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Mein Onkel Emil

 

 

Emil war der zwei Jahre ältere Bruder meines Vaters. Er hatte nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, also meines Großvaters, im Mai 1935 das kleine Häuschen mit dem großen Grundstück am Rande des Dorfes Zschocken, einem heute in das Städtchen Hartenstein im Erzgebirge eingemeindeten Ortsteil geerbt. Er war damals 39 Jahre alt und lebte mit seiner Frau Ella und den beiden Kindern mit im Häuschen bei seinen Eltern. Von Beruf war er Dreher und arbeitete in einer Eisengießerei in dem Dörfchen Stein bei Hartenstein. Täglich fuhr er die fünf Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit. In den schneereichen Wintermonaten ging er zu Fuß, morgens über eine Stunde, und nach Feierabend am Abend nochmals so lange. Die Zeit der Inflation und Arbeitslosigkeit in den 1920er Jahren hatte er dadurch überstanden, dass auf dem großen Grundstück am Haus Platz für viel Federvieh war und der Garten viel Früchte bereit hielt. Zudem gehörte er zu den bevorzugten Menschen, die ihren Arbeitsplatz behalten konnten.

 

Der Großvater war von Beruf Bergmann und arbeitete in einem Steinkohlenbergwerk. Doch er pflegte nicht das bei den meisten Bergleuten übliche Hobby, die Taubenzucht. Er sagte immer:

„Wer sein Geld nicht kann sehn liegen,

der kaufe Tauben, dann sieht er‘s fliegen.“

 

Als „Ortsvorsteher“, der „rechten Hand“ des Steigers, unter Tage hatte er eine gut bezahlte und herausgehobene Stellung, welche ihm ermöglicht hatte, das Häuschen mit dem großen Grundstück zu erwerben.

 

Politisch neigte Emil den Sozialdemokraten zu, ohne Parteimitglied zu sein, ebenso wie seine beiden Schwestern Olga und Elsa. Olga war mit einem Lokführer verheiratet, der Mitglied in der sozialdemokratischen Partei war. Weil Lokführer knapp waren, durfte er sogar in der Nazizeit seinen Beruf ausüben. Doch als er sich weigerte, mit der Lokomotive einen Zug mit Gefangenen nach Auschwitz zu fahren, kam er in eine Strafkompanie an die Ostfront, wo er kurze Zeit später fiel. – Elsa heiratete einen Mann, der bereits Ende der 1920er Jahre wie mein Vater Mitglied in der NSDAP wurde. So schwieg sie über ihre politischen Ansichten. –

 

Auch Emil gehörte der schweigenden Mehrheit an. Er vermied es sogar, mit seinem nationalsozialistisch gesinnten Bruder über seine sozialdemokratische Gesinnung zu diskutieren. Stattdessen widmete er sich in seiner Freizeit ganz und gar der Geflügelzucht, seinen Schafen und dem Garten. Und um nicht negativ aufzufallen, schenkte er immer zur Weihnachtszeit dem Dorfbürgermeister und zwei Parteifunktionären der NSDAP je eine geschlachtete Gans. – Nach der Kapitulation meinte er hierzu: „Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit mussten drei Gänse dafür ihr Leben lassen, dass ich unbehelligt über diese Zeit kam“.

 

Besonders intensiv begann er damit, sich seinen Tauben zu widmen. Oben auf dem Boden im Taubenverschlag bei seinen Tauben konnte er alle Probleme der Welt vergessen. Zschockens Taubenzüchter trafen sich als Sektion des bereits im 19. Jahrhundert gegründeten „Verbands Deutscher Rassetaubenzüchter“ einmal die Woche abends in einem Gasthof und tauschten ihre Erfahrungen aus. Doch nach 1933 wurde dieser Verband in den „Reichsverband für Geflügelzucht“ eingegliedert und durfte sich nur noch in dieser Formation treffen. Emil züchtete die seltene Rasse „Böhmische Flügelschecke“. Es handelt sich um eine kräftige Feldtaube, welche durch ihre schwarz-weiße Zeichnung der Flügelfedern auffällt. Sie zählt damit zu den schönsten Taubenrassen, kommt nur sehr selten vor und ist schwer zu züchten. Bei den Tschechen in Böhmen nennt man sie Ceska cejka.

 

Seine Hühner dagegen dienten nur dazu, Eier zu legen. Und ab und zu mal wurde ein Huhn geschlachtet, um den Speiseplan ein wenig zu verbessern. Doch durch die nach 1933 eingeführte Neuregelung, erfuhr er auch mehr und mehr von der Hühnerzucht, den unterschiedlichen Rassen und von Geflügelschauen. Damit wurde auch sein Interesse für Hühner geweckt. Drei Rassen weckten sein besonderes Interesse: Die Rebhuhn-farbigen Italiener, die Rebhuhn-farbigen Altsteirer und die weißen Leghorn. Nun achtete er sehr darauf, dass sich diese drei Rassen nicht vermischten und dass ihr Futter nicht nur aus Küchenabfällen bestand, sondern immer auch Körner auf den Boden gestreut wurden, damit die Hühner etwas zum Scharren hatten.

 

Als gegen Ende des Krieges die Luftangriffe und damit auch das Sirenengeheul zunahm, bekamen die Taubenzüchter bis dahin unbekannte Probleme. Hatte man die Tauben vor dem Luftalarm rausgelassen, wagten sie sich bei Luftalarm nicht mehr zurück in ihren Taubenschlag. Emil begann damit, die Tauben nicht mehr mit dem anderen Federvieh, den Hühnern und Gänsen draußen im Garten zu füttern, sondern nur noch im verschlossenen Taubenschlag. Erst dann öffnete er den Taubenschlag. Gesättigt flogen die Tauben nicht mehr sehr weit weg und kamen bald wieder zurück. Und da vormittags seltener Luftalarm gegeben wurde, nutzte Emil vor allem die Vormittagsstunden. Wenn er an den Wochentagen vormittags zur Arbeit war, erledigte Ella neben dem Füttern der Hühner und Gänse auch noch diese Aufgabe.

 

Bereits 1935 war die in der Weimarer Republik abgeschaffte Wehrpflicht wieder eingeführt worden. Die Möglichkeit zur Wehrdienstverweigerung gab es nicht. Nur Wehruntüchtige beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen wurden vom Wehrdienst zurückgestellt. Mit Kriegsbeginn wurden auch viele ältere Jahrgänge zum Militärdienst eingezogen.

 

Als am 1. September 1939 mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, setzte Emil im Unterschied zu seinem Bruder Max, meinem Vater, alles daran, nicht als Soldat eingezogen zu werden. Max dagegen, der schon mit achtzehn Jahren als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg Soldat war, nahm vom ersten Tage an als Offizier am Zweiten Weltkrieg teil.

 

Emil wollte nicht als Soldat eingezogen werden. Er stellte sich deshalb bewusst „doof“. Dabei achtete er sehr darauf, sich nicht so doof anzustellen, dass er als „lebensunwert“ der Euthanasie (Tötung geistig behinderter Menschen) zum Opfer fiel. Er hatte immer einen faltbaren Zollstock bei sich und maß damit alles. Danach war stets sein Kommentar: „Es langt nicht.“ Emil wurde daraufhin nicht als Soldat eingezogen, sondern musste während des gesamten Krieges als Hilfsarbeiter in der Metallfabrik arbeiten, wo er viele Jahre als Dreher tätig war. Sie war inzwischen zu einer Munitionsfabrik umfunktioniert worden. Dafür, dass er nicht eingezogen wurde, sorgten auch der Bürgermeister und die beiden Partei-Funktionäre, denn schließlich wollten sie nicht auf die jährliche Weihnachtsgans verzichten.

 

Unsere Familie mied deshalb nicht nur zu Olga und ihrem sozialdemokratischen Lokführer, sondern nun auch zu Emil und seiner Familie den Umgang und brach jeden Kontakt ab. Meine Eltern schämten sich, einen solchen Verwandten zu haben. Wir Kinder wussten deshalb nichts von Emil und seinem Interesse für Geflügel und haben vor 1945 auch nie das Elternhaus meines Vaters betreten. Das änderte sich erst nach der Kapitulation am 8. Mai 1945.

 

Als am 8. Mai 1945 der Krieg durch Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende war, maß Emil mit seinem Zollstock den Küchentisch und sagte: „Jetzt langt es“. Dann legte er den Zollstock zur Seite und rührte ihn nie wieder an. In der Metallfabrik, die nun wieder Ersatzteile für Elektromotoren produzierte, durfte er wieder als Dreher arbeiten.

 

Schon eine Woche nach der Kapitulation machte Emil auf dem Weg zur Arbeit bei uns einen Besuch. Er wollte wissen, wie es nun nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus seiner Schwägerin und ihren fünf Kindern ging. Und er machte deutlich, dass ihm der Kontakt zu seinen Verwandten wichtiger war, als die in den vergangenen zwölf Jahren entstandenen Differenzen wegen der unterschiedlichen politischen Sichtweisen. Von nun an schaute er auf seinem Weg zur Arbeit einmal in der Woche bei uns vorbei und brachte immer eine Kleinigkeit zum Essen mit, mal ein halbes Brot, mal ein paar Eier.

 

Schon im Sommer 1945 wurde unter den Taubenzüchtern bekannt, dass Emil der Einzige in Deutschland war, dem es gelungen ist, die Taubenrasse „Böhmische Flügelschecke“ über die Kriegsjahre mit häufigem Luftalarm hinweg zu retten. Er wurde daraufhin überall in Deutschland mit seinen Tauben zu Geflügelschauen eingeladen. Schon bald stellte es sich heraus, dass er nicht nur in Deutschland, sondern auf dem ganzen europäischen Kontinent der Einzige war, der die „Böhmische Flügelschecke“ über den Krieg hinweg gerettet hatte. Nun wurde er vom französischen Verband der Rassetaubenzüchter nach Frankreich, vom italienischen Verband nach Italien, vom belgischen Verband in die Niederlande und nach Belgien und vom tschechischen Verband in die Tschechoslowakei eingeladen. Überall hinterließ Emil als Gastgeschenk ein Taubenpaar dieser fast ausgestorbenen Rasse. So kommt es, dass heute in ganz Europa wieder die „Böhmische Flügelschecke“ anzutreffen ist.

 

Damit war er nach der Naziherrschaft einer der ersten Deutschen, die wieder im Ausland willkommen geheißen wurden. Da es ihm gelungen war, nicht in Hitlers Armee Soldat zu werden, hatte man keine Vorbehalte gegen ihn.

 

In Deutschland wurde Emil schon bald in den Vorstand des „Bundes Deutscher Rassegeflügelzüchter“ berufen (Wahlen waren so kurz nach der Nazizeit noch nicht wieder üblich). Und er wurde Preisrichter bei Geflügelschauen im ganzen Land. Der damit verbundene zeitliche Aufwand machte es erforderlich, seine Arbeit als Dreher in der Metallfabrik aufzugeben. Die Aufwandsentschädigungen für seine zahlreichen Reisen, sein großer Gemüsegarten und seine Viehhaltung ermöglichten ihm und seiner Familie ein bescheidenes Dasein im hungernden Nachkriegsdeutschland.

 

In dieser Zeit baute er auch die Zucht seiner drei Hühnerrassen aus. Die Rebhuhn-farbigen Italiener und die aus der Steiermark in Österreich stammenden „Altsteirer“ erfreuten mit ihrem bunten Gefieder viele Besucher bei ihm zu Hause und auf Geflügelschauen und sorgten zudem mit einer Legeleistung von 180 bis 200 Eier pro Henne und Jahr für viele Küken, die verkauft werden konnten. Und die „Weißen Leghorn“ sorgten mit ihren 180 bis 200 Eiern je Henne und Jahr für eine gute Aufbesserung des Speiseplanes.

 

Zu Hause in Zschocken machte Emil noch eine Erfindung, welche heute in der Rassezüchtung und bei Legebatterien zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist: der Brutschrank. Wurden bisher die Eier nur innerhalb von drei Wochen von einer Henne, der Glucke, ausgebrütet, zu einem Zeitpunkt, wann diese dazu bereit war, können mit dem Brutschrak die befruchteten Eier zu jeder Zeit ausgebrütet werden. Eine Wärmelampe entwickelt die für das Ausbrüten notwendige Temperatur. Das notwendige regelmäßige Wenden der Eier, welches heute mechanisch geschieht, musste damals noch von Hand durchgeführt werden. Insofern war die Größe des Brutschrankes begrenzt. Durch eine Glasscheibe konnte man zudem das Innere kontrollieren.

 

Emil baute drei solcher Brutschränke für je 200 Eier. Es konnten damit zur gleichen Zeit 600 Eier ausgebrütet werden. Diese Möglichkeit bot er allen Bauern in der Umgebung an. Damit hatte er einen guten Nebenverdienst.

 

Doch mit dem Ausbrüten der Eier war es nicht getan. Die Küken mussten nun ohne dem Schutz und dem Vorbild einer Glucke aufwachsen. Eine Wärmelampe im Stall ersetzte das wärmende Gefieder der Glucke. Ein mit Körnern versetzter Sandboden ermöglichte ein ertragreiches Scharren und schließlich machten ausgewachsene Hühner den Küken vor, wie man erfolgreich scharrt. - Erst wenn die Küken das innerhalb von drei bis vier Wochen gelernt hatten, gab Emil sie an die Bauern ab, welche ihm die Eier zum Ausbrüten anvertraut hatten. – Der Verlust war relativ hoch: Von den 600 auszubrütenden Eiern entwickelten sich nur etwa 500 Küken.

 

Unsere Mutter hatte die anfänglichen Bedenken zu ihrem nicht nationalsozialistisch gesinnten Schwager aufgegeben. Von nun an waren wir an vielen Sonntagen zum Mittagessen eingeladen. So entstand bald der Gedanke, selbst mit Eiern von ein paar Hühnern den Speiseplan im hungernden Nachkriegsdeutschland ein wenig aufzulockern. Emil half uns  im Schuppen einen Verschlag für die Hühner zu bauen und unseren Hof und Garten so zu sichern, dass die Hühner nicht durch den Gartenzaun in Nachbars Garten eindringen können. Danach schenkte uns Onkel Emil einen „Stamm“ Rebhuhn-farbige Altsteirer. Ein Stamm waren vier Hennen und ein Hahn. Damit diese flugfreudigen Hühner nicht davon fliegen konnten, erhielten ihre Flügel noch Klammern. – Auch unsere Hühner nahmen mehrmals an Geflügelschauen teil und erzielten einige Male Preise. Alle unsere Hühner bekamen von uns Namen. Eine Henne nannten wir beispielsweise wie im ersten Streich bei „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch „Witwe Bolte“.

 

Das Futter war ausgewogen, wenn jede Henne pro Jahr etwa 180 Eier legte, im Sommer zwei Tage hintereinander je ein Ei, dann einen Tag Pause; im Frühling und im Herbst abwechselnd an einem Tag legen, dann ein Tag Pause und im Winter an einem Tag ein Ei, dann zwei Tage Pause. Wir führten darüber genau Buch.

 

Wenn im Sommer die Getreidefelder abgeerntet waren, packten wir an jedem Abend die Hühner in einen Tragekorb und gingen mit ihnen auf die abgeernteten Felder. Dort fraßen sie die zahlreichen auf dem Boden liegengebliebenen Körner. So sparten wir Futter.

 

Als 1950 unser Bruder Albrecht konfirmiert wurde, finanzierten wir mit den Geldgeschenken den Bau eines winterfesten und vor Wildtieren schützenden Hühnerhauses, welches Albrecht selbst entworfen hatte und fachmännisch baute. Somit konnten wir die Anzahl der Hühner verdoppeln.

 

Als im Februar 1952 unser Vater aus jugoslawischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, versöhnten sich die beiden Brüder und der Kontakt zu unserem Onkel Emil wurde weiterhin bis zu seinem Tod 1965 intensiv gepflegt. Auch der Kontakt zu seiner Tochter, unserer Cousine, und ihrer Familie bestand bis zu ihrem Tod.

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Tag der Veröffentlichung: 30.01.2023

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