Cover

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben „Neger“ sah

Beitrag zum 104. Dear Diary Wettbewerb Januar 2020 zum Thema „Mit allen fünf Sinnen genießen, Teil 1: Sehen“.

 

 

Was ich am 20. April 1945 sah, ist mir seitdem in Erinnerung geblieben. In der Schule, in die ich am 1. September 1944 als Sechsjähriger eingeschult wurde, hat uns unser Lehrer, ein ehemaliger Soldat in Hitlers Armee, der an der Front einen Arm verloren hatte, erklärt, dass farbige Menschen, damals wurden sie als Neger bezeichnet, dem Affen näherstünden, als dem Menschen und nicht fähig wären, eine Intelligenzleistung zu vollbringen. Sie seien den hellhäutigen Rassen, den weißen Rassen, weit unterlegen. Aber auch unter den weißen Rassen gäbe es Unterschiede. So stünden wir Deutschen, die arische Rasse, weit über allen anderen weißen Rassen, wir seien die Herrenrasse, wir dürfen darauf stolz sein, dieser Rasse anzugehören, Deutsche zu sein.

 

Und nun sah ich ausgerechnet an Adolf Hitlers 56. Geburtstag Neger in amerikanischer Uniform auf Panzern und anderen Militärfahrzeugen sitzend und diese steuernd, in unseren Ort einfahren. Schon am Tag davor hatte ich amerikanische Tiefflieger gesehen, welche so tief über unseren Ort geflogen waren, als wir draußen spielten, dass man die Piloten deutlich erkennen konnte. Einige Piloten der Flugzeuge waren Neger. Das habe ich genau gesehen und mich gewundert.

 

Irgendetwas stimmte nicht. Entweder hat uns unser Lehrer etwas Falsches erzählt, oder die amerikanischen „Neger-Soldaten“ waren eine Ausnahme, sind anders als die afrikanischen Neger, dachte ich mir.

 

Auch unsere Mutter warnte uns vor diesen feindlichen farbigen Soldaten. Unvorstellbar war ihr, dass sie von ihren Panzern Schokoladetafeln herabwarfen, sobald sie ein Kind sahen. Bestimmt sei die Schokolade vergiftet, meinte sie. Deshalb durften meine Brüder und ich nichts davon essen, die herabgeworfenen Schokoladetafeln nicht einmal anfassen. – Und wir hielten uns daran. Doch keines der Kinder, welche die Schokoladetafeln aufhoben und davon aßen, haben sich vergiftet. Also stimmte auch das nicht.

 

Für mich brach damit als Sechsjährigem ein Weltbild zusammen, welches unser Lehrer und auch meine nationalsozialistisch gesinnte Mutter in mir mühevoll aufgebaut hatten. Ausgerechnet amerikanische „Neger-Soldaten“ waren diejenigen, welche die stolze deutsche Wehrmacht besiegt hatten und nunmehr ausgerechnet zu Hitlers Geburtstag in unseren Ort einzogen.

 

Es dauerte lange, bis sich in mir ein Weltbild entwickelte, welches davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind, egal, zu welcher Nation sie gehören, welche Hautfarbe sie haben oder welcher Religion sie angehören, dass unser Grundgesetz allen Menschen garantiert, Ihre Würde als unverletzliches Gut zu achten. Und so bin ich heute nicht stolz, ein Deutscher zu sein, sondern dankbar, in einem Land zu leben, in welchem die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist.

Impressum

Cover: Titelbild: Ursula Martin
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /