Habe ich meine Freude am Theaterspiel als Talent am Schauspielern gesehen und damit falsch verstanden? Habe ich gar kein Talent?
Meine ersten „Schauspiel“-Erfahrungen hatte ich als Siebenjähriger im Herbst 1945 nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Es war ein halbes Jahr nach dem Ende des Kriegs. Wir lebten in der Kleinstadt Hartenstein im Erzgebirge, also in der sowjetischen Besatzungszone. Da meine Eltern damals überzeugte Nationalsozialisten waren, wurden meine Brüder und ich überall ausgegrenzt. Wir durften nicht an der Schulspeisung teilnehmen, bekamen keine Bezugsscheine für ein paar neue Winterschuhe und mussten barfuß laufen. Häufig wurden wir von größeren Kindern verprügelt, wenn wir uns draußen sehen ließen. Und wenn wir irgendwo mitspielen wollten, jagte man uns mit den Worten weg: „Eure Eltern sind mit schuld, dass es uns jetzt so dreckig geht.“
In dieser Situation sprach uns die Gemeindehelferin und Katechetin unserer Kirchengemeinde an und bot meinem Bruder Albrecht und mir an, beim Krippenspiel beim Weihnachtsgottesdienst mitzuspielen. Ich durfte einen kleinen Hirtenjungen spielen, der vor der Krippe kniend die erste Strophe des schönen alten Weihnachtsliedes „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt aufsagen durfte. Das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich bis 1957 jedes Jahr beim Weihnachtsgottesdienst am Krippenspiel mitgewirkt habe.
Im Sommer 1949 wurde in unserer Schule eine Theater-AG gegründet, welche zu Beginn des neuen Schuljahrs ihre Tätigkeit aufnahm. Ich meldete mich zur Mitarbeit in dieser AG. Zunächst spielten wir nur kleine Stücke für Elternabende. Doch schon im Frühjahr 1950 begannen wir mit den Proben für ein größeres Theaterstück, welches wir auf der Bühne im Clubhaus für die Bevölkerung des Ortes aufführen wollten. Es handelte sich um das Märchen „Die zwölf Monate“, welches die tschechische Schriftstellerin Božena Němcová 1842 geschrieben hatte. Uns wurde damals aber gesagt, es stamme von dem sowjet-russischen Schriftsteller Samuil Marschak (1887-1964). Es erzählt davon, dass eine böse Stiefmutter Marie im Winter in den Wald jagt, um dort Veilchen, Erdbeeren oder Birnen zu sammeln. Mit Hilfe der zwölf Monate, die ihr im Wald begegneten, fand sie tatsächlich mitten im Winter die geforderten Früchte. Ich spielte in diesem Theaterstück den Wolf, der Marie beschützte. – Wir führten das Stück mehrmals im Clubhaus und auch in umliegenden Dörfern auf.
Die zwölf Monate: Ich als Wolf (rechts)
Drei Jahre lang wurden die Proben für das Krippenspiel von der Katechetin geleitet. Doch dann ging sie in den Ruhestand. Deshalb wurde in der Jungen Gemeinde von meinem Bruder Ekkehard ein Laienspielkreis gebildet. Dieser führte nicht nur in jedem Jahr im Weihnachtsgottesdienst ein Krippenspiel auf, sondern begann bald damit, sogenannte Verkündigungsspiele, d.h. Anspiele zu biblischen Texten oder die Beschreibung besonderer Lebenssituationen und die Haltung dazu aus christlicher Sicht. – Oft traten wir mit den Verkündigungsspielen auch in anderen Kirchengemeinden auf. Und zu besonderen Anlässen spielten wir auch Lustspiele, Sketche oder führten Pantomimen auf.
