Die Gruppe „Biografisches“ im BookRix-Verlag München hat zu einem Schreibwettbewerb über die Farbe Braun aufgerufen. Dem will ich gerne nachkommen. Dabei fällt mir ein, dass das Leder in der Schusterwerkstatt meines Großvaters immer braun aussah.
Als kleiner Junge saß ich sehr oft in der Schusterwerkstatt meines Großvaters, denn wir wohnten mit bei unseren Großeltern mütterlicherseits in ihrem kleinen Häuschen. Mit seinen damals 75 Jahren musste mein Großvater nicht mehr als Soldat in den 2. Weltkrieg ziehen. Deshalb war er nur noch der einzige Schuster in unserem Städtchen, denn die jüngeren Schuster waren alle als Soldaten eingezogen worden. Da damals selbständige Handwerker nicht versichert waren und damit keine Rente erhielten, mussten sowohl mein Großvater als auch die Großmutter in diesem Alter noch den Schusterschemel drücken und Geld verdienen, denn ihr Einkommen hatte nie dafür gereicht, in jungen Jahren etwas für das Alter zurücklegen zu können.
Die Großmutter erledigte alle Näharbeiten an den Schuhen und der Großvater besohlte alle Schuhe. Es waren fast nur noch Damenschuhe, meistens grobe Arbeitsschuhe von den Bäuerinnen, kaum noch Arbeitsschuhe von den Bauern, denn diese waren meistens als Soldaten irgendwo an der Front und die Kriegsgefangenen, die auf den Bauernhöfen die schwere Arbeit verrichten mussten, hatten meist keine Arbeitsschuhe. Sie trugen nur Holzlatschen.
Das Leder war wie fast alles in den Kriegsjahren knapp. Oft brachten die Kunden alte Schulranzen aus Leder oder Aktentaschen mit, damit der Großvater daraus mit einem scharfen Messer die benötigten Sohlen ausschneiden konnte. Auch die Großmutter musste ihr Material selbst herstellen. Sie schmierte mit Pech Hanffäden ein, um so reißfeste Fäden für die Nähte herzustellen. – Oft wurden die Absätze der Arbeitsschuhe aus dickem Pappen schichtweise zusammengeklebt. Nur die letzte Schicht bestand aus Leder. Nach dem Leimen und Pressen nagelte Opa die Absätze noch mit Holznägeln.
Wenn mal ein Bauer Leder mitbrachte, dann war es Rinds- oder Schweinsleder. Ihm war es gelungen, nach dem Schlachten eines Rinds oder Schweins Mitarbeiter in der Gerberei, in welcher er das Fell des Rindes bzw. die Haut des Schweines abgeben musste, mit Fleischwaren dahingehend zu bestechen, dass sie ihm dafür etwas Leder abtraten. Beide Ledersorten hatten durch das Gerben die Farbe braun bekommen. Wenn der zu reparierende Schuh eine andere Farbe hatte, wurde die am Schuh angebrachte Sohle oder der neue Absatz an den Seiten entsprechend eingefärbt. Das erfolgte am häufigsten mit den braunen Absätzen an schwarzen Schuhen. – Der Großvater fertigte zumeist aus dem Rindsleder die Sohlen und aus dem Schweinsleder die Absätze.
Am Sonnabendnachmittag war für die verflossene Woche Arbeitsschluss. Dann wurde über die noch zu reparierenden Schuhe in einer hintersten Ecke des Zimmers und über die Schusterwerkzeuge eine weiße Decke gelegt. Damit wurde aus der Werkstatt für das Wochenende das Wohnzimmer der Großeltern. Die Zinkbadewanne wurde hereingetragen und mit heißem Wasser befüllt. Danach stieg zuerst der Großvater, nach ihm die Großmutter in die Wanne. Erst danach durften meine Mutter und dann wir Kinder baden. Da sich das Wasser inzwischen merklich abgekühlt hatte, wurde ein wenig Wasser ausgeschöpft und frisches heißes Wasser hinzugegossen.
Der Großvater hatte sich inzwischen rasiert und frisch gewaschene Sachen angezogen. Die frisch gewaschene blaue Arbeitsschürze wird er bis zum nächsten Wochenende tragen. – Frisch gebadet, rasiert und angezogen setzte er sich in seinen Lehnstuhl, las zunächst die Tageszeitung, dann für eine halbe Stunde in der Bibel. Danach schloss er die Augen und ruhte. Wir Kinder mussten dann ganz still sein. So begann immer das Wochenende. Ich kann mich nicht entsinnen, dass es einmal anders verlief. Am Sonntagvormittag gingen die Großeltern in die Kirche. Wir Kinder gingen danach zum Kindergottesdienst. Unsere Mutter ging als überzeugte Nationalsozialistin nicht zur Kirche, hatte aber nichts dagegen, dass wir auf Wunsch der Großeltern in den Kindergottesdienst gingen.
Noch etwas gehörte zum Wochenend-Ritual: An den Sonnabenden arbeitete die Großmutter nie in der Werkstatt, sondern brachte die reparierten Schuhe zurück zu den Kunden ins Nachbardorf. Wir besaßen zwei Handwagen, einen größeren Kastenwagen, mit welchem Brennholz oder Briketts geholt und Asche fortgefahren wurde, und einen kleineren, leichten Leiterwagen. Diesen belud unsere Großmutter mit den reparierten Schuhen. Einer meiner Brüder und ich durften sie abwechselnd begleiten, wenn sie mit dem vollgepackten Handwagen ins Nachbardorf fuhr. Sie nahm immer nur eines von uns Kindern mit. Auf dem Hinweg zogen wir den vollbepackten Wagen, auf dem Rückweg durften wir im Wagen neben den von den Bauern erhaltenen Sachen sitzen, und Oma zog uns. Aber der Grund, weshalb wir uns geradezu darum rissen mitzukommen, war ein anderer: Die meisten Bauern bezahlten die Reparatur der Schuhe nicht mit Geld, sondern mit Naturalien, Kartoffeln, Gemüse, Eier oder Fleischwaren. Und sehr oft bekamen wir Kinder einen Apfel geschenkt oder eine Scheibe Wurst in den Mund geschoben. Wir kannten schon genau die Bauernhöfe, wo es immer was zum Naschen gab. Enttäuscht waren wir, wenn gerade auf diesen Höfen keine reparierten Schuhe abzuliefern waren.
Es ist erstaunlich, dass die Aufforderung, etwas zur Farbe braun zu Papier zu bringen, mich an braunes Leder, die Schusterwerkstatt meiner Großeltern und das Ausfahren der reparierten Schuhe erinnerte – Begebenheiten, an die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht habe.
Cover: Das Häuschen meiner Großeltern in Hartenstein im Erzgebirge, Foto: Klaus-Rainer Martin
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2021
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