Der Papst ist auch nur ein Mensch.
1
Deprimiert gehe ich in meine Suite. Ausgerechnet in der Karwoche schlägt es von allen Seiten auf mich ein. Ungeklärte Kontobewegungen bei der Bank, die ein schlauer Journalist ermittelt haben will, sind da noch das Geringste. Aber dieser neue Fall von Kindesmissbrauch, und das ausgerechnet in meiner Heimat Chile, ist in der Karwoche nicht gerade eine geeignete Schlagzeile. Und wieder einmal wussten es alle, nur das Staatssekretariat nicht. Und die sollten es als einzige wissen. Hier habe ich noch viel Arbeit vor mir.
Es ist Karfreitag. Auf der mit Samt bezogenen Couch in meiner drei Zimmer Suite Nr. 201 im Gästehaus des Vatikan versuche ich abzuschalten. Der Gottesdienst im Petersdom liegt hinter mir und ich habe ein wenig Zeit, mich auf die Andacht nach Sonnenuntergang vorzubereiten. Auch der Ablauf zum diesjähriges Kreuzgang steht fest. Bis zum Kolosseum lasse ich mich fahren und dann läuft es hoffentlich problemlos wie jedes Jahr.
Ich sehe mich im Zimmer um. Schmucklose Wände starren mich an. Auch die edle Einrichtung täuscht nicht darüber weg, dass hier kühle Sachlichkeit dominiert. Persönliches hat hier keinen Platz. Persönliches, bis auf ein paar Kleinigkeiten, ist nicht mehr Teil meines Lebens. Das habe ich abgelegt als ich mich entschied, die Nachfolge von Petrus anzutreten und Papst zu werden. Trotzdem bleiben mir einige Dinge vorbehalten, die in den übrigen Zimmern Mangelware sind. Schließlich bin ich der heilige Vater und der hat einen Fernseher und Internetanschluss über den ich manchmal eher Informationen bekomme, als von einer Heerschar von Sekretären und Mitarbeitern.
Mit siebenundsechzig Jahren bin ich noch ein junger Hüpfer. Schließlich liegt das Durchschnittsalter der bisherigen Päpste deutlich darüber. Natürlich bin ich froh, dass es so ist. Krankheiten sind bis jetzt an mir vorbei gegangen und ich fühle mich fit. Obwohl ich von je her immer etwas lebhaft war habe ich allerdings gelernt, meine Worte mit Bedacht zu wählen und ruhig aber bestimmt zu reden.
Gott war das ein Theater, als ich hier im Vatikan angefangen habe. Jeder wollte mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Jedes Wort, das ich öffentlich verlauten ließ, wollte man mir vorschreiben. Schon nach einer Woche hatte ich die Nase voll und die Faust auf dem Tisch. Ich bin der Papst. Legislative, Judikative und Exekutive in einer Person. Ich bin unkündbar und nicht abwählbar. Also musste ich handeln.
Um es kurz zu machen: Faulheit und Unfähigkeit wurden bestraft. Es reicht nicht, nur anwesend zu sein. Ich bin für die Menschen da und das verlange ich auch von allen Mitarbeitern und zwar vom Sekretär bis zum Kardinal.
Die ersten Wochen waren ein täglicher Spießrutenlauf. Die Messer, die in meine Richtung flogen kann ich gar nicht mehr zählen. Selbst jetzt, nach drei Jahren, muss ich aufpassen wie ein Schießhund. Papst sein ist mehr als Stress. Ich bin wie ein Dompteur in einer Arena mit hundert Löwen. Sie tun mir nichts. Ich darf mich nur nicht um drehen.
Das Gefühl, nicht nur von Bluthunden umgeben zu sein war es auch, was mich veranlasste, hier im Gästehaus Santa Marta zu wohnen und nicht im Apostolischen Palast. In der vierhundert Quadrat Meter großen Wohnung im dritten Stock des Palastes komme ich mir einsam und verloren vor. Im Gästehaus ist zwar immer Leben und das gerade jetzt in der Karwoche, wo jede Suite und jedes Zimmer belegt sind. Doch es sind eben nur Gäste, die ein paar Tage blieben. Mit niemandem musste ich auf Dauer zusammenarbeiten und so begegnen mir alle mit ehrlichem Respekt. Gewetzte Messer stecken hier nicht in Anzügen und Soutanen und alles ist ein ganzes Stück ehrlicher als im Palast.
