Im Sommer 1986 begaben wir uns zu dritt (Ursula, unsere zehnjährige Tochter Ulrike und ich) ins Slowakische Paradies in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR), nachdem wir bereits im Sommer 1972 unseren Urlaub in der Hohen Tatra verlebt hatten. Unsere beiden älteren Töchter waren auf Ferienfahrt mit einer evangelischen Jugendgruppe. Wir mussten im Unterschied zu Bürgern der DDR als Westdeutsche für die Einreise in die CSSR ein Visum beantragen. Für Bürger der DDR war das damals das einzige Land, in welches sie ohne Visum einreisen durften. Die visumfreie Einreise nach Polen ab 1972 war nach Gründung der polnischen Gewerkschaft „Solidarnosch“ im Jahr 1980 wieder zurückgenommen worden.
Wir wollten mit meinem Bruder Ekkehard und seiner Familie aus der DDR einen gemeinsamen Campingurlaub im Ausland verbringen. Hierfür hatten wir uns das Slowakische Paradies (Slovensky Rai) in der Niederen Tatra ausgesucht. Das Slowakische Paradies wurde 1988, zwei Jahre nach unserem Besuch, zum Nationalpark erklärt. Es ist ein Gebirgszug im Zentrum der Slowakei am Rande der Karpaten, zwischen 800 und 1.100 Meter hoch gelegen. Dieser Gebirgszug ähnelt mit seinen steilen Wänden und einer flachen Hochebene einem riesigen Baumstumpf. Slovensky Rai ist geprägt durch zahlreiche Schluchten und Wasserfälle. In den Schluchten wurden spektakuläre Wanderwege (u.a. mit freistehenden Leitern und Drahtseilen gesichert) angelegt. Auch zahlreiche Höhlen sind hier zu finden.
Mein Bruder Ekkehard hat während seines dreijährigen Theologiestudiums in Ostberlin einen tschechischen Theologiestudenten als Zimmerkollegen gehabt und beherrscht daher recht gut die tschechische Sprache. So kamen wir gut zurecht, obwohl man in dieser Gegend slowakisch spricht, eine eigenständige Sprache, welche mit dem Tschechischen verwandt ist. Seit 1. Januar 1993 ist die Slowakei mit ihren 5,5 Millionen Einwohnern ein souveräner Staat, der im März 2004 Mitglied der NATO und im Mai 2004 Mitglied der EU wurde. Seit dem 1. Januar 2009 gilt der Euro als Landeswährung.
Der Campingplatz liegt am Fuß des Gebirgszugs Slovensky Rai am Rande des kleinen Städtchens Podlesok. Im ADAC-Campingführer wurde und wird noch heute dieser Platz als landschaftlich sehr schön gelegen mit Blick auf den höchsten Berg der Hohe Tatra, die Gerlsdorfer Spitze (Gerlachovský štít oder umgangssprachlich Gerlachovka) mit 2655 Metern, jedoch mit sehr einfachen Sanitäranlagen beschrieben. Es gab keine Duschen, und waschen musste man sich überdacht im Freien. Aber damals war es noch erlaubt, vor seinem Zelt ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. Und der Platzwart wies uns als gemeinsamer Gruppe aus Ost- und Westdeutschen ein entlegenes Plätzchen zu, wo wir uns ungestört austauschen konnten.
Schon am Morgen nach unserer Ankunft begaben wir uns auf Wanderschaft. Auf einem Klettersteig mit Leitern durch die Kysel-Schlucht begaben wir uns hinauf auf die Hochebene nach Klastorisko, einem ehemaligen Kloster, welches heute Touristenzentrum mit Restaurant ist. Dort kreuzen sich viele Wanderwege der Gegend. Und das Restaurant bot wie überall in der ehemaligen CSSR im Unterschied zur DDR ein reichhaltiges Angebot an Speisen und Getränken.