Ich bei einem Lustspiel
Besondere Erinnerungen habe ich an das Lustspiel „Die Floh-Jagd“. Der Biologie-Professor Martin Gollmer beschäftigte sich mit dem Verhalten der Flöhe, welche er zu Hause in einem Glas beobachtete. Dabei fiel ihm das Glas aus der Hand und zerbrach. Daraufhin verbreiteten sich die Flöhe in der ganzen Wohnung. Im Lustspiel wurden die wunderlichsten Ereignisse gespielt, welche sich aus dieser Situation ergaben. Ich hatte den Biologie-Professor Martin Gollmer zu spielen. – Noch heute sitzt mir eine Passage aus dieser Rolle im Gedächtnis:
„Es ist klar: alle Muskelbewegungen gehen nach den Gesetzen der Hebelwirkung vor sich. Drehpunkte sind die Gelenke. Zur Fortbewegung bedarf es zweier Muskeln, welche dieselbe Tätigkeit, aber in gegengesetzter Richtung ausführen, indem sich der eine zusammenzieht und das Glied verkürzt und der andere es streckt. Genaueste Messungen haben festgestellt, dass …“
Und zu seiner Frau Amalie gewandt sagt er:
„Der Floh – lateinisch Pulex, gehört zu den interessantesten Insekten, die wir kennen. Wenn du nur mal den Wunderbau seiner Beine betrachten würdest: welche Kraft, welche Energie! Ich kann dir gerade ein selten gelungenes Präparat unter dem Mikroskop zeigen.“
Um meine schauspielerischen Fähigkeiten zu verbessern, nahm ich einige Male an Lehrgängen teil, welche die evangelische Kirche für Mitglieder von Laienspielgruppen anbot. Da das der Kirche in der DDR verboten war, wurden diese Lehrgänge stets als Bibel-Seminare an Wochenenden oder in der Urlaubszeit ausgeschrieben. Nur Eingeweihte wussten, worum es in Wirklichkeit ging. Am nachhaltigsten war für mich ein einwöchiger Lehrgang im Sommer 1954 im Gemeindehaus in Lancken-Granitz auf der Insel Rügen.
In meiner Heimatstadt Hartenstein im Erzgebirge plante man 1957 eine historische Begebenheit der Gegend aus dem Mittelalter als Freiluft-Theaterstück aufzuführen. Im Schloss Stein bei Hartenstein im erzgebirgischen Muldental lebte um 1455 der Ritter Kunz von Kaufungen. Er hatte mit seinen Rittern dem Kurfürsten Friedrich III. vom Schloss Altenburg (damals Sachsen, seit 1920 Thüringen), bei einer kriegerischen Auseinandersetzung geholfen, dafür aber nicht die zugesagten Ländereien als Entlohnung erhalten. Das ärgerte ihn maßlos und er musste sich mit Überfällen auf Fuhrwerke von Kaufleuten, die zur Leipziger Messe fuhren, als Raubritter über Wasser halten. Da kam er auf die Idee, die beiden zehn- und zwölfjährigen Söhne des Kurfürsten Friedrich III. Ernst und Albrecht vom Schloss Altenburg zu entführen. (Das war wohl das erste beschriebene Kidnapping der Menschheitsgeschichte). In der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1455 entführte Kunz von Kaufungen mit den Rittern Wilhelm von Schönfels und Wilhelm von Mosen die beiden Prinzen. Die Absicht der Entführer, mit den beiden Prinzen nach Böhmen zu seinen Besitzungen unter der Herrschaft des böhmischen Königs zu gelangen und von dort ein Lösegeld auszuhandeln, scheiterte jedoch schon am ersten Tag. Kunz mit Albrecht und seine Mithelfer mit Ernst trennten sich auf der Flucht. Kunz wurde in einem Wald gestellt. Mosen und Schönfels kamen mit dem anderen Prinzen über Zwickau in die Hartensteiner Flur. Dort versteckten sie Prinz Ernst in einer Höhle. (Heute ist die „Prinzenhöhle“ ein beliebtes Ausflugsziel). Nachdem sie von Spaziergängern von der Festsetzung Kunz von Kaufungen hörten, und dass damit ihr Plan zum Scheitern verurteilt war, nahmen sie Verhandlungen mit dem Hartensteiner Schlossherrn auf und erreichten Straffreiheit und freien Abzug mit anschließendem Exil im Austausch gegen Prinz Ernst. Kunz von Kaufungen wurde nach einem Prozess in Freiberg enthauptet.
