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Pilze sammeln mit Opa

 

 

Am 1. September 1944 war mein Schulanfang. Im Herbst 1944 bekam ich zum ersten Mal Ferien. Diese sollten für mich unvergesslich werden. Schon lange davor freute ich mich darauf, am Sonntagmorgen sehr früh aufzustehen und mit dem Opa in den Wald zu gehen, um Pilze zu sammeln. Wir gingen in den Schwarzwald, nicht im Badischen, sondern in unseren Schwarzwald. Wir nannten ihn so, weil dort die Laubbäume so dicht standen, dass die Blätter kein Sonnenlicht durchließen, so dass es auch am helllichten Tag ganz dunkel war. Deshalb war der Wald bei Pilzsammlern sehr beliebt.

 

Opa war in unserem Erzgebirgsstädtchen ein sehr geachteter Pilzfachmann. Immer wieder kamen Menschen mit ihren im Wald gesammelten Pilzen zu ihm und ließen diese von ihm begutachten, um sicher zu sein, nicht aus Versehen einen ungenießbaren oder gar giftigen Pilz mit im Körbchen zu haben und beim Verzehr daran zu erkranken oder gar zu versterben. Man setzte großes Vertrauen in ihn, diese gefährlichen Pilze zu erkennen.

 

Auch ich lernte von ihm, die genießbaren Pilze von den Ungenießbaren zu unterscheiden. Und Opa legte ganz großen Wert darauf, dass man die Pilze mit einem scharfen Messer ganz vorsichtig abschneidet, um dabei die verzweigten Wurzeln nicht zu beschädigen. Nur so war sichergestellt, dass wieder neue Pilze wachsen konnten. – Heute würde man das als „nachhaltig“ bezeichnen. - Opa hoffte, mir so viel beibringen zu können, dass ich auch einmal ein von allen Menschen geachteter Pilzfachmann werde. Doch mein Leben verlief anders. Inzwischen habe ich fast alles wieder vergessen, was mir damals mein Opa beigebracht hatte.

 

Doch das Erlebnis von dem Sonntagmorgen im Herbst 1944 habe ich nicht vergessen. Kaum dass wir im Wald angekommen waren, ertönte die Luftschutz-Sirene. Als wir noch überlegten, unverrichteter Dinge schnell wieder nach Hause zu laufen, brausten schon die Tiefflieger dicht über die Bäume des Waldes und damit auch über unsere Köpfe hinweg. In der Hoffnung, von den Flugzeugen nicht entdeckt zu werden, suchten wir uns ein Versteck im dichten Gebüsch am Waldrand. Von diesem Versteck aus hatten wir sowohl das an den Wald angrenzende Feld als auch den Himmel über uns gut im Blick. Dort zeigten sich in kürzester Zeit mehrere Flugzeuge. Wir erkannten an ihnen sowohl amerikanische als auch anderen Flugzeugen deutsche Hoheitszeichen. Und tatsächlich flogen die Flugzeuge über uns aufeinander zu. Über uns entwickelte sich eine Luftschlacht. Es wurde aufeinander geschossen. Über unseren Köpfen wurde es unerträglich laut und wir hatten Angst, von einem Geschoss getroffen zu werden. Doch wir wagten nicht, unser Versteck zu verlassen. Wo sollten wir auch hin?

 

Auf einmal sahen wir, wie direkt über uns ein amerikanisches Flugzeug lichterloh brannte und abstürzte. Der Pilot wurde aus dem abstürzenden Flug nach oben geschleudert und schwebte dann an einem Fallschirm nach unten. Zum Glück stürzte das brennende Flugzeug nicht in den Wald, sondern auf das Feld nebenan. Dort landete auch der Pilot an seinem Fallschirm mit einem Purzelbaum. Dann rannte er sofort davon.

 

Die anderen Flugzeuge am Himmel verschwanden so schnell wieder, wie sie gekommen waren. In kürzester Zeit waren deutsche Militärfahrzeuge an der Absturzstelle. Nun wagten wir uns wieder aus unserem Versteck und gingen ohne einen Pilz im Korb wieder nach Hause. Viele neugierige Menschen strömten zur Absturzstelle. Doch wir gingen nicht dorthin. Opa meinte nur: „Wenn der Krieg schon über unseren Köpfen tobt, dann ist er bald zu Ende“. Ich verstand als Sechsjähriger nicht, was er damit meinte.

 

Beim sonntäglichen Mittagessen mussten wir trotz des misslungenen Pilze-Sammelns nicht auf Pilze als Beilage verzichten, denn Oma hat Pilze aus ihrem Vorrat an getrockneten Pilzen genommen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.10.2022

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