In der Gestalt des Schwarzen Piraten ©Christina Warwel
In der Gestalt des Schwarzen Piraten
Dies ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das die Gesellschaft zwang, etwas zu sein, das es nicht sein wollte und eines jungen Mannes, den das Leben im Kampf um das Überleben in der Gesellschaft zum Piraten machte.
Diese Geschichte ist frei erfunden, Unzulänglichleiten der Personen, Orte und Handlungen liegen daher in der Unvollkommenheit der Phantasie und des Wissens ihres Erfinders begründet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind daher rein zufällig und vom Autor unbeabsichtigt.
Die meisten Informationen über die damaligen Kriegsschiffe sind Frank Adams Buch "Hornblower, Bolitho & Co.", Ullstein, August 1992 entnommen.
1. Teil
Sir David Peius setzte sich in seinem Stuhl zurecht. Mit dem Ortswechsel hatten die Probleme leider nicht aufgehört und der Gouverneursposten hatte sich als problematischer als erwartet erwiesen. Der Kommodore der örtlichen Flotte, Jack Lane, hatte per Eilbote schriftlich um eine Audienz bei seiner Ankunft gebeten und nun lag sein Schiff unten im Hafen. Also würde die Krisensitzung bald beginnen. Lane war sehr lange fort gewesen, da er allerlei Nachforschungen hatte anstellen wollen. Es standen also Neuigkeiten zu erwarten. Oder auch nicht. Bisher hatten Lanes Nachforschungen jedenfalls wenig Brauchbares ergeben. Er sollte ihm vielleicht weniger Spielraum bei lassen, so etwas konnte ein großer Fehler sein...
In diesem Augenblick wurde die Türe unsanft aufgestoßen, so daß Sir Peius jäh aus seinen Gedanken aufschreckte.
"Wo sind ihre Manieren geblieben, Mr Lane? Können Sie nicht mehr anklopfen!"
"Entschuldigen Sie bitte, ich ..."
Sir Peius war des Streites bereits überdrüssig, da er jetzt schon merkte, daß seine schlechte Laune dadurch diesmal auch nicht besser werden würde. Außerdem war es zu heiß hier. Das ganze Jahr über. Tag ein, Tag aus.
"Setzen Sie sich und kommen Sie demnächst gleich zur Sache!"
"Sir, Seine Majestät warten immer noch auf die Goldlieferung aus ihren Mienen auf dem Festland. Der Transport ist nicht angekommen, genau wie der letzte, vorletzte und vorvorletzte."
"Was soll das heißen, er ist nicht angekommen? Drücken Sie sich gefälligst klarer aus!" Ein anrollendes Gewitter war leise im Vergleich zu Sir Peius Stimme.
"Sir, die Sache ist die, daß die gesamten Waren einschließlich der Goldlieferungen vermutlich von Piraten aufgebracht wurden."
"Von Piraten," blaffte Sir Peius, "und wo, wenn ich fragen darf, sind das Linienschiff und die zwei Fregatten, die Begleitschutz fuhren? Fort? Von der See verschluckt? Mit Mann, Maus und Ratte? Versenkt, von einem einfachen Piraten?"
"Sir, wir haben in Erfahrung gebracht, daß die verschiedenen Piratenbanden, die sich hier zuweilen herumtrieben, bereits vor einiger Zeit von einem neuen Anführer vereinigt wurden, der allgemein der Schwarze Pirat genannt wird, weil keiner weiß, wer hinter der schwarzen Maskerade steckt."
"Dann stellen Sie es eben fest, verhaften ihn und hängen ihn auf!" Er hielt einen Moment inne und blickte flüchtig aus dem Fenster in den Garten. "Aber nicht wieder hier vor meinem Fenster, wie letztes Mal!"
"Jawohl, Sir! Aber wo denn sonst?"
"Da fragen Sie noch? Haben Sie denn überhaupt keinen Verstand mehr? Von mir aus hängen Sie sie auf dem Marktplatz, am Hafen oder an ihrer Großrah auf, Hauptsache bald!"
"Ich habe verstanden, Sir."
Während Kommodore Jack Lane sich umwandte und das Zimmer mit eiligen Schritten verließ, hörte er Sir Peius ihm nachrufen:
"Das will ich auch hoffen, für Sie!"
Jack Lane schmunzelte in sich hinein. Er wußte zwar nicht warum, aber es bereitete ihm eine gewisse Freude, Sir Peius ein wenig zu verärgern. Vielleicht war er etwas zu weit gegangen, mit dem Fenster? Doch dann dachte er an das, was vor ihm lag und seufzte. Die Arbeit und die Verantwortung, und somit auch das Risiko, blieben letztlich doch immer bei ihm hängen, egal ob es um das Entwerfen eines Plans ging oder um seine Ausführung, während Sir Peius grundsätzlich nur die Lorbeeren erntete.
Sir Peius spülte den Ärger mit einem Glas Rotwein herunter. Piraten, Korsaren, Freibeuter, Flibustier; er konnte es nicht mehr hören. Alle waren nur hinter dem Gold aus den Minen Seiner Majestät her und am Ende glaubte man in London noch, er habe das Gold absichtlich für sich verschwinden lassen, obwohl das natürlich lächerlich war. Seine Flotte war auf der Jagd nach den Piraten bereits von 15 auf 8 Schiffe geschrumpft und wie immer gab es keine Spur, außer großen Worten um einen schwarz gekleideten Piraten, aber keinen noch so kleinen Fetzen schwarzen Stoffes von seiner Kleidung. Und warum? Weil er von lauter unfähigen Trotteln umgeben war, die nicht in der Lage waren, ein Schiff im Kampf gegen eine Horde dahergelaufener Piraten zu verteidigen, geschweigedenn das andere Schiff selbst zu kapern! Er seufzte. Erst hatte er sich mit seiner widerspenstigen Nichte Cara herumschlagen müssen, jetzt waren es Piraten und morgen, was würde es morgen sein?
Cara stopfte ihr modernes Kleid vom britischen Hof, an dem sie zuletzt für einige Wochen gewesen war, bevor sie die lange Reise zu den westindischen Besitzungen Seiner Majestät und ihrem Onkel, dem Gouverneur Sir Peius, angetreten hatte, ohne jeden Sinn für Ordnung in ihre Reisetasche und zauberte gleich darauf ein wie frisch gewaschen und gebügelt aussehendes altes Männerhemd sowie eine Reithose daraus hervor. Während sie sich die Sachen überstreifte, dachte sie an die Erinnerungen, die mit ihnen verbunden waren, Erinnerungen an die schönste Zeit in ihrem Leben, voll Freiheit, Freude und Abenteuern. Doch dann hatte diese Zeit ein jähes Ende gefunden, als ihr Onkel ihren Geliebten angeblich wegen Diebstahls hatte verhaften und in eine Strafkolonie deportieren lassen, während er sie in die Klosterschule am Hofe gesteckt hatte.
Doch nun war sie zwei Tage früher als erwartet in der neuen Welt angekommen und diese zwei Tage würde sie genießen, denn wie sie ihren Onkel kannte, wußte der mal wieder über alles Bescheid, nur nicht über seine eigene Flotte. Die pflegte er grundsätzlich seinem Kommodore zu überlassen, damit er, wenn mal was schief ging, nicht die Verantwortung tragen mußte. Dafür trug er lieber, falls mal etwas gut verlief, Ruhm und Ehre.
Als Nächstes mußte sie dann alles versuchen, um von ihrem Onkel loszukommen, so schnell wie möglich, so gründlich wie möglich und so weit wie möglich. Die Hoffnung, ihren Liebsten jemals wiederzufinden, hatte sie ohnehin längst aufgegeben. Sie wußte noch nicht einmal, wohin er gebracht worden war.
Sie zwängte sich in ihre Reitstiefel, drückte sich ihren alten Hut mit der breiten Krempe auf den Kopf, nahm ihre Reisetasche und verließ die Kabine. Eigentlich hätte über die Reithose noch ein Reitkleid gehört, aber das war ihr zu albern. Sie wollte reiten, nicht posieren!
Die wenigen anderen Passagiere, die sich in dem engen Gang Richtung Ausgang zu schoben, starrten sie mit unverhohlenem Staunen und offensichtlicher Mißbilligung an, aber das war ihr so egal, wie kaum etwas anderes auf dieser Welt. Daran hatte auch die "gute" Schule nichts zu ändern vermocht.
Als sie schließlich endlich auf dem Steg angekommen war, dröhnte ihr bereits das Schimpfen und Fluchen der Matrosen entgegen, die gerade damit beschäftigt waren, die Pferde auszuladen. Cara steckte lächelnd zwei Finger in den Mund und stieß einen derart schrillen Pfiff aus, daß alle Leute in ihrer Nähe erschrocken herum fuhren und sie mit ärgerlichen und wütenden Blicken überschütteten.
Ein lautes Wiehern war die Antwort. Silver war eben gut erzogen, so, wie sie es von ihrem Liebsten gelernt hatte. Sie hatte ihn selbst angeritten. Nur sie konnte ihn reiten. Auch so eine Sache, wovon ihr Onkel nichts ahnte. Er dachte, sie hätte Silver gekauft, aber in Wirklichkeit war er der Bruder des Pferdes ihres Liebsten.
Am Ende des Steges sprangen nun die Leute entsetzt zur Seite und bildeten eine Gasse durch die Menschenmenge, um Silver durchzulassen. Seine silbergraue Mähne wehte in der leichten Brise, die von See herüber blies, auf, als er auf sie zu galoppiert kam und dann vor ihr stehen blieb. Sie klopfte seinen Hals, legte die Tasche über seinen Rücken und ergriff die lose herab hängenden Zügel. Damensattel, lächerlich! Sie brauchte gar keinen Sattel.
Dann schwang sie sich auf ihr Pferd und galoppierte davon, ohne auch nur einen Blick an die zurückbleibenden Gaffer zu verschwenden. Bis zum Strand war es nicht weit und nichts war schöner als auf dem Rücken eines Pferdes durch die anrollenden Wellen zu galoppieren und das hatte sie schon viel zu lange nicht mehr getan. Auf ihrem Pferd fühlte sie sich frei, wirklich frei, wenn sie so durch die Wälder reiten konnte und ihr niemand sagte, was zu tun sei. Die Frage war nur, wie lange noch?
Als die Sonne langsam unterging und den Himmel purpurrot färbte, hatte Cara längst einen Platz in den Dünen gefunden, ein Lagerfeuer entzündet und briet einen Fisch an einem Messer über dem Feuer. Es war einfach schön hier, weit ab von allen guten Manieren und höfischem Gerede, das sie im allgemeinen als Weibertratsch bezeichnete. Da wurden immer die neusten Neuigkeiten ausgetauscht, wer mit wem ein Verhältnis haben könnte und wer gerade in wen verliebt sei und anschließend wurde von einem erwartet, daß man darüber lachte. So etwas widerte sie schlicht an.
Sie schaute hinaus auf das Meer, wie es sich im Lichte der untergehenden Sonne golden zu färben schien. Soweit sie sich zurück erinnern konnte, war sie immer wieder auf See gewesen, schon von Kind an. Man könnte meinen, die See zöge sie mit einer ihr eigenen Magie an und vielleicht war es auch so.
Langsam versank die Sonne im Meer. In dieser Gegend war die Dämmerung nur kurz und bald schon wurde es ganz dunkel, doch morgen würde die Sonne wieder aufgehen und einen neuen Tag zum Leben erwecken.
Sir David Peius starrte von seinem Balkon aus in den Sonnenuntergang. Mit einem Westindienfahrer aus England, der heute nachmittag eingetroffen war, war die Nachricht vom Hof angekommen, daß seine Nichte die Schule erfolgreich absolviert habe und daß sie schon übermorgen eintreffen würde. Sie war nun 21 Jahre alt und würde in wenigen Wochen ihren 22. Geburtstag feiern, war also so gut wie erwachsen. Seit nun mehr fast vier Jahren hatte er sie nicht gesehen. Das war eine lange, sehr lange Zeit. Wie sie jetzt wohl aussah, als junge Dame?
In dieser Zeit konnte sich viel bei ihr geändert haben. Er hoffte es jedenfalls sehr. Trotzdem, Vorsicht war besser als Nachsicht. Er durfte sie nicht erst in Versuchung führen. Das mußte er um jeden Preis verhindern, damit die alte Geschichte von damals nicht wieder von vorne anfing. Die Gefahr war hier um so größer, da er kaum Zeit hatte, sich selber um sie zu kümmern. Er würde jemanden brauchen, dem er fest vertrauen konnte und der sie von jeglichen Alleingängen abhielt. Das Beste war wohl immer noch, sie schnell mit einem Mann aus guter Familie zu verheiraten, nur mit wem?
