Die Drachen, das Chaos & ich 4
Copyright Text © J.N. Taylor 2020
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Covergestaltung: J.N. Taylor
Bildmaterial: pixabay.com
Korrektur: Iris Biehl-Drucks
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und andere Verwendung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autoren. Vervielfältigungen und Veröffentlichungen sind nicht gestattet.
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie. Ähnlichkeiten jeglicher Art wären demnach rein zufällig.
Zum Inhalt:
Denkt ihr manchmal, dass euer Leben kompliziert ist? Wenn ja, ich wette, ich kann das toppen. Würde es für jemanden wie mich eine Selbsthilfegruppe geben, würde meine Vorstellung nämlich wie folgt lauten:
»Hallo, mein Name ist Julian und ich bin ein unverpaarter Drachengefährte. Abgesehen von meinen Aggressionsproblemen bin ich ein recht umgänglicher Typ. Ich liebe meinen Bruder Nathan, meinen besten Freund Jamie, Fußball und Apfeltaschen. Und ach ja, ich bin übrigens hoffnungslos in den Gefährten meines Bruders verknallt, der zudem noch so eine Art Vater für mich ist.«
Na, habe ich schon gewonnen? Nein? Okay, denn ich bin ja auch noch nicht fertig. Es gibt da nämlich auch noch Thade und glaubt mir, dieser Drache macht alles nur noch schlimmer ...
Das Feuer ist überall. Es zischt, knistert und faucht um mich herum und scheint von allen Seiten nach mir greifen zu wollen. Ich habe solche Angst, denn ich weiß, ich werde ihm nicht lange entkommen können.
Wie konnte das passieren? Wo sind Mama und Nathan?
Ich schreie nach ihnen. Immer und immer wieder. Aber es wird mit jedem Mal schwerer, denn inzwischen bekomme ich kaum noch Luft. Ich muss hier raus, muss Nathan finden, muss fliehen.
Schluchzend krabble ich auf allen vieren durch den Flur, versuche dabei den Flammen auszuweichen und Nathans Zimmer zu erreichen. Der Weg dorthin scheint so unendlich weit und es wird immer schwerer voranzukommen, denn mir tut alles weh. Meine Haut scheint längst Feuer gefangen zu haben, auch wenn ich davon noch nichts erkennen kann. Die Hitze um mich herum reicht anscheinend, um sie zum Brennen zu bringen.
»Nathan!«
Meine Stimme ist kaum noch zu hören, als ich endlich die Zimmertür meines kleinen Bruders erreiche und nach der Klinke greife. Sofort bereue ich es, denn sie ist glühend heiß und versengt mir die Haut an meiner Hand.
Ich schreie, kann mich vor Schmerzen nicht mehr bewegen und fange ungehemmt zu schluchzen an. Mama sagt, dass große Jungs nicht weinen, dass sie stark sein müssen und das würde vor allem für große Brüder gelten, doch ich kann nicht mehr.
»Nathan«, hauche ich verzweifelt und hämmere mit meinen Fäusten gegen die verschlossene Tür. Ich will bei ihm sein, nicht alleine sterben, aber vor allem will ich, dass er mir vergibt, dass ich ihn nicht beschützen kann. Wie immer versage ich darin. Ich bin der schlechteste aller großen Brüder.
»Nathan ...«
Kurz hege ich die Hoffnung, dass Nathan und Mama vielleicht längst nicht mehr hier sind und dass sie es ins Freie geschafft haben, aber dann fällt mir wieder ein, dass Mama heute früh zu Bett gehen wollte. Sie hat uns noch vor einer Stunde angebrüllt, sie ja nicht zu stören und das bedeutet in ihrem Fall, dass sie sich mit ihren Lieblingsfreunden namens Wodka und Crack vergnügen wollte. Es gibt hier also nur eine Wahrheit: Mama wird in ihrer eigenen Kotze verbrennen, Nathan verängstigt unter dem Bett und ich gleich vor seiner Tür. Es gibt kein Entkommen.
Das Feuer kommt noch näher. Es ist so laut, so zerstörerisch und es lässt sich nicht aufhalten. Zwischen meinen Beinen wird es feucht, doch ich kann mich dafür nicht einmal schämen. Wie betäubt starre ich in die Flammen und warte darauf, dass sie mich auffressen. Ja, genau, das Feuer ist wie ein Monster und es hat mächtigen Appetit. Ergeben schließe ich die Augen und warte.
