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Der Ochse, der da drischt

Die Geschichte für den Autorenwettbewerb soll vom Küchendienst handeln oder weihnachtlich sein und insbesondere humorvoll. Vielleicht trifft das auch auf eine wahre Begebenheit zu, welche ich vor mehr als einem halben Jahrhundert erlebt habe, als ich noch ein junger Mann war.

 

Ich hatte mich in der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses in Hamburg beworben, um mich zum Diakon und Wohlfahrtpfleger, so hießen damals die Sozialarbeiter, ausbilden zu lassen. Hierzu hatte ich auf dem zweiten Bildungsweg die Fachhochschulreife in vielen abendlichen Unterrichtsstunden erworben. Bisher hatte ich ein paar Jahre als Hauer in Steinkohlenbergwerken im Erzgebirge und im Ruhrpott unter Tage gearbeitet. Am 1. Oktober 1959 trat ich die Ausbildung im Rauhen Haus in Hamburg an. Gleich zu Beginn der Ausbildung musste ich ein vierteljährliches Praktikum in der Großküche des Rauhen Hauses ableisten, welche für etwa 500 Personen zu kochen hatte. (Damit ist hoffentlich das Kriterium „Küchendienst“ erfüllt). In der Vorweihnachtszeit wurden nicht nur die täglichen Mahlzeiten zubereitet, sondern es wurden auch verschiedene Backwaren hergestellt. So auch die leckeren Zimtsterne, die ich als Küchenpraktikant zu tausenden ausstechen musste. (Damit ist hoffentlich auch das Kriterium „weihnachtlich“ erfüllt. Doch über das dritte Kriterium „humorvoll“ müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden). Nach dem Ausstechen kamen die Zimtsterne in den Backofen, wo sie beim Backen in der ganzen Küche einen verführerischen Duft verbreiteten. Schließlich musste ich sie unmittelbar nach dem Backen, so heiß wie sie waren, mit Zuckerguss bestreichen und schön ordentlich auf Blechen zum Trocknen und Härten aufreihen. Nun lagen sie in Reih´ und Glied aufgereiht, so wie Soldaten beim Appell auf einem Kasernenhof. Andere, Praktikanten ebenso wie die fest angestellten „Küchenfrauen“ in der Großküche waren mit anderen vorweihnachtlichen Aufgaben beschäftigt. – Und um alle so richtig auf Weihnachten einzustimmen, spielte auf der Fensterbank ein Plattenspieler mit Wechselautomatik für zehn Schallplatten adventliche und weihnachtliche Choräle. (So was war gerade erfunden worden. Eine der Küchenfrauen hatte so ein neumodisches Stück erworben und stellte es uns voller Stolz vor. Wir waren von dieser Technik fasziniert und schauten gebannt zu, wie eine der zehn aufgelegten Schallplatten vom oben hängenden Stapel herunterfiel, und wie sich der Tonarm wieder geradezu gefühlvoll auf die erste Rille der Schallplatte legte). Sogenannte weltliche Weihnachtslieder kamen in einer christlichen Anstalt natürlich nicht auf den Plattenteller. Wir hörten nur Advents- und Weihnachtschoräle.

 

Die akurat auf den Blechen aufgereihten Zimtsterne sahen so lecker aus, dass ich mich nicht beherrschen konnte, einmal davon zu probieren. Nun konnte jeder sehen, dass auf einem der Bleche in einer Reihe zwei Zimtsterne fehlten. Noch ehe ich dazu kam, zwei frisch gebackene Zimtsterne mit Zuckerguss zu bestreichen und mit ihnen die entstandene Lücke auf dem Blech wieder zu füllen, kam die Küchenleiterin. Ihr fiel sofort auf, dass zwei Zimtsterne fehlten. Nun begann eine hochnotpeinliche Befragung. Und da ich das Naschen von zwei Zimtsternen nicht für besonders tragisch empfand, habe ich nicht versucht, mich mit einer Lüge oder Notlüge herauszureden, sondern wahrheitsgemäß zugegeben, dass sich diese beiden Zimtsterne nun in meinem Verdauungsapparat befinden. Doch sie fand das ein ungeheuerliches Vergehen für einen angehenden Diakon und Wohlfahrtpfleger. Schließlich befahl sie mir, meine Arbeit zu unterbrechen und hinüber zum „Konviktmeister“, dem Leiter der Diakonenschaft, zu gehen und ihm meine Verfehlung zu beichten. – Der Konviktmeister war der Ehemann der Küchenleiterin und für seine Strenge und Unnachgiebigkeit bei den jungen Diakonschülern bekannt und gefürchtet. Er war im Rauhen Haus eine Respektsperson. Alle begegneten ihm mit großer Unterwürfigkeit. Doch für mich war er nur ein Vorgesetzter, den man zwar zu achten hatte, aber nicht vor ihm kriechen muss. So was war mir fremd. Als gelernter Bergmann hatte ich über mehrere Jahre unter Tage einen Steiger als Vorgesetzten, dem man auch mal widersprechen durfte. Deshalb löste die Anweisung, hinüber zum Konviktmeister zu gehen und ihm meine Verfehlung zu beichten, bei mir keine besonderen Ängste aus. Unter Tage hatte ich es mit ganz anderen Problemen zu tun gehabt, als dass mir zwei genaschte Zimtsterne Kopfschmerzen bereitet hätten.

