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Geht „Die Mundorgel“ mit der Zeit?

 

 

Wer als junger Mensch in einer Jugendgruppe war, dem ist das Liederbuch „Die Mundorgel“ geläufig, denn fast an jedem Lagerfeuer und fast in jedem Zeltlager einer Jugendgruppe wurden die Lieder aus dem kleinen handlichen Büchlein gesungen. 1953 wurde sie vom CVJM (Christlicher Verein junger Männer, heute junger Menschen) in Köln mit 132 Liedern ins Leben gerufen; sowohl geistliche Lieder aus den Kirchengesangbüchern beider Konfessionen als auch Fahrtenlieder der Jugendbewegung. Selbst in konfessionellen Jugendgruppen der ehemaligen DDR war die heimlich aus Westdeutschland eingeschmuggelte „Mundorgel“ vielerorts bekannt. So manches Fahrtenlied daraus wurde abgeschrieben und vervielfältigt.

 

Enttäuscht war man, als in der Neubearbeitung von 1968 trotz der Erweiterung auf 272 Lieder so manches, bis dahin häufig gesungene Lied nicht mehr enthalten war. Man hatte nicht nur die auch bei der Hitler-Jugend (HJ) und/oder bei der deutschen Wehrmacht gesungene Lieder wie „Wir lagen vor Madagaskar“, „In einem Polenstädtchen“ oder „Wir sind des Geyers schwarzer Haufen“ gestrichen, sondern auch Lieder über Zigeuner und Neger, wie z.B. „Zehn kleine Negerlein“ oder „Negeraufstand ist in Kuba“, „Das Nilpferd aus dem Mohrenreich“, „Ich bin ein armer Italiano“ oder „Heiß brennt die Äquatorsonne“ - Inzwischen selbst Leiter einer Jugendgruppe habe ich bedauert, dass nach der Neubearbeitung 1968 manches von mir gerne in den fünfziger Jahren gesungene Fahrtenlied in der „Mundorgel“ nicht mehr zu finden war.

 

Mit dem Lied „Negeraufstand ist in Kuba“ hatte ich folgendes Erlebnis: Im Schuljahr 1954/55, ich war gerade 16 Jahre alt geworden;  war ich in der Berufsschule in Zwickau (Sachsen) verantwortlich für den Schulfunk. Ich hatte den Schlüssel für den Übertragungsraum und musste zu jeder Pause auf einen Plattenspieler Musik auflegen, welche in alle Klassenzimmer gesendet wurde. Es gab auch ein Mikrophon, mit welchem man eine Botschaft oder ein selbst gesungenes Lied in alle Klassenzimmer senden konnte. In unserer Jugendgruppe hatten wir das Lied „Negeraufstand ist in Kuba“ gelernt. So sang ich am Mikrophon dieses Lied:

 

Negeraufstand ist in Kuba

Schüsse fallen durch die Nacht.

In den Straßen von Havanna

halten Negerweiber Wacht.

Umba umba assa, umba umba assa

oho, ohohoho, oho, ohohoho.

 

Und weil ich so in Stimmung war, sang ich auch die bundesdeutsche Nationalhymne mit der gleichen Melodie:

 

Einigkeit und Recht und Freiheit

für das deutsche Vaterland!

Danach lasst uns alle streben

brüderlich mit Herz und Hand.

Umba umba assa, umba umba assa

oho, ohohoho, oho, ohohoho.

 

Und da man nach der gleichen Melodie auch die Nationalhymne der DDR singen kann, sang ich diese auch noch am Mikrophon:

 

Auferstanden aus Ruinen

und der Zukunft zugewandt.

Lasst uns dir zum Besten dienen,

Deutschland, einig Vaterland.

Umba umba assa, umba umba assa

oho, ohohoho, oho, ohohoho.

 

Nun packte mich der Übermut und ich sang noch:

 

Deutschland, Deutschland, ohne alles,

ohne Butter, ohne Speck,

und das bisschen Marmelade

fressen uns die Russen weg.

Umba umba assa, umba umba assa

Oho….

 

Weiter kam ich nicht, denn plötzlich wurde die Tür aufgerissen, ein Lehrer stürmte herein, riss mir das Mikrophon aus der Hand, schlug auf den Aus-Knopf, packte mich und schleifte mich ins Büro des Parteisekretärs. Dort wurde ich von beiden angebrüllt. Doch dann meinte der SED-Funktionär in ruhigerem Ton, er wünsche sich an der Schule, für welche er seiner Partei gegenüber verantwortlich sei, keinen politischen Skandal. Das sei meinerseits wohl nur ein dummer Jungenstreich eines Sechzehnjährigen gewesen, der entsprechend hart bestraft werden müsse. Der Lehrer war damit einverstanden und mir wurde erst jetzt die politische Dimension meiner Handlung bewusst. Bisher hatte ich geglaubt, nur einen Streich zu spielen. Man nahm mir den Schlüssel zum Übertragungsraum ab, enthob mich von der Funktion, für den Schulfunk verantwortlich zu sein, und ordnete zwei Stunden Nachsitzen an. In dieser Zeit hatte ich einen Aufsatz über den Sinn und Zweck des Schulfunks zu schreiben.

 

Übrigens, das Lied „Wir sind des Geyers schwarzer Haufen“ wurde auch in dem Liederbuch „Leben – Singen – Kämpfen“ der FDJ (Freie Deutsche Jugend) der DDR 1949 abgedruckt, obwohl es nicht nur in der HJ, sondern wegen der Formulierung „schwarzer Haufen“ auch in der SS gesungen wurde, da es den Edelmann Florian Geyer besingt, welcher sich im Bauernkrieg des Mittelalters den kämpfenden Bauern angeschlossen hatte.

 

2001 wurde die „Mundorgel“ erneut bearbeitet und dabei wieder viele Fahrtenlieder aus der Neubearbeitung von 1968 gestrichen. Obwohl diese Ausgabe 278 Lieder (also 6 mehr als 1968) enthält, stammen nur noch 68 Lieder aus der Ausgabe von 1953.

 

Ich vermute, dass wir bald wieder eine Neubearbeitung der „Mundorgel“ erwarten können, wo rassistische und nicht dem Zeitgeist genehme Lieder gestrichen werden. Hier fallen mir spontan ein: „Ein Mann fuhr ins Chinesenland“, „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ oder „Als die Römer frech geworden“. Aber auch das Lied „Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein“. Bartlose Männer dürfen nicht mitfahren, und auch alle Frauen sind von der Kapernfahrt ausgeschlossen. Demgegenüber wird die sexuelle Orientierung der Männer mit Bärten nicht hinterfragt.

 

Ich bin gespannt, wie sich das Lektorat des Mundorgel-Verlages verhält.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2023

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