Ich verliere jegliches Zeitgefühl, in meinem Kopf ist es schwarz und selbst die Angst schwindet. Ich kann nichts mehr sehen, nicht mehr atmen. Vielleicht bin ich schon tot? Nein, da ist etwas, was am Rande meines Bewusstseins zerrt. Geräusche, die durch die Wände des Feuers zu mir dringen. Schreie! Nathan?
Ich will antworten, doch kein Laut verlässt meine Kehle und dann passiert es: Jemand packt mich und hebt mich vom Boden auf. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, als ich auch schon durch die Hitze des Feuers hinaus ins Freie getragen werde. Die kühle Nachtluft trifft mich und sendet Schockwellen durch meinen Körper. Ich möchte wieder schreien.
Die Geräuschkulisse verändert sich. Ich höre, wie Männer sich gegenseitig Befehle entgegenbrüllen und dann kann ich plötzlich auch wieder sehen. Die Feuerwehr ist da und auch die Polizei und ein Krankenwagen. Zu letzterem werde ich getragen und dort von irgendwelchen Leuten in Empfang genommen.
Als mein Retter sich von mir abwenden will, klammere ich mich verzweifelt an seinem Arm fest. Ich muss ihm von Nathan erzählen. Er ist noch dort drinnen und ich muss ihm helfen. Ich versuche zu sprechen, doch meine Lunge brennt und sie füllt sich kaum mit genug Luft. Ich werde immer verzweifelter.
»Alles gut, Kleiner. Du bist in Sicherheit. Lass dir jetzt von den Ärzten helfen, okay?« Die Stimme meines Retters klingt tief und trägt einen beruhigenden Unterton in sich, doch ich kann nicht tun, was er verlangt und deshalb schüttle ich immer und immer wieder meinen Kopf und kralle mich noch fester in den Ärmel seines Schutzanzugs.
Der Mann nimmt seinen Helm ab und mustert mich besorgt aus den hellsten blauen Augen, die ich jemals gesehen habe. Sein schulterlanges blondes Haar klebt verschwitzt um seinen Kopf herum, aber er sieht für mich trotzdem wie ein Engel aus. Ein Engel, der mir unbedingt helfen muss, meinen Bruder zu retten!
»Nathan!«, versuche ich immer wieder zu krächzen, bis es mir endlich gelingt und mir dieses eine so wichtige Wort entflieht.
Der Feuerwehrmann versteht sofort, drückt meine Hand und wendet sich an jemandem, der hinter ihm steht. »Remy, hast du jemanden in Behandlung? Wie viele haben es noch rausgeschafft?«
»Keiner. Aber das Haus ist inzwischen auch zu instabil. Da kommt niemand mehr rein oder raus«, kommt die ernüchternde Antwort und ich breche wieder schluchzend zusammen.
»Shit!« Mein Retter flucht und blickt mich mit traurigen Augen an. Ich weiß, was das heißt, aber will es nicht wahrhaben.
»Nein! Hilf ihm! Bitte, bitte, hilf ihm!«
Unsere Augen treffen sich und etwas geschieht. Ich verstehe es nicht, aber ich fühle mich plötzlich so stark mit ihm verbunden, wie mit niemand anderem jemals zuvor. Ich kenne ihn und er ist mir vertraut, auch wenn ich nicht weiß, wie das sein kann, denn ganz sicher habe ich ihn niemals zuvor getroffen.
Verstehen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab und es folgt ein sanftes Lächeln, das ich nicht deuten kann. »Ah, so ist das also«, flüstert er und berührt mit seiner Hand hauchzart meine Wange. »Du bist einer von uns.«
Ich weiß nicht, was er meint und ich habe auch keine Zeit, um nachzufragen, denn er löst sich von mir und setzt seinen Helm wieder auf, bevor er in Richtung seines Kollegen brüllt. »Remy, ich geh noch mal rein!«
Es folgen Proteste, die ich aber kaum noch wahrnehme, da ich aus Erleichterung zusammenbreche. Er wird Nathan retten, ich weiß es. Es ist der letzte Gedanke, bevor ich meine Augen schließe und in seliges Nichts abdrifte.
Später soll ich erfahren, dass es mein engelhafter Feuerwehrmann tatsächlich geschafft hat, meinen Bruder aus den Flammen zu befreien. Nathan überlebt genauso wie ich ... unser Retter leider nicht. Sein Name war Finn.
Ein brennender Querbalken war von der Decke herabgestürzt, hatte ihn und Nathan unter sich begraben und dabei Finns Schädel eingeschlagen. Der damalige Notarzt Remy Martens war den beiden zu Hilfe geeilt, aber er konnte nur noch Nathan lebend aus den Trümmern ziehen und wurde dabei selbst schwer verletzt.
Die Unfähigkeit, meinen Bruder selbst zu beschützen, hat viele Leben zerstört, Herzen gebrochen und Menschen verändert. Vor allem für Nathan und mich bedeutete es eine große Wendung in unserem Leben. Mutter tot. Vater unbekannt. Zwei kleine Kinder einer Cracknutte, die selbst die entfernteste Verwandtschaft nicht bei sich haben wollte. Uns drohte das Waisenhaus, doch dazu sollte es nicht kommen.
Ausgerechnet Remy Martens sollte es sein, der Nathan und mich bei sich aufnahm und uns so ein Heim bot. Ich bin dankbar dafür und doch ... lässt mich das Gefühl nicht los, dass ich etwas sehr Wichtiges für immer und unwiderruflich aus meinem Leben verloren habe ...
9 Jahre später
Wenn es etwas gibt, das ich mehr hasse, als Drachenwandler, die sich für etwas besseres als Menschen halten, dann sind das Drachenwandler, gegen die ich Fußball spielen muss. Sie sind schneller und stärker als Menschen und dementsprechend tun die Bälle, die ich halten muss, auch ganz schön weh. Nicht, dass ich jemals klagen würde. Nein, den Gefallen tu ich diesen Bastarden nicht.
Verstohlen schiele ich zur großen Uhr am Schulgebäude, während meine Teamkollegen einem Ball hinterherjagen, der für meinen Geschmack viel zu oft in unserer Hälfte des Spielfelds landet. Noch zehn Minuten, dann ist die zweite Spielhälfte und somit das Spiel vorbei. Es steht unentschieden und wenn wir taktisch ein bisschen Zeit herausschinden, dann ...
»Mensch, Julian, pass auf!«
Ich reiße meinen Kopf herum und sehe gerade noch den Ball auf mich zufliegen. Instinktiv reagiere ich und mache mich lang, aber das verdammte Leder zischt dennoch an meinen Fingerspitzen vorbei und prallt in die obere rechte Ecke des Tors.
Der Torschütze jubelt und lässt sich feiern, während ich mir die Seele aus dem Leib fluche. Jamie Carrera, dieser Arsch! Er weiß genau, dass ich auf der rechten Seite immer so meine Probleme habe und nutzt das schamlos aus.
»Hör auf zu heulen, das ist gutes Training für dich!«, zieht er mich lachend auf und ich hebe drohend meine Faust in seine Richtung.
»Das ist kein Training, sondern hinterfotziges Verhalten, du Arsch!«, schimpfe ich, obwohl ich weiß, dass er im Grunde Recht hat. Wäre das hier kein Trainingsspiel, sondern ein richtiges gegen eine andere Schule, könnte ich dieses Argument auch nicht bringen. Trotzdem ... der Kerl versaut mir meine Quote! »Und so was wie du nennt sich bester Freund!«
Jamie winkt lachend ab und das Spiel geht weiter. Missmutig sehe ich seinem Knackarsch hinterher und befördere den Ball mit einem Kick in seine Richtung. Eigentlich will ich ihn als Strafe abschießen, aber der Mistkerl reagiert schnell und weicht aus. Verfluchte Drachenwandler! Die scheinen sogar Augen im Hinterkopf zu haben.
»Wie gut, dass du kein Stürmer geworden bist, du triffst ja echt gar nichts!«, zieht mich Jamie weiter auf und ich schwöre mir, dass ich ihm später noch eine Kopfnuss verpassen werde.
»Fick dich!«
»Du mich auch!«
Trainer Giulio greift ein, bevor ich auf ihn losgehen kann und staucht uns beide erst mal kräftig zusammen. So kann man natürlich auch Zeit schinden, denn die Schulglocke hallt vom Gebäude zu uns herüber über das Feld und signalisiert damit, dass das Spiel vorüber ist. Mist, ich hätte vor dem letzten Tor Krawall machen müssen, dann hätte Jamie sich jetzt wenigstens nicht mit einem Sieg brüsken können. Denn genau das tut er laut und überheblich, obwohl der Trainer noch immer Giftblicke auf uns abschießt.
Ich ergebe mich seufzend meinem Schicksal und akzeptiere die Niederlage, bis wir vom Platz dürfen. Erst dann präsentiere ich Jamie meinen hübschen Mittelfinger, den dieser lachend ergreift. »Sei nicht so ein schlechter Verlierer.«
»Sei nicht so ein Kotzbrocken«, kontere ich, merke aber im nächsten Moment, wie meine Wut langsam verraucht. Ich koche immer schnell hoch, komme aber auch genauso schnell wieder runter. Außerdem ist es schwer, Jamie lange böse zu sein. Der Kerl braucht mich nur anzulächeln und schon wickelt er mich damit wieder um den Finger. Das Schlimme daran ist, dass er das genau weiß. Nicht selten wurde er deshalb während unserer langen Freundschaft zum Schlichter meiner weltberühmten Wutausbrüche.