Da ich noch ausreichend Zeit habe beschließe ich, in die Kapelle des Gästehauses zu gehen. Für mich persönlich ist sie viel zu prunkvoll. Marmor Fußböden und edelste Materialien. Aber um diese Zeit meist leer. Es ist schon merkwürdig. Je voller das Haus, desto weniger sind in der Kapelle.
Ich habe recht und knie mich in eine der hintersten Bänke. Wenn Gott mich hören will, dann auch von hier hinten. Es ist merkwürdig still und ich blicke auf das große Holzkreuz gut zwanzig Meter vor mir. Ich will jetzt nicht beten, nur einfach da sein und über das denken, was mir gerade in den Sinn kommt. Eingebettet in das Gefühl, von Gott umschlossen zu sein gehen meine Gedanken zurück in meine Kindheit.
Ich bin am Rande von Tome, einer kleinen Stadt in der Region Bio-Bio in Chile mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Mein Vater reparierte Möbel und es reichte gerade einmal von Tag zu Tag. Als ich sechs Jahre alt war zog ein junger Priester, Pater Nicolas, in das Pfarrhaus der Gemeinde ein und mein Leben nahm einen völlig anderen Verlauf. Er baute mit einfachsten Mitteln einen Fußballplatz hinter dem Friedhof und trainierte einmal in der Woche uns Kinder im Alter von sechs bis sechzehn Jahren.
Und er führte eigene Regeln ein. Einfach und für alle verständlich: Erstens, das Tor ist das Ziel und zweitens, behandle deinen Gegner mit Respekt.
Natürlich mussten wir auch Spielfeldbegrenzungen beachten und einer war immer der Schiedsrichter. Das Ziel aber war stets nur das Tor und nicht der Gegner und der Gegner war immer ein Freund und nie ein Feind. So kam es, dass der Größere auch dem Kleineren den Ball überließ, selbst wenn er stärker war und der Kleinere auch mal am leeren Tor vorbeischoss, wenn der Torwart vorher ausgerutscht war und nie eine Chance gehabt hätte, den Ball zu halten. Diese Art von fairplay hat mich ein Leben lang begleitet und tut es heute noch.
Das Haus , in dem wir wohnten bestand aus einer Garage, die doppelt so groß war wie sonst üblich und einer Wohnung darüber. Meinem Vater diente die Garage als Werkstatt für seine Möbelreparaturen. Für uns Kinder gab es jeweils ein winziges Schlafzimmer. Das Haus war außen nicht verputzt und innen sehr einfach. Wir hatten einen Fernseher. Ein uraltes Röhrengerät mit schlechtem Empfang. Aber es war ein Fenster in die weite Welt.
Nach jedem Fußballtraining versammelten wir uns an einer ausgedienten Busstation und Pater Nicolas erzählte von sich und lies uns von uns erzählen.
In all der Zeit, in der ich ihn kannte, ist das Wort Gott nur wenige Male gefallen. Und gerade das faszinierte uns Kinder. Jeder von uns hatte ein sehr gläubiges Elternhaus. In unserem Wohnzimmer gab es einen kleinen Tisch, auf der ein Bild der Mutter Maria und eines von Gott, so wie man ihn sich vorstellte, stand und immer Kerzen und ein paar Blumen. Über der Haustür hing von innen ein Kreuz und ich sehe heute noch meinen Vater, wie er sich jedes mal bekreuzigte, wenn er aus dem Haus ging.
Auch hier im Gästehaus des Vatikan hängen Kreuze. Doch kaum ein Kardinal bekreuzigt sich.
Pater Nicolas lehrte uns, Gott auf eine andere Art zu begreifen. Ich weiß noch, wie ich bei einem unserer Zusammenkünfte von meinem Elternhaus erzählte. Dass wir schon nach dem Aufstehen beten mussten und Gott mit einer demütigen Haltung um Hilfe bitten sollten.
„Papa hat gesagt, dass Gott jedem hilft. Aber warum sind wir dann so arm? Warum tut er nichts für uns?“ fragte ich einmal Pater Nicolas.
