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Eduards goldener Ehering war an allem schuld

 

 

Immer wenn die Farbe GOLD genannt wird, muss ich an meinen Urgroßonkel Eduard und das, was ihm widerfahren ist denken. Doch wenn ich diese Begebenheit aus dem Leben von meinem Urgroßonkel Eduard anderen erzähle, wenden sich alle mit Abscheu von mir ab, denn was ich zu erzählen habe, ist so unvorstellbar und abscheulich, dass man mir nicht glaubt und ist der Meinung, das Ganze sei nur in meiner unnormalen Fantasie entstanden. Doch diese Begebenheit ist wahr! Zwar habe ich meinen Urgroßonkel nie persönlich kennengelernt, doch ich zweifle nicht daran, was mir mein Großvater über ihn erzählt hat.

 

Eduard hat sein Leben lang als Knecht auf einem Bauernhof gearbeitet. Als er noch jung an Jahren war, ist ihm das Folgende passiert. Der Bauernhof, auf dem er arbeitete, war im ganzen Dorf dadurch bekannt, dass er stets alle technischen Neuerungen für die Landwirtschaft auf seinem Hof einführte, so auch im Jahre 1907 die mit einem Elektromotor betriebene Dreschmaschine. Zwar gab es in diesem Dorf zwar schon seit der Jahrhundertwende elektrisches Licht. Doch erst im Jahre 1907 hat die Berliner „Allgemeine Electrizitäts-Gesellschaft (AEG)“ einen überall in der Industrie und Landwirtschaft einsetzbaren Elektromotor produziert, welcher die bis dahin überall eingesetzten Dampfmaschinen verdrängte.

 

Auch auf dem besagten Bauernhof wurde ein Elektromotor angeschafft und für diesen draußen vor der Scheune ein regensicherer mit Blech beschlagener Kasten gebaut. Damit wollte man verhindern, dass der Motor mit seiner Hitzeentwicklung einen Brand auslöst. So wurde der Kasten immer dann vom Motor abgehoben, wenn er in Betrieb gesetzt werden sollte. Wenn der Motor die in der Scheune befindliche Dreschmaschine antreiben sollte, wurde auf seine rotierende Antriebsrolle ein lederner Treibriemen aufgeschoben. Um aus einem langen Lederriemen einen endlosen Treibriemen (man sagt hierzu auch Transmissionsriemen) zu machen, werden die beiden Enden durch ein elastisches Drahtgeflecht verbunden. Den Transmissionsriemen auf die rotierende Scheibe am laufenden Motor zu schieben, erforderte große Schnelligkeit und hohe Geschicklichkeit.

 

Bei diesem Vorgang geschah das Ungeheuerliche. Eduard verhakte sich mit seinem goldenen Ehering, den er am rechten Ringfinger trug, am Drahtgeflecht des Treibriemens. Und da es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen gab und er in seiner Lage auch nicht den Schalter erreichen konnte, um den Motor abzuschalten, geriet sein rechter Arm in die Drehscheibe und wurde ihm vom Leib abgerissen. Erst dann gelang es ihm, den Schalter zu erreichen, um den Motor abzustellen.

 

Man brachte ihn, nachdem man die Blutung am Schultergelenk mit viel Mühe zum Stillstand gebracht hatte, mit einem Pferdewagen zum Arzt. Der konnte zwar den Arm nicht mehr annähen, aber die heftige Blutung an der großen Wunde am rechten Schultergelenk fachgerecht und dauerhaft zum Stillstand bringen, die Wunde verbinden und die Schmerzen durch Verabreichen von Morphium etwas mildern. Dann fuhr man Eduard mit dem Pferdefuhrwerk in das etwa 15 Kilometer entfernte Krankenhaus. Auch dort konnte man den Arm nicht mehr annähen, sondern nur die Wunde an der rechten Schulter versorgen und nähen, so dass sie gut verheilen konnte. Danach schickte man Eduard und seine Begleiter wieder nach Hause und gab ihnen für die Linderung der Schmerzen Morphium mit.

 

Bevor sie die Heimreise antraten, bat Eduard darum, dass man ihm seinen abgetrennten rechten Arm mit dem verformten goldenen Ehering aushändigt, damit er ihn mit nach Hause nehmen könne. Die Ärzte waren zwar über diesen seltsamen Wunsch verwundert, erfüllten aber Eduard diesen Wunsch.

 

Zu Hause tat Eduard etwas sehr Ungewöhnliches. Er heizte den großen Waschkessel im Flur an und kochte in dem heißen Wasser seinen Arm mit dem goldenen Ehering, der so fest am Ringfinger saß, dass er nicht zu entfernen war.  Nach dem Kochen pellte er von dem Arm das Fleisch ab, so wie wir das heute von einem Hähnchenschenkel tun. Von einem Tischler ließ er sich einen kleinen Sarg bauen. In diesen legte er in Seide gehüllt die sauber abgepulten Knochen des Armes mit dem unförmigen goldenen Ehering am Knochen des Ringfingers. Diesen fest verschlossenen Sarg bewahrte er sorgfältig behütet jahrzehntelang im Kleiderschrank des ehelichen Schlafzimmers auf.

 

Sein Leben lang trug er keinen Ehering mehr. Er arbeitete weiterhin - nunmehr jedoch als einarmiger Knecht - auf dem Bauernhof, wo ihm dieses Unglück zugestoßen war. Als er mit 64 Jahren starb, öffnete seine Frau das Testament. Darin hatte Eduard verfügt, dass bei seiner Beerdigung auch der kleine Sarg aus dem Kleiderschrank in das gleiche Grab gelassen werden soll, wo man ihn beerdigt, denn er möchte nach seinem Tod nicht als einarmiger Verstorbener vor seinen Schöpfer treten, sondern mit all seinen Gliedmaßen. – Zum Glück hatte man das Testament vor seiner Beerdigung geöffnet und konnte ihm so diesen Wunsch problemlos erfüllen.

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Cover: Ursula Martin
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2021

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