Der Schreibwettbewerb regt dazu an, über (un)geliebte Verwandte zu schreiben. Doch ich muss das „Un“ weglassen, denn es gibt für mich keine ungeliebten Verwandten. Ich hatte nur einen Onkel, der sich nicht so sehr um ein engeres Verhältnis zu seiner Verwandtschaft kümmerte. Er bekam aber von uns in jedem Jahr zum Weihnachtsfest und zu seinem Geburtstag einen Gruß. Dagegen hatte ich zu meinem Bruder Albrecht, der drei Jahre älter war als ich, ein sehr enges Verhältnis. Während seines Studiums zum Bauingenieur kam er an jedem Wochenende nach Hause und verbrachte dort viele Stunden an seinem Zeichenbrett, um in aller Ruhe Bauzeichnungen anzufertigen. Das beeindruckte mich so sehr, dass ich mir auch ein großes Zeichenbrett zulegte und Zeichnungen von Maschinen im Bergbau und über den Ausbau unter Tage mit schwarzer und farbiger Dusche anfertigte. Diese nahm ich mit zur Bergbau-Berufsschule, welche ich als Berglehrling besuchte. Dort wurden sie als Anschauungsmaterial verwendet, denn so was gab es Anfang der fünfziger Jahre in der DDR kaum.
Als ich im März 1958 ganz plötzlich eines nachts in den Westen fliehen musste, ohne mich von Albrecht verabschieden zu können, litten wir beide unter der Trennung und schrieben uns viele Briefe. Dabei kamen wir auf die Idee, jeweils die gleichen Bücher zu lesen und uns gegenseitig mitzuteilen, welche Formulierungen uns besonders aufgefallen sind, etwa bei Tolstoi oder Dostojewski. Die Bücher dieser russischen Schriftsteller konnte man auch in der DDR offiziell erwerben. Doch dann kamen wir auf die Idee, uns auch über Bücher auszutauschen, welche in der DDR verboten oder nicht erhältlich waren. Um das möglich zu machen, kaufte ich die entsprechenden Bücher doppelt. Das eine Buch gab ich einem mit uns befreundeten Pastor in West-Berlin. Dieser stempelte es mit dem Vermerk „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“, packte es in seine Aktentasche und fuhr damit zu Albrecht, der inzwischen in Ost-Berlin als Bauingenieur arbeitete. – Eine Reise von West-Berlin nach Ost-Berlin war vor dem Mauerbau am 13. August 1961 noch problemlos möglich. So konnte ich mich mit Albrecht über das gelesene Buch austauschen. Wir teilten uns gegenseitig die jeweiligen Seiten mit.
Als 1958 der russische Schriftsteller Boris Pasternak für sein Werk insgesamt und besonders für seinen Roman „Doktor Schiwago“ den Literaturnobelpreis erhalten sollte, ihn aber auf Weisung des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow ablehnen musste, kaufte ich auch dieses Buch für Albrecht. In mehreren Briefen tauschten wir uns über diesen Roman aus, denn wir fanden insgesamt 19 Übereinstimmungen, insbesondere darüber, wie sich Pasternak mit der Frage auseinandersetzte, ob der Marxismus eine Wissenschaft sei. An einer Stelle schreibt er:
„Der Marxismus zeigt zu wenig Selbstbeherrschung, um eine Wissenschaft zu sein. Die Wissenschaften sind für gewöhnlich ausgeglichener und gerechter. Marxismus und Objektivität? Ich kenne keine geistige Bewegung, die mehr auf sich selber bezogen und weiter entfernt von den Tatsachen wäre als der Marxismus. Jedermann bemüht sich, seine Ideen durch die praktische Erfahrung nachzuprüfen. Die Machtmenschen jedoch tun alles nur Erdenkliche, um der Wahrheit den Rücken zu kehren, weil sie an den Mythos von der eigenen Unfehlbarkeit glauben. Die Politik sagt mir nichts. Ich mag die Menschen nicht leiden, die sich der Wahrheit gegenüber gleichgültig verhalten.“
In Briefen an Albrecht brachte ich immer wieder zum Ausdruck, wie sehr ich darunter leide, dass ich meine erzgebirgische Heimat verlassen musste und mein Kontakt zu ihm nur brieflich erfolgen kann. Und keiner kann vorhersagen, ob sich das jemals ändern wird. So reifte in Albrecht der Entschluss, mich einmal in Westdeutschland zu besuchen. Konkret reifte in uns die Idee, dass er vierzehn Tage Urlaub in Westdeutschland machen werde. Da es in der DDR nicht möglich ist, eine Ausreisegenehmigung für einen vierzehntägigen Urlaub in Westdeutschland zu erhalten, muss das illegal geschehen. Wir entwickelten den Plan, dass er von West-Berlin nach Hannover fliegen wird. Dort werde ich ihn mit dem Motorrad abholen. Dann wollen wir gemeinsam mit einem kleinen Zelt durch Westdeutschland fahren und auf Campingplätzen übernachten.
Wir konnten diesen Plan nur sehr verschlüsselt entwickeln und uns mitteilen, denn man musste damit rechnen, dass die Briefe von der Stasi kontrolliert werden. Als alles geklärt war, kaufte ich eine Flugkarte und veranlasste eine Hinterlegung bei der Fluggesellschaft Pan-Am im Flughafen in Berlin-Tempelhof. Um Albrecht in Hannover abzuholen, fuhr ich mit meinem Motorrad von Schwelm bei Wuppertal, wo ich gerade im Rahmen meiner Ausbildung zum Diakon und Sozialarbeiter ein Praktikum ableiste, nach Hannover.
Von Hannover fuhren wir mit Motorrad und Zelt in den Westerwald, danach in den Schwarzwald und von Garmisch-Partenkirchen aus mit der Zugspitzbahn auf Deutschlands höchsten Berg, die 2.962 Meter hohe Zugspitze. Schließlich fuhren wir noch nach Oberstdorf im Allgäu, um dort die Skisprungschanze zu besteigen und danach bis nach Baad, dem letzten Ort des Kleinwalsertals. Von dort unternahmen wir eine Tageswanderung hinauf zum 2.533 Meter hohen Großen Widderstein.
Von Baad im Kleinwalsertal fuhren wir wieder zurück nach Hannover, denn Albrecht wollte wieder zurück in die DDR. Er vertrat die Meinung, dass in der DDR auch Menschen leben müssen, welche mit dem kommunistisch-atheistischen System nicht einverstanden sind. So arbeitete er auch weiterhin als Bauingenieur mit dem Spezialgebiet Statik beim Brückenbau in Ost-Berlin. Wir vereinbarten aber, solche gemeinsamen Urlaube regelmäßig einmal jährlich zu veranstalten. Doch dazu kam es nach dem Mauerbau am 13. August 1961 nicht mehr.
Nach dem Mauerbau meinte Albrecht im Kollegenkreis, dem er vertraute, er habe nie großes Vertrauen zu Walter Ulbricht gehabt, und nun habe er gar keines mehr. Doch er wurde mit seiner Äußerung durch einen Kollegen bei der Stasi verpfiffen und verhaftet. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung fand man auch verbotene Bücher aus dem Westen. Albrecht wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Davon saß er drei Jahre im Gefängnis Berlin-Rummelsburg ab und wurde wegen „guter Führung“ nach drei Jahren entlassen. Das vierte Jahr wurde zur Bewährung ausgesetzt. Doch als Statiker durfte er nicht mehr arbeiten. Er bekam den Auftrag, Baupläne für den Wiederaufbau historischer Gebäude wie den Berliner Dom oder die Dresdner Frauenkirche anzufertigen. (Ob man diese Baupläne beim Wiederaufbau dieser Gebäude nach der Wende benutzt hat, ist unbekannt.)
Nach der Haftentlassung heiratete er 1964 seine langjährige Freundin und bekam mit ihr eine Tochter. Doch die Ehe hielt nur fünf Jahre. Seine Tochter durfte er als Vorbestrafter nur einmal im Monat für zwei Stunden sehen. 1970 heiratete er zum zweiten Mal. Nachdem Erich Honecker im Frühjahr 1971 Staatsratsvorsitzender in der DDR wurde, konnte ich als „Republikflüchtling“ wieder ungehindert in die DDR reisen und besuchte Albrecht mit meiner Familie mehrmals jährlich in Ost-Berlin.
1987 verstarb Albrecht im Alter von 51 Jahren nach einem heftigen Asthmaanfall im Krankentransporter auf dem Weg ins Krankenhaus, da dieser über kein Atmungsgerät verfügte. - An Asthma litt er seit seiner frühen Kindheit. Doch das hatte sich wegen der schlechten Haftbedingungen noch verstärkt. Seine Tochter haben wir bei seiner Beerdigung kennengelernt und pflegen noch heute intensiven Kontakt zu ihr und ihrer Familie.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2025
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