- Tunkei und Brockei
Am 3. September 1945 begann unter dem Motto „Junkerland in Bauernhand“ in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) des im zweiten Weltkrieg besiegten Deutschen Reichs die Bodenreform. Alle Besitzer von über 100 Hektar Land galten als Großgrundbesitzer und wurden entschädigungslos enteignet. So wurden etwa 3,3 Millionen Hektar Land an Flüchtlinge, die man in der SBZ „Umsiedler“ nannte, und andere an der Landwirtschaft interessierte Menschen vergeben. So wurde auch mein Onkel Franz „Neubauer“. Er erhielt wie alle 20 Hektar Land, einen Pferdewagen, ein paar Kühe, ein Pferd und als einzige landwirtschaftliche Geräte einen Pflug und eine Egge. So war viel körperliche Arbeit von ihm und seiner Gattin Ella auf den Feldern nötig. Auf einem Feld hatten sie Rüben gesät, Futterrüben für die Kühe und Kohlrüben für den eigenen Verzehr. Im Frühjahr des Jahres 1946 gingen Franz und Ella aufs Feld, um die jungen Pflänzchen zu pflegen. Es ging darum, zu dicht gewachsene Rübenpflänzchen auszuzupfen, damit jede Rübenpflanze etwa 30 Zentimeter Abstand zur nächsten hatte, um sich gut zu entwickeln. Man nannte diese Arbeit „Rüben verziehen“. Bei dieser Gelegenheit wurde auch gleich das Unkraut entfernt. Onkel Franz und Tante Ella knieten bei dieser Arbeit tagelang von morgens bis abends in den Furchen des Feldes.
Das Feld grenzte an einen Wald. Sie nahmen ihr eineinhalbjähriges Töchterchen Marianne mit hinaus aufs Feld, breiteten am Feldrand eine Decke aus und füllten ein Schüsselchen mit etwas Essbarem. Am liebsten mochte Marianne Blaubeersaft mit darin eingetunktem Brot. Das aß auch der Opa gerne. Da er keine Zähne mehr hatte, konnte er diese Speise problemlos löffeln. Marianne nannte den Blaubeersaft in ihrer kindlichen Sprache „Tunkei“ und das darin eingeweichte Brot „Brockei“.
An einem Tag im Frühjahr 1946 setzte Ella ihr Töchterchen wie an jedem Tag auf die ausgebreitete Decke und füllte Mariannes Schüsselchen mit Blaubeersaft und darin eingeweichtem kleingeschnittenem Brot. Dann begab sie sich zu Franz auf das Feld. Nach einer Weile hörte sie Marianne mit jemandem reden. Sie hörte, wie Marianne in ihrer kindlichen Sprache sagte: „Darfst net lauter Tunkei essen, musst auch bisschen Brockei fressen!“ Doch Ella sah niemanden, mit dem Marianne redete. So stand sie von ihrer Arbeit auf und begab sich zu Marianne. Was sie dort sah, jagte ihr einen fürchterlichen Schrecken ein. Marianne löffelte ganz arglos aus dem Schüsselchen, aus welchem auch eine Kreuzotter schleckte. Sie riss Marianne hoch und verscheuchte die Kreuzotter mit einem Ast, der vor ihr lag.
Sie fragte sich: War die Kreuzotter schon an jedem Tag zu Marianne auf die Decke gekrochen. Unvorstellbar, was hätte passieren können! Seit diesem Erlebnis hat sie Marianne nie mehr auf einer Decke an den Feldrand gesetzt, sondern immer die Kinderkarre mitgenommen. Für die Kreuzotter, die sofort panikartig in den Wald geflüchtet war, war es das letzte Mal, dass sie „Tunkei“ schlürfen konnte und Mariannes Ausspruch „Darfst net lauter Tunkei essen, musst auch bisschen Brockei fressen!“ wurde zu einem geflügelten Wort bei vielen Mahlzeiten.
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2022
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