Es war damals nur die einfache Logik eines Kindes. Die meisten Geistlichen hätten wahrscheinlich gesagt: Du musst Geduld haben und Gott jeden Tag auf´s Neue bitten und glauben. Eines Tages wird er dich erhören.
Nicht so Pater Niclas. Er wandte sich an alle und sagte: „Gott gibt es ja nur einmal. Niemand kann zur gleichen Zeit überall sein. Und da es ihn nur einmal gibt, müsste er sich ja unendlich viele Male zerteilen, um überall zu sein. Jeder hätte nur ein winziges Stück. Deshalb hat er die Kraft entwickelt. So wie nicht jedes Haus ein Kraftwerk haben kann, um Strom zu erzeugen, sondern ein Kraftwerk den Strom an viele weiterleitet, so ist auch Gott eine Art Kraftwerk, der seinen Strom jedem zur Verfügung stellt, der ihn anknipst. Jeder von Euch muss also selbst den Schalter anstellen, um mit dem Strom arbeiten zu können.“
Pater Niclas war nur etwa einen Meter siebzig groß und wog vielleicht nicht mehr als siebzig Kilo. Trotzdem schien seine Energie unermüdlich.
Er spielte manchmal beim Fußball mit und ich bewunderte stets seine Ausdauer und die Leichtigkeit, mit der er hinter dem Ball her lief. Er schaute uns an und spürte sogleich, dass nicht alle mit seinem Vergleich etwas anfangen konnten.
„Ich zeige euch etwas“, sagte er und ging zu seinem Auto, das hinter der ausgedienten Bushaltestelle parkte. Es war nur ein alter verstaubter VW Käfer, der aber immerhin über eine Tonne wog. Dann postierte er sich hinter seinem Auto und fing an zu schieben. Obwohl die Handbremse anzogen war, bewegte sich das Auto Zentimeter um Zentimeter nach vorne. Fast jeder von uns stand mit offenem Mund da und staunte. Wie schaffte es so ein kleiner Mann ein fest stehendes Auto zu bewegen. Ich war fasziniert. Nachdem der Pater das Auto fast einen Meter nach vorne geschoben hatte richtete er sich, etwas außer Atem, wieder an uns.
„Glaubt ihr, das ich das mit Gottes Hilfe geschafft habe?“ fragte er.
„Na klar“, sagte einer von uns.
„Habt ihr ihn gesehen, wie er mit geschoben hat?“ Wir schwiegen.
„Habt ihr ihn keuschen hören, so wie mich. Das Auto ist ja ganz schön schwer?“
Wieder Schweigen.
„Natürlich nicht. Weil Gott in mir ist. Meine Kraft ist seine Kraft. Ich muss allerdings etwas dafür tun. Wie beim Strom muss ich den Schalter anstellen. In diesem Fall gehe ich regelmäßig trainieren. Wenn ihr also etwas erreichen wollt müsst ihr etwas dafür tun. Ihr müsst auf Gott zugehen und nicht darauf warten, das er zu euch kommt.“
Niemand sagte etwas. Ich bin überzeugt, dass auch jetzt nicht alle die Botschaft von Pater Niclas verstanden haben. Auch mir war nicht alles klar geworden. Aber eines hatte ich verstanden. Wenn ich etwas wollte musste ich meinen Strom anstellen. Musste meine Energie entfachen. Ich wollte so werden wie Pater Niclas. Später, ich war gerade sechzehn geworden wurde mir dann bewusst, dass es keinen Sinn macht wie ein anderer zu werden. Damit gibt man ja seine eigene Identität auf.
Dann lernte ich Rosmarie kennen. Die erste große Liebe meines Lebens sollte die einzige bleiben. Ich war siebzehn. Alle Hormone spielten verrückt. Die Welt war für uns ein bilderloses Schlafzimmer in Rosemaries Elternhaus, gerade ein paar hundert Meter von uns entfernt. Alles war rosarot bis zu dem Tag, wo Rosemarie über Kinder sprach und ob ich mir vorstellen könne, Vater zu werden. Das war noch vor der Aussprache mit ihren Eltern, worauf ich später noch zu sprechen komme. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich wollte sie nur aus ihrer ärmlichen Welt ausbrechen. Ein Kind, ein Mann, vielleicht ein eigenes Haus. Wie ein Siebzehn jähriger das alles finanzieren sollte war ihr nicht bewusst und ich bezweifelte ernsthaft ihre geistigen Fähigkeiten. Rosemarie verließ mich noch am gleichen Tag. Heute bin ich einfach nur froh, nicht Vater geworden zu sein, sondern heiliger Vater.
