Am 31. Juli 1961, exakt vierzehn Tage vor dem Mauerbau in Ost-Berlin am 13. August, flüchteten mein Bruder Andreas und seine Verlobte Brigitte aus Rostock in den Westen. Brigitte war Sekretärin in einer Rostocker Werft und hatte dort bei einem Gespräch zwischen ihrem Chef und dem Parteisekretär mitbekommen, dass man in wenigen Tagen die Grenze schließen werde. Wie das geschehen werde, war dem Gespräch nicht zu entnehmen. Doch es klang so konkret, dass sie sofort ihren Verlobten informierte und beide ganz kurzfristig die gemeinsame Flucht in den Westen planten und abhauten.
Ich lebte zu dieser Zeit als Diakon-Schüler im Rauhen Haus in Hamburg. Nun rief mich Andreas aus Essen an. Dort hatten Brigitte und er eine kleine Wohnung und er in seinem Beruf als Elektriker Arbeit gefunden, allerdings nicht an einem festen Arbeitsplatz, sondern auf Montage an ständig wechselnden Stellen. Damit er täglich an seinen Arbeitsplatz gelangen konnte, kamen wir überein, dass ich ihm mein Motorrad, eine 250er BMW, zur Verfügung stellen werde. Und da beide, um die gemeinsame Wohnung mieten zu können, verheiratet sein mussten, schenkte ich ihm das Motorrad zur Hochzeit.
Doch ich wollte nicht ohne fahrbaren Untersatz bleiben. Deshalb las ich täglich in der Zeitung die Angebote gebrauchter und preisgünstiger Fahrzeuge. Dabei fiel mir das Angebot eines Goggomobil für 500,00 DM auf. Ein preisgünstiges Auto, statt ein Motorrad, schien mir sehr verlockend. Vier statt zwei Räder, bei Regen im Trockenen sitzen und bei Kälte nicht mehr frieren: das reizte mich. Deshalb machte ich mich mit den technischen Daten etwas vertraut: Im Heck ein luftgekühlter Zweizylinder-Zweitaktmotor mit 300 Kubikzentimeter Hubraum und 15 PS Leistung, ein nicht synchronisiertes per Schalthebel zu schaltendes Vierganggetriebe, 2,90 Meter lang, 1,28 Meter hoch, 1,31 Meter breit und 415 kg schwer. Seine Räder hatten einen Durchmesser von 10 Zoll. Also ein Kleinstwagen. Platz bot er vier Personen, welche jedoch insgesamt nur 300 kg wiegen durften. Dieses kleine Auto erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 85 km/h und verbrauchte dabei 6,0 Liter Benzin-Öl-Gemisch auf 100 Kilometer. Sein Tank fasste 25 Liter, 3,5 Liter davon waren Reserve. Da der Tank über dem Motor angebracht ist, läuft das Benzin in den Vergaser, ohne dass hierzu eine Benzinpumpe nötig ist. Der Hebel zum Öffnen und Schließen des Tanks, sowie zum Umschalten auf Reserve, befand sich in der Mitte der Rücksitzlehne, welche vom Fahrer gut zu erreichen ist.
Da ich neben dem Führerschein Klasse 1 für Motorräder auch Klasse 3 für PKW besaß und mich theoretisch mit der Technik des Goggomobil vertraut gemacht hatte, kaufte ich das gut erhaltene, fünf Jahre alte Goggomobil. Sein Tachometer wies eine Fahrleistung von 50.000 Kilometern aus. Man gab dem Motor eine Leistung von 100.000 Kilometer, - nochmals fünf Jahre. – Nun war ich stolzer Autobesitzer.
Zu dieser Zeit leistete ich im Amt für öffentliche Erziehung bei der Jugendbehörde Hamburg, so hieß damals das Amt für Jugend, ein halbjährliches Praktikum ab. Nun fuhr ich täglich mit meinem kleinen Auto zum Dienst in die Behörde und manchmal auch zum Außendienst, einer Pflegefamilie oder einem Kinderheim. Einige Male chauffierte ich auch die Leiterin des Amtes zu solchen Besuchen, denn sie hatte keinen Dienstwagen mit Fahrer. Bescheiden, wie sie war, zwängte sie sich deshalb in mein Auto.
