Mein Beitrag zum 155. Dear Diary-Wettbewerb
Das Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut“ wird dem vor über zweitausend Jahren gelebten römischen Dichter Ovid zugeschrieben. Doch ob das stimmt, weiß niemand. Die auf vielen Social-Media-Kanälen präsente indische Bloggerin Sanhita Barua schrieb einmal „Gute Dinge brauchen Zeit, bessere Dinge brauchen etwas länger.“ Aber ob alles, was lange währt, wirklich gut wird, kann man nicht behaupten.
Der Gewinner des 154. Dear Diary-Wettbewerbs hat gut daran getan, nur den ersten Teil des Sprichworts zum Thema des 155. Wettbewerbs zu machen. Damit hat jede bzw. jeder die Möglichkeit, selbst zu wählen, ob aus ihrer bzw. seiner Sicht alles, was lange währt, gut wird oder weniger gut, oder ob sich trotz der langen Zeit nichts zum Guten oder Schlechten verändert hat. Am Ende kommt es schließlich darauf an, von welchem Zeitpunkt her man eine Situation betrachtet, um einschätzen zu können, ob alles gut geworden ist oder nicht. – Wie ich das erlebt habe, möchte ich am Lebenslauf meines Vaters verdeutlichen.
Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde mein Vater im August 1939 als 40jähriger Mann als Soldat eingezogen. Ich war damals gerade ein Jahr alt. Bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 habe ich ihn nur fünfmal für ein paar Tage im Urlaub erlebt. Nach der Kapitulation kam er in Jugoslawien in ein Kriegsgefangenenlager. Dort hat er fast sieben Jahre vegetieren müssen. Erst als der Bundeskanzler Konrad Adenauer erfolgreich mit dem jugoslawischen Staatspräsidenten Tito verhandelt hatte, kam er 1952 kurz vor meiner Konfirmation als 53jähriger frei. – Ich war damals fast vierzehn Jahre alt und war ebenso wie meine vier Geschwister nur durch die Erziehung unserer Mutter geprägt worden.
Wenn man nur diese dreizehn Jahre im Leben meines Vaters betrachtet, kann man sagen, dass das eine lange Zeit war, und dass am Ende alles gut ausgegangen ist. Mein Vater ist nicht wie viele seiner Kameraden im Krieg gefallen und liegt nicht irgendwo in einem fremden Land begraben. Er konnte in seine Familie zurückkehren, auch wenn er an der Erziehung und Bildung seiner fünf Kinder dreizehn Jahre nicht mitwirken konnte.
Doch wenn man diese dreizehn Jahre in Verbindung zu seinem gesamten Lebenslauf betrachtet, muss man diese Zeit als verlorene Jahre ansehen, zumal sie ihn körperlich und seelisch verändert haben. Wir haben ihn nicht als den sportlichen und fröhlichen Menschen erlebt, den unsere Mutter aus den zwölf Ehejahren von 1927 bis 1939 beschrieben hatte, bevor er als Soldat eingezogen wurde. – Wir haben ihn nur als stillen und ersten Menschen erlebt.
Da ich im Frühjahr 1958 als Neunzehnjähriger über Nacht aus der DDR fliehen musste, um nicht in einem DDR-Gefängnis zu landen, habe ich meinen Vater nur fünfmal als Soldaten im Urlaub, sechs Jahre lang als Vierzehn- bis Neunzehnjähriger und zweimal wenige Tage in West-Berlin vor dem Mauerbau erlebt.
Doch auf den Bau der Elbphilharmonie in Hamburg, umgangssprachlich liebevoll von den Hamburgern auch Elphi genannt, trifft das Sprichwort „Was lange währt, wird endlich gut“ zu. 2001 wurde der Plan zum Bau der Öffentlichkeit vorgestellt. 2007 wurde nach einem Beschluss durch die Hamburger Bürgerschaft mit dem Bau begonnen und sollte bis 2010 fertig gestellt sein. Doch erst am 31. Oktober 2016 konnte das fertige Gebäude der Öffentlichkeit übergeben werden. Die Baukosten betrugen am Ende mit rund 866 Millionen Euro mehr als das Elffache der ursprünglich geplanten 77 Millionen Euro. Trotzdem ist die Elphi aus Hamburg nicht mehr wegzudenken.
Deshalb lautet für mich das Sprichwort: „Was lange währt, hat gute und schlechte Seiten“.
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2025
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