eine autobiographische Kurzgeschichte
Mein Cousin Kurt ist dreizehn Jahre älter als ich. 1943 musste er nach Abschluss seiner Lehre als Maschinenschlosser als Achtzehnjähriger in den Krieg. Und dabei träumte er davon, einmal Maschinenbauingenieur zu werden. Kurz vor Kriegsende, im Februar 1945 erlitt er eine schwere Verwundung. Eine Granate hatte ihm sein Gesicht völlig zerfetzt. Dabei hat er auch sein Augenlicht verloren. In der Universitätsklinik in Leipzig wurden ihm in mehren Operationen aus dem Gewebe und der Haut aus seinen beiden Oberschenkeln die beiden Wangen, eine Nase ohne Nasenbein, welche nur die beiden Nasenlöcher verdeckte, und Augenhöhlen ohne Wimpern modelliert. Später wurden in die Augenhöhlen Glasaugen eingesetzt. Insgesamt sah Kurt schrecklich aus. So wurde er aus dem Universitätskrankenhaus nach Hause entlassen. Das Schlimmste war: Als Zwanzigjähriger war er für den Rest seines Lebens total erblindet. Entsprechend heftig waren seine Gefühlsausbrüche. Seine Mutter konnte es nach wenigen Wochen nicht mehr ertragen. Sie bat ihre Schwägerin, meine Mutter, um Hilfe. Meine Mutter war damals Leiterin der Ortsgruppe „Mutter und Kind“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). In dieser Funktion musste sie häufig jungen Müttern in ihrem Schmerz um den gefallenen Ehemann beistehen. Sie hatte Erfahrung im Umgang mit menschlichem Leid. So zog Kurt bei uns ein.
Schon sehr bald nach dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 vermittelte meine Mutter Kontakt zwischen einem schwer kriegsbeschädigten Musiklehrer namens Joram, der auch aus dem Lazarett heimgekehrt war, und Kurt. Herr Joram bot Kurt an, ihm das Gitarrespiel beizubringen. Ich wurde als Siebenjähriger dazu verpflichtet, dreimal in der Woche vormittags Kurt zu diesem Musiklehrer zu führen, die Unterrichtsstunde da zu bleiben und ihn nach dem Gitarrenunterricht wieder nach Hause zu begleiten. Da bei uns im Erzgebirge in der sowjetischen Besatzungszone unmittelbar nach Kriegsende kein Schulunterricht stattfand, war das vormittags möglich. Die bisherigen Lehrer, alle ehemalige NSDAP-Mitglieder waren interniert worden und neue, junge Lehrer gab es noch nicht.
An jedem Nachmittag musste ich Kurt in den Wald begleiten. Wir setzten uns stets unter einen Baum, und Kurt hörte auf jedes Geräusch. Wenn ein Vogel hoch oben im Baum sang, musste ich beschreiben, wie der Vogel aussah, und Kurt riet anhand des Gesangs und meiner Beschreibung, um was für einen Vogel es sich handelte. – So verging der Sommer 1945 und Kurt begann, sich allmählich mit seinem Schicksal abzufinden. Im Herbst, als wir nicht mehr im Wald unter einem Baum sitzen konnten, musste ich Kurt vorlesen, zumeist Klassiker der Weltliteratur. Und Kurt begann damit, sich die Blindenschrift beizubringen. Das ging anfangs auch nicht ohne die Hilfe eines Sehenden. Aber bald war Kurt schon in der Lage, selbst Bücher in Blindenschrift zu lesen. In der Kreisstadt gab es eine Leihbücherei für Blinde. Einmal im Monat begaben wir uns auf die Reise dorthin. Wir waren immer einen ganzen Tag unterwegs.
