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Die ersten 83 Jahre meines Lebens

 

eine Autobiographie

Vorbemerkungen

 So manche Leserin, mancher Leser mag denken, der Titel des Buches ist sehr vermessen. Doch als Christ glaube ich an das ewige Leben, auch wenn ich nicht weiß, wie sich das gestalten wird, und wie viele Lebensjahre mir hier auf dieser Erde noch geschenkt werden. Auch über mein zweites Leben würde ich gerne berichten, doch das ist keinem von uns Menschen möglich.

 

Als junge Menschen in den 1950er Jahren haben wir uns in der Jungen Gemeinde Folgendes erzählt:

 

Zwei Mönche haben sich geschworen, dass der Erste von ihnen, der einmal stirbt, dem anderen im Traum erscheint und ihm berichtet, wie Gott aussieht. Als einer der Mönche auf dem Sterbebett lag, erinnerte ihn der andere an das Versprechen, das sie sich gegenseitig gegeben hatten. Und tatsächlich erschien ihm der gestorbene Mönch im Traum. Aber er sagte zu ihm nur drei Worte und verschwand wieder. Er sagte: „Sie ist schwarz.“

 

Dabei ging es uns damals nicht schon darum, zu artikulieren, was später die Frauenbewegung diskutierte, oder um eine Rassismus-Diskussion, sondern darum, dass wir uns eine völlig falsche Vorstellung von Gott machen.  – Und so, wie wir uns falsche Vorstellungen von Gott machen, mögen auch unsere Vorstellungen vom ewigen Leben nicht zutreffen. Ich glaube nicht naiv daran, dass das ewige Leben eine Fortsetzung unseres Erdendaseins in einer anderen Welt ist, dass man auf einer Wolke sitzt und von dort oben zuschaut, was die Nachkommen so auf der Erde treiben, sondern dass das ewige Leben etwas völlig anderes ist, welches sich unserer Vorstellungskraft entzieht. Viele Menschen, welche nicht an das ewige Leben glauben, argumentieren damit, dass es völlig unvorstellbar sei, dass für die vielen Milliarden Menschen, die seit Beginn der Menschheit verstorben seien, ein Reich Gottes errichtet werden könne. Mein Gegenargument: eine alte Eiche hat bis zu 800.000 Blätter. 125 Bäume haben eine Milliarde Blätter. 400 bis 1000 Bäume stehen je nach Baumarten und Dichte im Wald auf einem Hektar. Man schätzt die Gesamtzahl der Bäume in Deutschland auf etwa 90 Milliarden. So, wie ein riesiger Eichenwald zig Milliarden Blätter oder ein Land zig Milliarden Bäume hat, wird es auch im ewigen Reich Platz für zig Milliarden Seelen geben.

 

Zwar habe ich als jüngerer Mensch oft den Wunsch geäußert, einmal einhundert Jahre alt werden zu wollen, denn ich lebe gerne auf dieser Erde. Doch inzwischen füge ich den Wunsch hinzu, dass ich nicht allein in diesem hohen Alter leben möchte, sondern nur mit Ursula, die dann 92 Jahre alt wäre. Deshalb könnte ich jetzt mit Uĝur Şahin, dem maßgeblichen Entwickler des BioNTech-COVID-19-mRNA-Impfstoffs sagen:

 

Hör auf die Tage zu zählen, sondern sorge dafür, dass die Tage zählen.

 

Zwar hatte der Deutsche Bundestag 1958 ein Gleichstellungsgesetz verabschiedet, welches der Frau einräumte, ein eigenes Gehaltskonto zu eröffnen. Doch erst 1969 wurde die Frau als geschäftsfähig anerkannt, durfte ihr Vermögen selbst verwalten sowie Kaufverträge und Ratenverträge abschließen. Doch erst seit dem 1. Januar 1977 braucht sie nicht mehr die Genehmigung des Ehemannes, wenn sie einen Arbeitsvertrag abschließt. – Doch mir war das damals alles unbekannt. Ehe und Partnerschaft bedeuteten für mich immer unabhängig von der Gesetzeslage die gleichen Rechte und Pflichten für Mann und Frau. So selbstbewusst habe ich als Kind auch meine Mutter erlebt, die viele Jahre lang alle Entscheidungen allein treffen musste, derweil mein Vater als Soldat und später als Kriegsgefangener nicht bei uns lebte.

 

Politisch bin ich so was wie ein linker Sozialdemokrat, obwohl ich in meinem Leben niemals einer Partei angehört habe, denn ich mache aus dieser Haltung kein Dogma. Mir ist Demokratie wichtig, und dass auch die Meinung Andersdenkender geachtet wird, sofern in deren Meinung nicht die Menschenwürde missachtet wird. Deshalb habe ich immer die Sozialdemokraten gewählt, ohne selbst Parteimitglied zu sein. Nach meiner Auffassung ist es nicht richtig, aus Dingen, welche zur Grundversorgung aller Menschen gehören, wie z.B. Krankenhäuser, privat Gewinn zu erwirtschaften. Deshalb bin ich gegen die Privatisierung vieler Lebensbereiche und rate - spöttisch gemeint - auch dazu, die Bundeswehr zu privatisieren. Dann könnte jeder, der Streit mit seinem Nachbarn hat, sich ein paar Soldaten mieten, welche ihm helfen, den Streit zu schlichten. Konsequenterweise habe ich deshalb auch niemals eine Versicherung abgeschlossen, welche eine Aktiengesellschaft ist und wo Aktionäre aus meinem Beitrag Gewinnanteile bekommen, sondern immer nur mit einem „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“.

 

Im Grunde bin ich ein fröhlicher Mensch mit einer optimistischen Grundstimmung. Ich könnte mit Goethe sagen:

 

Vom Vater hab ich die Statur,

des Lebens ernstes Führen,

vom Mütterchen die Frohnatur

und Lust zu fabulieren.

 

Dabei nehme ich mit einer gewissen Traurigkeit wahr, dass meine Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter nachlässt, dass ich heute keine einhundert Kilometer mehr laufen kann, sondern bei Strecken, die mehr als fünfhundert Meter betragen, schon auf einen Spazierstock angewiesen bin. Die Fußball-Legende Uwe Seeler sagte nach einem Unfall, Uwe Seeler war aus unerfindlichen Gründen gestürzt, an seinem 85. Geburtstag im Hinblick darauf, dass er seitdem am Stock gehen und mit diesem Handicap künftig leben muss:

 

Altwerden ist nichts für Feiglinge.

 

Die erste Moderatorin der NDR-Talkshow „3 nach 9“ (1974-1982) Dr. Marianne Koch sagte bei ihrem neunzigsten Geburtstag im August 2021:

 

Ich habe noch so viel zu tun, dass ich gar keine Zeit habe, alt zu werden.

 

Von meinen Eltern weiß ich nur die Begebenheiten, die ich mit ihnen direkt erlebt habe, denn sie haben nur sehr wenig von sich erzählt – und schon gar nichts an Schriftlichem für ihre Kinder hinterlassen. Und weil ich auch nicht intensiv nachgefragt habe, ist so manches unbekannt geblieben. Das ist für mich Anlass, einiges aufzuschreiben, damit meine Kinder und Enkelkinder mehr über ihren Vater bzw. Großvater wissen, wenn sie ihm keine Fragen mehr stellen können. Meine Autobiografie in „Soziale Arbeit in Selbstzeugnissen“ Band 2, herausgegeben im November 2002 sowie meine beiden eBooks „Heimerziehung im Wandel der Zeiten“ vom Januar 2016 und „Meine berufspolitischen Aktivitäten“ vom März 2017 beschränken sich lediglich auf den fachlichen Teil meines Daseins. So muss die Beschreibung privater und persönlicher Erlebnisse und Begebenheiten hier einen breiteren Raum einnehmen.

 

Außerdem tue ich nach über 80 Lebensjahren nichts lieber, als über mein Leben zu berichten, welche Menschen mir begegnet sind, wie ich zur Diakonie und zur Sozialen Arbeit gekommen bin, wie meine berufliche Ausbildung, mein Studium und mein beruflicher Weg verlaufen sind, und was mir in meinem beruflichen und persönlichen Leben wichtig war und noch ist. Zugleich ist dieser Bericht der Versuch, Vergangenes noch einmal Revue passieren zu lassen, zu sichten und zu ordnen.

 

In vielem, was ich erlebte, spürte ich Gottes Fügung und Führung. Dennoch wäre es falsch, in fatalistischer Weise nur von Vorherbestimmung zu sprechen. Es gab und gibt in jeder Lebenssituation auch Alternativen, die nach einer eigenen Entscheidung verlangen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich mich 1958 als Neunzehnjähriger nicht dazu hätte entschließen müssen, die DDR zu verlassen und in den Westen zu gehen und stattdessen die Konsequenzen in der DDR zu tragen? Schließlich war das meine Entscheidung. Oder was wäre aus meinem Leben geworden, wenn ich mich nicht dazu entschlossen hätte, mein Studium als Bergbau-ingenieur abzubrechen. Welche anderen menschlichen Begegnungen hätten dann mein Leben geprägt? Goethe rief einmal aus:

 

„Es ließe sich alles trefflich schlichten,

könnte man die Dinge zweimal verrichten.

 

Nein! Alle Entscheidungen, müsste ich sie wieder treffen, würden zum gleichen Ergebnis führen. Nur im Detail gibt es Situationen, in denen ich mich anders verhalten würde. Denn es ist wohl so, wie es der Schweizer Heilpädagoge Emil Kobi in seinem Aufsatz „Zur Unheimlichkeit von Heimen“ ausdrückte:

 

 „Kein Pädagoge verlässt diese Erde schuldlos“.

 

So gibt es in meinem Berufsleben und in meinem Privatleben Situationen und Momente, die ich am liebsten ungeschehen machen möchte, wo ich auf das Verzeihen von Mitmenschen angewiesen war und auf Vergebung meines Schöpfers angewiesen bin. Und Vieles geschah so, wie es der Begründer der SOS-Kinderdorfbewegung Hermann Gmeiner einmal sagte:

 

„Alles Große in unserer Welt geschieht nur,

 weil jemand mehr tut, als er muss.“

 

Und letztlich muss ich noch zugeben, dass das meiste in meinem Leben von mir wie ein besonderes Abenteuer erlebt wurde. So habe ich z.B. als Neunzehnjähriger meine Flucht in den Westen oder 1996 die Schließung des Kinderheimes in Reinfeld nicht vorrangig als etwas Belastendes, sondern als ein besonderes Erlebnis, geradezu als Abenteuer wahrgenommen, gerade so wie einen Einhundert-Kilometer-Lauf, wo man auch bis in den Grenzbereich seiner Leistungsfähigkeit vordringt, das aber als ein besonderes Erlebnis in sich aufnimmt, das einen reicher macht.

 

In diesem Buch will ich meine Kindheit, meine Jugendjahre, die ersten Jahre im Erwachsenenalter, die Jahre meiner beruflichen Tätigkeiten und schließlich meine Tätigkeiten im Rentenalter beschreiben. Dabei macht es mich traurig, dass ich als einziger von uns fünf Jungen noch am Leben bin, und keiner so alt geworden ist wie ich.

 

Ich tue das nicht, weil ich glaube, dass mein Leben besonders viele berichtenswerte Begebenheiten aufweist, sondern weil ich der Meinung bin, dass jedes Leben berichtenswert ist und nicht in Vergessenheit geraten darf.

 

Klein Wesenberg, im Januar 2022

 

 

I. Meine Kindheit und Jugendzeit

 Hartenstein im Erzgebirge:

Das dritte Haus von oben auf der Bergstraße ist mein Elternhaus.

Das große Gebäude: Die Paul-Fleming-Schule

 

 

Die ersten Kindheitsjahre  in Hartenstein im Erzgebirge

 

Das Licht der Welt erblickte ich am 22. August 1938 in dem 6.000 Einwohner zählenden Städtchen Hartenstein im Erzgebirge als vierter von fünf Jungen. Meine Mutter war 31 Jahre alt, mein Vater 40.

 

 Mein Elternhaus (ganz links)

 

 wir fünf Jungen zu Weihnachten 1955

(Dieter, Albrecht, Ekkehard, vorn Andreas, ich)

 

Als Kind muss ich zuweilen schwierig gewesen sein und meiner Mutter manchen Kummer bereitet haben. Ich entsinne mich, einmal – ich war etwa fünf Jahre alt – in den Keller eingesperrt worden zu sein. Der Keller unseres Hauses war nur vom Hausflur aus durch eine schwere Falltür zu erreichen. In ihr war ein etwa 20 mal 20 cm großes vergittertes Guckloch. Das kleine Fenster war von außen verschlossen und mit alten Lappen abgedichtet, damit die eingekellerten Kartoffeln nicht erfroren. Es war also kein Entkommen aus dem dunklen Keller möglich. Der Kellerraum war ein in den Fels gehauenes Gewölbe, etwa so groß wie eine Einzelzelle im Gefängnis. Eine Steintreppe führte hinauf zur Falltür. Links und rechts waren die Boxen für die eingekellerten Kartoffeln. Im hinteren Teil befand sich ein Regal, auf welchem die Einweckgläser aufgereiht standen. Der Keller hatte kein elektrisches Licht. Wollte man in den Keller gehen, musste man vorher eine Laterne anzünden und die schwere Falltür öffnen. Ich war also Gefangener in Einzelhaft in einer Dunkelzelle. Weshalb ich diese schwere Strafe erhielt, weiß ich nicht mehr. Aber noch heute ist mir der Geruch von Moder und gelagerten Kartoffeln in Erinnerung. Wie viele Stunden ich im Keller zubringen musste, weiß ich auch nicht mehr, denn nachdem mir klar war, dass es kein Entkommen gab, fügte ich mich in mein Schicksal, machte mir aus alten Kartoffelsäcken einen Schlafplatz und legte mich nieder. Als meine Mutter die Falltür öffnete, um mich wieder aus dem Keller zu lassen, bekam sie einen großen Schreck, denn es war dort unten still. Sie musste, erst eine Laterne anzünden, selbst in den Keller hinabsteigen und mich wecken.

 

Im Dezember 1943 wurde Andreas drei Jahre alt. Die Schlacht um Stalingrad war verloren und die deutsche Armee befand sich überall auf dem Rückzug. Unsere Mutter wollte dem allgemeinen Aufruf folgen und sich für den Dienst in einer Munitionsfabrik melden. So beschloss sie, Andreas und mich vormittags in den Kindergarten zu geben. Der Hartensteiner Kindergarten war im ehemaligen Hospital untergebracht, einem großen Gebäude, das damals auf mich einen geradezu bedrohlichen Eindruck machte. Sie brachte Andreas und mich in der Vorweihnachtszeit dahin und meinte, dort hätten wir es gut. Es würden viele Weihnachtslieder gesungen, und wir könnten mit vielen anderen Kindern spielen. Doch wir beide fanden alles gar nicht gut. Während wir zu Hause überall ungehindert hindurften, war das Spielgelände mit einem großen Zaun eingegrenzt. Und die Kinder stocherten mit kleinen Schaufeln ziel- und planlos im Schnee herum. Dagegen hatte der Großvater zu Hause einen richtigen Schneeschieber, mit dem man den Weg frei räumen konnte. Am zweiten Tag weigerten Andreas und ich uns so heftig in den Kindergarten zu gehen, dass unsere Mutter nachgeben musste. Sie konnte sich nicht für den Dienst in der Munitionsfabrik melden. – Später glaubte ich, Andreas und ich seien mit schuld, dass der Krieg verloren ging, weil wir unsere Mutter daran gehindert hatten, in der Munitionsfabrik zu arbeiteten. Diese Begebenheit habe ich in dem eBook „Kindliche Gewissensbisse“ im September 2016 verarbeitet und im April 2021 in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 1)“ als Kurzgeschichte veröffentlicht.

 

Es gab immer wieder Probleme und Konflikte mit mir. Mehrmals sagte meine Mutter zu mir: „Wenn du so weiter machst, kommst du noch mal ins Heim“. Und sie hat damit recht behalten. Von 1965 bis 1996 lebte ich bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen im Heim. – Allerdings nicht als schwer erziehbares Kind, sondern als Heimleiter.

 

Meine Eltern waren zu jener Zeit überzeugte Nationalsozialisten, die Mutter war ehrenamtlich tätig als „Führerin“ der NSV-Ortsgruppe (NSV = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), mein Vater war nach langer Arbeitslosigkeit hauptberuflich in der Kreisleitung der nationalsozialistischen „Gewerkschaft“ DAF (Deutsche Arbeitsfront) tätig. Schon wenige Tage nach meinem ersten Geburtstag, am 26. August 1939 wurde er bei Hitlers Mobilmachung als Gefreiter zum Militärdienst einberufen. Am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation geriet er in jugoslawische Kriegsgefangenschaft, wurde als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt, später zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt und kehrte nach Adenauers Besuch bei Tito 1952 wenige Tage vor meiner Konfirmation mit den letzten jugoslawischen Kriegsgefangenen zurück. Fortan war er bis zu seinem plötzlichen Tod im Alter von 68 Jahren im Sommer 1967 als Hilfsarbeiter in einer Papierfabrik tätig. Hat er zwei Leben geführt? War er zum Kriegsverbrecher geworden? Auf unsere Fragen an ihn nach Einzelheiten aus dieser Zeit erhielten wir nur spärliche Antworten. Nur über Folter und die unmenschlichen Verhältnisse während seiner Haft haben wir etwas mehr erfahren. Wir erlebten ihn als einen guten Familienvater, warmherzig, mitfühlend und nachsichtig. Niemals hat er eines seiner Kinder geohrfeigt. Als wir noch kleine Kinder waren, sagte er einmal: „Wenn ich meine große Hand ansehe und den kleinen Kinderarsch, dann kann ich nicht draufhauen“. Und als Andreas im Alter von vier Jahren während des letzten Urlaubs unseres Vaters Weihnachten 1943 zu ihm sagte: „Du alter Arsch“, meinte er lediglich: „An der Front steht eine ganze Kompanie vor mir stramm, und du sagst ‚alter Arsch’ zu mir.“

 

In dem eBook „Meine Eltern waren Nationalsozialisten – aus Überzeugung oder nur Mitläufer“ habe ich im Dezember 2020 alle mir hierzu bekannten Fakten niedergeschrieben und im Juni 2021 in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 2)“ als Kurzgeschichte veröffentlicht.

 

Erst über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des zweiten Weltkrieges habe ich begonnen, mich näher mit der Rolle der deutschen Gebirgsjäger im zweiten Weltkrieg auf dem Balkan und mit der Rolle meines Vaters als Offizier, bei Kriegsende war er Hauptmann, in Hitlers Armee zu befassen, Nachforschungen anzustellen. Ein Leben lang hat mich die Frage bewegt, ob mein Vater in Jugoslawien persönlich bzw. seine Kompanie an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Doch erst nachdem ich selbst mehrmals in Bosnien war und neben den Spuren des Balkankrieges 1993 bis 1995 auch immer wieder auf Spuren des 2. Weltkrieges gestoßen bin, im Jahre 2003, also 58 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, habe ich es gewagt, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen habe ich in dem eBook „Zur Rolle meines Vaters als Soldat im zweiten Weltkrieg“ im November 2015 und im April 2021 in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 1)“ als Kurzgeschichte veröffentlicht. Wenn man von den Grausamkeiten absieht, die jeder Krieg verursacht, konnte ich an keiner Stelle des mir zugänglich gemachten Materials Hinweise finden, dass eine der insgesamt 9 Kompanien, denen mein Vater im Verlaufe des 2. Weltkrieges angehörte, oder er persönlich, an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg teilte mir am 05.02.2003 auf meine Anfrage mit: „Über Ihren Vater Herrn Max Martin, geboren am 17.10.1898, liegen hier keine Erkenntnisse vor.“

 

Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen gemeinsam mit unserer Mutter bei den Großeltern in deren Häuschen. Unsere Mutter erzog uns ganz im Sinne der nationalsozialistischen Idee. Der älteste Bruder, Dieter, wurde bald „Fähnleinführer“ bei der Hitlerjugend. Wir kleineren waren traurig, noch nicht mitmachen zu dürfen. Der Großvater war Schuhmachermeister und von kaisertreuer Gesinnung. An die politischen Verhältnisse angepasst, trat er kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges der NSDAP bei. Was die Großmutter meinte, als sie sagte, „wer sich an den Juden versündigt, unterschreibt sein eigenes Todesurteil“, verstand ich damals nicht. Ebenso wenig eine Diskussion während des letzten Urlaubes zu Weihnachten 1943 zwischen meinem Vater und meinem Cousin Horst, der als junger Soldat die Invasion auf Kreta mitmachen musste, darüber, ob der Krieg noch zu gewinnen sei. Die Drohung meines Vaters, „wenn du nicht mein Neffe wärst, müsste ich dich melden“, blieb mir damals unverständlich.

 

Als dann 1944 die ersten Flüchtlingsfamilien aus Ostpreußen und später aus Schlesien in unseren Ort kamen und meine Mutter als Führerin der NSV-Ortsgruppe für diese Familien Wohnraum requirieren musste, machte sie sich so manchen bis dahin „strammen“ Nazi zum Feind.

 

Weitere Einzelheiten aus dieser Zeit hat mein Bruder Ekkehard in seinem Büchlein „Als ich noch ein Müllerbursche war ...“ (Rüdersdorf, 1999) ausführlich beschrieben und müssen an dieser Stelle nicht noch einmal erörtert werden.

 

In den letzten Apriltagen 1945 nahmen die Amerikaner mit Panzern unser Erzgebirgsstädtchen ein. Ich fragte damals meine Mutter: „Müssen wir jetzt mit ´Heil Roosevelt‘ grüßen?“ Doch die Amerikaner machten der Roten Armee Platz, die bald darauf Sachsen und Thüringen besetzte. So hatten es die Alliierten in Potsdam vereinbart.

 

Das Ende des 2. Weltkriegs und die Zeit danach

 

Das Ende des 2. Weltkrieges brachte auch unser ganzes Familienleben durcheinander. Vier Jahre lang wusste meine Mutter nicht, ob unser Vater das Ende des Krieges überlebt hatte. Und von unserem ältesten Bruder Dieter, der in den letzten Kriegswochen als fünfzehnjähriger noch zu den Soldaten ging, erhielten wir erst kurz vor Weihnachten 1946 das erste Lebenszeichen. Ekkehard wurde vom Bruder unserer Mutter, Onkel Hans, aufgenommen. So musste unsere Mutter nur für die drei kleineren Jungen (Albrecht, mich und Andreas) sorgen. Das war schon mehr als genug in einer Zeit, wo alles drüber und drunter ging und es für alleinerziehende Mütter keinerlei staatliche Zuschüsse gab. Als ehemalige Nationalsozialistin musste sie im Sommer und Herbst 1945 auf Feldern und im Wald Strafarbeit leisten. Sie nahm uns drei kleine Kinder immer mit. So verbrachten wir manchen Tag am Feld- oder Waldrand. – In dieser Zeit lebte auch unser 25jähriger Cousin Kurt bei uns. Er war wenige Tage vor Kriegsende noch schwer verwundet worden. Ein Geschoss hatte ihm sein Gesicht total zerstört, und er war völlig erblindet. Täglich führte ich ihn in den Wald, wo er stundenlang dem Rauschen der Bäume und dem Gesang der Vögel lauschte. Alles, was ihn bewegte, fasste er in Reime, die ich ihm aufschreiben musste. – Als Dankeschön schenkte er mir zu Weihnachten 1945 eine Blockflöte und einen Gutschein für ein ganzes Jahr Flötenunterricht. So lernte ich als Siebenjähriger Blockflöte spielen und erhielt Kenntnisse über die Musiktheorie vermittelt. – Nun musste ich ihm auch täglich vorspielen, was ich gelernt hatte. – Bei meinem ersten öffentlichen Auftritt am 8. Mai 1946, dem Tag, an welchem sich die Kapitulation zum ersten Mal jährte, flötete ich mit einem gleichaltrigen Jungen einen zweistimmigen Satz von „Der Mond ist aufgegangen ...“ Diese eindringlichen Erlebnisse habe ich im April 2016 in dem eBook „Immer wenn ich musiziere, denke ich an Kurt“ festgehalten und im April 2021 in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 1)“ als Kurzgeschichte veröffentlicht.

