Es war Mittwochmorgen. Die Sonne war vor einer knappen Stunde aufgegangen und Sheriff Jimjohn hatte sich bereits in dem Fass mit kaltem Wasser gewaschen, das vor seinem Sheriff Office stand. Natürlich hatte er sich nur das Gesicht gewaschen, zuviel Körperpflege sollte ja nicht gesund sein, wie man so hörte. Außerdem galt es als unmännlich, mehr als zweimal im Monat ein Bad zu nehmen. Er trocknete sich mit einem verschlissenen Handtuch ab, das vor langer Zeit einmal weiß gewesen sein musste.
Er mochte seinen Job gern, zumindest solange alles ruhig war und er nicht mehr tun musste, als ab und zu ein paar betrunkene Raufbolde aus Rogan’s Bar zu zerren und in die Ausnüchterungszelle zu stecken, bis sie wieder einen klareren Kopf hatten und sich nicht wegen ein paar Dollar die Nasen ein- und die Vorderzähne ausschlugen. Wenn die Kontrahenten ihren Rausch ausgeschlafen hatten, konnte er sie meistens am nächsten Tag gemeinsam entlassen und zusehen, wie sie einträchtig in Rogan’s Bar zurückkehrten, um bei einem ordentlichen Glas Bier ihren Frieden zu machen.
Sonst bestand sein Alltag üblicherweise darin, im Schaukelstuhl vor seinem Büro zu sitzen, den Hut gegen die grelle Sonne tief in die Stirn gezogen, und das geschäftige Treiben auf der breiten Hauptstraße von Dingstown zu beobachten.
Dingstown war eine kleine, aber im Wachsen begriffene Stadt in Texas, die an der im Bau befindlichen Eisenbahnstrecke lag, die von Austin über Fort Hood und Waco bis nach Dallas führen sollte. Vorläufig jedenfalls. So schnell, wie sich das Eisenbahnnetz seit dem Bürgerkrieg ausbreitete, konnte man darauf wetten, dass das Dampfross nicht in Dallas halt machen und bald über die Staatsgrenze von Texas hinaus den Anschluss an das Schienennetz in Oklahoma suchen würde.
Einen richtigen Bahnhof hatte Dingstown noch nicht, sondern nur einen einfachen Steg aus grob gezimmertem Holz zum Aussteigen für die Passagiere und einen Wasserturm, an dem sich die vorbeifahrenden Loks versorgen konnten. Da der derzeitige Endpunkt des Bauabschnitts nicht allzu weit entfernt war, waren die Lokomotiven nicht darauf angewiesen, sich in Dingstown zu versorgen, aber dies würde sich ändern, je weiter die Strecke ausgebaut wurde, da die nächste Station erst in ca. zwölf Meilen Entfernung angelegt werden sollte.
Solange die Bahnstrecke nicht fertiggestellt war, wurde der Großteil des Fernverkehrs noch mit Planwagen und Postkutschen bewältigt. Das erinnerte Sheriff Jimjohn daran, was ihm heute bevorstehen würde und sein Miene verfinsterte sich.
Heute würde die Postkutsche aus Waco kommen und die Kiste mit den Wochenlöhnen für die Bahnarbeiter bringen.
Doch damit nicht genug, diesmal würden auch die Sonderzahlungen für die leitenden Angestellten der „Texas Railway Corporation“, kurz „Texway“ genannt, gebracht werden. Also die Jahresbonifikationen für die Ingenieure, den Abschnittsbeauftragten der Texway und noch ein paar andere „Besserverdienende“. Das würde nicht wenig Geld sein.
Sheriff Jimjohn wollte es auch nicht so recht in den Kopf, warum man die Gelder für alle diese Männer auf einmal auszahlen musste (dass keine Frauen unter den maßgebenden Personen waren, fiel hier im Südwesten niemandem weiter auf).
‚Warum verteilte man das nicht auf mehrere Monate?‘ fragte er sich. Hier mitten im Nirgendwo zwischen Waco und Dallas gab es ohnehin keine Gelegenheit, das Geld auszugeben, selbst wenn Rogan in seiner Kaschemme die Preise für den Whisky verdoppeln und die Freudenmädchen in Mrs. Violetts sogenanntem „Hotel“ fleißig Überstunden machen würden.
Aber die Bahn würde schon ihre Gründe haben und er konnte daran jetzt ohnehin nichts mehr ändern.
Jimjohn war froh, dass er jeden Monat sein festes Gehalt bekam, das mit der Postkutsche in zwei Wochen aus Waco kommen würde, falls der District Marshall nicht wieder mal vergaß, rechtzeitig zur Bank zu gehen.
Jimjohn machte sich nicht viel aus den Dollars. Er hatte genug, um über die Runden zu kommen, seine schwarze Haushälterin vernünftig zu bezahlen und ihr gelegentlich ein paar Dollar extra zuzustecken, wenn sie ihm mal wieder einen Gefallen getan hatte. Jimjohn war nicht verheiratet, was hier vielen Männern so ging, da sich nicht genug ehrbare Frauen in diesen abgelegenen Teil der Welt verirrten. Eigentlich schade, denn etwas mehr Weiblichkeit würde Dingstowns Straßen (also die Hauptstraße und die wenigen kleinen Nebengässchen) nicht nur optisch aufwerten, sondern auch den zuweilen recht rauen Umgangston aufweichen. Es ging hier schon derb zu, aber solange das der Fall war, hatte Jimjohn seinen Job sicher.
Wenn es nur bei den üblichen Schlägereien und gelegentlichen Viehdiebstählen auf einer der umliegenden Farmen bleiben würde. Er befürchtete, dass der große Geldtransport heute allerlei kriminelles Gesindel anlocken könnte, das sich in der Gegend herumtrieb.
Seit ein paar Monaten trieb im Grenzgebiet zwischen Texas und Mexiko eine Bande Banditen ihr Unwesen. ‘Eine Bande Banditen‘, grübelte Jimjohn, ‘Ob das Wort „Bandit“ davon kommt, dass jemand in einer „Bande“ mitmacht? Wird wohl so sein.‘ Egal, jetzt war keine Zeit für philosophische Träumereien.
Diese Mexikaner, die sich jetzt in Texas herumtrieben, waren unter dem Spitznamen „Die TexMex“ bekannt und berüchtigt. Ihr Anführer war ein schlauer und angeblich recht elegant aussehender Kerl, der sich selbst Señor Rodriguez nannte. Seiner Handvoll Mexikaner hatten sich Gerüchten zu Folge auch ein deutschstämmiger Trapper und der junge Bill von einer der weiter entfernt liegenden Farmen angeschlossen, beides Männer mit offenbar zuviel Abenteuerlust.
Diese Bande war schon schlimm genug. Die Planwagen fuhren seitdem in Kolonnen durch die Savanne (das Wort Treck wäre hier übertrieben, aber wenn das so weiterging…) und die Postkutsche hatte mindestens einen bewaffneten Mann neben dem Fahrer auf dem Kutschbock sitzen, bei wichtigen Transporten auch einen weiteren auf dem Dach, wenn dort noch Platz neben dem Gepäck war, oder einen begleitenden Reiter.
Die in Fort Hood stationierte Kavallerieeinheit ritt jetzt häufiger Patrouillen und drang tiefer in die unwirtlichen Landstriche vor, als sie das früher getan hatte. Bisher alles ohne Erfolg. Die TexMex hatten es immer geschafft, die Begegnung mit den Gesetzeshütern zu vermeiden, nur um dann an unerwarteter Stelle wieder zuzuschlagen. Die Burschen waren ebenso skrupellos wie gerissen.
Und als wäre das noch nicht genug, trieb sich seit zwei Tagen so eine zwielichtige Person in Dingstown herum, deren Gesicht mit den dunkelblonden Haaren Jimjohn zwar bekannt vorkam, das er aber nicht so recht einordnen konnte. Er hatte sich die Steckbriefe mit dem fetten Aufdruck „Wanted“ angesehen, die er in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte oder die an der Wand seines Büros hingen, aber er hatte den Kerl nicht wiedererkannt. Wenn er nur wüsste, wo er die Visage hinstecken sollte.
Zu allem Übel war gestern noch eine weitere zwielichtige Gestalt aufgetaucht, ein grobschlächtiger Typ mit finsterer Miene. Passenderweise hatte die Gestalt sich im Hotel unter dem Namen „Butcher“ eingetragen, wie der Sheriff unauffällig in Erfahrung gebracht hatte. Das konnte ja heiter werden.
Der Mann war auch sonst nicht zu übersehen mit seinem übertrieben hohen verbeulten Zylinder, den gelben Hosen mit dem roten und grünen Gittermuster darauf, seiner roten Weste und der knallgrünen Jacke darüber. Er legte offenbar keinen Wert darauf, ungesehen zu bleiben. Wenigstens trug er keine sichtbare Waffe mit sich herum und auch keinen Pistolengürtel. Hatte er offenbar nicht nötig.
Der andere Mann, dessen Gesicht Jimjohn so merkwürdig bekannt vorkam, war unauffälliger gekleidet, allerdings auch deutlich eleganter als die meisten Bewohner von Dingstown. Jimjohn schätzte sein Alter auf Anfang 30.