Natürlich musste ich auch manchen Scherz ertragen. Fast jede Woche einmal trafen wir uns mit Theologie-Studenten in einem kleinen Lokal an einer Einbahnstraße in der Hamburger Innenstadt, um bei Tee und Musik von Telemann theologische und philosophische Fragen zu erörtern. An einem solchen Abend betraten zwei Polizisten das Lokal und fragten nach dem Fahrer des vor dem Lokal geparkten Fahrzeugs. Ich meldete mich und wurde mit nach draußen gebeten. Dort stand mein Auto in falscher Richtung in der Parklücke der Einbahnstraße. Als ich gerade begann, den beiden Polizisten zu erklären, dass ich die Einbahnstraße kenne und niemals falsch in diese gefahren sei, kamen vier Mitstudenten aus dem Lokal, packten das kleine Auto an seinen vier Ecken und stellten es in die richtige Richtung. Die Polizisten verstanden den Scherz und verabschiedeten sich mit einem Lächeln im Gesicht.
In der Vorweihnachtszeit fuhren wir sogar als Bläserquartett mit zwei Trompeten, einer Zugposaune und einer Tuba, den Notenbüchern und Notenständern zu unseren Auftritten irgendwo in Hamburg. Dann war es zwar sehr eng im Auto, doch auch gemütlich warm, was die Heizung nie schaffte.
Damals gab es noch Winter mit zugefrorenen Teichen. Auch der Teich mitten auf dem Gelände des Rauhen Hauses war zugefroren. Eines Morgens, als ich wieder zu meiner Praktikumsstelle fahren wollte, stand mein kleines Auto nicht auf seinem Stellplatz, sondern mitten auf dem Eis des zugefrorenen Teiches. Es war unmöglich, die steile Böschung hinaufzufahren. So musste ich beim gemeinsamen Frühstück erst einige Mitstudenten bitten, mir zu helfen, das kleine Auto wieder vom Teich zu transportieren. Das kostete mich zwei Flaschen Wein, die wir am Abend gemeinsam leerten.
Auch auf die Wette, mit meinem Auto auf dem Eis über die zugefrorene Hamburger Alster zu fahren, ließ ich mich ein. Schließlich feierten viel tausend Menschen über viele Jahre auf der zugefrorenen Alster jeden Winter das „Alstervergnügen“.
Unvergessen blieb mir eine Fahrt im Januar 1963 über 350 Kilometer von Hamburg nach Essen. Ich wollte zur Taufe meines Patenkindes zu meinem Bruder fahren. Als ich an der Autobahnabfahrt in Bottrop meine Fahrt verlangsamen wollte, um von der Autobahn abzufahren, rührte sich nichts, als ich den Fuß vom Gashebel nahm. Auch das Kupplungspedal rührte sich nicht, ebenso wenig die Fußbremse. Mein Versuch, das Tempo mit der Handbremse wenigstens etwas zu verringern, brachte ein geringes Ergebnis. So blieb mir nur, den losen Schneehaufen anzusteuern, der zum Glück am Straßenrand aufgeschüttet war. Nun war die Fahrt zu Ende. Zum Glück war die Stoßstange so stabil, dass es keine größeren Schäden gab. Ich stieg aus und kippte das kleine, leichte Auto auf die Seite. Das war ohne fremde Hilfe möglich. Nun sah ich, dass die Gelenke aller drei Fußpedalen für Gas, Kupplung und Bremse, welche die Gestänge zu den Seilzügen, denn das Goggomobil hatte keine Flüssigkeits-Druckleitungen, sondern nur Seilzüge, im Mitteltunnel beweglich halten sollten, eingefroren waren. (Zu jeder Bremse der vier Räder führten Bremsseile, zum Getriebe das Kupplungsseil und zum Vergaser der Gasseilzug). Mit einem Hämmerchen aus meiner Werkzeugtasche klopfte ich das Eis von allen Gelenken ab, machte die Gelenke mit Türschlossenteiser wieder gängig und stellte dann das kleine Auto wieder auf seine vier Räder. Danach setzte ich meine Fahrt durch Bottrop nach Essen fort. – Bei meinem Bruder bekamen die Gelenke eine ordentliche Ladung Öl. So konnte ich einige Tage später die Heimfahrt ohne besondere Vorkommnisse hinter mich bringen.
Doch schon nach etwas mehr als drei Jahren, im Herbst 1964, war es mir finanziell nicht mehr möglich, das kleine Goggomobil zu behalten. So musste ich mich schweren Herzens schon vor dem Ablauf von fünf Jahren von meinem ersten Auto trennen.
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2023
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