 

Die neue Zeit, die nach der Kapitulation anbrach, begriff ich als Siebenjähriger kaum. Weshalb wurden mein Bruder Albrecht und ich von älteren Kindern auf der Straße verprügelt und vom Rodelberg gejagt mit den Worten „deine Eltern sind mit schuld, dass es uns jetzt so dreckig geht?“ – Ich fühlte mich ausgestoßen. Das wurde erst anders, als Albrecht und ich im Herbst 1946 von der Katechetin im Christenlehre-Unterricht gefragt wurden, ob wir beim diesjährigen Krippenspiel zu Weihnachten in der Kirche mitmachen wollen. Ich durfte im Krippenspiel einen kleinen Hirtenjungen spielen und musste die erste Strophe des Liedes „Ich steh an deiner Krippen hier ...“ aufsagen. Im Dezember 2016 habe ich diese Begebenheit in dem eBook „Es weihnachtet sehr“ ausführlich geschildert.

 

Das war mein erster Zugang zu Kirche, zu christlichem Denken und Handeln. Von da an besuchte ich mit Überzeugung die „Kinderbibelstunden“. So hieß damals die in der sowjetischen Besatzungszone geduldete kirchliche Kinderarbeit, und sang im Kinderchor der Kirchengemeinde mit. Und mit meiner hellen Knabenstimme habe ich des Öfteren bei Trauungen in der Kirche gesungen. Seitdem singe ich mit wenigen Unterbrechungen in Chören mit.

 

 ich als Zwölfjähriger

 

 Ekkehard, der 1945 als Zwölfjähriger bei Onkel Hans aufgenommen worden war, kam 1950 nach Abschluss seiner Lehre als Müller zu uns zurück. Er fand Arbeit bei der Wismut AG und ernährte mit seinem Lohn als Achtzehnjähriger die ganze Familie. Bei Onkel Hans hatte er auch Trompete blasen gelernt. So schloss er sich in Hartenstein dem Posaunenchor an. – Ich wollte auch Trompete spielen lernen. Deshalb verabredete ich mit Ekkehard, dass er mir täglich etwas auf der Trompete beibringt. Nach einem Monat trug ich mein Können dem Chorleiter des Hartensteiner Posaunenchors vor und wurde aufgenommen. Beim Kreisposaunenfest im Mai 1951 in Werdau in Sachsen war ich mit zwölfeinhalb Jahren der jüngste Posaunenbläser des Kreises. Beim Landesposaunenfest in Dresden wurden Ludwig Güttler und ich als die jüngsten Bläser in Posaunenchören Sachsens der Öffentlichkeit vorgestellt. Ludwig Güttler wurde ein weltbekannter Trompeter. Ich blieb bis heute ein Laie.

 

Nach meiner Konfirmation 1952 engagierte ich mich in der Jungen Gemeinde. Das Leben und die Geisteshaltung der Männer der Bekennenden Kirche während der Naziherrschaft (Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer) oder das Tagebuch der Anne Frank prägten unser Denken. Für uns waren Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Pazifismus Antworten auf die Verbrechen der Nazis.

 

Auch meine Mutter, für die mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 eine Welt zusammengebrochen war, für die sie mit Fanatismus gelebt und gearbeitet hatte, suchte in der christlichen Botschaft neue Orientierung. Sie widmete sich weiterhin der Betreuung von bedürftigen Familien. Doch nun nicht mehr unter dem Dach der NSV, sondern mit christlicher Akzentsetzung. Sie leitete über drei Jahrzehnte lang den Mütterdienst der Kirchengemeinde und starb 1994 im Alter von 86 Jahren.

 

Im Christenlehre-Unterricht erfuhr ich erstmals etwas von Innerer Mission, von Johann Hinrich Wichern und dem Rauhen Haus in Hamburg. Als Zehnjähriger schrieb ich 1948 an Pastor Donndorf, dem damaligen Vorsteher des Rauhen Hauses in Hamburg, um zu erfahren, was man tun müsse, um im Rauhen Haus als Erzieher zu arbeiten. Er antwortete mir, ich solle zunächst meine Schule beenden und einen „normalen“ Beruf erlernen. Wenn ich dann immer noch die Absicht hätte, Erzieher zu werden, könne ich mich im Rauhen Haus in Hamburg oder in einer anderen Diakonenanstalt in der Nähe meines Wohnortes, z.B. in Moritzburg bei Dresden bewerben.

 

Schon bald war dieser Schriftwechsel vergessen, denn die folgende Zeit erforderte ständiges auf der Hut sein. Ständig befand man sich im Konflikt zwischen der atheistisch-kommunistischen Agitation in der Schule und den in der Christenlehre und zu Hause vermittelten christlichen Werthaltungen und politischen Ansichten. Schon sehr früh lernte ich: Offiziell musste man anders reden, als man es in den eigenen vier Wänden im Familienkreis tun konnte. Und man musste manches verschweigen, das im Familienkreis erörtert wurde. Als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wurde, war das für mich und in unserer Familie keineswegs ein Freudentag. Wussten wir doch, dass damit die Spaltung Deutschlands endgültig besiegelt war. Geradezu konfliktträchtig war für uns im gleichen Herbst die Gründung der Kinderorganisation „Junge Pioniere“ (später Thälmann-Pioniere genannt). Über zwei Jahre weigerte ich mich, dieser Organisation beizutreten, zuletzt als einziger meiner Klasse. Schließlich gab ich dem Druck nach, wurde als Zwölfjähriger ohne Überzeugung „Junger Pionier“, denn nur so konnte man Mitglied in dem weit über Hartenstein hinaus bekannten Schulchor werden, was mir wichtig war, denn schon damals sang ich gerne, rückte damit mit vierzehn Jahren aber automatisch in die Staatsjugend-Organisation der DDR, der FDJ (Freie Deutsche Jugend) auf, was ich zähneknirschend in Kauf nahm.

 

 1952: als 14jähriger Konfirmand

 

Alle weiteren Erlebnisse vom Schulanfang bis zur Schulentlassung habe ich in den eBooks „Meine ersten beiden Schuljahre“ und „Meine Schulzeit von 1946 bis 1952“ im Juni 2020 und in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 2)“ im Juni 2021 als Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

Meine erste Liebe

 

Meine erste Liebe erlebte ich 1951, als ich 13 Jahre alt war. Im Spätsommer des Jahres 1951 erhielt Hartenstein einen neuen Pastor namens Hülsenberg. Seine älteste Tochter, Franziska, ebenso alt wie ich, kam in unsere Klasse und auch zu den Proben in den Kinderchor. Sie fand sich im Chor sehr schnell zurecht, konnte sofort nahezu alle Choräle mitsingen und war sogar auf der Orgel zu Hause. Ich fühlte mich vom ersten Tage an zu ihr hingezogen. Wenn immer es ging, suchte ich ihre Nähe. Es gelang mir immer öfter, von anderen unbemerkt ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Vor jeder Chorprobe malte ich zu Hause fein säuberlich eines meiner selbst gedichteten Verse auf ein Kärtchen und steckte es ihr in einem unbeobachteten Augenblick in die Manteltasche. Über mehrere Wochen sprachen wir kein einziges Wort miteinander. Sie verriet während der Chorproben nur mit ihren Blicken, dass sie meine Kärtchen erhalten und auch gelesen hatte. Doch eines Tages sprach sie mich nach der Chorprobe vor der Kirchentür heimlich an:

 

„Ich möchte mit dir reden. Davon darf aber niemand etwas erfahren. Am besten, du kommst in der nächsten Woche eine Viertelstunde früher zur Chorprobe und wartest auf dem Friedhof auf mich.“

 

Ich war sehr aufgeregt. Der Chorprobe in der nächsten Woche fieberte ich geradezu ungeduldig entgegen. Viel zu früh begab ich mich auf den Friedhof. Franziska kam pünktlich. Sie hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern fragte mich unvermittelt:

 

„Weshalb steckst du mir immer diese lustigen Karten zu. Denkst du dir die Verse immer selbst aus?“

Ich sah mich ertappt und wurde verlegen. Ich musste meinen ganzen Mut aufbringen, als ich ihr antwortete:

„Ja, für dich, denn irgendwie mag ich dich.“

Nun war ich ganz stolz, ihr das so ehrlich und mutig gesagt zu haben.