Die beiden Neuankömmlinge versuchten recht auffällig, sich aus dem Weg zu gehen und so zu tun, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Aber gerade das machte sie verdächtig. ‚Wenn die nicht unter einer Decke stecken, fresse ich meinen Colt Peacemaker‘, murmelte Jimjohn.
Der Sheriff hielt es nicht für einen Zufall, dass diese beiden Männer nahezu gleichzeitig und so kurz vor dem Eintreffen der Postkutsche in Dingstown auftauchten.
Nachdem die Angeber von der Bahn überall herumposaunt hatten, dass sie heute Abend mal so richtig einen draufmachen wollten, wusste inzwischen jeder, was die Postkutsche heute mitbringen würde.
Mrs. Violett, die das Hotel in Dingstown betrieb, hatte extra ein paar zusätzliche nette Mädchen aus Waco kommen lassen, die sich intensiv um die spendierfreudigen Gäste kümmern sollten. Jimjohn hatte die beiden jungen Frauen gesehen, als sie von dem improvisierten Bahnsteig mit einem Pferdefuhrwerk zum Hotel gefahren kamen. Die schlanke Dunkelhaarige hatte ihm gefallen, vielleicht würde er heute Abend oder Morgen ein paar seiner gesparten Dollars im Hotel ausgeben. Oder er wartete noch ein wenig, da die Preise heute vermutlich deutlich höher sein würden als sonst, denn Mrs. Violett war äußerst geschäftstüchtig.
Er riss sich von diesen Gedanken los. Es galt jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und Vorkehrungen zu treffen.
Jimjohn ging wieder in das kleine Haus, in dem sein Büro untergebracht war. Im vorderen Raum befanden sich sein mit allerlei Kram übersäter Schreibtisch mit einem einfachen, aber bequemen Stuhl, zwei Hocker, eine niedrige Kommode, ein paar Kleiderhaken hinter der Tür, an denen seine beiden Mäntel und ein roter Schal hingen, sowie ein hoher Schrank, der mit einem massiven Schloss gesichert war. Dort bewahrte er die Waffen auf, mit denen er sich und seine Hilfssheriffs ausstatten konnte, wenn es nötig war. Heute würde es nötig sein und wenn nicht, dann hatte er seine Männer lieber einmal zuviel bewaffnet als einmal zu wenig.
Durch eine Tür ging es in den angrenzenden Teil des Gebäudes, wo sich zwei kleine Arrestzellen befanden, die jeweils gerade mal Platz für eine durchgelegene und nicht mehr ganz saubere Pritsche und einen Schemel boten. Derzeit waren die Zellen leer, aber das könnte sich bald ändern. Es sei denn, er würde sich mit der Waffe durchsetzen müssen und dann landeten die Gangster entweder auf dem Friedhof oder beim Doc.
Den Doc hatte er gestern schon informiert, dass er heute mit Ärger rechnete, so dass Doc Ferraday Zeit gehabt hatte, sich vorzubereiten. Auf den Doc war Verlass. Er würde schon saubere Tücher und abgekochtes frisches Wasser bereitstehen haben und hatte sicherlich auch den Tisch freigeräumt, auf dem er seine Patienten versorgte. ‚Hoffentlich lande ich nicht selbst dort ‘, dachte Jimjohn missmutig.
Der Sheriff sah sich um. Er überlegte kurz, schnallte seinen Patronengürtel mit den beiden Holstern um, eins für den langläufigen 45er Colt Peacemaker und das zweite für den älteren, aber zuverlässigen 38er Revolver von Smith & Wesson. Normalerweise trug er nur eine Waffe, aber heute konnte es nicht schaden, auf etwas mehr Feuerkraft zurückgreifen zu können.
Die Griffkolben der Waffen zeigten nach vorn, da er, anders als die meisten anderen Männer, die Pistole über Kreuz zog, also den links getragenen Colt mit der rechten Hand und umgekehrt. Jeder zog halt nach seiner Gewohnheit.
Die zugehörigen Patronen steckten neben der jeweiligen Pistole im Gürtel und wieder einmal dachte er sich, dass es unpraktisch war, zwei Waffen mit unterschiedlichen Kalibern zu benutzen, aber er war seit Jahren an beide Waffen gewöhnt und konnte sich darauf verlassen, dass sie ihn nicht im Stich ließen. Er hatte sie bereits gestern geladen, vergewisserte sich aber sicherheitshalber nochmal, dass alle Patronenkammern gefüllt waren. Alle, bis auf eine – die Kammer, auf der der Hahn aufsaß, blieb ungeladen, damit er sich nicht versehentlich selbst in den Fuß schoss.
Der Gürtel spannte ein wenig und missmutig blickte Jimjohn auf die Wölbung seines Bauches, unter dem er den Patronengurt nur noch zum Teil sehen konnte. Auch das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8794-7
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