu sehen. Ich sehe ihn jede Sekunde in meinen Gedanken.Wie lange dauert das denn noch? Sollten wir nicht schon längst oben auf den Pisten sein? Schneebedeckte Bäume ziehen an uns vorbei. Die Gondel ruckelt gefährlich. Mein Herz klopft. Doch nicht nur wegen des Ruckelns des Lifts. Wann sind wir denn endlich oben? Wenn das Ding hier abstürzt... Naja, wenigstens ist er da. Dann stürzten wir zusammen ab. Tolle Aussichten.Ein paar mal erwische ich mich, wie ich zu ihm hinüberschiele. Ich will hier raus! Ich halte es einfach nicht mehr aus mit ihm, direkt vor mir.Ja, wir sind oben. Ungeduldig warte ich, bis die anderen aus der Gondel steigen. Dann stürme ich so schnell wie möglich aus dem Lift. Dabei bleibt mein Fuß an der Erhöhung am Eingang der Gondel hängen und lande geradewegs in SEINE Arme. Sie fühlten sich stark und sicher an und ich bleibe etwas länger als nötig in seinen Armen.Sein Duft steigt mir in die Nase. Schnee, irgendein Deo. Kurz schließe ich die Augen, stelle mir vor, dass wir uns eineinander festhalten und nie wieder loslassen. Etwas benommen von seiner Gegenwart lehnt mein Kopf am seiner Brust. Ich wünschte, wir könnten ewig so dastehen. „Alles o.k?“, flüstert er mit rauer Stimme. Ich zucke zusammen, öffne die Augen und blicke geradewegs in seine. Schokoladenbraun. Besorgt. Widerwillig löse ich mich von ihm, blicke verlegen zu Boden. Die eine Hälfte von mir will ihn anschauen, um zu sehen wie er mich argwöhnisch mustert. Die andere stolpert schnell und peinlich berührt zurück und murmelt ein Danke.Eilig, von ihm wegzukommen, stakse ich mit meine Skischuhen den mit Gummi ausgelegten Gang zum Ausgang zurück ins Freie. Ein paar mal schwanke ich gefährlich, doch ich fange mich gerade noch rechtzeitig. Das würde mir gerade noch fehlen, wenn er mich ein zweites Mal auffangen muss. Seine Schritte, sein Atem dringen in mein Ohr. Er geht hinter mir.
Endlich stehe ich draußen. Schneeflocken fallen still auf die Erde, wachsen mit dem schon schneeweißen Boden zusammen wie die Tränen, die nachher abends auf den Fußboden in unserem Zimmer tropfen werden. Heimlich, ohne dass irgendwer etwas merkt. Nur, dass sie nicht mit dem Boden verschmelzen, sondern als kleine Pfützen übrig bleiben, bis sie als unsichtbare Wölkchen, als Erinnerung an meinen Schmerz,in die Luft aufsteigen.Denn jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, in seinen Armen zu liegen und ihn anzusehen. Doch er fühlt nicht wie ich, er dürfte nicht einmal, selbst wenn er wollte. Wir sind beide jung, doch unsere Liebe wäre für die Welt eine Schande. Unmöglich...Und hoffnungslos.Ich lasse meinen Blick schweifen. Unmengen von Schnee. Wie hoch der wohl ist? Unzählige Menschen. Snowboarder, Skifahrer. Darunter unsere Gruppe. Glücklicherweise ist ER nicht unser Skilehrer.Die Schneeflocken, gefrorene Tränen, aber wunderschön, peitschen mir ins Gesicht, als ich losfahre. Meine Skier kratzen über Eis, gleiten sanft über frischen Schnee. Ein paar einzelne Bäume ziehen langsam vorbei. Grün wie die Hoffnung, nur habe ich keine.
Ich weiß, dass er hinter mir fährt. Ich weiß, dass ich etwas wackelig fahre, woran er nicht ganz unschuldig ist.Und ich weiß, dass er mich beobachtet. Ich weiß es, weil ich seine Blicke in meinem Rücken spüre.
„Versuche mal, deine Skier geradezustellen! Dann ist es einfacher!“ Seine Stimme bringt mich etwas ins Straucheln, doch ich reiße meine Füße nach oben, um nicht im Schnee zu landen. Ich zwinge meine Füße sich ruhig zu halten und langsam dahinzugleiten. „ Ja genau so! Super!“ Ich lächle in mich hinein. Doch nach einer Weile rutschen meine Mundwinkel etwas nach unten. Oh je, da vorne geht`s runter die Piste! Hoffentlich schaffe ich das! Sonst muss ich hinunterrutschen. Der Schnee um mich herum verschwimmt. „Zu schnell!“, denke ich und versuche etwas abzubremsen. Schlitter, schlitter. Vor mir verliert ein Mädchen aus unserer Skigruppe das Gleichgewicht und landet hart im Schnee. Schnell bremse ich ab. Gerade noch rechtzeitig. Da kommt ER auch schon zu uns. „Geht`s dir gut?“, fragt er. In seiner Stimme schwingt Besorgnis mit und mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Er beugt sich über das jammernde Mädchen und betastet ihren Fuß. Ich wende meinen Blick ab, mein Herz schmerzt zu sehr, ihn so zu sehen. Da sagt er plötzlich: „ Du kannst ruhig schon weiterfahren, Elina! Wir kommen gleich nach!“
Wir... Dieses Wort hallt mir im Kopf wieder. Zögernd setze ich mich in Bewegung. Nach zehn Meter kann ich nicht verhindern, noch einmal zurückzublicken. Er kniet noch immer neben diesem Mädchen. Als er sich aufrichtet blickt er mich an und lächelt mich aufmunternd an, während er ihr hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Meine Augen brennen, ich drehe mich um und schieße davon. Ich
will ihn jetzt nicht sehen. Nicht so, mit ihr. Ich weiß, es ist seine Pflicht, ihr zu helfen. Er ist schließlich Skilehrer einer unserer Referendare in unserer Schule. Dennoch wünschte ich, es wäre nicht so.
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine BBF J. und für IHN...! :-*
:P:P:P