Diese Begebenheit wurde als Freilicht-Theaterstück auf dem Schlosshof des Schlosses Stein aufgeführt. Die Laienspielgruppe der Jungen Gemeinde Hartenstein nahm an dem Theaterstück aktiv teil. Ich durfte den Kanzler Haugwitz spielen, welcher den Prozess gegen Kunz von Kaufungen leitete und ihm das Todesurteil zu verkünden hatte.
links: Kanzler Haugwitz
Seitdem wird das „Lied vom Prinzenraub“ in jedem Jahr aufgeführt, nun allerdings nicht mehr im Schlosshof des Schlosses Stein, sondern auf der Freilichtbühne der Ruine des Schosses Hartenstein. Dort besuchte ich das Freiluft-Theater nach der Wende.
Der Prinzenraub: Auf einer Strickleiter am Altenburger Schloss
Nach meiner Flucht als Neunzehnjähriger im März 1958 aus der DDR nach Westdeutschland suchte ich nach einer Möglichkeit, mich neben meiner Tätigkeit im Steinkohlenbergbau in Bochum wieder als Laienspieler zu betätigen. Da kam mir eine Anzeige der Schauspielschule Bochum in die Hände. Man suchte talentierte junge Frauen und Männer für eine Ausbildung zum Schauspieler ab September 1958. Kurz entschlossen bewarb ich mich. In meiner Bewerbung hob ich meine über zehnjährige Erfahrung bei Krippenspielen, in der Laienspiel-AG der Jungen Gemeinde, in der Theater-AG unserer Schule und meine Erfahrungen beim Freiluft-Theater hervor. Daraufhin erhielt ich eine Einladung zum Vorsprechen (heute würde man das Casting = Auswahlverfahren nennen.). Ich bereitete mich intensiv darauf vor, las viele Theaterstücke wie z.B. Wilhelm Tell, Kabale und Liebe, Faust, Egmont, Natan der Weise, Die Dreigroschen-Oper und Biographien über Goethe, Schiller, Lessing und Brecht.
Dann war es so weit. An einem Morgen fuhr ich mit der Straßenbahn zur Schauspielschule Bochum. Dort wurde ich in einen Raum geführt, wo schon einige junge Frauen und Männer saßen. Einzeln wurden wir nacheinander in einen anderen Raum gebeten. Zu meiner Verblüffung kamen schon alle nach sehr kurzer Zeit wieder zurück. Schließlich war ich an der Reihe. Ich betrat einen Raum, wo an einem langen Tisch etwa zehn Frauen und Männer saßen. Ohne lange Vorreden bat man mich, spontan folgenden Satz schauspielerisch darzustellen: „Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende“. Vor dem Tisch der Jury brach ich zusammen und stammelte dabei die beiden Sätze. Das wars. Ohne weitere Fragen zu stellen, wurde ich wieder hinausgebeten. Nun wartete ich wie die anderen darauf, wie es nun weitergehen soll. Alle, die zur Jury gebeten wurden, kamen nach kurzer Zeit wieder zurück. Einige sagten, dass sie angenommen worden seien, andere, dass man sie abgelehnt habe. – Nun war ich an der Reihe und wurde in den Raum gebeten. Einer von der Jury sagte mir, dass ich für den Beruf des Schauspielers völlig untalentiert und ungeeignet sei.
Deprimiert verließ ich dieses Vorstellungsgespräch, habe mich bei keiner anderen Schauspielschule beworben, nie mehr den Kontakt zu einer Laienspielgruppe gesucht und bis heute nie wieder auf einer Bühne gestanden.
Cover: Schloss Stein im erzgebirgischen Muldental
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2025
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