Zwei Jahre später machte ich Abitur und trat kurz danach dem Jesuitenorden bei. Der Rest ist Geschichte.
2
Die Tür zur Kapelle geht auf und mein Sekretär kommt auf mich zu. Andrea Sorano diente schon meinem Vorgänger als Sekretär. Er ist Kardinal und ich denke mit seinem Wissen und seinen Kontakten in alle Bereiche des heiligen Stuhls einer der mächtigsten Männer im Vatikan. Nach meiner Amtsübernahme habe ich etliches Personal ausgetauscht und bevor ich mich entschied, Sorano weiter zu beschäftigen, habe ich seine Loyalität getestet. Er bestand alle Tests und ich habe ihn behalten, was sich im Nachhinein als richtig heraus gestellt hat.
„Entschuldigen Sie, Santo Padre. Ich habe ihre Kleidung für den heutigen Abend herausgesucht und der Text für die Sonntagspredigt ist auch auf ihrem Schreibtisch. Außerdem habe ich Ihren Lieblingstee zubereitet und auf den Beistelltisch gestellt.“, sagte Sorano.
Ich schaue ihn an und nicke mit dem Kopf. Er ist ein guter Junge. Liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Manchmal will ich das gar nicht zumal Tee kochen bestimmt nicht zu seinen Aufgaben gehört. Das macht nun mal die Hausdame. Doch die ist im Palast. Hier wäre kein Platz. Manchmal würde ich mir ein Nein von Sorano wünschen und nicht diesen bedingungslosen Gehorsam, den ein Papst angeblich fordert. Ich fordere es nicht. Wenn Kritik berechtigt ist, soll man sie äußern.
Das war übrigens ein weiterer Grund, weshalb ich noch im Gästehaus wohne. Im Palast bin ich umgeben von kratz-buckelnden Dienern, Köchen und Haushälterinnen. Respekt ist ja schön, aber Unterwürfigkeit muss nicht unbedingt sein. Wenn ich hier jemanden brauche muss ich ihn rufen. Dann kommt er oder sie schon keuchend hier an und mancher gibt sich ehrlicher, als er es sonst tut.
„Danke, mein Freund“, sage ich zu Serano. „Bitte holen Sie mich eine Stunde vor der Andacht ab. Es ist viel passiert diese Woche und das duldet keinen Aufschub. Besorgen Sie mir alle Informationen über den Missbrauchsfall in Chile. Ich muss das am Samstag angehen. Um neun Uhr möchte ich alle Kardinäle bei mir haben. Ostern hin oder her. Das hat Vorrang.“
Sorano verlässt vor mir die Kapelle und ich nehme ausnahmsweise den Lift zu meiner Etage. Meistens bevorzuge ich die Treppe. Das ist mit der Soutane nicht immer praktisch aber hier im Gästehaus laufe ich manchmal auch in Hosen herum. Schließlich bin ich der Papst, das Oberhaupt der katholischen Kirche mit über 2 Milliarden Gläubigen, wovon gut dreitausend in und außerhalb des kleinsten Staates der Welt für den Vatikan arbeiten. Und hier bin ich Hausherr. Wenn ich das nicht darf, wer dann?
Beim Eintritt in die Suite rieche ich schon den Tee, den mir Sorano hingestellt hat. Ich genieße ihn in kleinen Schlucken und lege meine Beine auf den Tisch. Ich bin eben auch nur ein Mensch. Und der denkt jetzt gerade nicht an Ostern, sondern an seine Heimat Chile und auch an seine Familie. Meine Eltern sind schon lange tot. Nur meine Geschwister leben noch und ich rufe sie regelmäßig an. Obwohl mein Bruder nie verstanden habt, dass ich Theologie studieren wollte, so hat er es immer akzeptiert und unser Verhältnis besteht nach wie vor aus tiefer Zuneigung. Nur meine Schwester bekräftigte mich in meinem Wunsch.
