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„Du läufst 4,2 Knoten“

beim Fünf-Seen-Lauf in Schwerin

 

 

Eigentlich stand der Schweriner Fünf-Seen-Lauf des Jahres 2003 entlang der silbern leuchtenden Seen gar nicht auf meinem persönlichen Laufkalender. Dass ich aber trotzdem in Schwerin gelaufen bin, kam so: Das Jahr 2003 hatte für mich seine besondere Bedeutung, denn ich wurde in diesem Jahr 65 Jahre alt, rückte also auf in die Klasse M 65. Da wollte ich mir ein paar läuferische Höhepunkte gönnen und dabei meine Leistungen kontinuierlich steigern. Die beiden Marathonläufe im April (Kyffhäuser und Hamburg) liefen gut. Doch beim Rennsteiglauf im Mai hat es mich erwischt: Ich war auf glitschigem Grund ausgerutscht und brach mir dabei zwei Rippen. Nun war der Bieler Hunderter im Mai passe´. Ebenso musste ich alle anderen Lauftermine streichen, die noch in meinem Kalender vermerkt waren. Man prophezeite mir mindestens zwei Monate Pause. Ein Leichtathlet, der selbst einmal zwei Rippen gebrochen hatte, erzählte mir, dass er ein Vierteljahr mit dem Training pausieren musste. Das wollte ich nicht wahrhaben. Und ich wollte mich auch nicht darauf verlassen, was mir ein Mediziner riet. Deshalb wagte ich mich vier Wochen nach meinem Unfall an drei Trainingseinheiten von je zehn Kilometern. – Natürlich ganz langsam. Es ging mir dabei so gut, dass ich mir für Juli, also sechs Wochen nach meinem Unfall, wieder einen Lauf aussuchte, und das war der 19. Schweriner Fünf-Seen-Lauf. Als ich mich im Internet kundig machte, wurde mir die Entscheidung abgenommen, ob ich mich für die 15 oder für die 30 Kilometer lange Strecke melden soll: Die 15 Kilometer waren bereits ausgebucht. So meldete ich mich für die 30-Kilometer-Distanz und nutzte die letzten mir verbleibenden drei Tage für noch weitere drei Trainingseinheiten von je zehn Kilometern. So ging ich am 5. Juli 2003 nach einer Trainingspause von vier Wochen und anschließend insgesamt nur sechs Trainingseinheiten von je zehn Kilometern an den Start. Ob das wohl gut gehen wird? Bei meinem ersten Schweriner Fünf-Seen-Lauf am 7. Juli 1990 war ich zwei Stunden und 43 Minuten unterwegs. Nun, dreizehn Jahre später, werde ich froh sein, überhaupt das Ziel zu erreichen.

 

Die erste Hälfte lief für mich ganz gut. Ich konnte mit dem hinteren Mittelfeld einigermaßen mithalten. Doch am Ufer des Störkanals wurden die Beine schwerer und ich lief ein wenig langsamer. Zwar wurde ich von niemandem überholt, doch ich selbst konnte auch nur zwei Läufer überholen. Hinter mir hörte ich auf dem Kanal ein Motorboot. Als es meine Höhe erreicht hatte, glich es die Geschwindigkeit meinem Lauftempo an. Nach gut 500 m rief mir der Wochenendkapitän zu: „Du läufst 4,2 Knoten.“ Dann beschleunigte er seine Fahrt wieder. Nun grübelte ich angestrengt, wie viel wohl ein Knoten ist. Das hatten wir doch mal in der Schule gelernt. Es wollte und wollte mir nicht einfallen. Es sind ungefähr 1850 Meter, dachte ich. Aber die genaue Zahl wollte mir nicht einfallen. Dafür drängte sich meiner Erinnerung Stefan und unser gemeinsamer Fünf-Seen-Lauf am 7. Juli 1990 auf:

 

Seit dem Herbst 1989 lief der siebzehnjährige Stefan, für den ich als Sozialpädagoge verantwortlich war, mit mir. Wir liefen sehr regelmäßig. Er ist nach fachärztlicher Diagnose ein „autistischer Psychopath“. Seine „Marotte“: Die Sorge um das Ozonloch. Er führte mit dem damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer einen umfangreichen Schriftwechsel darüber, wie man eine weitere Vergrößerung des Ozonloches verhindern könne. Regelmäßig bekam er auf seine Briefe Antwort aus Bonn, teilweise vom Minister selbst unterschrieben. – So wurde Klaus Töpfer zum „fernen Miterzieher“ von Stefan. Mit Zwanghaftigkeit und der Präzision eines elektronischen Weckers erinnerte mich Stefan an jeden verabredeten Termin. So liefen wir, auch wenn bei mir mal die Motivation nicht so recht stimmte. Mein Ziel: Ich möchte Stefan allmählich an das Laufen und die Atmosphäre größerer Laufveranstaltungen heranführen. Am 1. Mai 1990 gab es hierzu die erste Gelegenheit. Nachdem wir uns während des hinter uns liegenden Winterhalbjahres an Distanzen bis zehn Kilometer herangewagt hatten, meldeten wir uns zu einem 10-Kilometer-Volkslauf in dem schleswig-holsteinischen Städtchen Kaltenkirchen an. Ich bereitete Stefan beim täglichen Training darauf vor, dass an so einem Lauf viele Läuferinnen und Läufer teilnehmen werden. Da wird es auch mal vorkommen, dass man von jemandem angerempelt wird. Die Entschuldigung quittiert man mit einem freundlichen „War nicht so schlimm“, und nicht etwa mit einer Pöbelei. Und wenn man selbst mal jemand anrempelt, dann entschuldigt man sich. Das gehört zur sportlichen Fairness. Ich war mir sicher, dass das klappen wird. – Und es klappte vorzüglich. Stefan lief, was Lunge, Kreislauf und Muskeln hergaben. Ich hatte Mühe, ihm bei diesem Tempo bis zum Ziel zu folgen. Auf der Heimfahrt bedrängte er mich, so bald als möglich wieder an einem Volkslauf teilzunehmen, möglichst an einem längeren als nur zehn Kilometer. So meldete ich uns für den 17. Juni 1990 zum Halbmarathon beim Sachsenwaldlauf in Schwarzenbek bei Hamburg an. Wir steigerten bis dahin unser tägliches Trainingspensum auf über 20 Kilometer. – Als es dann endlich so weit war, dass wir zu Stefans erstem Halbmarathon starteten, waren wir beide gut vorbereitet. So konnten wir eine für uns zufriedenstellende Zeit erreichen. Wir hatten uns verabredet, bis zum Ziel zusammen zu bleiben. Diese Verabredung war gut, denn anfangs wollte Stefan zu schnell laufen und ich musste ihn bremsen. Auf den letzten Kilometern baute er jedoch merklich ab. So sah ich mich in der Pflicht, ihn immer wieder aufzumuntern.

 

Dieses Erlebnis hatte Stefan richtig auf den Geschmack gebracht. Ich ließ mich dazu überreden, uns gleich am nächsten Tag noch telefonisch in Schwerin für die 30 Kilometer lange Strecke des Fünf-Seen-Laufs am 7. Juli 1990 anzumelden, der erstmals auch für Läufer aus Westdeutschland offen war. Zur Vorbereitung auf diese Distanz blieb uns nur noch wenig Zeit. So hielten wir unser tägliches Training von 20 Kilometern aufrecht und wagten uns im Training auch einmal an 30 Kilometer. – Neu war für Stefan, dass wir schon am Tag vor dem Lauf anreisen und mit vielen anderen Läuferinnen und Läufern in einer Turnhalle auf der Luftmatratze und im Schlafsack nächtigen mussten. Doch nachdem bisher alle Dinge, auf die ich Stefan hatte vorbereiten müssen, so vorzüglich geklappt hatten, war ich mir sicher: auch diese neue Situation wird er mit meiner Hilfe in den Griff bekommen. – Und so war es auch. Zwar hatte er etwas Mühe, sich damit abzufinden, dass Wasch- und Duschmöglichkeiten etwas spartanischer waren, als er es von zu Hause her gewohnt war, doch er äußerte seinen Missmut darüber nur mir gegenüber. – Der Lauf selbst hat uns sehr viel Spaß gemacht. Waren wir drei Wochen vorher beim Halbmarathon im Sachsenwald mit 2:05 Stunden dicht über der Zweistunden-Marke geblieben, so peilten wir für den vor uns liegenden Lauf eine Zeit von weniger als drei Stunden an. Und als wir die 25-km-Marke mit 2:10 Stunden passierten, wurden wir uns einig, das Ziel in weniger als 2:45 Stunden erreichen zu wollen. Auch wenn wir auf den letzten fünf Kilometern etwas nachgelassen hatten, erreichten wir das Ziel noch in 2:43 Stunden. Stefan war sehr stolz auf seine Leistung und träumte von noch längeren Distanzen. Da er inzwischen volljährig geworden war, stand einer Anmeldung zu einem Marathonlauf nichts mehr im Wege. Beide meldeten wir uns zum Marathonlauf in Hamburg am 24. Mai 1991 an. Bis dahin blieb uns genügend Zeit zur Vorbereitung, die wir auch gut nutzten. Fast täglich und bei jedem Wetter begaben wir uns auf unsere Trainingsstrecke. Und als es im Winter schon früh zu dunkeln begann, mieden wir unsere Strecke durch den Wald und suchten uns eine Laufstrecke auf einem Radweg neben einer Landstraße. Zusätzlich sicherten wir uns mit Leuchtbändern.

