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Als die beiden Schuhfabriken „volkseigen“ wurden

 

 

Alfred Mälich (1903 bis 1988) erbte im Jahre 1932, als sein Vater unerwartet starb, im Alter von gerade mal 29 Jahren die beiden Schuhfabriken in Lößnitz und im rund acht Kilometer entfernten Hartenstein im Erzgebirge.  Lößnitz hatte ungefähr 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Hartenstein nur etwa fünfzig. In Lößnitz produzierte man Damen- und Herrenschuhe, in Hartenstein bis 1935 Kinderschuhe. Dann wurde Alfred Mälich dazu verpflichtet, auch Militärstiefel zu produzieren. Deshalb verlegte er die Produktion von Kinderschuhen auch nach Lößnitz und ließ in Hartenstein nur noch Militärstiefel produzieren, wie sein Vater, welcher dort während des ersten Weltkriegs auch Militärstiefel produzierte, allerdings auf freiwilliger Basis und nicht wegen einer Verpflichtung.

 

Als am 1.September 1939 der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begann, musste sein Büroleiter der Stiefelfabrik in Hartenstein Fritz Badstübner zum Militär. Deshalb stellte Alfred Mälich die Ehefrau von Fitz als Büroleiterin ein. – Elfriede Badstübner war bis zu diesem Zeitpunkt die Sekretärin von Max Martin, meinem Vater, bei der DAF (Deutsche Arbeitsfront) in Zwickau, eine glühende Verehrerin Adolf Hitlers und meine Taufpatin, denn die DAF in Zwickau wurde aufgelöst.

 

Alfred Mälich war schon seit einigen Jahren Mitglied der NSDAP. Er nahm zwar vor der Machtergreifung der Nazis nicht wie die überzeugten Nationalsozialisten Max Martin und Fritz Badstübner an den üblichen Prügelaktionen gegen Veranstaltungen der SPD oder der KPD teil, spendete aber der NSDAP hohe Geldbeträge. So fürchtete er sich nach der Kapitulation am 8. Mai 1945, als das Erzgebirge der sowjetischen Besatzungszone zugeordnet wurde und die Kommunisten die Macht übernahmen, sehr vor Racheakten. Er erklärte deshalb in Briefen an die Kreisleitungen in Aue, welche für Lößnitz zuständig war, und in Zwickau, welche für Hartenstein zuständig war, seine Loyalität und spendete der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) regelmäßig hohe Geldbeträge. – Dass im von Karl Marx und Friedrich Engels formulierten Kommunistischen Manifest gefordert wurde, Privateigentum, privates Kapital und Produktionsmittel in Privatbesitz in Volkseigentum zu überführen, war ihm nicht bewusst.

 

Deshalb änderten seine Loyalitätsbekundungen und Spenden an die KPD nichts daran, dass ihm die Kreisleitungen Aue und Zwickau im Mai 1946 mitteilten, er werde enteignet und seine beiden Betriebe werden Volkseigentum. Er müsse sich am Samstag, dem 1. Juni 1946 um 10.00 Uhr in Hartenstein und um 14.00 Uhr in Lößnitz in seinen Büros zur Betriebsübergabe bereithalten. An diesem Tag habe er den Belegschaften freizugeben. Abordnungen der KPD werden in die Betriebe kommen und die Betriebsübergabe vollziehen.

 

Doch als es in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1946 dunkel geworden war, schlichen sich in Hartenstein Alfred Mälich und drei seiner engsten Mitarbeiter in den Betrieb, räumten alles aus und beluden damit drei Lastwagen. Es handelte sich dabei außer den Büromöbeln, Büromaterialien und einigen Arbeitstischen um drei Textilsteppmaschinen, zwei Handhebelstanzen, sechs Ago-Spindelpressen und einer Ausputzmaschine. Ein Lager für Materialien (Leder u.a. Materialien zur Schuhherstellung) und fertige Produkte (Kinder-, Damen- und Herrenschuhe) gab es nur in Lößnitz. Dann kletterten alle Familienmitglieder auf die drei Lastwagen und man fuhr im Konvoy über Plauen nach Hof in die amerikanische Besatzungszone. – Da die Grenzwachen nur mit Holzstöcken „bewaffnet“ waren und es zwischen den Besatzungszonen keine Schlagbäume gab, hatte man beim Überqueren der Zonengrenze nichts zu befürchten.

 

Doch Alfred Mälich wollte nicht in Hof bleiben. Das war ihm zu nahe an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone. Deshalb fuhren sie bis nach Göttingen in der britischen Besatzungszone. Dort empfahl man ihm, in dem nahegelegenen Dorf Sudheim bei Northeim eine leerstehende Flugzeughalle zu beziehen. In der Flugzeughalle stellten sie alles aus der Schuhfabrik in Hartenstein Mitgenommene wieder auf. Die Familien fanden in den ehemaligen Aufenthaltsräumen der Piloten notdürftig Unterkunft.

