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Was nun?

Obwohl man es seit Langem befürchtet hat, reagieren Ampel-Koalition und CDU auf die über 30 % der Wählerstimmen bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen und 29,2 % in Brandenburg für die AfD mit einer Migrationspolitik, wie sie von rechts gefordert wird, um die Wählerinnen und Wähler wieder für sich zurückzugewinnen.

 

Im Wahlkreis Erzgebirge 5, zu welchem auch das Städtchen Hartenstein gehört, in welchem ich geboren wurde und die ersten fast 19 Jahre meines Lebens verbrachte, wählten 35,7 % AfD und 3,3 % die „Freien Sachsen“, also insgesamt 39,0 % rechts bzw. rechtsradikal. Der AfD-Kandidat Arthur Österle erreichte damit das Direktmandat für den sächsischen Landtag. Österle war Polizist, wurde wegen rechtsradikaler Aktionen verurteilt, vom Polizeidienst suspendiert und verlor seinen Beamtenstatus.

 

All das führte dazu, dass ich mal nachforschte, wie sich die Sachsen in den letzten hundert Jahren bei Wahlen verhalten haben.

 

Bei der ersten Wahl zum sächsischen Landtag der Weimarer Republik im September 1922 wählten 41,8 % SPD und 10,5 % USPD (die spätere KPD). Aber schon bei der letzten Wahl zum Weimarer Landtag im September 1932 wählten 41,2 % die NSDAP - also schon vor der Machtergreifung der Nazis am 30. Januar 1933.

 

Über die Zeit des Bestehens der DDR kann man zum Vergleich keine Wahlergebnisse heranziehen, denn ca. 99 % wählten die „Nationale Front“ und damit die SED. 16,8 % aller Menschen vom Säugling bis zum Betagten waren Mitglied der SED und fast ebenso viele waren Kandidat der SED und warteten darauf, in die Partei aufgenommen zu werden. 1949 waren über 30 % der SED-Mitglieder ehemalige Mitglieder der NSDAP, - und damit fast ebenso viele wie ehemalige NSDAP-Mitglieder, welche der NDPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) beigetreten waren.

 

Wer, wie meine Brüder und ich, nicht dem Aufruf zur offenen Wahl folgte, sondern nach einer Wahlkabine fragte, die sich stets in der hintersten Ecke des Wahllokals befand, wurde verdächtigt, nicht die „Nationale Front“ gewählt zu haben.

 

Die Volkskammer der DDR hatten 1981 als „Nationale Front“ nach offiziellen Angaben 99,8 % gewählt. Die Volkskammer hatte 500 Sitze. Ihre Zusammensetzung war festgelegt und stand damit fest: 25,4 % und damit 127 Sitze bekam die SED, 10,4 % = 52 Sitze die DBP (Deutsche Bauernpartei), 10,4 % = 52 Sitze die CDU, 10,4 % = 52 Sitze die LDPD (Liberaldemokratische Partei Deutschlands), 10,4 % = 52 Sitze die NDPD, 13,6 % = 68 Sitze der FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund), 8,0 % = 40 Sitze die FDJ (Freie Deutsche Jugend), 7,0 % = 35 Sitze der DFB (Deutscher Frauenbund) und 4,4 % = 22 Sitze der KB (Kulturbund). Damit hatte die SED gemeinsam mit DBP, FDGB, FDJ, DFB und KB 68,8 % = 344 Sitze und immer eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

 

Und heute wählen in Sachsen 30,5 % die AfD. Aber nur 6 % der Menschen in Sachsen sagen, dass es ihnen persönlich schlecht geht. Die Mehrheit der AfD hat andere Gründe.

 

Auch die häufig vorgetragene Auffassung, die Ostdeutschen verstünden die Russen besser als andere und seien deshalb gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, halte ich für einen Mythos. In DDR-Zeiten hatten nur wenige Gelegenheit, nach Russland zu reisen, und dann nur in Städte wie Moskau oder Leningrad (welche heute wieder Petersburg heißt). Mit der Landbevölkerung hatte man keinen Kontakt. – Ich selbst hatte erst nach der Wende 1990 Gelegenheit, mit einem Hilfstransport in ein russisches Kinderheim zu reisen. Als Jugendlicher erlebte ich die Russen nur als diejenigen, welche die Reparationsleistungen nach dem von Deutschland verlorenen Krieg gnadenlos in die Tat umsetzten. Deshalb sangen wir: „Deutschland, Deutschland ohne alles, ohne Butter, ohne Speck. Und das bisschen Marmelade fressen uns die Russen weg.“ – In der Schule wurde uns erzählt, dass der russische Wissenschaftler Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935) die Elektrizität, die Glühbirne, das Telefon, die Dampfmaschine, den Reisverschluss u.v.m. erfunden habe. So sangen wir auf einer Klassenfahrt der Berufsschule: „Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält. Drum essen wir auf dieser Reise Marmelade zentnerweise.“

 

Nach der Wende konnte es den Ostdeutschen nicht schnell genug gehen, dass die russischen Soldaten Deutschland verlassen. Das konnte ich beim Brockenlauf im September 1991 erleben, als wir auf dem Brockengipfel die russische Kaserne passierten. „Weshalb seid ihr noch da?“ war vielfach von den ostdeutschen Läuferinnen und Läufern zu hören.

 

Wenn man solche Fakten betrachtet und auch den Rechtsruck in anderen Ländern wie z.B. Österreich erlebt, kommt man zu dem Schluss, dass die Menschen allgemein – und speziell in Sachsen – ihr „Mäntelchen nach dem Wind“ richten. Mal kommt der Wind von links, mal von rechts. Das legt den Schluss nahe, dass es weder der Ampel-Koalition noch der CDU gelingen wird, mit einer rechten Migrationspolitik die Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzuholen. Deshalb kann man ihnen nur raten, ihrer ursprünglichen Haltung und Zielrichtung treu zu bleiben: die sozialen Demokraten dem Sozialen, die christlichen Demokraten dem Christlichen, die Grünen einer konsequenten Klimapolitik. – Sich dem Wind von rechts, dem Rechtsruck zu beugen, wird nichts bringen. Es wird nur dazu führen, dass unsere Demokratie ihr Gesicht verliert.

 

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Satz: Zuerst im Oktober 2024 unter www.belletristica.com veröffentlicht. Doch die Website ist oft nicht erreichbar und wird am 31.12.2025 abgeschaltet.
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2025

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