„Ich dich auch, aber wir müssen sehr vorsichtig sein, damit niemand etwas davon merkt“, entgegnete Franziska. „Am unverdächtigsten ist, wenn du dich mit meinem Bruder Frieder anfreundest, dann können wir uns häufiger sehen, ohne dass jemand Verdacht schöpft“.

 

Frieder war eineinhalb Jahre jünger als ich. Der Pastor schien darüber erfreut, dass sein Sohn schon so kurze Zeit nach dem Umzug aus Regis-Breitingen bei Leipzig in dem neuen Zuhause in Hartenstein im Erzgebirge Anschluss zu einem anderen Jungen gefunden hatte, denn Frieder war der Umzug in die neue Kirchengemeinde besonders schwergefallen. Und ich musste von nun an keine Gelegenheiten mehr suchen, um Franziska unbemerkt Kärtchen in die Jacken- oder Manteltasche stecken zu können. Nun konnte ich sie bei jedem Treffen mit Frieder sehen.

 

Am Palmsonntag des Jahres 1952, dem Sonntag vor Ostern, wurden Franziska und ich konfirmiert. Zwar hatte Pastor Hülsenberg seit seinem Amtsantritt im Spätsommer 1951 uns Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet, doch die Konfirmation fand gemeinsam statt. Und drei Monate später endete sowohl für Franziska als auch für mich die Schulzeit. Ich begann die Lehre in dem Steinkohlenbergwerk „Karl Marx“ in Zwickau, musste sechsmal in der Woche morgens mit dem Zug um 5.03 Uhr nach Zwickau fahren und war erst abends um 18.00 Uhr wieder zu Hause. So blieb mir kaum noch Zeit, mich regelmäßig mit Frieder zu treffen und so auch Franziska zu sehen. Franziska musste in der elterlichen Familie bleiben. Sie musste ihrer Mutter zur Hand gehen, denn Pastor Hülsenberg hatte für seine Tochter entschieden: „Meine Franziska soll mal eine gute Pfarrfrau werden. Das kann sie am besten bei meiner Frau lernen.“

 

Mit der Konfirmation war für uns beide auch die Zeit im Kinderchor vorbei. Für den Chorleiter Läsker war es eine Selbstverständlichkeit, dass die Pastorentochter ab jetzt im Kirchenchor der Erwachsenen mitsingt. Hingegen war er verwundert, aber hoch erfreut darüber, dass auch ich mich dazu entschlossen hatte, bei den Erwachsenen mitzusingen, denn Männerstimmen gab es nur wenige im Chor. Außerdem sahen wir uns ein zweites Mal in der Woche während der Jugendstunden in der Jungen Gemeinde. – Aber niemand sollte etwas über unser „Verhältnis“ erfahren.

In dieser Zeit war es mir gelungen, zwei Eintrittskarten für das Stadttheater in Zwickau zu erstehen. Es sollte die Lustspieloper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss aufgeführt werden. Wir fuhren getrennt mit der Bahn nach Zwickau und hatten alles so arrangiert, dass niemand etwas davon erfahren sollte, dass wir gemeinsam im Stadttheater waren. Doch die Verabredung wurde zu einem Fiasko; nicht weil unsere heimliche Verabredung entdeckt worden wäre, sondern weil uns wegen Krankheit von Sängern ersatzweise Richard Wagners Oper „Walküre“ vorgeführt wurde. – Vielleicht habe ich nicht nur wegen Richard Wagners Antisemitismus und der großen Nähe seiner Nachfahren zu Adolf Hitler, sondern auch wegen dieser Begebenheit in meinem Leben nie den richtigen Zugang zu Richard Wagners Musik bekommen.

 

Eines Tages, im Anschluss an eine Chorprobe, kam Franziska ganz unbefangen auf mich zu und sagte so laut, dass es alle hören konnten und auch sollten:

 

„Du, mein Vater schickt mich am Sonntag mit einem Brief zu Pastor Kircheis nach Schneeberg. Der Brief soll nicht mit der Post verschickt werden, damit er nicht in falsche Hände gerät. Nach Schneeberg ist es ein langer und einsamer Weg, den ich nicht allein gehen möchte. Deshalb habe ich meinen Vater gefragt, ob ich dich darum bitten darf, mich zu begleiten. Er hat zugestimmt. Deshalb möchte ich dich bitten, mich am Sonntag nach Schneeberg zu begleiten.“

 

(Es war zu jener Zeit nicht unüblich, Briefe, die unter keinen Umständen in die Hände des sowjetischen Geheimdienstes KGB oder der deutschen Stasi kommen durften, persönlich zu überbringen).

 

Mir wurde ganz schwindelig zumute, als mich Franziska so in aller Öffentlichkeit fragte. Zugleich bewunderte ich ihren Mut und ihren Einfallsreichtum, das Heimliche „un-heimlich“ zu tun. Ich fühlte alle Augenpaare auf mich gerichtet, als ich zusagte, sie am Sonntag auf dem langen Weg nach Schneeberg zu begleiten. Fast fünf Stunden werde ich mit Franziska zusammen sein können, schoss es mir durch den Kopf. Das entschädigt für die wenigen Treffen in der letzten Zeit. Ich freute mich auf den Sonntag und konnte es kaum erwarten, sie nach dem Mittagessen artig an der Haustür des Pfarrhauses abzuholen.

 

Die Gespräche auf dem langen Fußweg verliefen etwas anders, als ich es mir in Gedanken ausgemalt hatte. Ich hatte davon geträumt, mit ihr Hand in Hand nach Schneeberg zu wandern und sie schließlich auf dem Heimweg zu umarmen. Vielleicht würde ich sogar den Mut finden, sie wenigstens einmal auf den Mund zu küssen. Doch stattdessen machte mich Franziska unterwegs auf jedes Blümlein am Wegesrand aufmerksam. Und als wir durch das Dörfchen Wildbach gingen, erzählte ich ihr, dass ganz in der Nähe die Stelle sei, wo am 10. August 1899 die erste Frau meines Großvaters tödlich verunglückte. Wir machten den kurzen Abstecher hin zu den Felsvorsprüngen nahe der alten Burgruine der Isenburg. Nun musste ich ihr auf dem weiteren Weg nach Schneeberg den genauen Hergang dieses Unfalles erzählen. Auch auf dem Rückweg erzählten wir uns Episoden aus unseren Familien. Ich spürte, wie mein Traum immer weniger die Chance hatte, Wirklichkeit zu werden, wie mir die Zeit zwischen den Händen zerrann. Als aus der Ferne bereits die ersten Häuser von Hartenstein zu sehen waren, nahm ich all meinen Mut zusammen und ergriff Franziskas linke Hand. Sie hielt meinem Händedruck stand, gerade so, als habe sie auf diesen Augenblick gewartet. Wir ließen uns erst wieder los, als wir nahe an den ersten Häusern von Hartenstein waren und den ersten Menschen begegneten, denn wir wollten nicht Hand in Hand gesehen werden.