 

Endlich war es so weit: 24. Mai 1991. Stefans erster Marathonlauf. Bereits am Start war es so warm und sonnig, dass ich mich verpflichtet sah, Stefan einzuhämmern, keine Getränkestelle auszulassen. Er folgte meinem Rat. Mit Verbissenheit blieb er auf meinen Fersen. Bald stellte ich jedoch fest, dass Stefan nicht in der Lage war, auf die Signale seines Körpers zu hören. Er folgte mir treu ergeben, ganz gleich, welches Tempo ich ihm vorgab. Das machte mir Angst. Schließlich wollte ich nicht, dass er irgendwann nicht mehr kann und aufgibt – oder noch schlimmer: völlig entkräftet zusammenbricht. So verlangsamte ich das Tempo und überzeugte ihn davon, dass der oberste Grundsatz beim ersten Marathon heißt, wohlbehalten im Ziel anzukommen. Die Zeit sei dabei nebensächlich. Nach 4:20 Stunden waren wir im Ziel. Stefan war glücklich. Stolz zeigte er jedem seine Urkunde. – Im Herbst 1991 endete meine Betreuung für Stefan. Meine Absicht, ihm mit dem Laufen eine Perspektive für die Gestaltung seiner Freizeit mit auf den Weg zu geben, verwirklichte sich nicht. Es gab und gibt für ihn keinen Menschen mehr, der ihn an die Hand nimmt.

 

Während ich an Stefan und unseren gemeinsamen Fünf-Seen-Lauf am 7. Juli 1990 zurückdachte, war ich etwas unaufmerksam geworden, achtete an einer Weggabelung nicht auf die Markierung und lief in die falsche Richtung. Oder war etwa die Markierung nicht ganz eindeutig? Zwei Läuferinnen, die sich an der gleichen Stelle verlaufen hatten, kamen mir entgegen. Ich schloss mich Ihnen an und fand so wieder auf den richtigen Weg. Nach drei Stunden und dreißig Minuten kam ich im Ziel an. Von meinem Rippenbruch hatte ich unterwegs nichts verspürt, wohl aber von meinen fehlenden Trainingskilometern.

 

Wieder zu Hause schlug ich im Lexikon nach, um genau zu erfahren, wie viel ein Knoten ist: 1.852 Meter bzw. eine Seemeile pro Stunde, heißt es in meinem Lexikon. Ich setzte meinen Taschenrechner in Aktion: Die 4,2 Knoten, die ich am Störkanal lief, waren folglich 7,778 Kilometer pro Stunde. Nicht gerade schnell. Doch mein Endergebnis von 3:30 Stunden war ein Durchschnitt von 8,57 km/h oder 4,6 Knoten. Das war schon etwas besser. Bestimmt werde ich im nächsten Jahr wieder dabei sein. Dann werde ich versuchen, 5,2 Knoten, das sind 9,63 km/h, zu laufen. Damit würde ich die Zeit von drei Stunden knapp unterbieten. - Und wie wäre es, wenn man künftig auf der Urkunde auch die Durchschnittsgeschwindigkeit in Knoten aufführen würde? Beim Sieger des 19. Fünf-Seen-Laufs am 5. Juli 2003 wären das bei 1:47 Stunden fast 9,1 Knoten gewesen. Das würde sich doch auf der Urkunde des Fünf-Seen-Laufs originell machen. Oder?

 

 

Impressum

Texte: Dieser Beitrag wurde in der Festschrift zum 20. Schweriner Fünf-Seen-Lauf abgedruckt.
Cover: Klaus-Rainer Martin
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2021

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