 

In Hartenstein marschierte am Samstag, dem 1. Juni 1946 eine Abordnung der KPD mit roter Fahne und angeführt von einer Blaskapelle vormittags zur Schuhfabrik Mälich. Entsetzt musste man feststellen, dass man nur eine leergeräumte Fabrikhalle und leergeräumte Büroraume in Besitz nehmen und niemand enteignen konnte.

 

In Lößnitz hatte die Abordnung der KPD mit roter Fahne und auch angeführt von einer Blaskapelle am Nachmittag mehr Erfolg. Zwar traf man Alfred Mälich nicht an, doch die Fabrikhallen, Büroräume und das Lager waren nicht leergeräumt. Deshalb konnte man am darauffolgenden Montag sofort die Arbeit unter dem Namen „VEB Schuhfabrik Lößnitz“ (VEB = volkseigener Betrieb) wieder aufnehmen. In den leeren Räumen in Hartenstein richtete man notdürftig die „VEB Kinderschuhfabrik Hartenstein“ ein. – Alle Schuhfabriken in der sowjetischen Besatzungszone schlossen sich zur „VVB Schuhfabriken“ (VVB = Vereinigung volkseigener Betriebe) zusammen und koordinierten ihre Produktionen (Kinder.-, Damen-, Herren-, Arbeitsschuhe, Stiefel usw.) im gesamten Gebiet der sowjetischen Besatzungszone. Die „Proletarier“ in den Fabrikhallen in Lößnitz und in Hartenstein wurden von den VEB Schuhfabriken übernommen. Die Angestellten aus den Büros hingegen wurden entlassen.

 

So wurde auch meine Patentante Elfriede arbeitslos. Sie fand aber schnell Arbeit als Küchenhilfe in einer Kantine für Uran-Bergleute in Aue. Dorthin konnte sie täglich mit der Bahn zur Arbeit fahren. Und sie hielt regelmäßigen Briefkontakt zu Alfred Mälich in Sudheim bei Göttingen. So erfuhr sie, dass sich dort schon bald eine wachsende Schuhfabrik entwickelte. Deshalb entschloss sie sich 1954 mit ihren beiden Söhnen aus Hartenstein nach Sudheim zu fliehen. Ihr Ehemann befand sich noch in russischer Kriegsgefangenschaft.

 

Elfriede erhielt in der Schuhfabrik Mälich in Sudheim wieder im Büro eine leitende Stelle. Aus der ehemaligen Fliegerhalle war inzwischen eine Schuhfabrik mit mehreren Fabrikhallen geworden. Alfred Mälich hatte nicht nur für sich und die drei mit ihm geflohenen Familien Häuser bauen lassen, sondern insgesamt für seine Mitarbeiter über fünfzig Wohnungen. Als 1958 in Michigan in Amerika die Marke „Hush Puppies“ gegründet wurde und in 120 weiteren Ländern Partner suchte, nahm Alfred Mälich sofort Kontakt dahin auf und produzierte diese Marke bis 1970. In dieser Zeit wuchs die Schuhfabrik Mälich rasant.

 

Fritz kehrte 1955 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Er hatte gelernt, dass Ideologien, sei es die nationalsozialistische oder die kommunistische, das Denken der Menschen in eine Richtung lenkten, sie sogar zu unmenschlichen Handlungen veranlassten und ihre Freiheiten einschränkten. So kam er nicht mehr mit Elfriede klar, welche immer noch Adolf Hitler geradezu vergötterte, trennte sich von ihr und zog von Sudheim weg.

 

Als ich 1964 Elfriede besuchte, die inzwischen als Rentnerin allein in Hannover lebte, musste ich mir anhören, dass sie immer noch fest an Adolf Hitler glaubt, welcher einmal wie Jesus Christus wieder auferstehen und Deutschland erlösen werde. Sie war sehr von mir, ihrem ehemaligen Patenkind enttäuscht, dass er ihren Glauben nicht teilte, sondern sie als unbelehrbare Nazistin bezeichnete. Daraufhin bat sie mich, die Wohnung zu verlassen und meinte, sie wolle mich nie wieder sehen.

 

Die bis zur Wende volkseigenen Schuhfabriken in Lößnitz und Hartenstein wurden im Juni 1994 aufgelöst, in der Schuhfabrik Mälich in Sudheim bei Göttingen werden seit der 1970er Jahre keine Schuhe mehr produziert, sondern nur noch Schuhe anderer Hersteller verkauft.

Impressum

Cover: Die Schuhfabrik in Lößnitz nach einem Prospekt von 1937
Satz: Zuerst im Januar 2025 unter www.belletistica.com veröffentlicht. Doch die Website ist oft nicht erreichbar und wird am 31.12.2025 abgeschaltet.
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2025

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