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Laufen: Hobby oder Sucht?

 

 

Seit meinem vierzehnten Lebensjahr laufe und wandere ich längere Strecken. Für kurze Sprints bin ich zu langsam. Am 7. Oktober 1978 ging ich in Liberec im Iser-Gebirge in der damaligen Tschechoslowakei als Vierzigjähriger erstmals an den Start eines einhundert Kilometer langen Marsches. Es ging darum, diese Distanz in weniger als 24 Stunden zu bewältigen. Mein fünf Jahre älterer Bruder Ekkehard, der in der DDR lebte, hatte mich zur Teilnahme überredet. Nachdem ich sechs Mal erfolgreich an diesem Marsch teilgenommen hatte, ging ich am 28. April 1985 als Sechsundvierzigjähriger in Bremen erstmals an den Start eines Marathonlaufs. Bei diesem Lauf fühlte ich mich so wohl, dass ich von 1986 bis 2010 pro Jahr an mindestens drei Marathonläufen teilnahm, jeweils in Hamburg und in Berlin. Für den dritten Marathonlauf suchte ich mir in jedem Jahr einen anderen Ort, z.B. München, Frankfurt, Duisburg, Hannover, Lübeck, Kiel, nach der Wende auch Dresden, Rostock, Wernigerode. So habe ich bis 2010 insgesamt 78 Marathonläufe bestritten, davon 23 in Berlin und 21 in Hamburg.

 

Nachdem ich sechs Marathonläufe, neun Einhundertkilometermärsche und sieben Einhundertkilometerläufe bestritten hatte, nahm ich vom 21. August bis 11. September 1987 an einem 1.015 Kilometer langen Lauf in zwanzig Tagesetappen von Timmendorfer Strand an der Ostsee bis nach Mittenwald in den Alpen teil.

 

Nach der Wende nahm ich zudem fünfzehn Mal am 26 Kilometer langen Ilsenburger Brockenlauf über den Gipfel des Brocken im Harz, zwölf Mal am 72 Kilometer langen Rennsteiglauf im Thüringer Wald und sechs Mal am 30 Kilometer langen Schweriner Fünf-Seen-Lauf teil.

 

Natürlich sind solche Läufe körperlich nur durchzuhalten, wenn man täglich lange Strecken trainiert. Darüber hinaus habe ich in dieser Zeit an 22 Halbmarathons und an über einhundert Volksläufen über zehn Kilometer teilgenommen.

 

So mancher Bekannte hat das als Sucht bezeichnet. Deshalb habe ich mich in diesen Jahren mehrfach mit der Frage auseinandergesetzt, ob mein Laufen eine Sucht ist oder nur ein ungewöhnliches und extremes Hobby.

 

„Sucht ist das nicht mehr kontrollierbare Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“ lautet die offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und weiter heißt es: „Grundsätzlich kann jeder Mensch süchtig werden. Sucht kann sich auf den Umgang mit Substanzen, die Suchtpotenzial besitzen, beziehen. Zur Sucht kann darüber hinaus (fast) jede Form menschlichen Verhaltens werden (z. B. Arbeitssucht, Spielsucht, Sucht nach sexueller Befriedigung). Jede Sucht entsteht über den Prozess: Erfahrung – Wiederholung – Gewöhnung – Missbrauch – Abhängigkeit.“ Sucht wird damit als das zwanghafte Verlangen nach bestimmten Substanzen oder Verhaltensweisen definiert. Diese Substanzen oder Verhaltensweisen werden konsumiert beziehungsweise beibehalten, obwohl negative Konsequenzen für die betroffene Person und für andere damit verbunden sind.

 

Hat mein extremes Laufen für mich und die Personen in meinem Umkreis negative Konsequenzen? Mir sind keine bewusst. Die finanziellen Belastungen blieben überschaubar. So habe ich bewusst auf kostenintensive Laufveranstaltungen wie etwa den New-York-Marathon verzichtet und immer in Turnhallen oder meinem Campingbus übernachtet. Und wenn familiäre Anlässe auf dem Terminkalender standen, hatten diese immer Vorrang vor Laufterminen. „Besser, der Mann läuft, als der Mann säuft“, ist ein von mir häufig vorgetragenes Argument.

