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Meine beiden älteren Brüder

 

 

Mein ältester Bruder Dieter gehört dem Geburtsjahrgang 1929 an. Als die kriegerische Situation im Zweiten Weltkrieg für die Nationalsozialisten immer bedrohlicher wurde, erließ der Generalfeldmarschall Keitel am 5. März 1945 den Erlass zur Dienstverpflichtung des Geburtsjahrganges 1929. So wurde mein Bruder mit gerade mal 15 ½ Jahren noch Soldat. Er musste sich in Zwickau in Sachsen melden, wo er das Gymnasium besuchte. Er kam in eine Kompanie von Kindersoldaten, dessen Hauptmann vorher mit seiner Frau in Krakau lebte und dort Besatzungssoldat war, bevor er von dort vor der Roten Armee flüchten musste. Seitdem lebte seine Frau mit in unserem Haus.

 

Die Kompanie der Kindersoldaten wurde mit ihrem Hauptmann ins Grenzgebiet zur Tschechoslowakei im Erzgebirge abkommandiert und geriet bei Eibenstock im Erzgebirge in amerikanische Gefangenschaft, ohne gekämpft zu haben. Der für die Gefangenen zuständige amerikanische Offizier vertrat die Meinung, gegen Kinder führen wir keinen Krieg. Deshalb befahl er seinen Männern, allen gefangenen Kindersoldaten die Uniformen auszuziehen, ihnen Kinderkleidung anzuziehen und sie nicht gefangen zu nehmen, sondern davon zu jagen. So machten sich alle auf den beschwerlichen Fußmarsch nach Hause. Nach Tagen und kurz vor dem Ziel traf Dieter auf seinen Hauptmann, dem es gelungen war, aus der amerikanischen Gefangenschaft zu fliehen und sich Zivilkleidung zu beschaffen.

 

Beide trafen in der Nacht zum 8. Mai 1945, wenige Stunden vor der Kapitulation, bei uns zu Hause ein. Doch der Hauptmann drängte darauf, noch in der gleichen Nacht gemeinsam mit seiner Frau die Flucht gen Westen fortzusetzen. Er überzeugte meine Mutter davon, dass der Krieg endgültig verloren sei und das Deutsche Reich künftig in eine sowjetische, eine amerikanische, eine englische und eine französische Besatzungszone aufgeteilt würde. Das Erzgebirge würde künftig der sowjetischen Besatzungszone angehören. Das sei auf einer Konferenz in Jalta auf der Krim im Februar 1945 von den Staatschefs Roosevelt aus Amerika, Churchill aus England und Stalin aus der Sowjetunion so beschlossen worden, Das sei zwar noch geheim, doch als Besatzungssoldat in Krakau habe er ausländische Radiosender abgehört. Damit sei Dieter in Gefahr, noch nachträglich als deutscher Wehrmachtsangehöriger in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu geraten.

 

So nahmen er und seine Frau mit Einwilligung unserer Mutter Dieter mit auf die Flucht. Erst kurz vor Weihnachten 1945 erfuhren wir, dass ihnen die Flucht nach Gelsenkirchen, wo der Hauptmann herstammte, gelungen war.

 

Dass der Hauptmann Recht behielt mit seiner Befürchtung, die ehemaligen deutschen Wehrmachtsangehörigen würden gleich welchen Alters in sowjetische Kriegsgefangenschaft verschleppt, erfuhren wir sehr bald. Ein Klassenkamerad Dieters kam in ein Lager nach Sibirien und kam erst 1955 als kranker Mann wieder zurück. Mit nicht mal dreißig Jahren ist er 1958 verstorben.

 

Demgegenüber machte mein Bruder Dieter in Westdeutschland seinen Weg. Weihnachten 1957 war er erstmals wieder als Besucher zu Hause im Erzgebirge. Und die letzten Jahre seines Berufslebens war er an der Hochschule in Kassel als Professor in der Lehrerausbildung tätig.

 

Mein zweitältester Bruder Ekkehard war bei Kriegsende gerade zwölf Jahre alt. Als zwei junge Soldaten auf ihrer Flucht für einige Tage bei uns untertauchten, erzählte ihnen meine Mutter, dass sie befürchtet, als überzeugte Nationalsozialistin und Führerin der Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) verhaftet zu werden. Dann müssten sich ihre alten Eltern um vier der fünf Jungen kümmern. (Dieter war bereits auf der Flucht). Aber unsere Mutter wollte ihren Eltern nur drei Kinder, Albrecht, 9 Jahre alt, ich, 7 Jahre alt, und Andreas, 5 Jahre alt, zumuten.

 

Da sie den beiden flüchtigen Soldaten ein Dorf bei Elsterwerda, wo ihr Bruder eine Wassermühle besaß, als nächstes Ziel ihrer Flucht nannte, schlugen sie vor, Ekkehard dorthin mitzunehmen.

 

Unsere Mutter wurde nicht verhaftet. Der Pastor unserer Kirchengemeinde hatte sich dafür eingesetzt, sie milder zu bestrafen. Sie musste zwei Jahre lang Strafarbeit auf einem Bauernhof und im Forstamt ableisten. So bestand die Möglichkeit, dass wir tagsüber von den Großeltern betreut wurden, unsere Mutter aber an jedem Abend nach Hause kommen konnte.

 

Ekkehard hat in dem kleinen Dorf seinen Volksschulabschluss gemacht und anschließend eine dreijährige Müllerlehre absolviert. So kam er erst nach fünf Jahren als siebzehnjähriger Jugendlicher wieder zu uns nach Hause.

 

So kam es, dass wir, obwohl wir eigentlich zu fünft waren, unsere Kindheit nur zu dritt verbrachten. Doch die Verbindung zu unseren beiden älteren Brüdern war im Erwachsenenalter bis zu deren Lebensende sehr intensiv, obwohl wir nicht mit ihnen die entscheidenden Kinderjahre verbracht hatten.

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Tag der Veröffentlichung: 30.03.2023

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