 

Doch schon wenige Tage nach diesem gemeinsamen Weg nach Schneeberg kam der Pastor Hülsenberg zu meinem Vater:

 

„Herr Martin, ein wohlmeinender Bürger hat mir in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt, dass ihr Sohn Klaus-Rainer und meine Tochter Franziska ein Verhältnis miteinander haben. Meine Tochter hat das auf mein eindringliches Befragen hin auch eingestanden. Es besteht also kein Zweifel. Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, gibt das einen Skandal. Wir beide sind dann mit unseren Familien in Hartenstein unmöglich geworden. Ich denke, das wollen wir beide vermeiden. Außerdem möchte ich, dass meine Franziska einmal eine gute, unbescholtene Pfarrfrau wird. Ich habe deshalb meine Tochter sofort zur Ausbildung als Gemeindehelferin ins Diakonissenmutterhaus Malche bei Berlin gegeben und die Oberin angewiesen, ihre brieflichen Kontakte zu kontrollieren. Bitte teilen sie ihrem Sohn in eindringlichen Worten mit, dass ich ihm jeden Versuch der Kontaktaufnahme mit Franziska verbiete. Guten Tag.“

 

Mein Vater war erschrocken. Sein vierzehnjähriger Sohn hatte es gewagt, sich der hiesigen Pastorentochter zu nähern. Doch in sein Erschrecken mischte sich auch Verständnis. Vielleicht hat Klaus-Rainer ein wenig von der Leidenschaftlichkeit seiner Vorfahren im Blut. Deshalb teilte er mir nur ganz unaufgeregt mit, was ihm der Pastor Hülsenberg gesagt hatte. So war für mich die erste Begegnung mit einer Frau zu Ende gegangen, noch ehe sie richtig begonnen hatte.

 

Über vier Jahre hatten Franziska und ich keinen Kontakt zueinander. Erst als ich 1957 meinen Studienplatz an der Bergbauingenieurschule verlor, schrieb sie mir. Und als ich im Herbst 1959 mit der Ausbildung zum Diakon und Sozialarbeiter im Rauhen Haus in Hamburg begann, war sie sogar bereit, mir in den Westen zu folgen. Doch ich lehnte diesen Vorschlag ab, denn ich wollte frei und ungebunden meine Ausbildung im Rauhen Haus in Hamburg absolvieren. - Nur zweimal sah ich Franziska wieder: im Sommer 1977 mit ihrem Mann, er war Pfarrer, bei unserer silbernen und im Sommer 2002 als Witwe bei unserer goldenen Konfirmation.

 

Nach der Schulentlassung

 

Im Frühling 1952, wenige Wochen vor der Entlassung aus der 8. Klasse der Volksschule kam unser Klassenlehrer mit einer Liste möglicher Lehrstellen in die Klasse. Vier aus unserer Klasse durften zur Oberschule. Ich gehörte nicht zu ihnen, da meine Eltern Nazi waren, obwohl mein Notendurchschnitt das zugelassen hätte. So wartete ich darauf, dass der Klassenlehrer eine mir passend erscheinende handwerkliche Lehrstelle nannte. Ich wollte Feinmechaniker werden und künftig Schreibmaschinen reparieren. Doch ich wartete vergebens. Zu dritt blieben wir am Ende übrig. „Und ihr werdet Bergmann“, verkündete uns der Klassenlehrer. Damit war die „Berufsberatung“ zu Ende und ich sollte das werden, was bei den Vorfahren meines Vaters Tradition hatte.

 

Bevor ich am 1. September 1952 meine Lehre im „Steinkohlenbergwerk Karl Marx“ in Zwickau in Sachsen antrat, verlebte ich noch drei schöne Wochen in einem Jungschar-Zeltlager im Grunewald in Westberlin. Ekkehard, damals in Ostberlin Theologiestudent, hatte mir zu diesem kostenlosen Urlaubsaufenthalt verholfen. Dort bekam ich auch Gelegenheit, bei der Westberliner DLRG die Prüfung als Frei- und Fahrtenschwimmer abzulegen. – In der Zwickauer Berufsschule wurde dieser westliche Schwimmausweis nicht anerkannt. Ich wurde den Nichtschwimmern zugeordnet. Aus Trotz blieb ich während der dreijährigen Berufsschulzeit ein „Nichtschwimmer“, um den sich der Sportlehrer vergeblich bemühte. Diese Begebenheit habe ich im Januar 2017 in dem eBook „Schwimmt man im Sozialismus anders?“ verarbeitet und im April 2021 in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 1)“ als Kurzgeschichte veröffentlicht.

 

 das Steinkohlenbergwerk „Karl Marx“

in Zwickau in Sachsen

 

Die harte und nicht ganz ungefährliche körperliche Arbeit unter Tage verrichtete ich gerne. Mit gerade mal vierzehn Jahren war ich der jüngste Bergmann der DDR. Über mich wurde sogar ein kurzer Film gedreht und im „Augenzeuge“, der DDR-Wochenschau in allen Kinos der Republik vorgeführt. Hierfür hatte man eigens ein etwa zwei Meter mächtiges Kohlenflöz so präpariert, dass ich mit nur wenig Aufwand mit dem Presslufthammer eine riesige Kohlenwand losbrach. – Nie wieder in meiner Bergbauzeit habe ich vor einem so mächtigen Kohleflöz gestanden; und nie wieder habe ich mit so wenig Aufwand mit dem Presslufthammer eine so riesige Menge an Kohle losbrechen können.

 

Trotzdem hatte ich am Anfang Angst, nicht vor der Arbeit unter Tage, sondern vor jeglicher praktischer Arbeit. Zu Hause hatten mein Großvater und meine Mutter immer wieder mit abwertender Mine zu mir gesagt, ich tauge nichts für eine praktische Arbeit. Ich sei zu ungeschickt. „Wenn man zusieht, wie du einen Hammer anfasst, dann wird einem schlecht. Dein Bruder Albrecht, das wird mal ein guter Handwerker. Aber du musst mal studieren und dein Brot hinter einem Schreibtisch verdienen“. Deshalb habe ich als Kind immer nur heimlich, wenn mich niemand beobachtete, zu Hammer oder Säge gegriffen. Erst mein Lehrlingsausbilder machte mir Mut und nahm mir jegliche Angst, vor anderen ein Werkzeug in die Hände zu nehmen. Ich lernte, einen Hammer so anzufassen, dass man mit ihm die größte Schlagkraft erzielt. Und ich beherzigte die Regel, keinen Arbeitsgang bis zur Erschöpfung durchzuführen, sondern in Intervallen von etwa zwanzig Minuten zu wechseln, z.B. zwischen Kohle mit dem Presslufthammer losbrechen und wegschaufeln. So war ich in meinen Leistungen manchem, der größer und kräftiger war, überlegen. Am Ende des zweiten Lehrjahres wurde ich sogar als „Bester Lehrling des Lernaktivs“ ausgezeichnet.

 

 

 

Die politische Agitation verlor an Bedeutung gegenüber dem Wissen und dem handwerklichen Können. Nur so ist es zu verstehen, dass ich während der dreijährigen Lehrzeit mehrmals als „Bester Lehrling des Lernaktivs“ ausgezeichnet und sogar als jüngster Bergmann der DDR im „Augenzeuge“, der DDR-Wochenschau in den Kinos vorgestellt wurde, ohne dass das zu ideologischen Schwierigkeiten geführt hätte. – Voll Stolz lud ich zu jener Zeit Franziska zu einem Kinobesuch ein. Sie wunderte sich, dass ich mit ihr ausgerechnet diesen einen bestimmten Film, dessen Titel ich längst vergessen habe, sehen wollte. Doch mir ging es gar nicht um den Hauptfilm, sondern um die Wochenschau.

