Cover

Die Standhaftigkeit meiner Mutter

 

Im Februar 1946 begann die sowjetische Besatzungsmacht in der sowjetischen Besatzungszone im Erzgebirge unter dem Tarnnamen „Wismut“ in Bergwerken unter Tage mit dem Abbau von Uran. Hierzu wurden ganze Gebiete rund um Johanngeorgenstadt, Ober- und Unter-Schlema, Schneeberg, Aue, Marienberg und überall, wo Uran vermutet wurde, zu Sperrgebieten erklärt. In diese Sperrgebiete, welche an allen Zufahrtsstraßen von sowjetischen Wachposten kontrolliert wurden, durften nur Menschen, die dort wohnten oder arbeiteten. Deshalb hatten die Bewohner einen besonderen Vermerk in ihrem Personalausweis und die Uran-Bergleute hatten sogar eigene Ausweise.

 

Überall entstanden hölzerne Fördertürme und hölzerne Gebäude. Die Bergwerksgelände waren mit Bretterzäunen abgezäunt, nicht einsehbar und wurden von sowjetischen Wachtposten auf Wachtürmen abgesichert.

 

Um genügend Arbeiter zu bekommen, wurden in der gesamten sowjetischen Besatzungszone über 150.000 Männer zwangsverpflichtet. Und um diese Arbeiter ortsnah unterzubringen, wurden bei den Bürgern des Erzgebirges in sehr vielen Wohnungen Zimmer requiriert. So wurde auch in unserer Wohnung ein Zimmer beschlagnahmt und ein zwangsverpflichteter Uran-Bergmann dort eingewiesen. Da dieses beschlagnahmte Zimmer nicht heizbar war, bekam der Arbeiter das Recht, sich an kalten Tagen mit in unserem Wohnzimmer aufzuhalten. Und da die Uran-Bergwerke - anders als die auch in unserer Nähe befindlichen Steinkohlen- und älteren Erzbergwerke – keine „Waschkauen“ hatten, wo sich die Bergleute nach getaner Arbeit duschen konnten und sauber nach Hause kamen, kam „unser“ Bergmann in seinen schmutzigen Arbeitsklamotten ungewaschen von der Schicht. Unsere Mutter war verpflichtet, ihm jeden Tag nach Schichtende einen Eimer voll kochenden Wassers bereit zu stellen und ihm beim Rückenwaschen zu helfen.

 

Außerdem gab es nicht wie in allen anderen Bergwerken eine „Lampenstube“, wo die Bergleute vor Schichtbeginn ihre aufgeladene elektrische Grubenlampe abholten und nach Schichtende wieder abgaben. Vielmehr hatte jeder „Wismut-Kumpel“ als Grubenlampe eine Karbidlampe, welche er mit nach Hause nahm und für die Funktionsfähigkeit selbst verantwortlich war, so dass „unser Bergmann“ an jedem Abend damit beschäftigt war, seine Grubenlampe für die nächste Schicht zu präparieren. – Die Karbidlampe besteht aus zwei übereinander angeordneten zylindrischen Behältern. Im unteren befindet sich das Karbid, im oberen Wasser, welches in den unteren Behälter auf das Karbid tröpfelt. – Die Stärke des Wasserflusses kann man durch ein Ventil regulieren. Dadurch entsteht ein brennbares Gas, das Acetylen, welches durch ein kurzes Röhrchen mit Düse am Ende nach draußen dringt und dort entzündet wird. Ein Hohlspiegel sorgt dafür, dass das kleine Flämmchen viel Licht erzeugt. Aus dem Karbid wird durch die Wassertropfen Kalk. – Die Karbidlampe wurde 1892 von dem Kanadier Thomas Willson erfunden. Jeder Bergmann im Uran-Bergbau hatte zu Haus dafür zu sorgen, dass seine Lampe genügend Wasser hatte, der Hohlspiegel sauber und die Düse nicht durch Ruß oder andere Verbrennungsrückstände verstopft war. Zudem musste er den Kalk durch frisches Karbid ersetzen. Dieser Austausch erfolgte nach Schichtende über Tage in seinem Bergwerk.

 

In der Hungersnot nach dem Krieg gab es bei der Wismut nicht nur Kantinen, in denen sich die Uran-Bergleute nach Schichtende sattessen konnten, sondern auch eigene Lebensmittel-Läden, in welchen man nur mit gesonderten Lebensmittelkarten einkaufen konnte, auch solche Esswaren, die man sonst nirgendwo bekam.

 

So brachte „unser Bergmann“ einmal eine Buttercrem-Torte mit. Die aß er in unserem warmen Wohnzimmer aber nicht mit uns, sondern allein stopfte er sich vor unseren Augen die ganze Torte Stück für Stück in den Mund.

 

Als meine Geschwister und ich große und gierige Augen machten, meinte er: „So was kann ich euch auch mitbringen, wenn eure Mutter nett zu mir ist.“ Wir verstanden nicht, was er damit meinte, denn wir erlebten täglich, dass unsere Mutter nett und freundlich zu ihm war. So sprachen wir unsere Mutter darauf an und erfuhren von ihr, dass er damit meinte, künftig nicht mehr in seinem Bett im kalten Zimmer schlafen zu müssen, sondern im warmen Bett im Schlafzimmer bei unserer Mutter, einer attraktiven neununddreißigjährigen Frau. Aufklärung war damals für uns noch ein Fremdwort. Deshalb wussten wir nicht genau, was er damit bezweckte. Doch die Vorstellung, dass nicht unser Vater, der noch in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft war, sondern ein anderer Mann mit unserer Mutter das Schlafzimmer teilt, ließ uns auf die Buttercrem-Torte verzichten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.01.2023

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /