Ein Beitrag zum Anthologie-Wettbewerb 2016
Wettbewerbsvorgabe für die Februar-Runde des Anthologie-Wettbewerb 2016:
„Wähle in einem beliebigen Buch für die Februar-Runde des Anthologie-Wettbewerb 2016 auf Seite 77 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
Bei diesem Beitrag wurde folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
Marcel Reich-Ranicki: „Mein Leben“
„Harmlose Anekdoten wurden erzählt, allerlei Reminiszensen ausgetauscht.“
Wer von uns kennt nicht diese Bitte. Überall begegnen uns Schilder mit dieser Bitte. Ob in der Anmeldung beim Zahnarzt, vor dem Post- oder Fahrkartenschalter, in der Apotheke – und neuerdings sogar vor mancher Hotelrezeption. Wir sind ein Volk von „Persönlichkeitsdaten-Vermeidern“ geworden. Kaum eine Gesetzesnovellierung – vielleicht mit Ausnahme des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch zur Regelung des Schwangerschaftsabbruches in den siebziger Jahren – wird in der Öffentlichkeit so heftig, engagiert und konträr diskutiert, wie eine zeitgemäße Änderung des seit 1977 geltenden Bundesdatengesetzes. Den meisten Bürgern genügt es nicht mehr, dass wir zwar das Beichtgeheimnis haben, eine ärztliche Schweigepflicht, das Steuergeheimnis und ein Post- und Fernmeldegeheimnis. (Das Bankgeheimnis ist durch die vielen Steuerhinterziehungen und die von manchem Wohlhabenden genutzten Steuerschlupflöcher und Steueroasen in Verruf geraten). Viele geben im Telefonbuch nur noch ihren Namen preis, nicht aber Straße und Hausnummer. Adressbücher kommen aus der Mode. Selbst bei BookRix geben sich viele User zugeknöpft, sie benutzen ein Psydonoym. Bei BookRix heißt dieses Anzeigenamen. Wenn man den anklickt, erfährt man zumeist nicht den bürgerlichen Namen und mitunter nicht einmal, ob es sich um eine jüngere Frau oder einen älteren Mann handelt. Es ist geradezu „in“, anonym zu bleiben, sich nicht zu erkennen zu geben. Politiker können ein Lied davon singen. Die meisten Menschen, die in sozialen Netzwerken ihre Meinung kundtun, bleiben anonym – nicht nur diejenigen, die Politiker beschimpfen oder gar bedrohen, nicht nur diejenigen, die rechtes oder Gewalt verherrlichendes Gedankengut ins Netz stellen. Viele Nutzer der vielfältigen Kommunikationsmittel sind geradezu so was wie wirbellose Lebewesen, sie haben kein Rückgrat und verhalten sich so, als ob sie durch ihre Meinung Verfolgungen ausgesetzt wären. Selbst Schulkinder setzen sich häufig nicht mehr mit ihren Klassenkameraden „Auge in Auge“ auseinander, sondern veranstalten Psychoterror, moderner ausgedrückt Mobbing, im Internet.
Gleichzeitig begegnet uns aber auch auf Schritt und Tritt das Gegenteil von Verschwiegenheit und Anonymität. Seit das Handy bzw. das Smartphon, welches heute fast jede und jeder bei sich trägt, dazu geführt hat, dass es kaum noch Telefonzellen gibt, und die wenigen öffentlichen Fernsprecher, die es noch gibt, ihren Namen zu Recht tragen, weil sie von keiner schützenden Zelle umgeben sind, sondern im Freien, in der Öffentlichkeit stehen, werden wir oft unfreiwillig Mithörer von höchst Privatem, ebenso in Bus oder Bahn. Doch vieles ist unbedeutend. Mancher kommentierte dies nach einer Fahrt mit Bus oder Bahn mit Worten wie: „Harmlose Anekdoten wurden erzählt, allerlei Reminiszenzen ausgetauscht.“ Nach einer Bus- oder Bahnfahrt kommt man zu dem Schluss, dass wir im „Zeitalter der belanglosen Informationen“ leben. Das jedenfalls könnte man bei oberflächlicher Betrachtung meinen. Doch wer beispielsweise die Verhandlungen um ein Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA aufmerksam verfolgt, muss feststellen, dass im Hintergrund und ohne unser Wissen und unsere Zustimmung eine Flut von persönlichen Daten von jedem von uns gesammelt und vermarktet werden. Bei jeder Überweisung, die wir mit der 22stelligen IBAN-Nummer tätigen, mit jeder Online-Bestellung, mit jeder Anfrage über eine Suchmaschine, bei jeder Autofahrt mit einem PKW, der einen Bordcomputer hat, fließen Daten über unser Kaufverhalten und unsere persönlichen Vorlieben, Neigungen und Interessen, unser woher, wohin und wann ins Netz. Demgegenüber erscheint es geradezu lächerlich, unseren Namen durch ein Pseudonym zu verheimlichen oder unsere Anschrift im Telefonbuch nicht preiszugeben. Wir alle sind einem regen Datenfluss ausgesetzt und könnten dies nur verhindern, wenn unser PC, Smartphon, Tablet oder Notebook keinen Internetanschluss hätte, wir nicht Online einkauften, nur mit Bargeld bezahlten, nicht mit dem Auto, sondern mit der Postkutsche führen und vieles mehr. Doch, wollen wir das? Wir können nur reglementieren, wer Zugang zu diesen Daten erhält, und wer nicht –und können dabei nicht verhindern, dass unsere persönlichen Daten durch „Hacker“ in falsche Hände geraten. So verstehe ich auch die Verwendung eines Pseudonyms statt des Namens und die Zurückhaltung, mehr von sich persönlich preiszugeben. – Doch weshalb gerade mir gegenüber, der sich nicht über Kaufverhalten und Vorlieben des anderen interessiert, alle möglichen Daten von seinem Gegenüber sammelt, sich nicht als Hacker betätigt, sondern nur gerne wissen möchte, mit wem er es eigentlich zu tun hat, der gerne mit seinem Gegenüber „Auge in Auge“ kommuniziert.
Mitunter begegnet einem aber auch manche Peinlichkeit. Man erfährt unfreiwillig sehr Privates, das man gar nicht erfahren wollte. So musste ich beispielsweise einmal im Großraumwagen eines Regionalzuges von Hamburg nach Lübeck das Handygespräch eines jungen Mannes mit seinem Freund mithören. Er sprach so laut, als ob sein Freund auf dem gegenüberliegenden Hang eines tiefen Tales stünde und er ihm die Nachricht über das Tal hinweg zurufen müsste. Das Lesen eines Buches, das ich mir für die Bahnfahrt eingesteckt hatte, war unmöglich geworden. Ich konnte mich nicht auf den Inhalt des Buches konzentrieren, denn unfreiwillig musste nicht nur ich, sondern es mussten alle Reisenden im Großraumwagen erfahren, dass er sich trotz Vermittlungsversuch seiner Schwester nun endgültig von seinen Eltern getrennt habe. Sie hätten einfach kein Verständnis für seine Lebensauffassung und zeigten keinerlei Toleranz. Ausführlich legte er die Gründe hierfür dar. Als ich nach einer halben Stunde eine Station vor dem Ziel des Zuges aussteigen musste, war das laute, bereits über eine halbe Stunde geführte Handygespräch immer noch nicht zu Ende.
Ein andermal musste ich im ICE von Hamburg gen Süden mit anhören, wie ein Geschäftsreisender drei Sitzreihen hinter mir seine Sekretärin offenbar im heimischen Büro per Handy so zusammenstauchte, als sei sie seine Sklavin. Das war für mich als ehemaligem leitenden Angestellten mit über fünfzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so unerträglich, dass ich es an meinem Sitzplatz nicht mehr aushielt. Ich ging zu jenem Chef hin und teilte ihm in höflichen, aber entschiedenen Worten mit, dass es mich nicht im Geringsten interessiert, wie unqualifiziert er als Chef mit seinen Untergebenen umgeht. Und ich bat ihn darum, künftig mit seinen Befehlen, Anordnungen und Beschimpfungen nicht mehr die anderen Fahrgäste zu belästigen. Das hat offenbar gesessen, denn es erfolgte von ihm während dieser mehrstündigen Bahnfahrt kein Telefonat mehr.
Doch den größten Widerspruch zwischen der Bitte, Diskretionsabstand einzuhalten und der Preisgabe von höchst Privatem am Handy erlebte ich bei folgender Begebenheit: Kurzfristig musste ich mir im Hamburger Hauptbahnhof eine Fahrkarte für den ICE nach München kaufen. Als Inhaber einer Bahn-Card war es mir sogar möglich, noch kurzfristig einen Sitzplatz zu reservieren. Am Fahrkartenschalter wartete vor mir eine junge Frau an dem Schild mit der Aufschrift „Bitte Diskretionsabstand einhalten“. Dann war der Fahrkartenschalter frei und sie war an der Reihe. Ich musste nun an dem Schild mit der Bitte um Diskretionsabstand warten. So erfuhr ich nicht, ob sie eine Fahrkarte nach Flensburg; Buxtehude, München oder sonst wohin kaufte. Doch im ICE nach München saß diese junge Frau plötzlich hinter mir. Sie hatte offenbar auch eine Sitzplatzreservierung mittels Bahn-Card noch kurzfristig getätigt. Kaum hatte der ICE Hamburg verlassen, zückte sie ihr Handy und telefonierte mit ihrer Freundin. Ich musste, ob ich wollte oder nicht, dieses Telefonat mit anhören. In diesem Telefonat schilderte sie laut und unüberhörbar, mit wem sie die letzte Nacht im Hotelzimmer in Hamburg verbracht hatte, und dass der attraktiv aussehende und so viel versprechende Mann ihren Erwartungen in keiner Weise entsprochen habe. Und ich musste alle Einzelheiten dieser für die junge Frau enttäuschenden Liebesnacht über mich ergehen lassen. – Der Leserin oder dem Leser, der bis hierhin meinen Ausführungen gefolgt ist, möchte ich ersparen, alle Einzelheiten, welche ich unfreiwillig mit anhören musste, mitzuteilen, denn diese sind zum größten Teil nicht jugendfrei. Trotzdem besaß ich nicht den Mumm, wie im vorher geschilderten Fall aufzustehen, die junge Frau zu bitten, ihre Betterlebnisse für sich zu behalten und diese ihrer Freundin in einem vertraulichen Gespräch mitzuteilen, und nicht allen Mitreisenden.
Ich dachte nur: Irgendwie ist es widersprüchlich, beim Kauf einer Fahrkarte der Bitte um Einhaltung eines Diskretionsabstandes nachzukommen und gleichzeitig aber höchst Intimes mit anhören zu müssen.
Bildmaterialien: Umschlagbild: Reisecentrum im Hambuger Hauptbahnhof (Foto: Klaus-Rainer Martin)
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2016
Alle Rechte vorbehalten