 

Ich band meine weiße Küchenschürze ab und begab mich wie ein Sünder ohne die rechte Einsicht in sein sündhaftes Verhalten hinüber in das Büro des Konviktmeisters. Zum Glück war der Weg dorthin weit und ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich dem Konviktmeister sagen werde. Vor mein geistiges Auge trat plötzlich jener Ochse aus dem Orient, der in früheren Zeiten, als es noch keine Mähdrescher gab, auf dem vom Feld auf den Hof gebrachten Getreide herumtrampeln musste, damit sich aus den Ähren die Getreidekörner lösten. Die heutigen Mähdrescher erfüllen alles in einem Arbeitsgang auf dem Feld. Sie mähen das Getreide, dreschen die Ähren aus, füllen die so gewonnenen Körner auf einen nebenher fahrenden Traktor mit Anhänger und werfen das Stroh in gepressten Ballen aus. In den Gefilden Europas mussten in alter Zeit Männer mit langen Dreschflegeln mit großem Kraftaufwand auf die in der Tenne einer Scheune ausgebreiteten Getreidegarben eindreschen. – Ein Dreschflegel besteht aus einem langen Stiel, an dessen Ende ein mit Leder bespanntes Holzteil beweglich befestigt wurde. Im Orient dagegen verrichteten Tiere diese Arbeit. Es waren zumeist Ochsen, die man mit einer langen Leine an einem Pfahl angebunden hatte, damit sie immer im Kreis herum auf dem Getreide rumtrampeln konnten. Man nahm in Kauf, dass dabei auch mal ein Fladen vom Ochsen herunter auf das Getreide fiel. Und weil es im alten Judentum für nahezu jede Lebenssituation eine niedergeschriebene Regel gab, - in den fünf Büchern Mose stehen mehr als sechshundert solche Regeln - fiel mir plötzlich eine Regel aus dem 5. Buch Mose ein, welche ich gelesen hatte, als ich mich mit den mosaischen Regeln und Gesetzen für das Volk Israel befasste.

 

So beschleunigte ich geradezu entschlossen meine Schritte und klopfte wohlgemut an die Bürotür des Konviktmeisters an. Der Konviktmeister, den wir mit „Bruder Füssinger“ anzureden hatten, war von seiner Frau telefonisch von meinem Vergehen unterrichtet worden. Bei meinem Eintreten in sein Büro sah er mich eine Zeit lang wie einen armen Sünder, der zur Beichte kommt, wortlos an. Dann sagte er in einem Tonfall, der tiefe Enttäuschung über mein Fehlverhalten verriet: „Was haben Sie mir zu sagen?“
Ich darauf: „Bruder Füssinger, im 5. Buch Mose, Kapitel 25 steht geschrieben: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.“

 

Er erwiderte nichts, sondern sah mich wiederum nur lange und eindringlich an. Aber ihm war anzusehen, dass er angestrengt über das Gesagte nachdachte. Schließlich sagte er nur: „Gehen Sie wieder zurück an Ihre Arbeit.“

 

Mit einem Triumphgefühl ging ich zurück in die Großküche. Was wird wohl die Küchenleiterin dazu sagen, dass ihr Mann mich ohne eine Strafpredigt auf mich nieder prasseln zu lassen, wieder an die Arbeit zurückgeschickt hat? Doch zu meiner Verblüffung nahm sie meine Rückkehr gar nicht so recht zur Kenntnis. Vielmehr hatte sie ein Blech Zimtsterne in der Hand und rief laut durch die Küche: „Ihr könnt alle mal davon probieren!“. Ganz offensichtlich hatte ihr Mann das Bibelzitat telefonisch an sie weitergegeben.

 

Und „die Moral von der Geschicht“: In der Bibel findet man für die meisten Situationen das richtige Zitat, selbst für das Naschen von Zimtsternen. Man muss nur wissen, wo man es findet und es einem immer im rechten Moment einfällt.

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Bildmaterialien: Titelbild: Ursula Martin
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2015

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