„Du willst aber nicht Papst werden“, sagte sie nach meiner Priesterweihe und meinte es damit wirklich ehrlich. Ich habe die Frage damals nicht beantwortet. Man soll ja nie nie sagen. Aber geplant war das damals wirklich nicht. Zumal die ersten Jahre bei den Jesuiten alles andere als ein Zuckerschlecken waren. Die alte lateinische Weisheit, ora et labora, also bete und arbeite traf da voll zu. Trotzdem bin ich für diese Zeit sehr dankbar. Ich lernte fünf Sprachen. Italienisch, Latein, Englisch, Deutsch und Französisch und damit auch die wichtigsten Verständigungsmöglichkeiten der Welt. Und Spanisch kann ich sowieso, das ist ja meine Muttersprache.
Bis mein Sekretär mich abholt habe ich noch etwas Zeit und ich genieße die Ruhe vor dem Sturm. Der bevorstehende Kreuzgang, den ich nun zum dritten Male gehen darf, ist anstrengend. Alles spielt sich im Kolosseum ab und vierzehn Stationen sind zu bewältigen. Das hört sich für einen Außenstehenden nicht viel an. Ist es aber.
Eine beeindruckende Kulisse, in der der Kreuzweg das Karfreitagsgeschehen vergegenwärtigt, erwartet auch den Zuschauer. Christen aus den Krisen- gebieten der Welt begleiten mich und tragen das Kreuz von Station zu Station. Mir ist es wichtig in Zeiten des Terrorismus und der damit verbundenen falschen Auslegung des Wortes Jesu Christi ein Zeichen zu setzen für Solidarität.
Gut, dass ich die Andacht nicht schreiben musste und ich mich da ganz auf Kardinal Stefano verlassen kann, der das hervorragend kann. Es ist schon komisch. Tausende Menschen säumen den Weg und begleiten die gesamte Zeremonie und ich sehe niemanden wirklich. Die Andacht ist für mich ein erneutes Anwachsen der Kraft in mir, so wie es mir Pater Nicolas vor vielen Jahren vorgemacht hat. Ich sehe immer noch sein fröhliches Gesicht das auszudrücken schien: du schaffst alles, wenn der Glaube zur Kraft wird und sich in dir ausbreitet.
Daran zweifele ich nicht. Auch wenn sich derzeit Probleme auf Probleme ansammeln und sich manchmal wie zum Hohn meiner eigenen Lebensprinzipien darstellen.
Es ist ja nicht nur der Verdacht des Schwarzgeldes in der Vatikanbank oder die Missbrauchsvorwürfe gegen zwei Priester in Chile, was auch noch mein Heimatland ist. Offenbar denkt ja Mancher, die katholische Kirche ist ein Selbstbedienungsladen und wir drucken Geld im Keller so wie der Bischof von Fulda mit seiner neuen Prachtresidenz. Der Fall liegt auch noch auf meinem Tisch und muss möglichst schnell geklärt werden. Ich frage mich ernsthaft, wer so etwas genehmigt hat und wieso wir hier in Rom keine Aufsichtsmechanismen haben, die diesem Wahnsinn Einhalt gebieten.
Wir sind doch für die Menschen da und nicht umgekehrt. Wie kann man uns vertrauen wenn wir Bescheidenheit predigen und Größenwahn praktizieren? Ich könnte mich wie verrückt darüber aufregen. Doch das bringt nichts. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Solange ich aber auf dem heiligen Stuhl sitze werde ich diese Verschwendungssucht nicht mehr dulden. Das wird ein langer und schwerer Weg. Gott gebe mir die Kraft, ihn zu gehen.
Doch der Reihe nach. Was ist wichtig und was ist mir wichtig. Wichtig ist alles. Aber niemand kann alles zur gleichen Zeit tun. Also werde ich damit anfangen, was mir persönlich wichtig ist. Und das sind eindeutig die Missbrauchsvorwürfe gegen Angehörige und vertraute Mitarbeiter der katholischen Kirche. Wie viel Wahrheit steckt dahinter und wie viel Lüge und wie viel ist einfach nur dazu erfunden. Verleumdung, manche nennen es auch Mobbing, ist ja zu einem beliebten Gesellschaftsspiel geworden. Oft steckt nur eigene Unfähigkeit dahinter und natürlich Neid. Beides sind tödlichere Waffen als Kugeln oder Granaten.
Tatsache ist, dass es ein katholischer Geistlicher ungleich schwerer hat als sein protestantischer Kollege. Das Zölibat ist eines der schwersten Entscheidungen auf dem Wege in die Einseitigkeit des Priesterlebens. Gerade ich, als Befürworter der Ökumene, habe mich anfangs sehr schwer damit getan. Hier im Vatikan und bei der Ausübung meiner Tätigkeit als Papst muss ich sehr vorsichtig mit dem Thema umgehen. Ich war schließlich auch kein Waisenknabe, kann aber die Prinzipien der katholischen Kirche nicht verändern oder über den Haufen werfen. Schließlich finde ich sie richtig, sie müssten sich allerdings einer veränderten Zeit auch anpassen. Auch das ist noch ein langer Weg.
Gerade diese alten Lehren waren es, die auch mich als Jugendlichen in ein Dilemma stürzten.
Wie auch meine erste und aus heutiger Sicht leider einzige Freundin Rosemarie stamme auch ich ja aus einem streng katholischen Hause. Sex vor der Ehe ist ein absolutes No Go und wenn Sex überhaupt dann nur zur Zeugung von neuem Leben, also von Kindern. Die Eltern von Rosemarie sahen das noch wesentlich enger als meine. Ein Sonntag ohne Kirchgang war wie ein Feuer ohne Flamme. So etwas gab es nicht. Ich gehe sogar so weit zu sagen, hätten sie uns zusammen im Bett erwischt wäre das wahrscheinlich mein Tod gewesen.
Doch wir waren auch nicht anders als andere Jugendliche. Gerade Verbotenes hat eine ungeheure Anziehungskraft. Kommt dann noch Neugier, also in dem Alter sexuelle Begierde dazu, sind dem Mut zum Risiko Türe und Tore geöffnet. Also trieben wir es wie die Karnickel. Auch wenn das erste Mal kein paradiesisches Empfinden war, wir hatten beide Angst davor, so hatten wir immerhin soviel davon, um für uns selbst zu entscheiden, wir wollen mehr.
Also nutzten wir jede Gelegenheit. Rosemaries Eltern waren beide berufstätig. Eine, für unsere ländlichen Verhältnisse sehr seltene Konstellation. So wurde ihr kleines Zimmer der Himmel auf Erden. Eines Tages war Rosemarie merkwürdig verändert. Der Grund war eine Belehrung ihrer Eltern, die mich zwar kannten, von unseren Sexeskapaden aber nichts wussten. Für sie war es jetzt Zeit, man glaubt es kaum, Rosemarie war siebzehn, ihre Tochter nun aufzuklären. Das ganze dauerte einen ganzen Tag und endetet für Rosemarie mit der Erkenntnis, dass Sex vor der Ehe ein absolutes Tabu nach der katholischen Lehre sei und immer auch eine Heirat voraus hat. Für Rosemarie war es folglich gar nicht anders möglich, ein Kind als Voraussetzung für unsere Beziehung zu machen und natürlich vorher die Ehe.
Das kam für mich überhaupt nicht in Frage. Schließlich fing mein Leben erst an. Ich sah meine Eltern vor mir. Die besten Eltern der Welt. Doch mit der Ehe hatte sich jeder selbst aufgegeben.
Ich wollte aber leben. Ich wollte die großen Städte kennen lernen und viele andere Menschen und bei allen Erfahrungen, die es zu machen galt, wollte ich ich selbst sein. Und ich wollte lernen, soviel als möglich für mich und nur für mich. Das war Egoismus pur. Ich wollte etwas tun, was nicht jeder macht. Kinder zeugen gehörte nicht dazu. Und eine Ehe sowieso nicht. Das ich zig Religionsgesetze missachtet hatte, war mir weder bewusst und vor allem damals auch egal.
Der Tag von Rosemaries Wahrheit war für mich das Fallen vom Himmel auf die Erde. Nie mehr wollte ich mich von einem Mädchen abhängig machen. Und es war der erste Schritt in Richtung Priesteramt.