Wir erreichten Klastorisko genau richtig zum Mittagessen. Nachdem wir die Hochebene ein wenig erkundet hatten, begaben wir uns auf der einzigen Fahrstraße mit vielen Serpentinen wieder hinab zu unserem Campingplatz, den wir am Abend erreichten.
Um insbesondere unserer zehnjährigen Tochter Ulrike die Zeit auf der langen Wanderung etwas kurzweiliger zu gestalten, sangen wir viele lustige Lieder wie z.B.:
1. Ein Storch spazierte einst am Teiche,
da sah er eine blinde Schleiche.
Da sprach der Storch: "das ist ja wunderbar!"
und fraß sie auf mit Haut und Haar.
2. Die Schleiche lag in seinem Magen,
das konnten beide nicht ertragen.
Da sprach die blinde Schleich
" O welch ein Graus!"
und ging zur Hintertür hinaus.
3. Der Storch sah solches mit Verdrusse,
dass ihm sowas passieren musste.
Drum fraß er ohne allzu lange Wahl
den Schleichenwurm zum zweiten Mal
4. Drauf stemmt er lächelnd mit Verstande
die Hintertüre an die Wande
und sprach nach innen zu dem blinden Schleich:
"Na, bitte, wenn du kannst, entweich.
5. Da tät mit List die schlaue Schleichen
zur Vordertür hinaus entweichen;
doch fraß der Storch auch diesmal
ohne Qual voll Wut sie nun zum dritten Mal
6. Dann bracht in sinniger Erfindung
er beide Türen in Verbindung
und sprach alsdann zum Schleichenwurm hinein:
"Nun richt dich für `ne Rundreis ein!"
Besonders gern sang Ulrike gemeinsam mit uns das Lied von den Regenwürmern:
Hörst du die Regenwürmer husten?
Wie sie durchs dunkle Erdreich zieh´n.
wie sie sich winden, um zu verschwinden,
auf nimmer, nimmer wiedersehn.
Und wo sie war´n, da ist ein Loch, Loch, Loch.
Und wenn sie wiederkommen ist es immer noch, noch, noch.
Und sie erfand immer neue Strophen wie
Hörst du die Regenwürmer lachen, wimmern, weinen, feixen, kichern, niesen, röcheln, schnauben, rülpsen, furzen, trampeln, schlurfen, singen, reden, quatschen, flüstern, schreien, atmen, schnarchen …
Jeden Tag ging es auf einer anderen Route auf Leitern oder an Stahlseilen hinauf nach Klastorisko und mit Gesang am Nachmittag auf der serpentinenreichen Straße wieder hinab zu unserem Campingplatz. Dabei sammelten wir im Wald immer trockenes Holz für unser Lagerfeuer am Abend.
Ein besonderes Erlebnis war eine Wanderung teilweise auf eisernen Gittern direkt, oberhalb des fließenden Wassers des Flüsschens Biela voda (zu Deutsch Weißwasser) durch die Klamm Sucha Bela.
Wir machten auch einen Besuch bei den zahlreichen Sinti und Roma, welche in dem kleinen Städtchen Podlesok in einer eigenen abgeschlossenen Region von den anderen Einwohnern Podlesoks als „Zigeuner“ bezeichnet, in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten. – Wir hatten viel Kleingeld dabei, welches wir an die zahlreichen bettelnden Kinder verteilten.
An einem Tag besuchten wir auch eine der fast 200 Eishöhlen, die Dobšina-Eishöhle, welche wir mit einem Fremdenführer in einem Boot durchfuhren und dort Eis sahen, welches noch aus der Eiszeit vor Jahrtausenden stammen soll. Dort war der Besucherandrang heftig. Da nur wenige zur gleichen Zeit in die Höhle durften, war die Wartezeit sehr lang.
Selbst nach Jahrzehnten bleibt uns der Urlaub in Slovensky Rai ein unvergessliches Erlebnis.
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2024
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