Er ging in Gedanken die Reihen der Familien und Offiziere durch, die bei seinen Festen oft eingeladen waren und in der Gesellschaft etwas darstellten. Sie mußten natürlich von einem gewissen Rang sein, nicht solche dahergelaufenen Armenkinder, die sich mehr schlecht als recht nach oben gepfuscht hatten. Eine entsprechende Sicherheit mußten sie selbstverständlich auch zu bieten haben, am Besten, sie stammten aus einer traditionsreichen Familie, die seinen Einfluß angebracht stärken würde. Ein anderer käme unter gar keinen Umständen in Frage! Wie wäre es denn mit dem Sohn des Kommodore? Zur Zeit war er Kapitän eines Zweidecker namens Victoria. Er konnte nicht über ihn klagen. Robert Lane war wahrscheinlich der beste Kapitän in seiner ganzen Flotte und eine Beförderung wäre auch an der Zeit - vielleicht als Hochzeitsgeschenk unter der Hand? Das würde, wenn er es durchblicken ließe, seiner Entscheidung sicher auf die Sprünge helfen. Schließlich war Robert Lane kein Dummkopf. Außerdem waren der Kommodore und er im Grunde doch alte Freunde und die Familie besaß sehr, sehr viel Land im Norden der Stadt.
Er war sich sicher, daß Cara eine gute Gesellschafterin abgeben würde, nachdem sie endlich gelernt hatte, was eine junge Dame ihres Standes zu wissen hatte, auch wenn es dazu erst einer Klosterschule bedurft hatte. Das war eben der Preis für ihre eigene Dummheit gewesen oder für ihre Freiheit, wie sie es nannte. Ein schöner Begriff, aber mehr auch nicht, erst recht nicht für ein junges Mädchen.
Freiheit! Wenn er dieses Wort schon hörte, kam ihm die Galle hoch. Bis jetzt hatte sie nichts als einen wahren Berg Tote hervor gebracht, geschweige denn irgend jemandem genützt und Geld eingebracht, denn ohne Geld konnte man nicht leben, das wußte doch jedes Kleinkind. Freiheit -reiner Schwachsinn war das und sonst gar nichts!
Aber was regte er sich denn jetzt noch darüber auf? Morgen würde er für eine angemessene Gesellschaft für Cara sorgen, damit sie nicht wieder auf irgend welche dummen Gedanken kam. Es würde sicher kein Problem sein, ein nettes junges Mädchen zu finden, das ungefähr in ihrem Alter war. Anschließen würde er den Kommodore informieren. Sein Sohn machte im Moment ja gerade Jagd auf irgend soein elendes Piratenschiff, vielleicht hatte er auch ausnahmsweise mal Erfolg dabei, aber wenn überhaupt einer Erfolg dabei hatte, dann wohl er. Am Besten wäre es, wenn er dieses Schiff gleich bis auf den Meeresgrund schickte, was jedoch mit zwei Zweideckern theoretisch keine allzu große Schwierigkeit sein dürfte, nachdem eine Korvette das Schiff vor der Küste entdeckt hatte.
Theoretisch. Praktisch brauchte er sich über gar nichts mehr zu wundern, nachdem, was hier schon so alles passiert war. Da hielt ein einfacher Schoner mit so ein paar Spielzeugkanönchen zwei Kriegskorvetten tagelang zum Narren, zwei Pinassen näherten sich bei Nacht unbemerkt einer Fregatte und steckten sie in Brand, eine vermeintliche Korvette lockte zwei Linienschiffe ins Kreuzfeuer zweier versteckter Batterien und so weiter und so weiter und so weiter. Er durfte gar nicht daran denken oder es raubte ihm den Verstand.
Soweit er sich erinnerte, war das Piratenschiff nur eine Fregatte, aber manche schworen ja auf diese Schiffe, gegen eine Zweidecker hatten sie allerdings keine Chance, erst recht nicht wenn sie vor einer Küste fest hingen. Dieses Mal würde die Falle zuschnappen, da wenigstens konnte er sicher sein. Schade eigentlich um das schöne Schiff. Irgend soein junger Hitzkopf von Offizier hätte sich garantiert über die Fregatte gefreut, vor allem, da sie rar waren, auch bei ihm.
Er verließ den Balkon und legte sich zufrieden mit seinem Entschluß schlafen. Es war alles getan, was getan werden mußte, um die nötigen Schritte einzuleiten, um seine Welt wieder gerade zu rücken. Damit war die Sache vorerst für ihn erledigt.
Donner riß Cara aus ihrem Schlaf. Ein nahendes Gewitter? Sie öffnete erschreckt die Augen und blinzelte dann vorsichtig in den strahlenden Sonnenschein, während sie sich langsam aufrichtete und sich umsah. Es war wohl doch kein Gewitter, zumindest war am ganzen Himmel nicht eine einzige Wolke zusehen. Trotzdem hätte sie schwören mögen, daß es irgend wo gedonnert hatte. War sie jetzt schon so weit, daß sie noch nicht einmal mehr im Schlaf ihre Ruhe hatte und von Donner träumte, bevor er da war?
Sie zog die linke Augenbraue hoch und schielte in Richtung Wasser. Ein merkwürdiger Brandgeruch lag in der Luft, obwohl das Feuer, das sie gestern abend entzündet hatte, schon längst völlig niedergebrannt war. Seltsam. War sie am Ende doch nicht so alleine hier, wie sie vergangenen Abend nach eingehender Untersuchung der Umgebung gedacht hatte?
Cara lauschte aufmerksam in Richtung See, denn der Wind kam von dort und mußte ihr demnach auch den brenzligen Geruch in die Nase treiben. Da war das Donnern wieder. Es war ganz deutlich zu hören. Mit einem Mal wurde Cara alles klar. Zu tief hatte sich das Geräusch in ihrer Erinnerung eingegraben, als daß sie es je würde vergessen können. Das war Kanonendonner. Daher kam auch der brenzlige Geruch. Wahrscheinlich befanden sich irgend wo hinter dieser Bucht zwei oder auch mehr Schiffe in einem Gefecht, da hier sonst weit und breit nichts war, was Kanonen besaß. Allerdings mußten die Schiffe ziemlich nah an Land sein, falls sie die Richtung richtig einschätzte. Aber das war gut möglich, wenn sie es sich recht überlegte, denn jetzt war schließlich gerade Flut.
Cara sah sich nach Silver um. Sie wollte Genaueres wissen. Er stand auf halber Höhe einer Düne und spitzte die Ohren in Richtung der nächsten Bucht, die aber hinter einer bewaldeten Landzunge verdeckt blieb. Sie schob sicherheitshalber mit dem Fuß Sand über die Feuerstelle, damit sie nicht so leicht auffiel und ihre Anwesenheit verriet, dann pfiff sie Silver heran. Dieser stieg auf die Hinterhand, warf sich herum und kam zu ihr her galoppiert. Sie schnappte sich ihre Reisetasche, sprang auf den Rücken ihres Pferdes und jagte los, immer dem ständig lauter werdenden Donner nach. Kurzentschlossen kürzte sie ein Stück der weit ins Land hinein gedehnten Bucht ab, indem sie geradewegs quer durch die Bucht auf die Landzunge zu ritt.
Das aufspritzende Salzwasser durchnäßte ihre Kleidung, aber was schadete schon eine morgendliche Dusche? Bei der Sonne hier war sie ohnehin im Nu wieder trocken. Als sie die andere Seite der Bucht erreichte, sah sie mit einem Mal einen schmalen Trampelpfad, der offensichtlich über die Landzunge hinweg zur nächsten Bucht führte. Sie folgte dem Weg. Bereits nachdem sie wenige Meter zurückgelegt hatte, konnte sie einige Masten von den Baumwipfeln unterscheiden, die anscheinend zu drei Schiffen gehörten. Kurz bevor sie die andere Seite der Landzunge erreichte, sprang sie vom Pferd, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, da sie es für besser hielt, ungesehen zu bleiben. Silver ließ sie zwischen den Bäumen und Büschen zurück. Das Wasser reichte hier fast bis an die Stämme heran. Sich an den Stamm einer ausladenden Palme lehnend überblickte sie die nun vor ihr liegende Bucht.
Zwei Zweidecker hatten eine wohl in der Bucht ankernde Fregatte angegriffen und sie bereits völlig entmastet. Wahrscheinlich war sie morgens, als die Besatzung noch halb schlief, überrascht worden. Zwischen ihrer im Wasser treibenden Takelage konnte Cara sogar Verletzte und Tote treiben sehen, doch obwohl die Fregatte das Feuer längst eingestellt hatte, schossen die beiden Zweidecker munter weiter auf sie.
Warum nur? Was hatten die Kommandanten der anderen beiden Schiffe davon, wenn sie die Fregatte versenkten, außer einen Berg Munition weniger? Sie war doch immerhin eine ganz nette Prise. Die Antwort wurde ihr schlagartig klar, als sie die Überreste einer Flagge, die sich an dem Stumpf des am Mastkorb abgeschossenen Großmastes verfangen hatten, erkannte: Piraten!
Cara drehte, innerlich zu einer Salzsäule erstarrt, dem Gefecht den Rücken zu. Was sollte sie nun davon halten? Sicher, Piraten waren Räuber, aber ... sie wußte nicht recht. Immerhin waren es auch Menschen.
Schließlich hörte das Donnern der Kanonen auf und als Cara sich wieder dem Geschehen zuwandte, setzten die Linienschiffe gerade Boote aus, die Kurs auf die zu einem Wrack verarbeitete Fregatte nahmen. Das Wasser in der Bucht schimmerte rötlich verfärbt vom Blut der Toten und Verletzten auf den Überresten der sicher einst stolzen Fregatte; es sah aus, als sei es das Schiff selbst, das da verblute und nicht die Menschen. Fast wirkte es wie ein Lebewesen, das eben seinen letzten Kampf bis zum blutigen Ende gekämpft hatte, ohne auch nur einen Augenblick an Aufgabe zu denken.
Dann sah Cara, daß die Piraten auf der den Zweideckern abgewandten Seite über Bord sprangen und so schnell wie möglich auf das rettende Land zu schwammen, während die Boote dem Wrack immer näher kamen. Erstaunlicherweise, so stellte Cara fest, konnten die meisten Piraten recht gut schwimmen. Während die Ersten das Ufer bereits erreichten, blieben einige bei dem Versuch, ihre verletzten Kameraden zu retten, immer weiter zurück. Auf der anderen Seite waren die ersten Boote fast beim Schiff angekommen. Allerdings schienen sie noch auf die Nachzügler warten zu wollen, um gemeinsam die Fregatte entern zu können. Mittlerweile verschwanden dafür immer mehr Piraten im nahen Wald. Wenn sich die Boote nicht beeilten, würden bald alle verschwunden sein, auch die Verletzten, und in dem dichten Urwald würden sie nur schwerlich zu finden sein!
Jetzt schickten sich die ersten Boote an, am Wrack anzulegen und einige Matrosen kletterten am Fallreep hoch. Gleichzeitig wurde Cara gewahr, wie auf der anderen Seite in dem Augenblick, in dem die ersten Matrosen an Deck ankamen, eine Gestalt plötzlich kopfüber ins Wasser sprang und in demselben verschwand. Während Cara noch das Wasser nach ihr absuchte, legten zwei weitere Boote an den Überresten der Fregatte an. Da, urplötzlich, schoß eine meterhohe Feuersäule aus dem Schiffsinneren in den Himmel empor, deren Licht so hell war, daß es selbst bis zur dunkelsten Stelle des Waldes vorzudringen schien. Dem folgte unmittelbar mit ohrenbetäubenden Krachen eine derart gewaltige Explosion, daß die Wrackteile bis hin zu der Landzunge, auf der Cara sich befand, geschleudert wurden. Die Fregatte mußte mehr Pulver an Bord gehabt haben als Lebensmittel.
Obwohl direkt neben Cara der Rest einer brennenden Stenge zu Boden fiel, rührte diese sich nicht von der Stelle, sondern starrte nur wie gebannt in das schnell kleiner werdende Feuer derselben, bis es völlig erlosch, als die Überreste im Meer versanken. Erst als am Ufer einige Schüsse knallten, fand Cara nach und nach wieder in die Wirklichkeit zurück.
Mittlerweile hatten die beiden verbliebenen Beiboote den Strand erreicht und die Besatzungen waren herausgesprungen, um die Boote an Land zuziehen, während eine Abteilung Marinesoldaten die Verfolgung der Piraten aufnahm. Wieder krachten einige Schüsse und Cara sah, wie kurz vor dem Waldrand der letzte Nachzügler in den Sand stürzte. Es mußte die Gestalt gewesen sein, die zuletzt über Bord gesprungen war. Nun löste sich ein Mann, der Uniform nach ein Kapitän, aus der Gruppe der Seeleute und ging langsam auf die Gestalt zu, wobei er sicherheitshalber mit seiner Pistole auf sie zielte. Inzwischen hatte ein Leutnant auch an die Matrosen Schußwaffen ausgeteilt, die nun ihrem Kapitän für den Fall der Fälle folgten. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf den Waffen wieder und warfen Lichtreflexe zu Cara herüber. Es hätte ein schöner Frühsommertag sein können.
Cara beobachtete, wie sich der Kapitän vor der Gestalt hinhockte, um sie genauer betrachten zu können. Doch noch bevor er diese richtig ins Auge gefaßt hatte, schlug diese auf einmal blitzschnell die Pistole mit der Hand zur Seite, so daß der Schuß, den der Kapitän noch abfeuerte, sie verfehlte und irgend wo im Wald einige Vögel aufscheuchte. Im nächsten Augenblick rannte die Gestalt schon auf die Bäume zu, wobei sie den überraschten Kapitän einige Schritte mit sich riß, damit die übrigen Besatzungsmitglieder nicht auf sie schießen konnten, wenn sie nicht riskieren wollten, ihren eigenen Vorgesetzten zu verletzen oder gar zu erschießen. Dann stieß die Gestalt den Kapitän von sich und verschwand im Wald. Doch gleichzeitig gelang es dem Kapitän noch im Fallen auf die fliehende Gestalt zu zielen und den zweiten Schuß abzufeuern. Für Cara war es jedoch unmöglich zu erkennen, ob er sie noch getroffen hatte oder nicht. Dafür glaubte sie aber um so deutlicher die Wut des Kapitäns zu spüren, als er nun wieder aufstand und seinen Leuten befahl, sich ebenfalls auf die Suche nach den Piraten zu machen.
Cara entschied sich, die Zeit zu nutzen und sich näher an den Ort des Geschehens heranzuschleichen. Vielleicht konnte sie verstehen, was gesprochen wurde. Sie ging ein Stück auf dem Trampelpfad, den sie gekommen war, weiter, wandte sich dann nach links, bis sie sich hinter dem Waldsaum versteckt der zurückgebliebenen Gruppe Seeleute nähern konnte. Dabei gab sie alle Acht, um nicht aus Versehen auf ein trockenes Stück Holz oder dergleichen zu treten und sich somit zu verraten. So verstrich eine ganze Weile, bis sie nahe genug an die Zurückgebliebenen herangekommen war, um hören zu können, was gesprochen wurde, doch trotzdem mußte sie noch eine schier endlose Zeit lang warten, bis endlich die ersten Marinesoldaten wiederkamen. Während vier von ihnen zwei Piraten vor sich her trieben, schleiften zwei weitere einen an den Armen hinter sich her, da dieser ziemlich schwer verletzt worden zu sein schien, oder zumindest so, daß er nicht selber laufen konnte. Cara glaubte in diesem die Gestalt von vorhin wiederzuerkennen, war sich aber nicht ganz sicher, da sie sie vorhin nur von weitem gesehen hatte und jetzt das hohe Schilf, das sie verbarg, ihre Sicht verdeckte, so daß sie die Personen am Strand nur teilweise sehen konnte. Jedenfalls zogen die Soldaten die Gestalt bis zu dem Kapitän und ließen sie vor seinen Füßen fallen. Dabei fiel Cara auf, daß die Gestalt im Gegensatz zu den beiden anderen Piraten kein Hemd trug.
"Wie heißt du?" fragte nun der Kapitän.
"Was soll ich Dir meinen Namen sagen, wenn Du mir Deinen Namen auch nicht gesagt hast."
"Du wirst noch darum bitten, ihn noch einmal aussprechen zu dürfen, wenn Du erst aufgeknüpft wirst!"
"Reine Zeitverschwendung. Das ist doch nichts Neues."
"Dir wird dein unverschämtes Gerede noch vergehen, wenn der Gouverneur sich Dich erst vor nimmt. Bei ihm haben noch alle wie die Vöglein auf dem Baum gesungen, sofern sie noch die Kraft hatten, ihre Zunge zu bewegen!"
"Die Mühen könnt Ihr Euch sparen, das kann ich auch hier tun."
"So? Dann beantworte mir meine Fragen!"
"Piep- Pieppiep - Piep - Piep."
Einen Moment lang schaute der Kapitän die Gestalt an, als wolle er sie gleich hier aufhängen, dann wandte er sich ruckartig von ihr ab und bellte:
"Bringt sie alle unter Deck und sorgt dafür, daß sie lebendig im Kerker ankommen! Na los, wird's bald! Was steht ihr hier noch herum wie die Ölgötzen? Denkt ihr, ich wollte Weihnachten noch hier steh'n?!"
Cara registrierte im Unterbewußtsein, während die Seeleute langsam dem Befehl nachkamen, daß nach und nach auch die übrigen Marinesoldaten und Matrosen zurückkehrten, ohne allerdings Erfolge ihrer Verfolgung vorweisen zu können. Aber das war jetzt nebensächlich. Viel wichtiger war, daß die Piraten zu ihrem Onkel gebracht werden sollten und zwar in den Kerker. Das bedeutete, daß sich der Kerker in seinem Haus befand. Also war seine Residenz wohl so eine Art Festung. Das eröffnete ihr ungeahnte Möglichkeiten, doch erst brauchte sie einen Plan und das schneller als gewöhnlich. Morgen konnte es schon zu spät sein.
Cara mußte noch eine ganze Weile warten, bis alle and Bord zurück gekehrt waren und die Schiffe aus ihrem Blickfeld verschwanden, aber sie hatte schon so lang gewartet, da kam es da auch nicht mehr drauf an. Dann verließ sie ihr Versteck, zog ihre Reitstiefel aus und ging langsam durch die anrollenden Wellen in die Bucht hinaus, bis das Wasser tief genug war, daß sie schwimmen konnte.
Als der Abend ins Land zog, hatte Cara ihren Entschluß gefaßt. Manchmal mußte einem eben doch erst der Zufall zu Hilfe kommen, bevor man zu einem Entschluß kam. In diesem Fall hatte ihr das Schicksal zwar nicht mit einem Zaunpfahl gewinkt, aber ihn ihr dafür im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme getrieben und da man einen Wink des Schicksals nicht unbeachtet lassen soll, hatte sie ihn gleich in ihren Koffer gepackt.
2. Teil
Robert Lane suchte den Hafen mit den Augen ab, aber weit und breit war niemand zusehen, auf den Sir Peius' Beschreibung seiner Nichte auch nur annähernd paßte. Er war ja auch hoffnungslos verspätet, da brauchte ihn das nicht zu wundern. Erst hatte er gehofft, Cara zu verpassen, aber dann waren ihm die Folgen erst richtig zu Bewußtsein gekommen und er hatte sich überlegt, daß es das Beste sein würde, wenn er es erst einmal mit Cara versuchte. Schließlich konnte er schlecht von Luft und nicht vorhandener Liebe allein leben. Sicher, sein Vater war Kommodore und sein Sold bei Sir Peius war nicht schlecht, aber irgend wo hatte er, Robert, auch ein Recht auf Erfolg und Karriere.
Außerdem war Cara vielleicht sogar ganz nett; gut, sie war einige Jahre jünger als er, aber was bedeutete das schon? Sicher wußte die Besitzerin der Hafenkneipe etwas. Sie wußte immer jede Neuigkeit zuerst, besonders wenn diese Neuigkeit Fremde betraf. Er befahl dem Kutscher seines Vaters anzuhalten und stieg aus. Die Hafenkneipe gehörte nicht zu denen, in denen man nur den Abschaum der Menschheit antraf, denn dann hätte Sir Peius sie längst geschlossen, sondern zu denen, in denen jeder ehrliche Mann immer eine Bleibe finden würde. Zögernd trat er ein.
Zu dieser Zeit war der Speiseraum fast leer und nur an der Bar saßen einige Männer, zumeist Fischer, und unterhielten sich erregt über ein Thema. Dann erst sah er die junge Frau, die an einem Tisch am Fenster saß und eine Tasse langsam in den Händen hin- und herdrehte. Ihre blonden Haare reichten gerade mal bis etwas über ihr Kinn hinaus und wurden von einem Band nach hinten gehalten. Er hatte zwar schon einige Seeleute kennengelernt, die ihr Haar gemäß der neuen Mode kurz trugen, aber ein Mädchen mit so kurzen Haaren war ihm noch nicht begegnet. Ihr Kleid war wohl auch nach der neusten Mode geschnitten und aus bestimmt nicht ganz billigem Stoff angefertigt. Mit einem Mal gab es für ihn keinen Zweifel mehr: Das war Cara Peius. Allerdings sah sie ihrem Onkel nicht allzu ähnlich. Aber das war unwichtig. So wie sie aussah, gefiel sie ihm gut, besser als er erwartet hatte. Zugegeben, sie war nicht direkt schön, aber hübsch. Robert Lane schluckte, als ihm klar wurde, daß er sie nun wohl schon eine ganze Weile lang angestarrt haben mußte. Er trat an ihren Tisch, doch sie sah nicht zu ihm hin, obwohl er ihr genau gegenüber stand.
"Entschuldigen Sie bitte, meine Dame, sind Sie Miss Peius?"
Cara sah auf. Robert Lane blickte geradewegs in ihre Augen. Sie waren grün wie die Augen einer Katze. Sie lächelte ihn freundlich, aber unbestimmt an.
"Ja, das bin ich. Und mit wem habe ich die Ehre?"
"Mein Name ist Robert Lane. Ihr Onkel schickt mich, um Sie abzuholen. Er ist leider verhindert."
"So? Woher kennen Sie denn meinen Onkel?"
Nichts verriet, was sie dachte oder empfand, obwohl sie immer noch freundlich lächelte.
"Ich bin Kapitän in seiner Flotte, aber erst seit kurzem. Mein Vater ist Kommodore."
"Kapitän? Das ist aber interessant. Wo liegt denn Ihr Schiff? Ich habe im Hafen keines gesehen."
Kein bißchen Ironie schwang in ihren Worten mit, nur Interesse, echtes Interesse, wie Robert Lane zu seinem Erstaunen feststellen mußte.
"Ich war gestern in ein Gefecht mit Piraten verwickelt, aber wir konnten ihr Schiff versenken und drei von ihnen gefangen nehmen. Sie müssen wissen, daß wir hier in letzter Zeit große Probleme mit Piraten und Freibeutern hatten, aber ich denke, gestern konnten wir ihnen eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht wieder vergessen werden. Leider ist mein Schiff bei diesem Gefecht auch beschädigt worden und daher liegt es jetzt im Dock. Aber wollen wir uns nicht erst auf dem Weg zu ihrem Onkel machen? Sie werden sich sicher freuen, ihn wiederzusehen."
"Oh ja, natürlich."
"Darf ich ihnen ihr Gepäck abnehmen? Ich bin mit einer Kutsche hergekommen, um Sie abzuholen."
"Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen. Mein Gepäck steht dort drüben in der Ecke. Ich habe allerdings noch mein Pferd dabei."
"Das ist kein Problem. Wir können es hinten anbinden. Also, geh'n wir."
Seltsam, für einen Moment hatte er gedacht, Cara schien alles andere als begeistert zu sein, ihren Onkel wiederzusehen, zumindest hatte er das Gefühl gehabt, daß ihre Antwort etwas unecht geklungen hatte, als er gesagt hatte, sie werde sich sicher freuen, ihren Onkel wiederzusehen, aber wahrscheinlich täuschte er sich und sie gehörte einfach nur zu den zurückhaltenderen Menschen dieser Zeit. Er holte ihr Gepäck, wobei er nicht umhin kam, sich darüber zu wundern, daß es aus nur einer Reisetasche bestand, die noch nicht einmal sonderlich schwer war. Sie hatte wohl auf der Reise hierher nicht mehr mitnehmen können, denn was seine bisherigen Erfahrungen mit Frauen betraf, so schleppten diese meist einiges an Gepäck mehr mit, allerdings mußte er einräumen, daß seine diesbezüglichen Erfahrungen nicht allzu groß waren.
Sie gingen langsam hinaus. Nachdem sie ihr Pferd aus dem Stall neben der Hafenkneipe geholt hatte und er ihre Reisetasche auf dem Dach der Kutsche verstaut hatte, betrachtete er das Pferd, das Cara gerade hinten anband, genauer. Er verstand zwar nichts von Pferden, denn schließlich war er Seemann, aber trotzdem sagte ihm sein Verstand, daß dieses Pferd so etwa das sein mußte, was man unter einem herrlichem Tier verstand. Es hatte eine silbergraue Mähne und einen gleichfarbigen Schweif, während es sonst mehr schwarz war. Von allen Pferden, die er je gesehen hatte, und das waren ziemlich viele, denn sein Vater züchtete nebenbei aus für ihn unverständlichen Gründen Pferde, war das entschieden das schönste.
Er half Cara in die Kutsche und setzte sich ihr gegenüber hin. Langsam setzte sich die Kutsche in Bewegung und rumpelte ebenso langsam durch die Straßen. Robert Lane war das nur recht. Nicht nur, daß er schon immer gerne gemütlich durch die belebten Straßen der Stadt gefahren war, sondern auf diese Weise konnte er auch noch eine Weile mit Cara zusammen sein. Er sagte:
"Das ist wirklich ein schönes Pferd, das Sie da haben. Wie heißt es eigentlich?"
"Silver. Ich habe ihn jetzt seit etwa sechs Jahren. Als ich ihn bekommen habe, war er gerade drei Jahre alt. Ein Jahr später konnte ich ihn dann anreiten, aber im Grunde ist er immer noch ein Wildpferd, das seinen eigenen Willen hat, den man ihm auch lassen muß, denn sonst würde er sich gar nicht reiten lassen. Mir ist das nur recht, denn die Hauptsache ist, daß auf ihn Verlaß ist, wenn's sein muß und Silver ist treu wie ein Hund."
"Sie reiten wohl sehr viel."
"Oh ja, eigentlich immer, wenn es nur irgend wie möglich ist."
"Tija, ich bin leider kein besonders guter Reiter. Ehrlich gesagt, ich habe nur höchst selten auf einem Pferd gesessen, obwohl mein Vater recht viele Reitpferde hat und auch jetzt noch ziemlich oft ausreitet."
"Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie mit meinem Gerede über Pferde gelangweilt habe. Ich vergaß wohl, daß Sie Kapitän sind. Erzählen Sie mir doch mehr davon. Es ist sehr interessant. Sie haben mich mit ihrer Geschichte über die Piraten neugierig gemacht. Was sind das für Leute und warum tun sie so etwas?"
Cara musterte Robert Lane dabei unauffällig genauer. Er hatte schwarze Haare, die er der Tradition gemäß im Nacken zu einem Zopf zusammen gebunden hatte. Sonst war er eher von untersetzter Statur und unscheinbar. Das einzig Auffallende an ihm waren seine grauen Augen. Sie erinnerten ein wenig an Eis.
"Nein, nein, gelangweilt haben Sie mich wirklich nicht. Es wird eigentlich schon lange Zeit, daß ich mal ein bißchen besser reiten lerne. Bisher war ich meist nur auf See und hatte mit Pferden nichts zu tun, aber das heißt ja nichts. Doch zurück zu Ihrer Frage. Seit einiger Zeit treiben hier mehrere Piratenbanden, oder wie man sie auch immer nennen will, ihr Unwesen. Wer ihr Anführer ist, weiß keiner oder wenigstens geben das alle vor, denn wir haben Grund zur Annahme, daß er Verbündete in der Bevölkerung hat. Na ja, jedenfalls wird er allgemein wegen seiner schwarzen Maskerade der Schwarze Pirat genannt. Richtig angefangen hat das ganze Theater erst vor ungefähr etwas mehr als zwei Jahren. Bis dahin haben sie hin und wieder mal ein leichtes Handelsschiff überfallen und ausgeraubt und sich anschließend auch schleunigst wieder in ihren Schlupfwinkeln verkrochen, aber dann hat sich diese Piraterie wie eine Seuche ausgebreitete. Wir nehmen an, daß der Schwarze Pirat die einzelnen Banden damals unter seiner Führung vereinigt hat, um fortan auch größere Schiffe angreifen zu können. Mittlerweile sind sie so stark geworden, daß sie sogar unsere Goldtransporte von den Minen Seiner Majestät auf dem Festland überfallen. Auffallend ist, daß sie immer bestens Bescheid wissen, wann, wo und wie sich ein Goldtransport auf den Weg macht. Daher sind wir auch recht froh darüber, daß wir gestern drei von ihnen gefangen nehmen konnten. Von ihnen erhofft sich der Gouverneur nämlich nähere Informationen über ihre Organisation und ihre Verbündete. Natürlich muß er diese Burschen erst mal ordentlich bearbeiten, bevor sie überhaupt nur den Mund aufmachen, aber wenn er sie dann erst mal richtig ausgefragt hat, dann werden sie aufgehängt, wie alle Piraten. Jetzt verspricht er ihnen natürlich, sie frei zulassen, falls sie ihm brauchbare Informationen liefern, aber das wäre selbstverständlich eine Torheit, bei dem, was die alles mit ihren Gefangenen machen, wenn sie mal welche in die Finger bekommen. Ich habe da schon Dinge gehört, demnach es direkt harmlos ist, wenn man den Haifischen zum Fraß vorgeworfen wird."
"Das ist ja furchtbar! Wie können Menschen nur so grausam sein?" Sie durfte es mit ihrer Neugier nicht übertreiben, sonst wurde das zu auffällig.
"Tija, ich fürchte das weiß keiner so recht."
"Das muß für Sie wirklich nicht einfach sein, gegen solche Bestien zu kämpfen und gefährlich dazu, aber vielleicht könnten wir jetzt lieber über etwas anderes sprechen, sonst bekomme ich im Nachhinein noch Alpträume, wenn ich nur daran denke, was alles auf der Fahrt hierher hätte geschehen können."
"Glauben Sie mir, ich wollte Sie damit nicht erschrecken. Wir sind hier wahrscheinlich schon so sehr davon vereinnahmt, daß wir das Tun der Piraten bald als normal ansehen, aber Sie sind ja noch nicht so lange hier. Da werden Sie sich mit der Zeit schon noch dran gewöhnen, da bin ich mir sicher."
Cara wußte nachher nicht mehr, worüber sie noch geredet hatte, denn es war belanglos gewesen, viel wichtiger war, was sie bis dahin erfahren hatte.
Als sie die Residenz des Gouverneurs erreicht hatten, ließ Robert Lane es sich nicht nehmen, Cara persönlich zu ihrem Onkel zu begleiten, während Stallknechte für Silver sorgten. Er betrachtete sie von der Seite. Die kurzen Haare standen ihr gut, wahrscheinlich viel besser als lange und auch die grünen Augen paßten zu ihrem Gesicht, zu ihrem unbeschreiblichen Lächeln, das ihm an ihr auf Anhieb so gefiel. Nein, sie war keine widerspenstige Wildkatze, sondern wie ein lachender Frühlingsmorgen, der die Nacht vertrieb.
Cara staunte nicht schlecht über den Luxus, in dem ihr Onkel lebte: Da war zuerst einmal der riesige, von einer Mauer umgebene Garten mit den vielen exotischen Zierpflanzen, den Gartenteichen mit den kleinen Schillerschwanzgoldfischen und den schattigen Wegen. Nein, dies war auch kein Garten mehr, sondern ein ausgewachsener Park. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wofür ihr Onkel einen derart großen Park brauchte. Schließlich brauchten seine vielen Gäste auf den noch häufigeren Gesellschaften genügend Platz, um auch einmal ein paar ruhige Minuten in trauter Zweisamkeit verbringen zu können.
Nun, ein großer Garten hatte auch seine Vorteile, denn noch konnte ihr Onkel sich nicht in mehrere Teile aufteilen, um selbst seine Augen überall zu haben und andere waren nicht immer so loyal, wie sie es eigentlich sein sollten, besonders nicht wenn es um ihren Onkel ging, wie sie bei früheren Gelegenheiten schon oft zu ihrer Freude festgestellt hatte.
Dann gelangten sie durch ein Tor in den Innenhof des Hauses, der von einem Säulengang begrenzt wurde. Darüber lagen die Wohnräume und Säle mit etlichen Balkonen nach innen und außen gleichermaßen. Die Bediensteten wohnten anscheinend in den Räumen hinter dem Säulengang. Viel Luxus erfreuten sie sich dort allerdings sicher nicht, denn wenn sie nicht alles täuschte, waren diese Räume ursprünglich eher im Stil einer Festung angelegt wurden, so daß sie sich kaum der Bequemlichkeit der oberen Räume erfreuen durften, obwohl die oberen Zimmer sicher nicht minder wehrhaft waren. Wo Sklaven und Deportierte arbeiteten, war man eben nie vor einem Aufstand sicher und das kam nach ihrer Einschätzung auch nicht von ungefähr, fast würde sie sagen: selber schuld.
Sie grinste heimlich vor sich hin. Man konnte es sich also leisten; nur woher kam der plötzliche Reichtum?
Durch ein weiteres offenstehendes Tor konnte Cara in einen zweiten Innenhof sehen, der offensichtlich von den Stallungen gebildet wurde. Robert Lane führte sie eine Treppe hinauf in einen langen Gang, von dem verschiedene Türen abzweigten. Wahrscheinlich verlief er einmal rundum. Große Kronleuchter mit langen Kristallglasketten hingen in regelmäßigen Abständen von der Decke herunter und warfen schemenhafte Schatten durch ihr unwirkliches Licht an die Wand. Hier und da standen kunstvoll geschnitzte Möbel in dem Flur und Portraits früherer Gouverneure schmückten die Wand. Ihr neues Zuhause gefiel Cara sofort, das einzige, was in ihren Augen störte, war der übertriebene Prunk.
Vor einer Türe machten sie Halt und Robert öffnete, nachdem er energisch angeklopft hatte, sie ihr. Sie betraten einen Raum, dem es weder an Größe noch an kostbarer Einrichtung mangelte. In den weichen Perserteppichen auf dem Boden glaubte Cara fast zu versinken und an den Wänden hingen Wandteppiche von solcher Größe, daß sie sie um nichts in der Welt würde reinigen wollen müssen. Rechts von ihr stand ein Regal aus Mahagoni, das von kunstvoll bemalten asiatischen Vasen über große Kristalle aller Art bis zu einigen Bücher scheinbar alles nur Erdenkbare enthielt. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie in eine dieser Vasen geschaut hätte und festgestellt hätte, daß sie bis zum Rand mit Halbedelsteinen gefüllt war anstatt mit Blumen, überhaupt, in dem Zimmer stand nicht eine einzige Blume und was die Bücher betraf, so würde sie jede Wette eingehen, daß ihr Onkel nicht eines von ihnen gelesen hatte.
In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, der natürlich auch aus Mahagoniholz angefertigt worden war. Da brauchte sie erst gar nicht hinsehen. Anscheinend war dieser Raum das Speisezimmer, denn der Tisch war fertig gedeckt, und ihr Onkel schien nur noch darauf zuwarten, daß das Essen serviert wurde. Jetzt stand er auf und kam mit dem strahlendsten Lächeln, das er aufsetzen konnte, wenn er schlechte Laune hatte, auf sie zu. Er hatte sich, seit sie ihn das letzte Mal in England gesehen hatte, nicht im Geringsten verändert. Er war immer noch ein bißchen mehr als für Leute seines Schlages üblich zu dick und trug ein teures Seidenhemd mit einer passenden Hose, die aussah, als käme sie geradewegs vom Schneider, was auch für das Hemd zuzutreffen schien. Alles war wie immer vollkommen makellos, ja perfekt, als würde alles von seiner Kleidung abhängen, als würde sie ihn zu einem besseren Menschen machen. Kleider machten vielleicht Leute, aber nicht Menschen und auf den Menschen kam es letztlich einzig und allein an.
"Endlich seid Ihr angekommen! Ich hatte schon befürchtet, ich müßte ohne Euch essen. Mr Lane, Sie bleiben doch hoffentlich zum Abendessen hier, da Sie sicher noch keine Gelegenheit dazu hatten." Hatte er auch nichts vergessen, was er sich vorher überlegt hatte, zusagen?
"Es tut mir schrecklich leid, Sir David, aber leider erwartet mich mein Vater, weil er noch etwas wichtiges wegen der Piraten mit mir zu besprechen hat. Sie werden sicherlich besser Bescheid wissen als ich, worum es geht, da Sie ja schon heute morgen mit ihm gesprochen haben."
"Oh ja, natürlich. Bei den ganzen Problemen, die täglich auf mich zukommen, hatte ich das doch ganz vergessen. Dann hoffe ich, daß Sie uns bald wieder mit Ihrem Besuch beehren und danke Ihnen dafür, daß Sie so freundlich waren, meine Nichte abzuholen."
"Keine Ursache, es war mir ein Vergnügen." Robert Lane gab sich einen kurzen, innerlichen Ruck, dann fügte er hinzu: "Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir David, würde ich gerne morgen früh mit Ihrer Nichte ausreiten?"
"Natürlich habe ich nichts dagegen. Im Gegenteil, ich freue mich, wenn Sie sich gut mit ihr verstehen. Miss Julia wird Sie natürlich begleiten. Dann bis Morgen."
"Bis Morgen." Damit verschwand Robert Lane wieder.
"Also, liebste Nichte, da nun das Essen doch noch aufgetragen worden ist, bevor ich verhungert bin, könnten wir wohl zum Abendessen übergehen. Ich werde dringend mal ein ernstes Wörtchen mit der Köchin reden müssen. So geht das nicht mehr weiter!" Sir David Peius legte eine kleine Kunstpause ein, bis er sich wieder gesammelt hatte und sprach dann mit ruhiger Stimme weiter:
"Du hattest sicherlich eine anstrengende und lange Reise bis hierhin. Du mußt mir alles genau erzählen. Aber setz' Dich erst einmal hin. Beim Auspacken kann Dir Miss Julia später helfen. Sie ist in deinem Alter und wird Dir etwas Gesellschaft leisten, da ich in nächster Zeit sehr viel zu tun haben werde."
Viel zu tun? Daß sie nicht lachte! Seit wann tat ihr Onkel selber etwas? Das überließ er doch sonst immer den Anderen!
"Also, viel zu erzählen gibt es da wenig. Wir hatten recht gutes Wetter und die wenigen Passagiere waren ganz nett. Mit der Besatzung hatten wir so gut wie gar keinen Kontakt und das einzige Problem bestand in meiner Seekrankheit. Mir wurde dauernd übel. Aber jetzt bin ich ja endlich hier und ich hoffe, daß bis zu meiner nächsten Seefahrt erst einmal ein paar Jahre vergehen. Nun mußt Du mir aber auch mal einiges erzählen. Mr Lane sagte, ihr hättet hier Probleme mit Piraten und ihr hättet sogar drei eingefangen."
Cara beobachtete ihren Onkel bei ihren letzten Worten genau. Sie hoffte, der Anstoß reichte aus, um ihren Onkel zum Reden zubringen. Normalerweise mußte er sich über eine Sache, die ihn beschäftigte, erst einmal gründlich ausreden, sozusagen sich seinen ganzen Unmut darüber von der Seele reden, bevor er seine Gereiztheit wieder unter Kontrolle hatte. Von diesem Rededrang hatte sie schon oft profitiert, doch ihr Onkel wußte das auch und würde sich dementsprechend in Acht nehmen.
"Das ist richtig. Diese Räuber sind nun endlich da, wo sie hingehören, nämlich im Kerker und da kommen sie auch lebendig höchstens nur raus, um aufgehängt zu werden. Aber vorher werde ich sie mir noch einmal vornehmen, bis sie endlich damit herausrücken, wo ihr Unterschlupf ist, wer sie anführt, wer ihre Spione hier sind und so weiter. Es wird höchste Zeit, daß wir endlich Herr über diese verfluchte Plage werden!"
Sir Peius fing sich wieder ein, bevor er noch mehr verriet. Cara schien zwar endlich zur Vernunft gekommen zu sein, aber sicher war sicher. Wußte sie zuviel von solchen Dingen, würde sie doch nur ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die sie partout nichts angingen. Da mußte er vorbeugen. Darum sagte er:
"Mr Lane hat Dir sicher einiges über ihr Treiben berichtet. Er ist da sozusagen Fachmann, aber das soll Dich nicht weiter behelligen."
"Ich habe von alledem nichts gewußt. Es war so schrecklich mit anzuhören, daß ich erst gedacht habe, er wollte mich nur damit erschrecken, doch jetzt, wo Du mir dasselbe erzählst ... ich kann mir so etwas einfach nicht vorstellen. Warum tun Menschen nur so etwas?"
"Wenn ich das nur wüßte, aber aus diesen Kerlen ist ja einfach nichts rauszukriegen. Ich werde es um Mitternacht noch einmal probieren, vielleicht werden sie nach ein paar schlaflosen Nächten gesprächiger. Aber jetzt haben wir wirklich genug davon gesprochen. Du brauchst Dir darum keine Gedanken zu machen. Lebe Dich erst einmal richtig hier ein und gewöhne Dich an das Klima. Das ist wichtiger. Außerdem gibt es für eine junge Dame in deinem Alter wirklich bessere Dinge zutun, als sich über Piraten den Kopf zu zerbrechen!"
"Wie Du meinst."
Damit war für ihren Onkel das Thema erledigt. Er hatte unmißverständlich klar gemacht, daß sie sich daraus zuhalten habe und nur die liebenswürdige Nichte spielen durfte und als wohlerzogene junge Dame würde sie sich auch daran halten. Den Teufel würde sie tun! Sie verfielen in Schweigen.
Sir David Peius hing seinen Gedanken nach. Es war wirklich seltsam, wie eine gute Erziehung doch Menschen änderte. Ja, Cara war nun doch letztlich eine junge Dame geworden und wußte was sie zutun und was sie zulassen hatte. Es wurde ja auch höchste Zeit. Er konnte wirklich froh sein, daß sie endlich eingesehen hatte, daß sie in seiner Welt nichts verloren hatte. Das war Männersache. Bald würde er auch dafür sorgen, daß sie mal endlich wieder unter Leute kam, dann würde sich der Rest schon von alleine finden. Doch jetzt mußte er zu aller Erst einmal die Sache mit den Piraten hinter sich bringen, aber das dürfte nun auch bald kein Thema mehr sein.
Nachdem sie ihr Essen beendet hatten, brachte David Peius seine Nichte auf ihr neues Zimmer und stellte ihr Julia kurz vor. Die beiden würden sich schon verstehen und Julia würde Cara sicher von irgend welchen dummen Gedanken abbringen. Anschließend machte er sich schleunigst auf den Weg in den Kerker unter dem Haus. Der vorherige Gouverneur hatte schon gewußt, warum er einen Kerker unter seinem Haus bauen ließ!
Cara musterte ihr neues Zuhause genauer ohne wirklich Einzelheiten wahrzunehmen. Julia hatte ein Zimmer neben ihr erhalten, das durch eine Zwischentüre mit dem ihren verbunden war. Sonst gab es nichts Besonderes.
Julia stand in der Türe und beobachtete sie. Sie trug ein einfaches blaues Kleid, das gut zu ihren schwarzen Haaren paßte. Ihre dunklen Augen ruhten ausdruckslos auf irgend einem Punkt hinter Cara.
"Weißt Du, ob es hier auch so etwas wie einen Keller, also einen Vorrats- bzw. Weinkeller, gibt und wenn ja, wie man hin kommt?"
"Schon, aber da gibt es nun wirklich nichts Interessantes. Es sei denn, man ist Weinliebhaber. Durch die Vorratsräume kommt man nur bis zur äußersten Gewölbemauer und dann ist der Raum zu Ende. Der Eingang zu den übrigen Gewölben und Gängen liegt woanders, ich weiß aber nicht wo und dein Onkel wird es Dir wohl kaum verraten."
Julia wartete einen Moment ab, wie Cara reagieren würde, doch als diese schwieg, faßte Julia sich ein Herz und fuhr fort, geradewegs auf ihr Ziel los, all die sorgsam in den letzten Stunden abgewogenen Formulierungen verwerfend.
"Was Dich wahrscheinlich mehr interessieren dürfte, ist, daß der erste Gouverneur dieser Insel seine Residenz mit einem ganzen Netz von Geheimgängen versah, weil er, so sagt man, öfters heimlich Besuch empfing, wer immer das auch war. Es gibt auch einen Plan von diesen Gängen, aber der vorige Gouverneur war so freundlich, ihn zu verstecken, anstatt deinem Onkel auszuhändigen, wie er es eigentlich hätte tun müssen, aber da er ohnehin kurz darauf starb, hat ihm keiner einen Vorwurf daraus machen können."
"Warum sollte mich das interessieren?" Cara beäugte Julia mißtrauisch. Was wußte Julia von ihr und auf welcher Seite stand sie? Cara trat langsam ans Fenster und schaute hinunter zum Hof, so daß Julia ihr Gesicht nicht sehen konnte.
"Ach, tue doch nicht so! Deinem Onkel, Robert Lane und all diesen anderen Analphabeten kannst Du vielleicht etwas vormachen, aber mir nicht. Heute Morgen ist gar kein Schiff angekommen, und Du weißt selber nur zu gut, daß dein Onkel seine Schiffe immer seinem Kommodore überläßt und der wird sich hüten, Sir Peius auch nur ein Wort davon zusagen, denn der hat wahrhaftig andere Dinge zu tun, als sich deswegen auch noch mit deinem Onkel zu streiten. Außerdem habe ich eben, als sie dein Pferd in den Stall gebracht haben, gesehen, was für ein Pferd Du hast. So eines gibt es auf der ganzen Insel nur ein Mal! Vor zwei Tagen war es unten am Strand und daß, obwohl Du doch angeblich erst heute angekommen bist."
Cara fuhr herum. "Was willst Du damit sagen?"
"Cara, ich kannte Dich schon, bevor ich Dich auch nur ein einziges Mal gesehen hatte. Ich weiß auch, warum Du und dein Onkel euch nicht versteht und was zwischen euch beiden passiert ist. Ihr habt euch zerstritten, weil deinem Onkel ein einfacher französischer Fregattenkapitän nicht gut genug als Schwiegersohn war und er Dir eine andere Welt zeigte, als die, in der Dich dein Onkel sehen wollte. Ich bin auf Deiner Seite, Cara!"
"Das Ganze könntest Du genausogut von meinem Onkel persönlich erfahren haben, weil er will, daß Du für ihn die Spionin spielst."
"Glaube mir doch, ich kann genausowenig wie Du Ungerechtigkeiten vertragen und ist es denn gerecht, wenn dein Onkel immer höhere Steuern einkassiert, die wir, die wir in seiner Gesellschaft wertlos sind, nicht bezahlen können? Findest Du es gerecht, wenn dein Onkel in Saus und Braus lebt und uns die Steuern an den Rande der Existenz bringen? Das erste, was dein Onkel tat, als er hierher kam, war die Abgaben, die zu bezahlen uns ohnehin schon schwer genug fiel, kräftig zu erhöhen. Er sagte, die Krone brauche mehr Geld und aus unserer Kolonie käme zu wenig, aber nicht nur ich habe Zweifel daran, daß die auch nur einen roten Heller davon zusehen bekommen hat. Als der vorige Gouverneur noch im Amt war, da gab es hier noch keine Piraten. Was denkst Du denn, warum es hier jetzt so viele davon gibt?"
Julia hielt einen Moment inne, bevor sie noch einmal nach setzte:
"Was für einen Unterschied macht es denn für die Menschen hier, ob sie als Piraten oder Steuerhinterzieher aufgeknüpft werden, oder ob sie schlicht verhungern? Cara, ich weiß, wer die Männer unten im Kerker sind. Sie haben uns oft geholfen, indem sie das erbeutete Geld an uns verteilt haben, wenn wir es brauchten, weil wir immer ärmer und ärmer wurden und dein Onkel immer reicher und reicher. Alleine kann ich niemandem helfen, nur zusammen können wir hier vielleicht noch etwas erreichen."
"Wir? Was hat das mit mir zu tun?"
Julia gefror innerlich. Konnte sich Cara derart verändert haben? War das möglich? Angst stieg in ihr auf, doch dann setzte sie alles auf eine Karte.
"Cara, der eine der drei Männer dort unten ist Daniel Leroux!"
Cara erstarrte innerlich zu einer Salzsäule, während Emotionen sie überfluteten wie eine Brandung.
"Überlege doch mal! Glaubst Du wirklich, ich wüßte das von Deinem Onkel?"
Cara faßte sich etwas und drehte sich wieder zum Fenster um. Sie hatte natürlich nicht im Ernst geglaubt, daß Julia für ihren Onkel die Spionin spielen sollte, das hätte nicht zu ihrem Onkel gepaßt. Für so etwas fehlte ihm der Sinn, bei Spionen wußte man schließlich nie, ob sie einem die Wahrheit sagten oder nicht. Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Nein, das wäre ihrem Onkel zu wage gewesen. Aber Vorsicht war besser als Nachsicht. Sie mußte aufpassen.
"Was weißt Du von Daniel?" Ihre Stimme erstickte fast.
"Er wurde vor zwei Tagen zusammen mit Peter und Diego am Strand von Marinesoldaten aufgegriffen und hierher gebracht. Mehr konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Cara, er liebt Dich noch immer!"