»Kommst du noch mit zu mir?«, fragt er mich, während wir auf die Umkleidekabine zugehen. »Misha und Dorian sind nicht da, aber mein Dad macht heute seine leckeren Spaghetti.«
Ich seufze. »Schon wieder Spaghetti? Nichts gegen Ben, aber sag mal, kann der auch was anderes?«
»Nö«, gibt Jamie fröhlich von sich. »Was ist nun, kommst du mit?«
Ich stimme zu, auch wenn es ganz bestimmt nicht wegen der Nudeln ist. Ich liebe Jamies Zuhause, da es anders als bei mir immer fröhlich und laut zugeht. Vor allem, wenn Dorian oder sein Grandpa da sind. Die beiden bei ihren Streitgesprächen zu verfolgen ist lustig.
Nach einer schnellen Dusche verabschieden wir uns von allen und machen uns auf den Weg. Jamie setzt sich in seinen alten VW Käfer, den er liebevoll Tutut nennt und ich mich in meinen Audi, den ich einfach Auto schimpfe. Es folgt eine fünfzehnminütige Fahrt zum Randbezirk von Undine, in dem Jamie mit seinen drei Dads in einem abgeschieden gelegenen Haus lebt.
Ja, richtig gehört, der Junge besitzt gleich drei Väter. Das ist bei Drachen nichts Ungewöhnliches. Misha und Dorian sind Drachenwandler und haben Jamie adoptiert und Ben, deren menschlicher Gefährte, ist sein leiblicher Vater. Klingt seltsam, he? Ist es auch, aber ich komme mit den Merkwürdigkeiten dieser Welt inzwischen ganz gut klar, schließlich wurden mein Bruder und ich als Kinder selbst von zwei Drachenmännern aufgenommen und aufgezogen.
Als wir am Ziel ankommen, parke ich hinter Jamie in der Auffahrt und zücke mein Handy, um meinem Bruder Nathan zu schreiben, dass ich heute später nach Hause komme. Seine Antwort kommt prompt, noch während ich am Aussteigen bin und besteht nur aus einem Wort: Okay. Ich schnaube, denn das ist so typisch Nathan.
»Alles klar?«
Ich nicke in Jamies Richtung und folge meinem Freund ins Haus, während ich mein Handy wieder verstaue. Im Flur ziehe ich die Schuhe aus und höre dabei zu, wie Jamie uns lautstark ankündigt.
»Dad, ich bin zurück und hab Juli mitgebracht!«
Ich knirsche mit den Zähnen. Ich mag es nicht, Juli genannt zu werden und Jamie weiß das auch ganz genau, was sein freches Grinsen beweist. Nur bei meinem Bruder ertrage ich es stillschweigend.
Ben taucht mit einem Kochlöffel in der Hand im Flur auf und scheint nicht mal zu bemerken, dass ihm dabei Tomatensauce auf den Teppich tropft. »Oh hallo, Jungs. Essen ist gleich fertig. Holt euch doch schon mal was zu trinken.«
Nach dieser Aussage ist er wieder weg und ich schüttle heimlich über ihn den Kopf. Ich mag Ben, aber er ist manchmal echt strange. Er wirkt sehr ruhig und ist oft abwesend. Ich denke ja, dass es daran liegt, dass alle menschlichen Gefährten eines Drachen einen Hau weghaben. Ich weiß, wovon ich rede, schließlich bin ich selbst einer.
»Cola?«
Ich nicke, während ich meinem Freund durchs Wohnzimmer in die offene Küche folge. Jamie geht zum Kühlschrank und ich zum Küchenschrank, in dem sich die Gläser befinden, um uns welche herauszuholen, bevor ich mich auf einen Hocker an der Theke setze. Mir ist hier alles so vertraut, als ob ich selbst hier leben würde. Wahrscheinlich, weil ich fast täglich hier abhänge.
Etwas selbstvergessen beobachte ich Ben dabei, wie er in dem Topf mit der Tomatensauce rührt, die doch eigentlich schon längst fertig sein sollte. Die Nudeln sehen auch schon ziemlich weichgekocht aus. Außerdem hat er den falschen Topf benutzt. Ich schätze, heute gibt es wieder klebrige Spaghetti alla Matschebrei. Soll mir recht sein, bin’s ja gewohnt.
