Als ich 1944 zur Schule kam, war das Schlagen mit einem Rohrstock als Erziehungsmaßnahme noch erlaubt. Und unser Klassenlehrer Herr Rühlke machte davon regen Gebrauch. Er war mit seinem Schicksal sehr unzufrieden und ließ seinen Seelenzustand an uns Kindern aus. Als Soldat an der Ostfront hatte er seinen rechten Arm verloren, „für den Führer geopfert“, wie er dazu sagte, und musste deshalb wieder in seinem Ursprungsberuf als Lehrer arbeiten, obwohl er viel lieber Soldat an der Front geblieben wäre.
Wenn er bei seinen langen Vorträgen durch die Bankreihen im Klassenzimmer schritt, tat er das stets mit seinem Rohrstock in seiner linken Hand. Offenbar hatte er ihn schon viele Jahre in Gebrauch, denn er sah grau aus. Damit schlug er häufig völlig grundlos auf die Schultische, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und bei jeder Kleinigkeit, die ihm nicht passte, mussten wir eine oder beide Hände vorhalten, und er schlug mit dem Rohrstock auf die ausgestreckten Finger. Nach jeder „Missetat“, wie z.B. etwas dem Nachbarn zuflüstern, verkündete er, mit wie vielen Schlägen sie geahndet wird. Der „Missetäter“ musste dann laut mitzählen, wie oft der Rohrstock auf die ausgestreckten Finger niederprasselte. Stöhnen oder gar Weinen war untersagt, denn „ein deutscher Mann weint nicht“, war seine Redensart.
Noch schlimmer war es, wenn die „Missetat“ in seinen Augen so gravierend war, wie etwa Abschreiben beim Nachbarn, dass Schläge auf das Hinterteil als Urteil verkündet wurden. Dann musste sich der kindliche Missetäter über einen Schultisch beugen, und Herr Rühlke schlug auf den so gebeugten Rücken und das Hinterteil.
Um die Schmerzen etwas abzumildern, trugen viele von uns zu Beginn des Schuljahres Lederhosen. Aber Herrn Rühlke veranlasste das dazu, den armen Teufel, der eine Tracht mit dem Rohrstock bekommen sollte, zu befehlen, seine Hose runterzulassen und sich nur mit der Unterhose bekleidet über den Schultisch zu beugen. Dann spürte man die Schläge noch heftiger als mit einer Stoffhose. Und es war zudem peinlich, vor der ganzen Klasse seine Hose runterzulassen und in Unterhose dazustehen.
Als Herr Rühlke einmal seinen Rohrstock beim Klingeln zum Ende der Stunde auf dem Lehrerpult liegenließ, als er ins Lehrerzimmer ging, schnappte sich Kurt den Rohrstock und rieb diesen mit Zwiebelsaft ein, welchen er immer in einem kleinen Fläschlein bei sich trug, da er auf diese Gelegenheit viele Tage gewartet hatte. Das Ergebnis war in der darauffolgenden Stunde sichtbar: Als Herr Rühlke bei seinem Vortrag wieder durch die Bankreihen schritt und dabei mit seinem Rohrstock auf einen Schultisch schlug, zersplitterte der Rohrstock. Sein Ende bestand nur noch aus Fasern, welche jeden Zusammenhalt untereinander verloren hatten. – Von da an achtete Herr Rühlke sehr darauf, seinen neuen Rohrstock, den er schon tags darauf mitbrachte, er hatte offenbar immer einige zu Hause als Reserve, nie mehr im Klassenzimmer liegen zu lassen. – Was uns wunderte: er hat nie danach geforscht, wer ihm diesen Streich gespielt hatte, - und wir schwiegen eisern.
Herr Rühlke trug an seinem rechten, kurz unterhalb des Armgelenks amputierten Arm eine Prothese mit einer nachgebildeten und mit einem Lederhandschuh bezogenen Hand. Einmal führte er uns seine zweite Prothese vor. Diese hatte am Ende keine künstliche Hand, sondern einen großen runden Haken. Die Rundung war so groß, dass er dort den Stil eines Besens oder einer Harke durchschieben konnte, welche er dann mit der anderen Hand betätigen konnte. So konnte er leichtere Arbeiten verrichten. Er nannte diese Prothese seine „Arbeitsprothese“. Das regte den malerisch begabten Klaus dazu an, in der Pause an die Tafel vorn im Klassenzimmer eine Prothese zu malen, an deren Ende ein Rohrstock befestigt war. Darunter schrieb er in Druckbuchstaben „Lehrerprothese“. – Herr Rühlke befahl zu Beginn der nächsten Stunde dem Klassensprecher, die Tafel abzuwischen und machte keinen Versuch, den Zeichner ausfindig zu machen, um ihn zu bestrafen.
Einmal kam Werner auf eine sehr originelle Idee. Er gehörte zu den Kindern, die sich am häufigsten über einen Tisch beugen mussten, um Schläge aufs Hinterteil entgegenzunehmen. Werner war der Sohn eines Schlachtermeisters. Die Schlachterei wurde während des Krieges von seiner Mutter und einem noch minderjährigen Lehrling weitergeführt. Eines Tages brachte Werner eine Blase, gefüllt mit Schweineblut, mit in die Klasse. Diese band er sich ins Hinterteil seiner Hose. Natürlich musste er sich auch an diesem Tag, ohne dass sich Werner besonders bemühen musste, wie an den meisten Tagen zuvor seine Schläge mit dem Rohrstock, gebeugt über einen Schultisch, abholen. Doch diesmal verlief alles ganz anders. Als Herr Rühlke zum vierten oder fünften Mal mit dem Rohrstock auf Werners Hinterteil einschlug, zerplatzte die Blase und das Blut rann in Strömen an Werners Beinen herunter. Herr Rühlke bekam einen furchtbaren Schrecken und alle Jungen der Klasse brüllten vor Entsetzen. Herr Rühlke hielt sofort inne, auf Werner mit dem Rohrstock einzuschlagen. Sein Angebot an Werner, die Wunde zu versorgen, wurde von Werner vehement abgelehnt, - wäre doch dann der ganze Schwindel aufgeflogen. Aber Herr Rühlke ließ Werner nach Hause gehen. Schon nach einiger Zeit kam Werner frisch gewaschen und umgezogen zurück in die Klasse und meinte zu Herrn Rühlke, er habe seine Mutter überzeugt, keine Anzeige zu erstatten und Stillschweigen über diesen Vorfall zu wahren.
Von diesem Tag an schlug Herr Rühlke mit seinem Rohrstock nicht mehr auf die über Schultische gebeugten Hinterteile seiner Schüler, sondern nur noch auf ausgestreckte Finger.
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2021
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