Cara antwortete nicht. Julia spürte einen Schatten von Verzweiflung in sich aufziehen. Was sollte sie nur tun? Sie dachte an ihre Mutter, die sie mit einer Wäscherei über Wasser hielt und all die anderen einfachen Leute in der Stadt, die kaum wußten, wie sie satt werden sollten, obwohl dieses Land so üppig war, so reich, das ganze Jahr über. Julia wechselte das Thema:
"Ich war so frei, deine Sachen auszupacken und auf den Balkon zum Trocknen zuhängen. Die anderen habe ich über dem Kaminfeuer getrocknet und in den Schrank gelegt. Es muß ja nicht jeder wissen, daß Du in Männerklamotten herum spazierst."
"Danke. Aber erzähle mir noch mehr über die Sache mit dem Gouverneur und vor allem mit seinem Plan."
Einen Moment lang hielt Julia irritiert den Atem an, doch dann gab sie bereitwillig Auskunft.
"So genau weiß das hier kein Mensch mehr. Der besagte Plan wurde vom ersten Gouverneur gezeichnet und immer nur an seinen Nachfolger weitergegeben. Als dann der vorherige Gouverneur hier nach langer Krankheit im Sterben lag, hat er erfahren, daß sein Sohn, der von seiner Majestät schon als Nachfolger ernannt worden war, nicht zu seinem Amtsantritt in Kingston erschienen, sondern spurlos verschwunden ist und daß nun statt dessen dein Onkel seine Nachfolge antreten würde. Später, als er den Plan an Sir Peius übergeben sollte, war er verschwunden und nachdem man das halbe Haus auf den Kopf gestellt hatte, hat man ihn dann in der Kapelle gefunden. Tot. Und der Plan war weg. Tija, er ist dann in der Kapelle beigesetzt worden, wie die anderen vor ihm auch, aber ihm kam es vielleicht am Meisten zu, denn er war sehr gläubig."
Cara nickte:
"Mit Hilfe des Planes wäre es den anderen Piraten sicher ein Leichtes, ihre Kumpane zu befreien.... nur müssen wir dazu vorher den Plan finden."
"Das sage ich doch die ganze Zeit! Hast Du eine Idee, wo wir anfangen sollen zu suchen? Der Plan könnte überall sein und es haben schon viele nach ihm gesucht."
Cara schwieg. Sie hatte außer den spärlichen Informationen von Julia keine Anhaltspunkte und es hatten sicher schon ganz andere gesucht. Aber halt, vielleicht hatten die anderen etwas Entscheidendes übersehen. Die zeitliche Abfolge!
"Wo ist denn die Hauskapelle?"
"Komm' mit, ich zeige sie dir."
Sie verließen das Zimmer und gingen den Gang entlang ein Stück zurück, bis zu einer Tür, über der eine Inschrift in dem Mauerwerk besagte, daß dies die Kapelle sei. Cara öffnete die Türe und schob Julia vor sich her in den Raum. Er war nicht sehr groß und auch die Wände waren nicht verkleidet. Dafür hingen überall an den Wänden die verschiedensten Bilder und Ikone und auch die Decke war kunstvoll bemalt. Durch das bunte Glas des einzigen Fensters, das sich direkt gegenüber der Tür befand, fiel fahles Licht in den Raum. Unter dem Fenster stand ein kleiner Altar mit einem Kreuz und drei Kerzen, von dem Licht in einem Kegel beleuchtet. Rechts und Links der kurzen Sitzbänke waren hinter kurzen Mauerbögen ein paar kleine Seitenschiffchen.
"Wer hat denn all diese Bilder gemalt?" fragte Cara.
"Oh, ganz verschiedene Leute. Meist Künstler aus der Stadt." Julia ging zum Altar, kniete nieder und bekreuzigte sich, um dann in einem Gebet Hilfe zu suchen, denn Gottes Hilfe würden sie jetzt gewiß brauchen.
Cara schlenderte langsam an den Mauerbögen entlang und betrachtete die Bilder. Der Plan war hier in diesem Raum, darauf hätte sie schwören können. Aber wo? Hätte sie den alten Gouverneur doch nur gekannt!
Sie ging zu dem Seitenschiffchen hinüber, in dem der Sarg mit dem Gouverneur, der den Plan hatte verschwinden lassen, aufbewahrt wurde. Daß ein frommer Mann in die Kapelle ging, war sicher nichts Ungewöhnliches, aber einer, der schon mehr tot als lebendig war? Na, sie wußte nicht recht. Beten konnte man auch in seinem eigenen Zimmer. Außerdem hatte er ja noch nicht einmal sicher sein können, daß er hier überhaupt ankam, er hätte genausogut unterwegs schon sterben können und dann hätte er gar nicht mehr beten können. Cara strich gedankenverloren mit der Hand langsam über den verstaubten Steinsarg. Ohne den Plan war ihr eigener Plan wertlos.
Aber wie sollte sie die Karte finden, wenn sie nicht wenigstens einen einzigen Anhaltspunkt auf sein Versteck hatte, überhaupt, die Sache stank zehn Meilen gegen den Wind, fand Cara. Warum war dieser Sohnemann verschwunden? Das machte doch keinen Sinn, es sei denn, jemand, der davon Vorteile hatte, hatte ihn verschwinden lassen. Ihr Onkel? Was für ein wilder Verdacht! Konnte das wahr sein? Verdammt, so kam sie auch nicht weiter. Cara schlug ärgerlich mit der Handfläche auf den Sarg. Wo, zum Teufel, hast Du den Plan versteckt und warum? Sag' es mir! schoß es durch ihren Kopf.
In diesem Augenblick wurde sie plötzlich einen Schatten neben sich gewahr und fuhr herum. Dabei vergaß sie den Kopf unter dem niedrigen Bogen einzuziehen und stieß prompt mit ihm gegen ein Bild. Noch bevor sie dazu kam, sich über ihr Mißgeschick zu ärgern, fiel dieses von dem Torbogen herunter und sein Rahmen zerbrach auf dem harten Boden in Tausende von Scherben. Cara vergaß mit einem Mal alles um sich herum, starrte auf das Papier, das sich hinter dem Bild befunden hatte und nun oben auf dem Boden lag.
"Bei allem, was mir je heilig gewesen ist, ich glaube, ich werde abergläubisch! Das gibt's doch nicht!" Obwohl Julia durch das Klirren aufmerksam geworden war, waren die Worte doch so leise dahin gemurmelt, daß Julia sie nicht verstehen konnte. Cara hob das Papier blitzschnell auf und ließ es unter ihrem Kleid verschwinden.
"Julia, ich bin mit dem Kopf an ein Bild gestoßen und es ist zerbrochen, als es herunter fiel. Könntest Du die Scherben aufkehren? Ich will mir etwas kaltes Wasser zum Kühlen holen."
"Sicher."
Cara verließ die Kapelle schnellen Schrittes. Die Gestalt, die für den Schatten verantwortlich gewesen war, übersah sie dabei glatt.
Gong, Gong, Gong, Gong, ... -die kleine Turmuhr über dem Balkon der Kapelle im Haus schlug zwölf mal - Mitternacht. In der Gouverneursresidenz war alles dunkel, ihre Bewohner schliefen längst, zumindest fast, denn aus einem vergitterten Schacht am Rande des Säulenganges fiel ein wenig Licht in den Innenhof und gedämpft drangen Stimmen aus ihm nach oben, während im übrigen Haus vollkommene Stille herrschte. Tief unter der Erdoberfläche, in durch eine Petroleumfunzel nur sehr schlecht ausgeleuchteten Gängen bewegte sich eine Gestalt auf das etwas verbreiterte Ende eines Ganges zu. Wasser tropfte von der Decke oder rann in kleinen Straßen an den grob gemauerten Wänden herunter. Die Luft war feucht-kalt und roch nach Moder. Hin und wieder huschte etwas vor dem Schein der Lampe davon und warf dabei unwirklich tanzende Schatten an die Wände. Es mochten Ratten sein.
Die Gestalt blieb in einer Art kleinem Raum stehen und wandte sich der Türe an ihrer linken Seite zu. Durch einen Spalt, der wohl dadurch entstand, daß die Türe nicht ganz schloß, fiel von dem dahinter befindlichen Raum Licht herüber. Im oberen Drittel dieses Spaltes konnte man eine Unterbrechung des einfallenden Lichtes erkennen, die offensichtlich durch den Riegel bewirkt wurde. Der Lichtkegel offenbarte nun Einzelheiten der Gestalt: In der Hauptsache verschwand sie unter einem weiten schwarzen Umhang, der fast bis auf die Erde reichte. Unter ihm waren schwarze Stiefel zu erkennen. Ansonsten war die Gestalt mit einer ebenfalls schwarzen Hose und Bluse bekleidet. Ihr Gesicht war nicht zusehen, da es hinter einem schwarzen Tuch, das nur zwei Löcher für die Augen enthielt, verschwand. Außerdem wurde es noch von einem schwarzen Hut mit breiter Krempe überschattet. Im Gürtelband steckten zwei doppelläufige Pistolen und ein Degen. Die Gestalt zog ihren Degen heraus und schob seine Spitze vorsichtig unter den Riegel. Dann drückte sie diesen solange langsam mittels des Degens nach oben, bis er geräuschlos herumschwang und sich die Türe öffnen ließ.
Drinnen befanden sich sechs Personen, drei Gefangene und drei andere. Zwei der Gefangenen hingen an der Wand in Ketten, während der dritte auf der Streckbank, die von den beiden Knechten bedient wurde, lag. Der dritte der drei anderen Männer war der Gouverneur persönlich. Er stand vor der Streckbank und riß mit der rechten Hand von einem Trobbel, den er in der linken hielt, Weintrauben ab, um sie sich dann genüßlich eine nach der anderen in den Mund zuschieben. Im übrigen versuchte er einen recht gelangweilten Eindruck zumachen, was ihm aber nicht ganz gelang, denn hin und wieder zuckte ein Nerv an seinem Hals und verriet seine innere Anspannung. Dann wandte er sich wieder an den Mann auf der Bank:
"All diese Bequemlichkeiten könnten Dir auch zuteil werden ...
Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen. Hier unten klang in der Stille alles merkwürdig dumpf, die Wände ließen ein schwaches Echo erahnen.
Jetzt drehte der Mann seinen Kopf zum Sprecher hin. Er war auf dem Bauch liegend auf die Streckbank gefesselt worden. Sein nackter Rücken war von der neunschwänzigen Katze zerfleischt, sein rechtes Hosenbein blutverklebt.
" ... wenn Du mir endlich meine Fragen der Wahrheit gemäß beantworten würdest." Sir David Peius schob sich noch zwei weitere Weintrauben in den Mund. Da die Beiden die allgemeine Aufmerksamkeit der anderen auf sich zogen, merkte keiner, wie nun die Gestalt lautlos in den Raum huschte und die Türe mit der linken Hand wieder hinter sich verriegelte, ohne dabei die übrigen Anwesenden aus den Augen zulassen. In der rechten Hand hielt sie noch immer den Degen.
"Vielleicht hättest Du ausnahmsweise mal die Güte, mir wenigstens deinen Namen zu nennen." Es hatte ironisch klingen sollen, aber in Sir Peius Stimme schlug deutlich der blanke Zorn durch, vor allem am Ende des Satzes.
"Drake, Francis Drake."
Der Gouverneur lächelte höhnisch. "Du fühlst Dich wohl wie der ehrenwerte Sir Francis Drake, aber der hatte mit Dir nicht die geringste Ähnlichkeit. Er war nämlich nicht so dumm, sich fangen zu lassen."
"Vielleicht lassen Sie mich wenigstens ausreden. Ich wollte nämlich sagen," er betonte besonders das ich und das nämlich, während er das sagen in die Länge zog, "daß er eine gewisse Ähnlichkeit mit Dir hat: Der gleiche gierige Perfektionist, dem das spanische Gold am Ende doch vor der Nase abhanden kam."
"Noch," brüllte Sir Peius, wobei sich seine Stimme vor Zorn fast überschlug, bevor sie wieder aalglatt wurde und er mit einem süffisanten Lächeln, "Drei Umdrehungen." hinzufügte.
Drei Weintrauben verschwanden wie nichts in Sir Peius' Mund, während er befriedigt beobachtete, wie die beiden Folterknechte sich mit dem großen Rad, das die Ketten, in denen der Mann hing, langsam aufwickelte, abplagten. Das Gesicht des Gefolterten verzog sich vor Schmerz, aber kein Laut kam zu Sir Peius' Arger über seine Lippen, dann sank sein Kopf auf seine Schulter herab. Sir David Peius schnippte mit den Fingern, während er bemüht war, seinen Mund für das nächste Wort schnellstens zu entleeren, wobei er so gerade noch vermeiden konnte, daß er sich dabei verschluckte.
"Was - ser!" seine Stimme war wie frisch gewaschene und gebügelte Seide und triefte nur so vor Selbstgefälligkeit und Hohn.