 

Mein Lieblingslied, das ich damals oft auf dem Weg zur Arbeit leise vor mich hinsang, war das alte Bergmannslied

 

Wenn schwarze Kittel scharenweis

hin nach der Grube zieh’n

So höret man bei Hitz und Eis

nur frohe Melodien.

Bergmannblut hat frischen Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

Ja Bergmannblut hat frischen Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

 

Und eh’ der schwarze Kittelmann

hinab zum Schachte fährt,

stimmt er ein frommes Lied erst an,

das seinen Herrgott ehrt.

Bergmannblut hat frommen Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

Ja Bergmannblut hat frommen Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

 

Und ist die saure Schicht vollbracht,

schaut er nach Weib und Kind;

Sagt seinem Kam’rad gute Nacht

und eilt nach Haus geschwind.

Bergmannblut hat Lieb’ und Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

Ja Bergmannblut hat Lieb’ und Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

 

So ist es bis zu dieser Frist,

warum, ihr wisst es schon:

Weil Doktor Martin Luther ist

auch eines Bergmanns Sohn.

Bergmannblut hat rechten Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf!

Ja Bergmannblut hat rechten Mut.

Glück auf, Glück auf, Glück auf

 

In der Bochumer Bergvorschule, wo zum Unterrichtsbeginn stets gesungen wurde, haben wir dieses Lied häufig angestimmt, allerdings ohne die letzte Strophe, denn das Ruhrgebiet ist stark vom katholischen Brauchtum geprägt.

Über meine Jahre im Bergbau mit seinen damals fast mittelalterlich anmutenden Arbeitsbedingungen ließen sich Bände schreiben. Doch Einzelheiten aus dem Bergbau und den damaligen Bedingungen unter Tage hat mein Bruder Ekkehard in den beiden Büchlein „Als ich noch ein Müllerbursche war ...“ (Rüdersdorf, 1999) und „... wer ist mehr?“ (Rüdersdorf, 2000) ausführlich beschrieben. Ich musste von nun an sechsmal in der Woche morgens um 4.00 Uhr aufstehen, um den 5.00-Uhr-Zug von Hartenstein nach Zwickau zu erreichen und war erst abends gegen 17.00 Uhr wieder zu Hause. Das erste Lehrjahr war ich in nahezu allen Arbeitsbereichen über Tage tätig, die nötig sind, um die Arbeit unter Tage erst möglich zu machen. Hierzu gehören die Förderanlage, wo die vollen Kohlewagen aus und die leeren in den Förderkorb geschoben werden müssen, die Werkstätten für Holz, Metall und die Reparatur von Werkzeugen und Maschinen, der Holzplatz zur Lagerung des Grubenholzes, die Materiallager, die Kohleaufbereitungsanlage.

 

Das zweite und dritte Lehrjahr verbrachte ich unter Tage. Dort wurde ich mit allen Arbeiten eines Bergmanns vertraut gemacht. Ich erlernte Grundfertigkeiten vom Maurer, vom Zimmermann, vom Schlosser und vom Elektriker. Und natürlich erlernte ich alles, was notwendig ist, um die Kohle abzubauen, die gewonnenen Hohlräume zu sichern, d.h. fachgerecht auszubauen, und nicht mehr benötigte Hohlräume wieder mit Gestein zu verschließen. Noch lieber ging ich zur Berufsschule. Unsere Berufsschullehrer verfolgten die Absicht, uns zu Bergleuten mit einem guten Allgemeinwissen auszubilden. Sie machten uns nicht nur mit den kommunistischen Arbeiterdichtern Willi Bredel und Hans Marschwitza bekannt. Ebenso gehörten Stefan Zweig, Thomas und Heinrich Mann, Fjodor Dostojewski, Honoré de Balzac, Victor Hugo und viele Klassiker der Weltliteratur in den Lehrplan.

 

In dieser Zeit studierte Albrecht an der Bauingenieurschule in Glauchau. Er wohnte auch in Glauchau und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Dann baute er sein großes Zeichenbrett im Wohnzimmer auf und arbeitete oft bis tief in die Nacht hinein, um noch alles aufzuarbeiten, wozu er an den Wochentagen während des Studiums nicht gekommen ist. Ich war fasziniert von dem, was man so alles an einer Ingenieurschule studieren muss. So reifte in dieser Zeit in mir der Entschluss, nach Abschluss meiner Berufsausbildung und der erforderlichen Praxis mich ebenfalls zum Studium an einer Ingenieurschule zu bewerben. Und ich entwickelte große Freude daran, ebenfalls an einem großen Zeichenbrett technische Zeichnungen anzufertigen. So kaufte ich mir ein Zeichenbrett in der Größe DIN A 1 und die notwendigen Zeichenutensilien und begann ebenfalls zu zeichnen. Da unsere Berufsschule zur damaligen Zeit so gut wie kein Anschauungsmaterial besaß, zeichnete ich vor allem im Bergbau unter Tage gebräuchliche Maschinen, wie Pressluft- und Bohrhämmer, im Schnitt, um ihr Funktionieren darzustellen oder verschiedene Abbau- und Ausbauarten. Die Vorlagen für die Zeichnungen besorgte ich mir aus alten Fachbüchern. Unser Fachkundelehrer, Herr Treudler, zog die Zeichenbögen auf Karton auf, um sie haltbar zu machen, und bewahrte sie im Lehrmittelraum auf. Noch viele Jahre dienten sie im Fachkundeunterricht als Anschauungsmaterial. Davon konnte ich mich 1957 überzeugen, als ich während der kurzen Zeit des Studiums an der Bergbauingenieurschule in Zwickau meine ehemalige Berufsschule besuchte.

 

Doch auch im Bergbau ließ uns die sozialistische Agitation nicht aus den Fängen. Wir Lehrlinge mussten jeden Tag vor dem Einfahren draußen zum Fahnenappell antreten, und es wurde eine Tageslosung verlesen, die wir mit konzentrierter Miene anhören mussten. Einmal lautete die Tageslosung: „Jede Tonne Kohle – ein Faustschlag gegen Adenauer!“ (Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer galt damals als einer der meist gehasstesten Männer der DDR-Funktionäre) – Als diese Tageslosung verlesen wurde, musste ich grinsen; als ob es Adenauer interessieren würde, wie viel Kohle wir im Erzgebirge fördern! Man hatte mein Grinsen gesehen. Nach dem Appell musste ich zum FDJ-Sekretär. Der hat nicht lang mit mir diskutiert, sondern angeordnet, dass ich Gelegenheit bekäme, am Sonntag dem Konrad Adenauer noch ein paar Faustschläge zu verpassen; das bedeutete, dass ich am Sonntag ohne Lohn eine zusätzliche Schicht unter Tage arbeiten musste. Bei einer sechs-Tage-Woche hieß das, zwei Wochen ohne Pause durcharbeiten zu müssen. Und das war für einen Fünfzehnjährigen ganz schön hart. Auch diese Begebenheit habe ich im März 2019 etwas ausführlicher als eBook mit dem Titel „Lieben sie Adenauer?“ verfasst und im April 2021 als Kurzgeschichte in dem Buch „Schlaglichter aus dem Leben (Band 1)“ veröffentlicht.

 

Auch als am 5. März 1953 Stalin verstarb, mussten wir zu einem Appell antreten und nachdem man uns den Tod Stalins verkündet hatte, eine Gedenkminute lang schweigend strammstehen.

 

Noch ein Datum von 1953 blieb mir im Gedächtnis: der 17. Juni. Zwar ereignete sich in den Steinkohlebergwerken nichts. Die Kumpel verhielten sich ruhig. Sie gingen ihrer Arbeit wie an jedem Tag nach, und mit uns Lehrlingen wurde ein Ausflug an eine Talsperre mit Übernachtung in einer Jugendherberge gemacht. Die Presse schrieb einige Tage später, dass sich die Bergleute im sächsischen Steinkohlerevier nicht von den westlichen Agitatoren haben beeinflussen lassen. Doch trotzdem ist mir in Erinnerung geblieben, dass die Schüler-Monatskarte für die Bahn, für welche ich als Lehrling 7,90 Mark bezahlen musste, ab Mai 1953 plötzlich 15,40 Mark kostete. Dieser Preisanstieg wurde nach dem 17. Juni wieder zurückgenommen. Die Schüler-Monatskarte kostete wieder wie ehedem 7,90 Mark.