Rosemaries Entscheidung stürzte mich zunächst in ein Loch. Alles war doch schön. Zum Teufel mit der katholischen Erziehung. Zum Teufel mit der katholischen Kirche. Das ich eigentlich nur sauer war, meinen Willen nicht mehr zu bekommen und meine sexuelle Befriedigung nicht mehr stillen zu können wollte ich natürlich nicht zugeben. Rosemarie war schön und andere schöne Mädchen, oder so wie ich mir Schönheit vorstellte, gab es im näheren Umkreis nicht. Wie ein Alkoholiker saß ich jetzt auf dem Trockenen. Ich wollte reden und wusste nicht mit wem. Mit meinen Eltern ging das gar nicht und meine Geschwister hatten alle ihre eigenen Probleme. Blieb nur Pater Nicolas und so ging ich zu ihm.
„Ich habe ein Problem“, sagte ich und war natürlich sehr aufgeregt. Schließlich brauchte es Mut, mich einem Fremden, und das war er auch nach den zehn Jahren, in denen wir uns schon kannten, anzuvertrauen.
„Versprechen Sie mir nicht zu lachen Padre.“
So erzählte ich ihm meine Geschichte und das Wunderbare geschah. Er hörte einfach nur zu. Geduldig und ernst. Er kritisierte nicht und maßregelte nicht. Er war einfach nur da und ich konnte mich befreien. Ich merkte , wie die Klammer um meine Seele sich löste. Mein Kopf wurde frei und die Kraft, die Pater Nicolas einst beschworen hatte, machte sich im ganzen Körper breit. Als ich fertig war sagte er: „Bereust du dein tun?“
Ich muss ihn sehr verdutzt angeschaut haben, denn ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Warum? Natürlich nicht. Wir wollten es doch beide. Was soll ich da bereuen?“
„Das ist wohl war, Ernesto. Liebe ist etwas Wunderbares und Sex gehört dazu. Aber nur Sex ohne Liebe führt zu Frust und Verzweiflung. Hast du viel Frust in Dir?“
Das konnte ich nicht leugnen. Rosemarie war schön. Und ich war es, der sie haben konnte. Dabei gab es noch so viele andere Jungs. Das war es. Mein Ego war gestört. Ich wollte Rosemarie, aber nicht ihre Liebe und ich wollte meinen Körper geben, aber nicht meine Liebe. Ich senkte meinen Kopf und schaute Pater Nicolas von unten herauf an. Er sagte nichts. Ich hatte es auch so verstanden.
3
Ich schalte den Fernseher an, um mir die aktuellen Nachrichten anzuschauen. Natürlich strahlen auch Radio Vatikan oder Rai Uno Nachrichten aus. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es Radio sowie Fernsehen mit der Objektivität nicht ganz so genau sehen wie zum Beispiel CNN. Selbst Deutsche Sender scheinen offener und ehrlicher. Ich war drei Jahre in Frankfurt am Main an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, um den Ursprung der Theologie genauer zu erforschen und habe die neutrale Darstellung der Nachrichtensprecher von Tagesschau und Heute immer bewundert.
Es liegt wohl an der Osterzeit, dass sich die Welt auf sich besonnen hat und Katastrophenmeldungen heute ausbleiben. Leider werden , wenn auch nur mit einem Satz, der Missbrauch durch zwei Priester an einer deutschen Schule in Santiago de Chile erwähnt.
Das kommt zur völligen Unzeit. Klar, ein Leben lang clean bleiben ist nichts für Weicheier. Guter Wille alleine reicht nicht. Hier braucht es alle Kraft, die Gott einem verliehen hat. Während des Studiums ist die sexuelle Abstinenz ein Teil der Psychologie Ausbildung. Nur die Verinnerlichung aller Bibelinhalte und die tiefste Auseinandersetzung mit den Werten des Lebens kann zu einem Verständnis auf lebenslange Enthaltsamkeit führen.
Mir ist das alles andere als leicht gefallen. Rosemarie war wie man so schön sagt, ein steiler und auch ein geiler Zahn. Mit siebzehn ist ja nach dem ersten Mal nicht Schluss. Die Natur hat uns nun mal Gefühle und sexuelle Begierde mit in die Wiege gelegt. Wenn die Natur Gottes Werk ist und er in der Natur zu finden ist, dann ist der Paarungswunsch ein Urinstinkt. Aus christlicher Sicht ist ja der Mensch ein Teil der Natur, da Adam aus einem Klumpen Erde gemacht wurde.