»Habt ihr Hausaufgaben auf?«
Ich muss grinsen, während Jamie verdrossen seufzt. »Dad, es sind bald Abschlussprüfungen, da geben die Lehrer keine Hausaufgaben mehr auf. Jetzt heißt es nur noch lernen, lernen und nochmals lernen, damit man einen halbwegs vernünftigen Abschluss hinbekommt.« Jamie zwinkert mir verschwörerisch zu, bevor er fortfährt: »Wir sind nämlich schon groß und gehen bald auf die Uni.«
Ben dreht sich mit verblüfftem Gesichtsausdruck zu uns herum. »Ach? Ist es etwa schon so weit?«
Jamie lacht. »Ja, Dad! Und soll ich dir noch was verraten? Wir sind sogar schon volljährig, dürfen Auto fahren und sogar Alkohol trinken. Das ist ein Ding, oder?«
Ben legt den Kopf schief und sieht Jamie verträumt an. »Ach wirklich? Wie die Zeit vergeht ...« Ich sagte ja, der Kerl ist echt merkwürdig. »Na gut, dann lasst uns essen und dabei könnt ihr mir erzählen, für welche Uni ihr euch entschieden habt.«
Während aufgetischt wird, verdrehe ich innerlich die Augen. Dieses Thema habe ich Zuhause schon andauernd und dass will ich nicht auch noch hier haben. Da hilft nur eines, und zwar Ablenkung!
»Ach Ben, wie läuft es eigentlich im Menschenrat? Hast du es mal wieder geschafft, ein paar Drachen zu ärgern?«
Bens Augen leuchten auf und ich weiß, ich hab ihn. Die nächste halbe Stunde quasselt er ununterbrochen über veraltete Gesetze, bigotte Drachen und wie man am besten mit denen umgehen muss. Er ist dabei völlig in seinem Element und wirkt dabei wie ein völlig anderer Mensch, leidenschaftlich und lebendig. Diesen Ben mag ich wirklich sehr, auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was er da von sich gibt, denn mich könnte nichts weniger als die Drachengesetze interessieren.
Fakt ist doch, dass es immer Drachen geben wird, die sich über die Menschen stellen werden. Sie sind stärker, schneller, tödlicher. Keine Ahnung, was da ein menschlicher Rat bewirken soll, wenn sie sich dazu entschließen, uns gänzlich versklaven zu wollen. Hätten wir je eine Chance gegen sie?
Irgendwann rettet mich Jamie vor Ben und meinen eigenen trübsinnigen Gedanken und wir gehen auf sein Zimmer. Ich werfe mich auf die dortige Couch und schließe die Augen. Ist schon schön, diese Stille. Schade nur, dass sie nicht lange anhält.
»Was ist los mit dir?«
Ich hebe ein Augenlid, nur um festzustellen, dass Jamie mich nachdenklich mustert. »Was meinst du?«, hake ich unschuldig nach.
»Tu nicht so! Du bekommst immer schlechte Laune, wenn Ben vom Rat zu erzählen anfängt, also frage ich mich, warum du ihn überhaupt erst auf dieses Thema bringst.«
Ich zucke die Schultern. »Nur so.«
Er seufzt, schiebt meine Füße von der Couch und lässt sich neben mich fallen. »Du kannst nicht ewig vor dem Thema Uni weglaufen«, trifft er voll ins Schwarze. »Du hast gute Noten und kannst fast überall hin. Entscheide dich doch einfach.«
Okay, wird wohl Zeit für die Wahrheit. »Hab ich schon. Ich studiere nicht und such mir stattdessen lieber einen Job.«
Jamie scheint nicht mal überrascht, während er mich mit einem durchdringenden Blick betrachtet. »Und was wird aus deinem Traum, Sport zu studieren?«
»Mir bleibt doch Fußball. Ich such mir einen Hobby-Verein und spiel neben der Arbeit.«
»Idiot«, seufzt er. »Fußball macht dir nicht mal halb so viel Spaß, wie du immer tust.«
Blödes Thema. »Vieles macht mir nur halb so viel Spaß, wie ich tue, also zählt dieser Punkt wohl kaum.«
Jamie kneift mir missmutig in die Wade. »Das wird sich doch ändern, sobald du ihn findest. Oder er dich. Oder wie auch immer.«
Noch blöderes Thema. Ich will nicht von Drachengefährten oder Siegeln sprechen, die einen körperlich und emotional bannen. Schon schlimm genug, dass ich erfahren musste, dass Nathan und ich solchen Siegeln unterliegen.
»Lassen wir es gut sein.«
»Komm schon, Juli«, lässt Jamie nicht locker. »Deine Siegel sind doch nun wirklich nicht sehr stark ausgeprägt. Denk doch nur daran, wie toll wütend du immer werden kannst.«
Oh ja, da hat er recht. Die Wut ist mein ständiger Begleiter und auch jetzt kocht sie wieder hoch. »Ich sagte, lassen wir es gut sein. Nerv mich nicht mit diesem Scheiß!«
Jamie zieht eine Schmollschnute. Ich hasse es, wenn er das tut, weil er dann so verfickt süß aussieht. Es ist nicht so, dass ich auf ihn stehe. Jamie ist mein bester Kumpel und wäre demnach selbst dann für mich tabu, wenn ich dazu imstande wäre, einen hochzukriegen. Trotzdem bin ich aber ja nicht blind und dieser Kerl so verdammt hübsch, dass mir manchmal die Augen bei seinem Anblick brennen. Oh Mann, ich hasse das!
Jamie wartet einfach ab, bis seine Magie wie üblich seine Wirkung bei mir tut und mein Zorn verraucht. Ich kann nur noch niedergeschlagen seufzen. »Mann, Jamie. Jetzt mal ehrlich, das ist doch alles Mist. Warum soll ich überhaupt Entscheidungen über meine Zukunft treffen, wenn doch eh alles von irgendwelchen Göttern vorherbestimmt wird? Die Wahrheit ist, ich habe keine Wahl, irgendetwas für mich zu entscheiden. Nicht einmal meinen Partner darf ich wählen.«
Mein Freund wirkt nachdenklich. »Dein Partner mag vorherbestimmt sein, aber das heißt doch nicht, dass du nicht so leben darfst, wie du es willst. Selbst Götter können dir nicht befehlen, wie du fühlen sollst. Das kommt von dir selbst, also wirst du auch entscheiden, ob du deinen Gefährten liebst oder eben nicht.«
Nach solch einer Aussage muss ich erst mal herzhaft lachen. »Ach ja, ist das schon jemals vorgekommen? Durch diesen Verbindungsquatsch wirst du doch praktisch gezwungen, Gefühle für deinen Gefährten zu entwickeln. Wo bleibt da die freie Wahl?«
»Gegenfrage, warum willst du die freie Wahl haben, wenn es sich bei dem zukünftigen Partner um die andere Hälfte deiner Seele handelt? Er wird perfekt für dich sein. Ihr werdet perfekt sein, also warum solltest du von vornherein etwas ablehnen, was dich glücklich machen würde?«
Er versteht es nicht. Niemand tut das.
»Vergiss es«, zische ich und stehe auf. »Ich muss jetzt nach Hause, wir sehen uns morgen.«
»Julian ...«
Ich schalte meine Ohren auf Durchzug und mache mich nach einer kurzen Verabschiedung von Ben auf den Nachhauseweg. Es war so klar, dass ein Drachenwandler niemals meine Meinung teilen würde. Die sind doch alle gleich!
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen schließe ich die Haustür zu unserem zweistöckigen Haus auf. Wie bei den meisten Wandlern liegt auch unser Zuhause etwas abgelegener. Man verzichtet halt gerne auf neugierige Nachbarn.
Im Flur ist es dunkel und ruhig, aber ich kann den Fernseher im Wohnzimmer laufen hören und seufze innerlich. Ich muss da durch, wenn ich in mein Zimmer ins obere Stockwerk will und ich habe absolut keine Lust, mich jetzt noch mit jemandem zu unterhalten.
»Julian, bist du das?«, höre ich auch schon Remys Stimme aus dem Wohnzimmer dringen und ergebe mich meinem Schicksal.
»Ja, wer sonst?«, rufe ich genervt zurück, denn mal ehrlich, er kann mich doch riechen, was soll also die dämliche Frage?
Im Wohnzimmer angekommen sehe ich Remy auf der Couch sitzen, während Nathan seinen Kopf in seinem Schoß gebettet hat. Es ist ein Bild, wie ich es schon tausende von Malen gesehen habe und doch erzürnt es mich jedes Mal aufs Neue. Ich weiß nicht, warum das so ist. Oder vielleicht doch. Keine Ahnung.
Remy streichelt sanft durch Nathans braune Locken und wendet dabei seinen Kopf in meine Richtung. Seine Augen sind leer, denn er ist blind. Ein Andenken an das Feuer von vor neun Jahren und der Beweis dafür, dass das Leben ein Wichser ist und er ein Idiot. Remy ist ein Weißdrache und zählt damit zu den Heilern. Früher war er ein Arzt in der Menschenwelt, doch heute heilt er nichts und niemanden mehr, nicht mal sich selbst. Ich wende schnell meinen Blick ab.