 

Als am 1. September 1953 im Sportunterricht auf Anregung der stellvertretenden Ministerin für Volksbilddung Margot Feist, der späteren Ehefrau von Erich Honecker, regelmäßige Schießübungen eingeführt wurden, an denen ich mich weigerte teilzunehmen, entschied der Sportlehrer, ich müsse mit zum Schießplatz marschieren, dürfe aber in der Zeit, in der die anderen schießen, auf dem benachbarten Sportplatz laufen. Damit wurde die Konfliktsituation behoben und bei mir der Grund für extreme läuferische Ausdauerleistungen gelegt.

 

Im August 1955 beendete ich meine dreijährige Lehre zum „Junghauer“ theoretisch mit „sehr gut“ und praktisch mit „gut“. („Junghauer“ wurden in der ehemaligen DDR die im Mittelalter als „Knappen“ bezeichneten Bergleute genannt).

 

Als Bergmann in Oelsnitz im Erzgebirge

 

Danach wechselte ich ins Steinkohlenbergwerk „Deutschland“ nach Oelsnitz im Erzgebirge. Jetzt konnte ich mit dem Bus fahren und war täglich nur noch elf Stunden unterwegs. Im Juni 1956 machte ich meinen Hauerschein. – Bei der mündlichen Prüfung hatte ich ein lustiges Erlebnis: Ein Prüfling sollte erläutern, wie der Blasversatz funktioniert; das ist ein Verfahren, um die durch den Abbau der Kohle entstandenen Hohlräume wieder zu verfüllen. Wenig wortgewandt antwortete er darauf in erzgebirgischer Mundart: „Materie neipadudelt!“. Er wollte damit sagen: Das zerkleinerte (Gesteins)-material wird durch ein Gebläse reingepustet. Mit seiner Antwort hatte er die Hauer-Prüfung bestanden.

 

Steinkohlenbergwerk „Deutschland“

in Oelsnitz im Erzgebirge

 

Nun erst war ich ein voll ausgebildeter Bergmann, der alle über und unter Tage anfallenden Arbeiten selbständig und eigenverantwortlich ausführen durfte. – Die schönste Zeit in Oelsnitz war für mich, wenn mein Bruder Ekkehard während seines Theologiestudiums Semesterferien hatte und wir gemeinsam einfuhren und teilweise auch unter Tage gemeinsam arbeiteten. Der Steiger, der uns mit Wohlwollen begegnete, sorgte stets dafür, dass wir im abzubauenden Kohleflöz Arbeitsstellen nebeneinander bekamen.

 

Oft wird davon gesprochen, dass die heilige Barbara die Schutzheilige der Bergleute sei. Dass das so nicht zutrifft, erfuhr ich von Ekkehard, der sich als angehender Theologe mit dieser Frage intensiv befasst hat. Die Bergleute im Erzgebirge in der vorreformatorischen Zeit hatten in jeder Region ihre eigene Schutzpatronin, so z.B. in Annaberg die heilige Anna, in Annaberg-Buchholz, dem damaligen Katharinaberg, die heilige Katharina, in Marienberg Maria. Lediglich die bayerischen Bergleute hatten die heilige Barbara als Schutzpatronin. Mit der Reformation verschwanden im protestantisch gewordenen Erzgebirge auch die Schutzpatroninnen. An ihre Stelle traten die Schutzengel. So haben die erzgebirgischen Lichterengel nicht nur etwas mit den himmlischen Heerscharen aus der Weihnachtsgeschichte zu tun, sondern mit ihrer Funktion als Schutzengel. Deshalb werden im Erzgebirge Bergmann und Engel fast immer gemeinsam als kerzentragende Figuren aufgestellt. Dabei wurden für jeden Jungen ein Bergmann und für jedes Mädchen ein Engel ins Fenster gestellt. Bei uns standen in der Vorweihnachtszeit fünf Bergmänner im Fenster.– Die heilige Barbara hingegen wurde durch den überwiegend vom katholischen Brauchtum geprägten Ruhrbergbau zur Schutzheiligen der Bergleute.

 

Was lag näher, als mich nach zwei Jahren Berufstätigkeit im „Deutschlandschacht“ in Oelsnitz im Erzgebirge unter Tage für das Studium an einer Bergbau-Ingenieurschule zu bewerben, zumal auch meine drei älteren Brüder nach ihrer handwerklichen Berufstätigkeit über den zweiten Bildungsweg die Hochschulreife erlangt und ein Studium begonnen hatten? Dieter studierte in Köln Sportwissenschaft, Ekkehard in Ostberlin Theologie und Albrecht im sächsischen Glauchau Tief- und Industriebau. Doch Leistung allein und die in Abendkursen erworbene Fachschulreife „Technisches Minimum“ reichten nicht. Man musste von seiner Brigade zum Studium delegiert werden. Nachdem von mir auch diese Hürde genommen war, begann ich am 1. September 1957 mit dem Studium an der „Bergbau-Ingenieurschule Georgius Agricola“ in Zwickau/Sachsen.

 

Ich schloss mich in Zwickau der ökumenischen Studentengemeinde an, welche außer mir nur aus etwa zwanzig Studenten des Konservatoriums Robert Schumann, einer sehr bedeutenden Musikhochschule bestand. Denn in Zwickau gab es nur die Bergingenieurschule Georgius Agricola und das Konservatorium Robert Schumann. Das hatte für mich den Nebeneffekt, dass ich als einziger aus der Bergingenieurschule besondere Beachtung genoss und Zugang zur klassischen Musik und zur Kirchenmusik fand und mein Wissen über Musik erheblich erweiterte.

 

Als am 8. Oktober 1957 die Wahl zur Volkskammer der DDR stattfand und ich als über 18jähriger erstmals wählen durfte, gingen Albrecht und ich zur Wahl. Das geschah im Unterschied zu meinen Eltern, die grundsätzlich nicht wählen gingen. Albrecht und ich betraten das Wahllokal, nahmen die Wahlunterlagen entgegen und fragten so laut, dass es alle hören konnten, wo denn die Wahlkabine sei, um geheim wählen zu können. Da in der DDR überall propagiert wurde, offen zu wählen, erregten wir damit große Aufmerksamkeit. Doch es gab in jedem Wahllokal eine Wahlkabine. So konnten internationale Wahlbeobachter nicht das Fehlen von Wahlkabinen bemängeln. Wortlos wies man zur Wahlkabine ganz hinten in der Ecke des Raumes. Entschlossen gingen wir dort hinein. Nun wusste man, dass wir zu den 0,xxx Prozent der Wähler gehörten, die irgendwas auf den Wahlzettel geschrieben hatten.

 

Die „Studentenbude“ teilte ich mit einem Kommilitonen, der überzeugter SED-Genosse war. Häufig gerieten wir in politische Diskussionen. Dabei schien er mir verblüffend offen und tolerant. Doch er war fest davon überzeugt, dass im „Neuen Deutschland“, dem Zentralorgan der SED niemals etwas Falsches abgedruckt werde. Ich versuchte, ihm das Gegenteil zu beweisen. Und bald bot sich Gelegenheit hierzu. Die Sowjetunion schoss den Satelliten „Sputnik II“ mit dem Hund Leica (zu Deutsch: Polarhund) ins Weltall. Das „Neue Deutschland“ berichtete ausführlich darüber, auf welch wunderbare und sichere Weise Leica

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Klaus-Rainer Martin
Cover: Titelbild: Ruth Kühnert Hartenstein, 1943 (Auf einem Bauernhof in der Nähe unseres Hauses. Ich konnte nicht nur lebhaft sein, sondern auch nachdenklich)
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0731-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ursula und unseren drei Töchtern Gabriele, Carola und Ulrike und ihren Familien gewidmet

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