Wissenschaftlich gesehen ist ja Leben aus dem Zusammenspiel von Erde Luft und Wasser entstanden. Und endet ein Leben wird es wieder zu Erde Luft und Wasser und daraus entsteht dann wieder Leben. Das nennt man Kreislauf und so entstand der Gedanke vom ewigen Leben.
Das Leben nach dem Tod wird also in einem anderem Leben wieder fortgesetzt. In Indien nennt man das zum Beispiel Reinkarnation. Und wenn nun jemand in einem Löwen wiedergeboren wird? Der mächtige Herrscher der Wüste lässt beim Sex nicht lange bitten. Zwanzig Mal am Tag ist noch seine schwache Seite. Und kleine Babys zeugen ist ihm ziemlich egal. Er will nur Spaß und hat mit den Neugeborenen nicht viel auf dem Hut. Die meisten Tierväter sind schlechte oder gar keine Väter. Wenn also Mensch und Tier aus dem Zusammenspiel von Luft Erde und Wasser entstehen haben doch alle die gleichen Urinstinkte wie den Sex. Warum ist es dann den Männern lt. katholischer Lehre untersagt, außer zum Zweck des Entstehens von Leben, Sex nur aus Freude zu haben?
Natürlich können die Bibel und viele theologische Forschungen alles erklären. Trotzdem bleiben Zweifel. Auch ich brauchte lange, um mit diesen Zweifeln leben zu lernen. Heute kann ich es, weil ich meine Aufgabe ausschließlich darin sehe, den Menschen zu dienen und sie überzeugen will, dass die Kraft Gottes in ihnen selber liegt. Dafür musste ich lernen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Auch den Sex und das ging Anfangs nur mit Androcur, einem Mittel, das die Wirkung der männlichen Geschlechtshormone hemmt. Natürlich weiß das niemand. Auch ein Papst ist eben nur ein Mensch und jeder sollte sein Geheimnis haben.
So mancher Priester hat sich gerade das Zölibat einfacher vorgestellt als es ist. Zumal es als solches ja erst seit dem elften Jahrhundert existiert und heute auch unterschiedlich in den katholischen Ostkirchen gehandhabt wird. Dort gilt es ja nicht für alle. Aber dort, wo es gilt, kann es keine Ausnahmen und keine Duldung einer Missachtung geben. Ein natürliches Bedürfnis, das wissenschaftlich betrachtet in den Genen steckt, lässt sich nicht einfach ausschalten. Auch bei einem Priester nicht. Er muss aber die Kraft haben, das Bedürfnis zu beherrschen. Die Menschen vertrauen darauf, dass Gott ihm diese Kraft gegeben hat.
Für einige war der Ausweg die Selbstbefriedigung. Und für andere ist es leider auch das Vergreifen an Kindern. Die katholische Lehre lässt aber nun mal keinen Spielraum. Wer das nicht versteht kann kein Priester sein. Mein Vorgänger hat hunderte Priester wegen des Vorwurfes des Kindesmissbrauchs entlassen. Es kann keine andere Entscheidung geben. Auch ich werde so ein Verhalten nicht tolerieren wobei ich ehrlicherweise zugeben muss, dass es mir mit 67 Jahren auch leichter fällt als einem dreißig Jährigen.
Es klopft. Ich weiß sofort, dass es mein Sekretär Kardinal Sorano ist, da ich den Klopfrhythmus erkenne. An meiner Suite steht zwar Santo Padre dran, doch hier im Gästehaus kommt es zwei drei Mal im Jahr vor, dass irgendjemand, wahrscheinlich aus Versehen, ich will ja niemandem etwas unterstellen, anklopft. Deshalb haben wir ein bestimmtes Klopfsignal vereinbart. Auf andere Klopfzeichen reagiere ich nicht. Ich mache auf und Sorano kommt gut gelaunt herein. Wie besprochen hat er die geforderten Unterlagen dabei und noch ein paar mehr.
„Ich habe mir erlaubt, auch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8520-0
Alle Rechte vorbehalten