Dann kam das Weihnachtsfest 1945. Es war das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg, im Frieden. Dennoch war es ein beklemmendes Weihnachtsfest. Wir wussten nicht, ob unser Vater noch am Leben war. Sein letzter Feldpostbrief stammte vom April 1945 aus Jugoslawien. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir wussten auch nicht, wo sich unser ältester Bruder befand. Er war als Fünfzehnjähriger im April 1945 noch zu den Soldaten geholt worden und in amerikanische Gefangenschaft geraten. Aus dem Gefangenenlager geflohen, kam er am Abend der Kapitulation bei uns an, wechselte seine Uniform in Zivilkleidung und verschwand wieder. Seither hatten wir kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. In dieser Ungewissheit um zwei uns liebe Menschen feierten wir das erste Weihnachtsfest nach dem Ende des Krieges. Zwei Weihnachtsgeschenke sind mir dennoch in Erinnerung geblieben: Meine Mutter schenkte Kurt eine Blindenschreibmaschine. Wo sie diese aufgetrieben hatte, verriet sie nicht. Die Schreibmaschine war einfacher, als eine für Sehende. Sie hatte nur sechs Tasten, welche man drücken konnte, um die kleinen Hügel für das Blindenalphabet ins Papier zu drücken. Ein kleiner Hebel konnte bedient werden, um das Papier ein Stück weiter zu rücken, damit ein neuer Buchstabe ins Papier gedrückt werden konnte. Das war für Kurt eine große Erleichterung, denn nun musste er nicht mehr mühevoll mit einem Griffel und einer Schablone die kleinen Hügel ins Papier drücken. – Übrigens, die Blindenschrift zu erlernen, ist gar nicht so einfach. Man muss die Pünktchen auf der Rückseite des Papiers spiegelverkehrt ins Papier drücken, als man sie mit den Fingern ertastet. Kurt war über dieses Weihnachtsgeschenk sehr glücklich. Doch er konnte seine Freude darüber nur in Worten ausdrücken, nicht mit Mimik.
Das zweite Weihnachtsgeschenk betraf mich. Kurt hatte mir aus Dankbarkeit dafür, dass ich ihn regelmäßig zum Musiklehrer Joram und in den Wald begleitete, eine Blockflöte und ein Jahr Flötenunterricht bei jenem Musiklehrer geschenkt, den ich schon kannte. Eine Blockflöte! Diese war zur damaligen Zeit ein Vermögen wert. Und Musikunterricht in einer Zeit, in welcher noch kein regelmäßiger Schulbesuch stattfand! Ich war überglücklich. Nun ging ich regelmäßig zum Musikunterricht. Dort lernte ich nicht nur Blockflöte spielen, sondern auch Noten lesen. Und zu Hause musste ich Kurt jeden Tag auf der Blockflöte vorspielen, was ich geübt hatte. So machte ich in kurzer Zeit große Fortschritte und durfte schon bald im Schülerorchester des Musiklehrers mitspielen. Dieses Orchester trat häufig in den Gasthöfen der Nachbardörfer auf. Der Kohlenhändler fuhr uns zu diesem Zweck mit seinem alten Lastwagen, den er über die Kriegszeit hinweg gerettet hatte, in die Nachbardörfer. Um die Instrumente vor dem Kohlenstaub auf der Ladefläche des LKWs zu schützen, breiteten wir stets eine große Zeltbahn aus. Wir saßen auf einfachen Bänken und fuhren so bei jedem Wetter in die Nachbardörfer.
Kurt war stolz darauf, was er mit seinem Weihnachtsgeschenk erreicht hatte. Er blieb bis zum Frühjahr 1947 bei uns wohnen. Allmählich normalisierte sich das Leben wieder. Ich ging wieder zur Schule und konnte Kurt nur noch am Nachmittag begleiten. Doch schon bald fand er einen Wohnplatz und die Möglichkeit einer Berufsausbildung in einem Blindenheim. Er wurde zum Telefonvermittler ausgebildet. Diesen Beruf übte er bis zum Eintritt ins Rentenalter über vierzig Jahre lang aus. Über den Blindenverband lernte er eine schwer sehbehindete Frau kennen. Beide heirateten, hatten zwei sehende Kinder und blieben bis zu ihrem Lebensende im hohen Alter zusammen.
Mich hat die Musik ein Leben lang begleitet. Als Zehnjähriger erlernte ich das Spielen auf der Trompete, später das Spielen auf der Tenorflöte. Als Erwachsener brachte ich mir selbst das Spielen auf dem Tenorhorn bei. Diese Nähe zur Musik wäre bei mir nie entstanden, wenn mir Kurt nicht zu Weihnachten 1945 eine Blockflöte geschenkt hätte.
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2016
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