Einer der beiden Knechte nahm einen bereitstehenden Eimer Wasser; man schien an derartige Zwischenfälle schon seit langem gewöhnt und auch entsprechend vorbereitet zu sein; und entleerte ihn mit gleichgültiger Miene über dem Ohnmächtigen. Er wurde ja schließlich dafür bezahlt und irgend woher mußte man sein Geld natürlich haben und so dumm, daß er dafür auch noch Kopf und Kragen riskierte, war er nun auch wieder nicht. Blut tropfte mit dem Wasser in kleinen Bächen auf den Steinfußboden und sammelte sich auf dem unebenen und ausgetretenen Fußboden in einer Vertiefung zu einer rötlichen Lache. Langsam hob der Mann auf der Bank seinen Kopf. Sir Peius gab dem Knecht ein Zeichen mit der Hand, er solle seinen alten Platz wieder einnehmen.
"Hätten der hochwohlgeborene Herr Pirat, Korsar, Freibeuter oder weiß der Kuckuck was nun die Ehre mir zusagen, wo seine Flotte zur Zeit vor Anker liegt." Die Ironie in seinen Worten war nicht zu überhören.
"Hinter dir." schallte es von der Türe her in die Stille des Raumes hinein. Augenblicklich fuhren die Gesichter aller sonst noch Anwesenden zum Sprecher herum und starrten auf die schwarze Gestalt, die mit der linken Hand eine Pistole auf sie richtete und mit der rechten mit einem Degen auf sie zeigte.
"Waffen weg, oder es gibt Tote!"
Für die beiden Knechte gab es keinen Zweifel daran, wer diese Toten sein würden. Das Tuch vor dem Gesicht der Gestalt verhinderte, daß die Stimme zu erkennen war. Sie war für Sir Peius so charakterlos wie die Schreie von Möwen. Sie hörten sich auch alle gleich an, egal welche Möwe schrie. Der Gouverneur wich entsetzt zurück, als die Gestalt plötzlich offensichtlich auf ihn zukam.
"Geben Sie auf, Mann, Sie haben keine Chance hier je wieder lebendig heraus zukommen!" Es klang wie eine Bitte.
Die Gestalt folgte dem immer weiter zurückweichenden Gouverneur wortlos, bis dieser sich plötzlich von einem Tisch gestoppt fühlte. Er taste verzweifelt mit der Hand über die Platte in der Hoffnung möglichst schnell herauszufinden, in welcher Richtung sein Fluchtweg wohl weiterführen könnte. Aber statt dem Ende des Tisches fühlte er auf einmal den Griff seines Degens. Er überlegte erst gar nicht lange, sondern packte ihn, schließlich war diese Gestalt alleine und sie waren zu dritt, beschrieb mit dem Arm blitzschnell einen Bogen, wobei er versuchte, die Gestalt von der Seite zu köpfen. Dennoch war er zu langsam. Die Gestalt duckte sich gewand unter dem Hieb hinweg und schlug dem Gouverneur noch im gleichen Augenblick den Degen mit nur einem einzigen Schlag aus der Hand.
"Aber Herr Gouverneur, wer wird denn gleich sein Leben so leichtsinnig auf's Spiel setzen!", die Gestalt setzte die Spitze ihres Degens auf die Brust des Gouverneurs, "Und jetzt befehlen Sie ihren Helfern, die Gefangenen loszubinden -und zwar schnell!"
Bei diesen Worten drang die Degenspitze bis auf die Haut des Gouverneurs vor.
"J-a, so-fort. Nun macht schon, ihr habt doch gehört, was ihr tun sollt!"
Sir Peius versuchte seine Angst zu überschreien, aber es glückte ihm nicht so ganz. Er hatte ein Gefühl in den Beinen, als hätte er auf einmal statt Knochen Gummi in den Knien. Verzweifelt beobachtete er, wie seine Knechte die Piraten zwangsbefreiten. Er hätte am Liebsten laut losgeschrieen, aber hier unten hätte ihn ja doch keiner gehört. Die Piraten ihrerseits begriffen kaum, wie ihnen geschah. Eben winkte ihnen noch der Tod und jetzt schon die Freiheit? Ihre Gesichter waren ein einziges Staunen.
"So, jetzt könntet ihr doch eigentlich mal die Folterknechte in Ketten legen und den Gouverneur auf seine schöne Bank binden."
"Nichts lieber als das! Los, Peter, Du Schlafmütze, jetzt wird der Spieß umgedreht!"
"Du gönnst einem aber auch gar nichts, Diego!" gähnte Peter, doch als es darum ging, die zwei Knechte anzuketten, war er dann doch wieder hellwach.
Inzwischen hatte sich der Mann auf der Bank aufgerichtet und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Die Gestalt wandte sich indessen wieder Sir Peius zu: "Darf ich den sehr verehrten Herrn Gouverneur nun um seinen Hemd bitten?"
"Mein Seidenhemd!", fuhr dieser auf, "Also hören Sie, das geht nun wirklich zu weit! Was in Gottes Namen wollen Sie denn mit meinem Hemd?"
"Ich will gar nichts damit, aber wie Sie vielleicht sehen oder auch nicht, denn gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen waren Sie ja schon immer blind, ist dieser Herr hier im Gegensatz zu Ihnen hemdenlos und Sie haben doch sicherlich noch mehr von diesen schönen Seidenhemden. Also her damit, aber ein bißchen plötzlich!"
Zitternd entledigte sich Sir Peius seines geliebten Seidenhemdes und reichte es der Gestalt.
"Hier, schenke ich Ihnen!" Sie warf des Hemd dem Mann, der immer noch auf der Bank saß, zu.
"Und dann sollten Sie doch mal so freundlich sein und dem Gouverneur Platz machen. Er brennt schon richtig darauf, seine schöne Bank mal näher kennenzulernen, nicht wahr?" Dabei piekste sie sie Peius mit dem Degen in die Seite. "Au, ja, äh, nein meine ich doch!"
"Hey, Diego, hast Du gehört, was der Gouverneur gesagt hat?" Peter stieß seinem Kameraden dem Ellebogen leicht in die Rippen.
"Klar doch, ich bin doch nicht taub."
"Dann mal los. Der Wunsch des Gouverneurs ist mir Befehl!" Peter verbeugte sich spöttisch vor Sir Peius: "Ihr ergebener Diener!"
Dann schnappten sie sich den Gouverneur und schleiften ihn wie einen zappelnden Sack zur Streckbank, während der Mann, der bis jetzt dort gesessen hatte, zum Tisch herüber gehumpelt kam.
"Nein, nicht, das könnt ihr doch nicht mit mir machen!", zeterte Sir Peius, "Laßt mich sofort los, sofort! Ich will nicht auf die Bank! Habt doch Mitleid mit mir! Ihr habt doch nichts davon!"
"Du hattest auch kein Mitleid mit uns, warum also sollen wir Mitleid mit Dir haben?"
Den Beiden machte das Spielchen sichtlich Spaß. Während sie den Gouverneur auf der Bank festsetzten und ihn etwas in die Länge zogen, wandte sich die Gestalt erneut an den Verletzten, der sich solange auf den Tisch gesetzt hatte, indem sie auf sein Bein deutete:
"Sie sind verletzt worden?"
"Ja, bei einer Schießerei."
"Zeigen sie mal her. Es ist besser, wenn ich mir das mal ansehe. Sie werden nämlich gleich ein ziemliches Stück laufen müssen."
"Die Kugel steckt noch drin."
"Das wird sich jetzt nicht ändern lassen."
Die Gestalt zog ein Taschenmesser aus ihrem Stiefelschaft hervor und schnitt das Hosenbein auf. Zum Glück schien es nur eine Fleischwunde zu sein. Die Kugel war eine gute Hand breit über dem Knie seitlich eingedrungen und hatte dabei offensichtlich auch noch ein paar Stoffetzen mitgenommen, wodurch sie sich allerdings entzündet hatte. Die Verhältnisse hatten ihr Übriges dazu getan.
Die Gestalt sah sich kurz im Raum um, dann blieb ihr Blick auf der Flasche hängen, die neben Daniel auf dem Tisch stand. Sie ergriff diese und öffnete sie kurz entschlossen. Der Geruch, der ihr aus der Flasche entgegenströmte, ließ keinen Zweifel über den Inhalt aufkommen: Hochprozentiger Rum. Zum Entsetzten des Gouverneurs goß sie fast den ganzen Inhalt über die Wunde. Daniel, denn so hieß der Mann, stöhnte auf und lehnte sich weiter zurück, bis sein Kopf die kalte Wand, vor der der Tisch stand, berührte. Sie kam ihm wie pures Eis vor. Er fragte sich in Gedanken, wie lange er das wohl noch durchhalten würde. Langsam, aber sicher verschwamm alles vor seinen Augen und das Verlangen in ihm, sich einfach zur Seite sinken zu lassen, wurde immer stärker. Aber nicht jetzt; nicht hier und nicht jetzt! Er umklammerte mit der einen Hand die Tischkante, bis die Knöchel weiß hervortraten.
"Geht's?"
Daniel wollte antworten, aber er wußte, er würde es nicht schaffen. Verdammt noch mal, er mußte, er mußte es einfach schaffen! Er nickte. Dann spürte er, wie jemand ihn von der Seite abstützte und erkannte Peter neben sich.
Inzwischen hatte die Gestalt die Tischdecke unter der Weintraubenschale weggezogen und verband nun damit Daniels Bein notdürftig.
"So, das wär's. Wollen doch mal sehen, wie wir hier wieder heraus kommen."
Während sie zum Gouverneur hinüber ging, holte sie aus ihrer Manteltasche ein dunkles Tuch hervor.
"Na, wie fühlen Sie sich?"
"Prächtig", knirschte Sir Peius, "vor allem, da ich weiß, daß Sie nicht weit kommen werden!"
"So, wissen Sie das?"
Die Gestalt nahm das Tuch und verband damit Sir Peius kurzentschlossen die Augen, so daß er nicht mehr sehen konnte, was um ihn herum geschah. "Hey, was soll denn das nun schon wieder?"
"Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe. Dabei soll Sie auch das viele Licht nicht weiter stören." Mit diesen Worten drehte sie das große Rad zum Aufwickeln der Ketten noch drei Umdrehungen weiter. Sir Peius stieß einen Schrei aus.
"Wie lange soll ich denn noch hier hängen bleiben?" stöhnte er.
"So lange, bis Sie jemand, der mehr Mitleid mit Ihnen hat als ich, wieder los macht. Also, schlafen Sie gut!"
Nachdem sie auch den beiden Knechten die Augen verbunden hatte, kehrte sie zu den Anderen zurück.
"Glauben Sie, daß Sie jetzt wieder gehen können?"
"Werd's versuchen."
Peter sagte:
"Stütz' Dich auf mich, dann wird's schon klappen."
"Gut, dann kommen Sie mal mit. Wir nehmen den Hinterausgang."
Die Piraten schauten sich verständnislos an. Mochte der Teufel wissen, was das werden sollte; Hauptsache, sie kamen hier lebend wieder heraus. Ihre Verblüffung stieg aber noch, als die Gestalt eine kleine Spieldose unter ihrem Umhang hervorzauberte, sie aufzog und sie neben Sir Peius auf die Erde stellte. In dem Raum klang die Musik unnatürlich und laut. Dann folgten sie leise der Gestalt zum Kamin hin. Die Musik verhinderte dabei, daß die Richtung der Geräusche, die ihre Schritte verursachten, näher zu bestimmen war. Der Kamin war wohl gut 1,50 m lang, aber nicht sehr breit. Der Abzugsschacht fing erst verhältnismäßig weit oben an. Das Fehlen von Asche verriet, daß er schon lange nicht mehr benutzt worden war. Die Gestalt trat auf den Boden des Kamins und bedeutete den Anderen sich neben sie zustellen. Dann drückte sie einen in der Wand leicht vorstehenden Stein ein Stück zurück und mit einem Mal ließ sich der Kamin leicht und mit einem leisen Quietschen um 90° drehen. Auf der anderen Seite der Wand öffnete sich nun ein dunkler Gang. Im Lichtschein, der von der Folterkammer hereinfiel, als die Gestalt den Kamin wieder in seine Ausgangsstellung zurückschob, konnten sie erkennen, daß der Gang einfach nur geradeaus weiter führte. Dann wurde es wieder stockfinster.
Die Gestalt tastete einen Moment lang die rechte Wandseite ab und kurz darauf flammte eine Fackel auf: In einem Eisenständer an der Wand befand sich gleich ein kleiner Vorrat davon. Wortlos machten sie sich auf den Weg in die Freiheit. Nach einem scheinbar endlos langen Marsch durch feuchte, faulig riechende Gänge blieb die Gestalt vor einer etwas rostigen Eisenleiter stehen und löschte die Fackel. Von oben fiel fahles Mondlicht in den Gang hinein.
"Sie klettern jetzt hier den Schacht herauf, bis Sie ganz oben in einen hohlen Baum gelangen. Er ist nach oben hin offen, da können Sie dann herausklettern. Wenn Sie wieder auf dem Boden sind, gehen Sie einfach auf dem dort beginnenden Pfad weiter, bis Sie auf einen Weg stoßen. Nach Rechts geht es in die Stadt und nach Links zur alten Tempelruine im Norden der Insel."
Die Männer sahen sich einen Moment lang an.
Diego sagte:
"Komm, Daniel, bis zur Ruine hältst Du jetzt auch noch durch. Da kann Jean Dich in Ruhe wieder zusammen flicken."
Ein mattes Grinsen glitt über Daniels Gesicht. Er brauchte einen Moment, bis er sich aufgerafft hatte, dann wandte er sich an die Gestalt:
"Wie sollen wir Ihnen dafür nur danken?"
"Am Besten gar nicht."
Daniel wollte noch etwas erwidern, doch ehe er sich erneut gefaßt hatte, war die Gestalt im Dunkel der Gänge verschwunden.
Am nächsten Morgen weckte Cara Julia zu deren Ärger in aller Herrgottsfrühe, um die für den Ausritt nötigen Kleider bereitzulegen.
"Ich habe gestern abend mit Jörn gesprochen.", begann Julia, "Er ist unser Verbindungsmann zu den Freibeutern. Mit der Fregatte, die vor zwei Tagen von zwei Linienschiffen versenkt wurde, ist ihr letztes Schiff draufgegangen. Er meinte, die Chancen, daß sie sich irgend wie ein Schiff besorgen könnten, ständen ziemlich schlecht."
"Und welche Rolle soll ich in eurem Spiel spielen?"
"Wie?"
"Na, wo liegt jetzt das Problem für euch?"
"Wir müssen in vier Tagen wieder Steuern nachzahlen, weil, so sagt wenigstens der Gouverneur, aus unserer Kolonie nicht genug Einnahmen für die Krone kommen; nur, drei mal darfst Du raten warum."
"Euch fehlt also das Geld, um die Steuern zu bezahlen, richtig?"
"Richtig und von den Freibeutern können wir dieses Mal auch nichts erwarten, die sitzen ja selber in der Klemme. Da dachte ich, Du hättest vielleicht eine Idee, wie wir deinen Onkel dazu bringen könnten, die Steuern nicht zu erhöhen."
"Wieviel Geld fehlt euch denn insgesamt?"
"Über 300 Pfund."
Cara stieß einen leisen Pfiff aus.
"Gut, sollt ihr haben. Wann und wo kommt ihr wieder alle zusammen?"
"Sonntag morgens, in der Kirche von Pater Johannes, zwei Stunden vor Messebeginn."
"Und dieser ehrwürdige Pater ist natürlich auch mit von der Partie."
"Na ja, mehr oder weniger."
"Wohl eher mehr als weniger, aber das ist um so besser. Also, bis Sonntag haben wir zwei Tage Zeit, das müßte eigentlich reichen."
"Was hast Du vor?"
"Na, mein Onkel wird sich wohl kaum davon überzeugen lassen, daß er zu hohe Steuern verlangt, außerdem könnte er Verdacht schöpfen, daß ich mit euch unter einer Decke stecke, zumindest wird er mißtrauisch werden. Nein, da habe ich eine bessere Idee. Er wird das Geld selber zahlen, wenn auch unfreiwillig. Du weißt ja, daß wir nachher mit Robert Lane ausreiten werden. Du wirst Dich also ganz unanständig verständig zurück ziehen, sobald wir aus der Stadt sind. Robert ist kein sonderlich guter Reiter, da dürfte es nicht schwer sein, ihm ein bißchen Theater vorzuspielen und davonzureiten. Ich verstecke mich dann und warte, bis er wieder weg ist. Wenn alles klappt, treffen wir uns drei Stunden, nachdem wir uns von Dir getrennt haben, im Glockenturm von Pater Johannes Kirche. Dort gebe ich Dir dann einen Brief, in dem steht, daß die Piraten mich entführt haben und, sagen wir, 1000 Pfund Lösegeld verlangen. Weiterhin sollst Du das Geld morgen um 8 Uhr in die Kirche bringen. Es soll in Papier verpackt sein. In der Kirche soll niemand Fremdes sein. Du wirst vorschlagen, daß der Pater Dich beobachtet, er sei schließlich kein Fremder. Ihm gibst Du das Päckchen, oder noch besser, Du legst das Geld in eine kleine Kiste. Die tauschen wir dann dort aus. Anschließend gehst Du zum Hafen, nimmst ein Ruderboot und läßt Dich ein Stück hinaus rudern, zu einer scheinbar bestimmten Stelle. Dort wirfst Du die leere Kiste ins Wasser und kommst zurück."
"Du bist ja noch verrückter, als ich dachte! Was denkst Du denn, was passiert, wenn dein Onkel dahinter kommt?"
"Gar nichts, er wird nämlich nicht dahinter kommen. Paß auf: Wenn Du mich im Turm triffst, bekommst Du den Brief, falls nicht, ist die Aktion gestorben. Dort einigen wir uns auch auf eine Beschreibung des Mannes, den Du in der Kirche getroffen hast und der Dir gesagt hat, daß Du zum Hafen gehen sollst. Den Brief schreibe ich beim Pater, das ist am Einfachsten. Darin wird auch stehen, daß sie mich nur frei lassen, nachdem sie das Lösegeld haben und 12 Stunden vergangen sind. Damit mein Onkel keinen Verdacht schöpft, kommst Du heute morgen mit bis in die Stadt, um Stoff zukaufen. Ich brauche ein neues Kleid. Hier hast Du Geld."
"Was für Stoff denn?"
"Ist doch egal, irgend was halt, nur damit mein Onkel sieht, daß Du auch wirklich in der Stadt warst."
"Cara, bist Du sicher, daß das funktioniert? Was ist, wenn er zum Beispiel auf die Idee kommt, daß der Pater oder ich etwas damit zu tun haben?"
"Wie soll er denn? Wenn in der Kirche alles glatt läuft, kann doch nichts mehr schief gehen, selbst wenn er Dich beobachten läßt. Du hast halt die Anweisung bekommen, die Kiste dort ins Wasser zu werfen und den Piraten, der Dir das gesagt hat, könnt Pater Johannes und Du nachher auch übereinstimmend beschreiben. Und das Geld in den Kirchenschrank zulegen, wird doch wohl kein Problem sein. Schließlich wirst du, wenn Du zum Hafen gehst, die ganze Aufmerksamkeit eventueller Beobachter auf Dich ziehen. In der Kirche könnten wir doch einfach etwas Papier und Steine, damit das Kästchen auch wirklich untergeht, in einen Beichtstuhl legen. Du gehst dann rein und vertauscht es da mit dem Geld, später kann Pater Johannes das Geld dann in aller Ruhe einsammeln."
"Meinst du, er macht dabei überhaupt mit?"
"Warum denn nicht? Er hat doch auch vorher das Geld von den Piraten in Empfang genommen, warum also soll er das denn nicht jetzt auch tun?"
"Sicher, das stimmt, nur was ist, wenn vorher etwas schief läuft?"
"Was soll dann sein? Es kann mir doch keiner nachweisen, daß mein Pferd nicht durchgegangen ist oder daß Du den Stoff einfach nur so gekauft hast."
"Schon, aber um Stoff zukaufen braucht man keine drei Stunden."
"Du konntest halt nicht den Richtigen finden und hast anschließend noch mit einem Bekannten gesprochen. Du hast doch auch genug Zeit, um wirklich jemanden zu besuchen. Laß Dir eben auch mal was einfallen!"
"Na gut, ich bin dabei. Aber nur, weil ich keine andere Möglichkeit sehe, an das Geld zu kommen und ohne das Geld könnten einige Familien sich gleich selbst umbringen, das geht wenigstens schneller als verhungern."
"Bist Du nun zufrieden?"
"Halb und halb nicht. Ganz zufrieden bin ich erst, wenn alles vorbei ist und dein Onkel nichts gemerkt hat."
"Dann bin ich ja beruhigt, aber vergiß nicht, mir gleich noch zu erklären, wo die Kirche ist."
Später, als das Frühstück aufgetragen worden war und Cara und Julia an dem langen Mahagoniholztisch im Speisezimmer saßen, warteten sie vergeblich auf Sir David Peius. Cara trommelte ärgerlich mit den Fingern auf dem Tisch herum. Dabei sah sie zum was wußte sie nicht wievielten Male auf die große Standuhr in der Ecke:
"Er ist jetzt schon eine halbe Stunde zu spät dran. Sonst ist er doch immer die Pünktlichkeit in Person gewesen."
"Ich versteh' das ja auch nicht. Da wird doch wohl nichts passiert sein?"
"Wer weiß? Er wollte doch gestern Nacht noch zu diesen Piraten. Seit er losgegangen ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen."
"Cara, Du wolltest doch ...
"Still, Wände haben manchmal Ohren. Komm, wir fragen mal seinen Zimmerdiener, vielleicht will er sich einfach nur mal ausschlafen."
"Gute Idee, um diese Zeit ist er meist bei der Köchin zum Frühstücken."
Cara folgte Julia nach unten in die Küche. Sie lag neben den Wohnungen für die Bediensteten hinter dem Säulengang. Die Köchin und der Diener saßen gerade beim Frühstück.
Julia fragte:
"Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber haben Sie zufällig Sir Peius heute morgen schon gesehen?"
"Nein, ist er denn nicht bei Euch?"
"Nein, wir haben ihn schon seit gestern Abend nicht mehr gesehen."
"Seltsam, da habe ich ihn auch zum letzten Mal gesehen. Er wollte noch mal runter in den Kerker und sagte mir, ich brauchte nicht auf ihn zuwarten, sondern könnte schon zu Bett gehen. Da wird doch wohl nichts passiert sein?"
Die Vier sahen sich einen Moment betreten an, dann sagte die Köchin:
"Es ist wohl nicht falsch, wenn Ihr mal nachseht. Sicher ist sicher."
"Gut, wir wissen nur leider nicht, wie man in den Kerker kommt."
"Macht nichts, ich führe euch hin." entschied der Kammerdiener.
Der Weg ging zu der Treppe am Säulengang, unter der eine Türe den Weg in den Vorratskeller versperrte, aber die Köchin hatte dazu natürlich einen Schlüssel. Dann marschierten sie durch einen kurzen Nebengang, der vor einer Türe endete. Schon als sie den Gang erreichten, konnten sie Hilferufe hören, doch Hilfe war gar nicht so einfach, wie sie recht bald feststellen mußten, denn die Türe war von innen verriegelt.
Sir David Peius glaubte, am Ende zu sein. Die ganze Nacht hindurch hatten sie reihum vergeblich um Hilfe gerufen, bis er völlig heiser geworden war. Dabei hatte er ein Gefühl, als würde er mit jeder Minute länger. Und jetzt, da nun endlich Hilfe da war, war die Türe von Innen verriegelt. Wie war das nur möglich? irgend wie hatten die Piraten den Raum doch wieder verlassen müssen! Oder sie waren durch den zweiten Eingang gegangen, aber da wußte ja noch nicht einmal er so genau, wo dieser anfing. Außerdem war er schon solange wie er hier war nicht mehr benutzt worden und folglich auch immer verschlossen gewesen. Doch das mußte ja nicht heißen, daß er das jetzt auch noch war.
"Könnt ihr mich verstehen? Es gibt noch einen Weg hierher, ich weiß nur nicht, wo der Eingang ist. Den müßt ihr so schnell wie möglich finden, hört ihr?" krächzte Sir Peius. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Was nur seine Freunde von ihm denken werden, wenn sie das hier erfahren? Sicher wäre er blamiert bis auf die Knochen. Selbst der Gouverneur persönlich war nicht in der Lage, sich gegen diese Piraten zu wehren! Er war vor aller Welt lächerlich gemacht worden! Das durfte einfach nicht sein! Aber das würden ihm diese Korsaren büßen! Demnächst würde er sie gleich durch die ganze Flotte peitschen lassen und sich nicht erst lange mit ihnen herumärgern!
"Wir haben Dich verstanden, Onkel David, aber ich glaube nicht, daß wir den Weg auf die Schnelle finden werden. Sollen wir nicht lieber versuchen, die Türe aufzubrechen?"
"Macht, was Ihr wollt, Hauptsache, Ihr holt mich bald hier heraus, bevor ich verende wie ein räudiger Hund!"
Das konnte doch einfach
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Tag der Veröffentlichung: 09.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2470-6
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