1958 musste ich mit neunzehn Jahren meine Heimat, das Erzgebirge, bei Nacht und Nebel verlassen, weil ich „den Mund zu weit aufgemacht“ habe, was in der damaligen DDR schlimme Folgen haben konnte. Ich musste viel an zu Hause denken. An die denkmalgeschützte Kirche, wo ich immer zu Weihnachten mit dem Posaunenchor oben auf dem Turm geblasen habe. Ein besonderes Erlebnis war es, vom Kirchturm aus zu sehen, wie von allen Seiten die Menschen mit ihren Laternen durch die verschneite Landschaft auf die Kirche zuströmten, um an der Christmette am 1. Weihnachtstag morgens um 4.00 Uhr teilzunehmen.
In Teilen des Westerzgebirges verläuft das Weihnachtsfest anders als sonst überall. Am Heiligen Abend findet keine Bescherung statt, sondern erst am 1. Weihnachtstag morgens nach dem Besuch der Christmette. Am Heiligabend findet ein aufwändiges Mahl statt. In dem erzgebirgischen „Heilig-Ohmd-Lied“ heißt es in Strophe 8:
„Mer hoom aah Neinerlaa gekocht,
aah Worscht un Sauerkraut;
mei Mutter hot sich ogeplogt,
die alte gute Haut.“
(Auf Hochdeutsch: „Wir haben auch neunerlei gekocht, auch Wurst und Sauerkraut; meine Mutter hat sich abgeplagt, die alte gute Haut.“)
Im Unterschied hierzu gibt es in unserer norddeutschen Familie am Heiligabend vor der Bescherung mit Rücksicht auf die aufgeregten Kinder nur Würstchen und Kartoffelsalat. Ein ausführliches Essen mit der traditionellen Weihnachtsgans auf den Tellern findet dafür immer am 1. Weihnachtstag statt. - Heute kommen die drei Töchter mit ihren Familien am Heiligabend und auch am 1. Weihnachtstag zu uns.
Und auch an den Weihnachtsbaum neben dem Denkmal des Dichtes Paul Fleming auf dem Marktplatz in meiner Geburtsstadt Hartenstein im Erzgebirge muss ich jedes Jahr in der Adventszeit denken. – Paul Fleming wurde zum Wegbereiter der Dichtkunst in deutscher Sprache und beeinflusste damit auch Goethe und Schiller. Deshalb durfte sein Denkmal auch während der Nazizeit stehen bleiben. Und da er nach dem Dreißigjährigen Krieg als Arzt eine Delegation nach Russland begleitete, welche den Handel mit Russland wieder ankurbelte, hat sein Denkmal auch die DDR überlebt.
In den ersten Jahren allein in der Fremde hatte ich besonders in der Vorweihnachtszeit und zu Weihnachten großes Heimweh, denn gerade das Erzgebirge hat viele besondere Bräuche. Nun lebe ich schon seit über 65 Jahren in Norddeutschland, zunächst während des Studiums fünf Jahre in Hamburg und seit 1965 in Schleswig-Holstein. Und obwohl es auch hier viele Weihnachtsbräuche gibt, so stammt beispielsweise der Adventskranz aus dem Rauhen Haus in Hamburg, habe ich vieles aus dem Erzgebirge bis zum heutigen Tag in unser Familienleben übernommen, wie den Adventsstern. Während im Osterzgebirge der heute überall anzutreffende Herrnhuter Advents- und Weihnachts-Stern mit seinen 18 quadratischen und 8 dreieckigen Spitzen anzutreffen ist, findet man im Westerzgebirge häufiger den Hartensteiner Weihnachtsstern mit seinen 12 fünfeckigen Spitzen. Dieser hängt auch in jeder Advents- und Weihnachtszeit bei uns im Wohnzimmer.
Dann sind die aus Lindenholz geschnitzten Krippenfiguren zu nennen. Einige davon hat mir mein ehemaliger Klassenkamerad Karl geschnitzt und in den Westen geschickt. Nach der Wende haben Ursula und ich bei einem Besuch im Erzgebirge einen professionellen Schnitzer ausfindig gemacht, der uns noch die restlichen Figuren (die heiligen drei Könige, Ochs und Esel) in der gleichen Art schnitzte.
Eine weitere Besonderheit des Erzgebirges ist die Weihnachtspyramide, im Erzgebirge als „Laaflechter“ (Laufleuchter) bekannt. Seit der Zeit nach der Wende wird auch in Hartenstein auf dem Marktplatz (siehe Cover) wie in über 150 Orten eine große Pyramide aufgestellt. Wir haben unsere mehrstöckige Pyramide an eine unserer Töchter und die Enkelkinder weitergegeben und besitzen nur noch eine kleine Pyramide.
Natürlich darf auch der aus dem Erzgebirge stammende Nussknacker nicht fehlen:
Besonders bekannt ist auch das Räuchermännlein. In ihm wird eine Weihrauchkerze angezündet. Aus seinem Mund qualmt es dann und riecht nach Weihrauch. Räuchermännchen gibt es in vielen Formen, vom einfachen Männchen bis zu kunstvoll gebastelten Figuren:
Schließlich findet man in vielen Häusern noch eine Adventsampel. Ich habe eine solche selbst angefertigt. Ein Künstler aus dem Erzgebirge hat mir hierfür die Vorlagen gezeichnet und ich habe in vielen Stunden mit der Laubsäge die Bilder ausgesägt und dann die Ampel zusammengebaut:
Schließlich zieren noch eine Engelgruppe und ein kleiner Kerzenhalter aus dem Erzgebirge in der Vorweihnachtszeit unser Wohnzimmer:
Eine weitere Besonderheit ist der „Schwipp-Bogen“. Er hat seinen Ursprung nicht in der biblischen Weihnachtsgeschichte, sondern nimmt Bezug auf den Erzbergbau. Sein runder Bogen symbolisiert das Stollenmundloch, den Eingang in den Stollen und zeigt Bergleute, einen Menschen, welcher schnitzt und eine Frau am Klöppelstock. Heute findet man Schwipp-Bögen mit den unterschiedlichsten Motiven.
Doch einen vorweihnachtlichen Brauch aus dem Erzgebirge habe ich nicht übernommen. Man stellt dort für jeden Jungen in der Familie einen Bergmann mit Kerzen und für jedes Mädchen einen Engel mit Kerzen ins Fenster. Bei uns zu Hause standen fünf Bergmänner im Fenster. Und bei meiner Familie in Schleswig-Holstein hätten drei Engel im Fenster stehen müssen.
Bildmaterialien: Bilder 1 + 2: Foto-Buschbeck, Hartenstein, Bilder 3 - 13 Klaus-Rainer Martin
Cover: Foto: Buschbeck, Hartenstein
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2023
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