 

Auch meiner Gesundheit hat das Laufen nicht geschadet. Doch im Juli 2010 hatte ich folgendes Erlebnis: Ich war allein zu Hause und betätigte mich mit dem Staubsauger in unserem Wohnzimmer. Auf einmal hatte ich das Gefühl, Nelly, der kleinen Jack-Russell-Hündin unserer Tochter, die gerade bei uns in Pflege war, ausweichen zu müssen und fiel dabei hin. Nur mit Mühe konnte ich wieder aufstehen, nachdem ich eine Weile gelegen hatte. Dann setzte ich meine Arbeit mit dem Staubsauger fort – und in den folgenden Tagen auch mein tägliches Lauftraining. Doch als ich im September 2010 am Berlin-Marathon teilnahm, hatte ich Probleme. Nach etwa 15 Kilometern musste ich „Gehpausen“ einlegen. Ich entschloss mich zu gleichmäßigen Intervallen, je einen Kilometer Gehen, dann einen Kilometer Laufen. So erreichte ich erst nach über sechs Stunden das Ziel. – Doch ich brachte meine schlechte Zeit in Berlin nicht mit dem Vorfall einige Wochen vorher im Wohnzimmer in Verbindung, sondern absolvierte weiterhin meine 10 Kilometer langen Trainingsläufe sechsmal die Woche und nahm auch noch an einigen anderen Läufen teil, ohne dass ich auffallend schlechtere Zeiten erreicht hätte. Doch als ich am 31. Dezember 2010 in Hamburg an einem 10 Kilometer langen Silvesterlauf teilnahm, musste ich nach etwa fünf Kilometern gehen, weil es mir in der Brust so weh tat. Ich meinte, dies habe mit der kalten Luft zu tun. Doch nach diesem Lauf war ich nicht mehr in der Lage, täglich zehn Kilometer im Laufschritt durchzuhalten. Zunehmend mehr musste ich Gehpausen einlegen. Nach zwei Wochen konnte ich gar nicht mehr laufen. Ich schrieb das immer noch dem nass-kalten Wetter zu, ohne darüber nachzudenken, dass mir das über Jahrzehnte nichts ausgemacht hatte. Um trotzdem fit zu bleiben, verlegte ich mein tägliches einstündiges Training auf das Fahrradergometer. Doch auch hier ließen meine täglichen Leistungen immer mehr nach. Und bei den täglichen Abend-Spaziergängen gemeinsam mit Ursula und unserem Hund, begann ich bei jeder kleinen Steigung zu keuschen. Nachdem wir am späten Abend des 29. Januar 2011 noch eine „Samstag-Abend-Hunde-Runde“ gegangen sind, meinte Ursula: „Das schaue ich mir nicht mehr länger mit an. Wir fahren sofort ins Krankenhaus!“ – In der Notaufnahme diagnostizierte man einen verschleppten Herzinfarkt, den ich vor einiger Zeit erlitten hätte, und behielt mich übers Wochenende dort, um mir gleich am Montagmorgen einen Stent ins Herzkranzgefäß einzusetzen. Dabei meinte der Notarzt: „Ihre Frau hat Ihnen das Leben gerettet.“

 

Das Infarktrisiko habe ich geerbt. Meine sportlichen Aktivitäten haben nur bewirkt, dass ich anders als mein Großvater, mein Vater und zwei meiner Brüder alles gut überstanden habe. So muss ich nur feststellen: Dieses Erbe kann man nicht wie ein Millionenvermögen ausschlagen.

 

Die Ärzte rieten mir, künftig auf das Laufen zu verzichten und nur noch zu walken. Dieser Umstieg war für mich kein Entzug mit körperlich spürbaren Entzugserscheinungen. Ich habe lediglich bedauert, nicht mehr laufen zu können. Von 2011 bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 nahm ich an fünf Walking-Marathons und 51 Walkingveranstaltungen zwischen fünf und zehn Kilometern teil. Doch nun hindern mich Parkinson und eine Spinalkanalstenose, welche im Sommer 2021 diagnostiziert worden ist, auch am Walken.

 

Doch für mich bleibt festzuhalten: das extreme Laufen und das Walken habe ich nie als Sucht, sondern immer als Hobby verstanden. Bei Wikipedia heißt es: „Ein Hobby ist eine Freizeitbeschäftigung, die der Ausübende freiwillig und regelmäßig zum eigenen Vergnügen oder der Entspannung betreibt“.

Impressum

Cover: Berlin-Marathon 2006
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2023

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