»Du kommst heute spät. Warst du noch bei den Carreras?«
Ich nicke. »Ich hab’s Nathan doch geschrieben.«
»Und ich hab’s vergessen zu sagen«, piepst Erwähnter und kuschelt sich noch enger an den ergrauten Drachenwandler. Auch das passierte kurz nach dem Brand, denn ich kann mich noch erinnern, dass er einst blond gewesen war, als wir uns zum ersten Mal trafen. Abgesehen von dem grauen, schulterlangen Haaren, sieht er allerdings sehr jung aus. Ein hübscher Mann, den jeder für Anfang dreißig hält und der in Wirklichkeit über zweihundert Jahre auf dem Buckel hat. Für mich klingt das nach uralt, doch ein Drache würde sagen, dass er gerade frisch dem Ei entschlüpft sei. Nicht, dass Drachen wirklich aus Eiern schlüpfen würden. Nein, diese Wandler können alles und jeden schwängern, sogar Männer.
»Schon gut«, beruhigt Remy den angespannten Nathan und ich könnte mal wieder kotzen. Mein Bruder wird bald achtzehn, ist demnach nur ein Jahr jünger als ich, aber er benimmt sich noch immer wie ein Baby.
Schlafen, ohne dass Remy, Con oder ich bei ihm sind? Nein, das geht nicht!
Alleine ausgehen? Um Gotteswillen, ihn könnte ja einer ansprechen!
Mehr als drei Worte am Stück sprechen? Nein, das wäre ja dann fast schon ein richtiger Satz!
Ich hasse es, wenn ich so über ihn denke, denn es gibt niemanden, der mir auf dieser Welt wichtiger wäre. Vielleicht tut es aber gerade deshalb immer so weh, wenn ich ihn so sehe oder ich hören muss, wie andere behaupten, er sei ein Freak. Das ist er nämlich nicht! An seinem Verhalten sind ganz allein diese dämlichen Siegel schuld und genau das ist ein Grund mehr, diese sogenannten Drachengötter zu hassen. Wie konnten sie nur je auf den Gedanken kommen, Menschen dermaßen in ihrer eigenen Persönlichkeit einzuschränken? Das ist einfach nur krank!
Nathan und ich sind schon immer unterschiedlich gewesen. Er ist still und kuschelbedürftig und ich aufbrausend und laut. Zwei Seiten einer Medaille. Ying und Yang. Daran sieht man auch mal, wie unterschiedlich die von den Drachengöttern auferlegten Siegel wirken. Manche Menschen sind so eingeschränkt, dass sie kaum etwas fühlen, können sich dafür aber trotzdem durch die Weltgeschichte ficken. Nathan und ich dagegen fühlen leider viel zu viel und bekommen dafür keinen hoch.
Das alles soll sich ändern, nachdem man seinen Drachengefährten getroffen hat und dieser die Siegel bricht, aber ich glaube nicht, dass sich danach wirklich etwas verändert. Wird die Welt dadurch plötzlich besser oder macht es Vergangenes ungeschehen? Nein. Fakt ist auch, meine Wut oder Nathans Ängste würde das sicher nicht nehmen, sondern allenfalls verstärken und wer sollte das wollen? Ich ganz sicher nicht!
»Möchtest du dich zu uns setzen?«, reißt mich Remy aus den Gedanken und ich schüttle den Kopf.
»Nein, ich bin müde und will früh schlafen gehen.« Drachen können Lügen wittern, aber das ist mir egal.
»Hast du wenigstens etwas gegessen?«, geht die Fragerei weiter und ich beginne langsam überzukochen.
»Was soll das besorgte Getue?«
Remys Stirn legt sich in Falten und er hört doch tatsächlich endlich mal damit auf, meinen Bruder wie ein Schoßhündchen zu tätscheln. »Da ich in der Tat immer um dich besorgt bin, wird diese Frage doch wohl gestattet sein. Was ist schon wieder los mit dir?«
»Nichts!«, fauche ich zurück und marschiere auf die Treppe ins obere Stockwerk zu. Ich weiß, wie pubertär und dämlich ich mich benehme, aber ich kann einfach nichts gegen diesen unglaublichen Druck in meiner Brust tun. Der Zorn in mir ist wie eine Naturgewalt und auch wenn ich weiß, dass ich es spätestens in meinem Zimmer bereuen werde, gifte ich weiter. »Und du kannst dir deine geheuchelte Besorgnis in den Arsch stecken! Ich bin nicht so ein Baby wie mein Bruder, den du mit deinen Worten einlullen kannst. Ich habe dich längst durchschaut!«
Fast wäre ich in meiner Wut die Treppe nach oben gefallen, aber ich kann mich gerade noch fangen und renne anschließend in mein Zimmer, dessen Tür lautstark ins Schloss fällt. Oh Gott, ich bin wirklich so dämlich! So fucking unbelievable dämlich!
Ich rutsche an der Tür nach unten auf den Boden und vergrabe meinen Kopf in den Händen. Ich muss nur warten, denn ich weiß, der Sturm in meinem Inneren wird sich gleich legen. Ich ziehe das Smartphone aus meiner Tasche heraus und schalte die Stoppuhr ein. Langsam zähle ich die Sekunden mit, bevor ich bei knapp zwei Minuten den Timer beenden kann. Kein schlechter Schnitt, auch wenn es in Jamies Nähe deutlich schneller geklappt hätte.
Erschöpft von mir selbst ziehe ich mich aus, werfe mich unter die Bettdecke und schließe die Augen. Früh zu schlafen hört sich nun tatsächlich nach einer guten Idee an.
Als ich wieder erwache, ist es mitten in der Nacht und die kleine Lampe auf meinem Nachttisch wird eingeschaltet. Keine Minute später bewegt sich die Matratze unter mir und Nathan krabbelt in mein Bett. Ich seufze leise.
»Bist du sauer?«
Nathans Arm legt sich über mich und er drückt sich an mich. Sein Kuschelbedürfnis scheint noch immer nicht gestillt zu sein. »Nein.«
»Remy schon«, nuschelt er.
»Schön für ihn.« Was soll ich darauf auch anderes erwidern?
»Du musst es ihm sagen.«
»Was?«
Es kommt keine Antwort und als ich mich umdrehe, um ihn ins Gesicht zu sehen, ist der kleine Scheißer einfach eingeschlafen. Toll und ich bin jetzt wieder hellwach. Mal davon abgesehen, dass ich bei eingeschaltetem Licht eh nicht schlafen kann.
Meine Finger legen sich auf sein Gesicht, wandern die hohen Wangenknochen entlang und folgen anschließend der Kinnpartie. Seine Haut ist so unglaublich weich, er besitzt noch nicht einmal Bartwuchs. Von der Niedlichkeit her kann er es locker mit Jamie aufnehmen, aber anders als mein bester Freund wirkt Nathan nicht fröhlich und selbstsicher, sondern einfach nur verletzlich.
»Du bist wirklich noch ein Baby«, hauche ich und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor ich ihn fest umarme. »Aber egal. Remy, Con und auch ich werden schon auf dich aufpassen. Du musst dir keine Sorgen machen. Es ist mir egal, was es mich kostet.«
»Lieb dich, Juli«, flüstert er lächelnd, weil er anscheinend doch noch nicht so tief geschlafen hat, wie ich gedacht habe.
»Ich hab dich auch lieb, Nath.«
Und mit diesen Worten wird es wieder still um uns. Nathans Atemzüge werden wieder tiefer und regelmäßiger und ich versuche, mich ihnen anzupassen. Wider Erwarten gelingt mir das recht gut und ich drifte erneut in den Schlaf.
Der warme Körper an meiner Seite wird mir entrissen und ich erwache zum zweiten Mal in dieser Nacht. Ohne hinzusehen weiß ich, dass Remy gekommen ist, um Nathan abzuholen. Seine Schritte sind selbst mit Nathan auf dem Arm sicher. Er eckt nirgendwo an und ist schnell wieder an der Tür. Als diese sich hinter den beiden schließt, schalte ich endlich das dämliche Nachtlicht aus und starre in die Dunkelheit.
Natürlich weiß ich längst, warum Remy so handelt. Warum er ihn so verhätschelt und als einzigen wirklich an sich heranlässt. Er ist sein Gefährte, das war von Anfang an klar, auch ohne dass er es je hätte aussprechen müssen.
Deswegen haben er und sein Bruder Con uns bei sich aufgenommen, sie wollten ihn bei sich haben und vor allen weiteren Gefahren beschützen. Ich bin nur auch hier, weil er mein Bruder ist und an mir hängt. Der Gedanke ist niederschmetternd, wie auch vieles andere, was ich in der letzten Zeit fühle. Aber das ist okay. Ich kann damit leben, bis Nathan richtig mit ihnen verbunden ist und wenn ich dann wirklich sicher bin, dass es ihm
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Tag der Veröffentlichung: 26.07.2020
ISBN: 978-3-7554-3354-5
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