Mein Beitrag zum 108. Dear Diary-Wettbewerb zum Thema „Fühlen“ befasst sich damit, was Fühlen für blinde Menschen für eine Bedeutung hat.
Für die meisten von uns hat Fühlen eine eher unbewusste Bedeutung. Es fühlt sich etwas warm oder kalt an, weich oder hart. Oder wir versuchen, mit anderen in einem Gesellschaftsspiel mit geschlossenen Augen nur durch Abtasten zu erraten, um welchen Gegenstand es sich handelt. Und häufiger kommt es vor, dass wir im Dunkeln, wenn beispielsweise der Strom ausfällt und wir keine Taschenlampe oder Kerze griffbereit haben, uns tastend und fühlend vorwärtsbewegen.
Eine viel größere Bedeutung hat das Fühlen für blinde Menschen. Das musste ich als Kind erleben, als mein 25jähriger Cousin als Soldat in den letzten Monaten des zweiten Weltkriegs durch einen Kopfschuss sein Augenlicht völlig verlor. Es war für ihn sehr schwer, mit diesem Schicksalsschlag fertig zu werden, und er hat oft an Selbstmord gedacht. Doch selbst diesen konnte er nicht ohne fremde Hilfe verüben. Niemand war bereit, ihn hin zum Bahndamm zu führen, damit er sich auf die Gleise legen kann, oder ihm eine Schlinge zu binden, damit er sich aufhängen konnte.
So musste er weiter leben und sich damit abfinden, dass er für den Rest seines Lebens nur noch mit den vier Sinnen Fühlen, Hören, Schmecken und Riechen auskommen mus. Dabei ersetzte das Fühlen am häufigsten den fünften Sinn, das Sehen, auch wenn er viel intensiver als sehende Menschen Geräusche wahrnahm oder Gerüche als Orientierungshilfe einsetzte.
Es begann damit, dass er nicht mehr einfach ein Buch zur Hand nehmen und darin lesen konnte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Blindenschrift zu erlernen. Mit einem Griffel drückt man die Buchstaben in dafür geeignetes dickeres Papier oder Karton. Dabei besteht jeder Buchstabe aus maximal sechs Punkten, je drei in der Höhe, zwei Reihen nebeneinander. Damit lassen sich insgesamt 64 Zeichen (Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen) erstellen. Man nennt diese Blindenschrift Braille-Schrift, weil der Franzose Louis Braille 1825 diese Schrift entwickelt hat. Später wurde auch ein deutsches Alphabet geschaffen. Damit die Punkte an die richtige Stelle gesetzt werden, spannt man das Papier in eine Schablone, welche für jeden Buchstaben das Feld bereithält. Gelesen werden die Buchstaben, indem die Finger auf der Rückseite die mit dem Griffel erzeugten Punkte erfühlen. Das heißt, dass von rechts nach links geschrieben und von links nach rechts mit den Fingern „gelesen“ wird. Das bedeutet, dass das Erlernen der Blindenschrift sowohl das Schreiben mit dem Griffel als auch das spiegelbildliche Ertasten der erzeugten Erhöhungen erfordert.
Nachdem sich Kurt mit viel Geduld und Ausdauer das Schreiben und das Lesen der Blindenschrift angeeignet hatte, lieh er sich Bücher in Blindenschrift in einer speziellen Bibliothek in unserer Kreisstadt aus. Diese Bücher waren so groß und schwer, dass immer jemand mit ihm mit Tragekiepe auf dem Rücken mit der Bahn zur Bibliothek in der Kreisstadt fahren musste, um die gelesenen Bücher wieder abzugeben und neue Bücher auszuleihen. Das war stets eine Tagesreise.
Weihnachten 1946 schenkten wir Kurt eine Blinden-Schreibmaschine, eine sogen. Punktschriftmaschine. Nun konnte Kurt jeden Buchstaben mit einem Anschlag schreiben. Und das Papier wird, wie bei einer gewöhnlichen Schreibmaschine, nach jedem Anschlag ein Stückchen weiter gerückt. Aber Kurt musste sich nun auch noch die Lage jedes Buchstaben aneignen, ebenso wie jede Sekretärin das Schreiben mit Zehn-Finger-System.
Eine zweite Fähigkeit, welche Kurt übte, beeindruckte mich damals als siebenjähriges Kind sehr. Kurt übte das Befühlen und Ertasten von allen Köpfen und Gesichtern der Menschen seiner Umgebung, um damit zu erfahren, um wen es sich handelt. Er wollte das nicht nur am Klang der Stimme erkennen, sondern auch erfühlen. Deshalb mussten wir uns oft in der Stube irgendwo hinsetzen und ganz still verhalten, damit Kurt üben konnte, nur mit seinen Händen zu ertasten, um wen es sich handelte. Und um diese Übung noch zu erschweren, mussten wir anfangs auf Befehl, später spontan lächeln, ein konzentriertes oder ein trauriges Gesicht machen.
Diese Übungen erleichterten es ihm, einen neuen Beruf zu erlernen, denn seinen bisherigen Beruf als Maschinenbauingenieur konnte er nicht mehr ausführen. Kurt wurde Telefonist in einer Telefonzentrale und vermittelte – wie das damals üblich war – für Telefonkunden Ferngespräche. Diesen Beruf übte er sein ganzes Berufsleben lang aus. Mit seinem Blindenhund war er sogar in der Lage, ohne fremde menschliche Hilfe täglich mit der Bahn zu seinem Arbeitsplatz zu fahren.
Durch die Erlebnisse mit Kurt ist mir bewusst geworden, welche Bedeutung das Fühlen für uns Menschen hat, besonders für blinde Menschen.
Cover: Sonnenuntergang, gemalt von Ursula Martin
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2020
Alle Rechte vorbehalten