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Titel

 

 

JANE E. MENNING

 

Der Mond auf ihren Schultern

 

Band 2 - Meer der Gefahren

Impressum

 

 

© Jane E. Menning, 2020

Jane Menning, c/o Postflex, Helmers Kamp 74, 48249 Dülmen

Post, Mediakontakte und sonstiges bitte per E-Mail an: books@janemenning.com

 

ISBN: 9798688787153

Independently published.

 

Alle Rechte vorbehalten. Jeglicher Abdruck und/oder Übersetzung, auch auszugsweise, ist untersagt.


 

Die Natur des Buches

 

Der Mensch
streift in den Wäldern
seine Jahre ab

wie die Schlange

ihre Haut.

 

 

Ralph Waldo Emerson

 

 

 

 

 

 

 

 

*Emerson, Ralph W.: Natur. James Munroe and Company, 1836

Prolog

 

Prolog

 

Freitag, 17. März 2056

 

 

Emma atmete tief durch. »So hat alles begonnen.«

»Verstehe«, seufzte Claire. Sie steckte sich eine Strähne ihrer blonden schulterlangen Haare hinter die Ohren. »Hat er dir später erzählt, was in Omas Brief stand?«

Emma nickte langsam. Sich daran erinnern zu müssen, rief die Wucht ihrer Schuldgefühle wach. »Sagen wir es mal so: Es kristallisierte sich im Laufe der Zeit heraus.« Sie rieb sich die Augen. »Ich habe ihm damals so viele Vorwürfe gemacht, weißt du?« Sie drehte ihren Kopf weg, um ihre Tränen vor Claire zu verbergen. »Ständig lag ich ihm in den Ohren, weil ich es wissen wollte. Hätte ich geahnt, was ihm meine Mutter erzählt hatte, hätte ich das nie getan. Ich hätte ihn unterstützt, aber ich konnte ja nicht wissen ...«

»Was war es?«

»Oma hatte ihm zwei Geheimnisse anvertraut: eins, das ihm fast das Herz brach, und eins, das alles änderte – besonders für Shane. Als er es mir schließlich erzählte, verstand ich, wieso er zu Beginn des Weges so«, Emma suchte nach Worten, »kaltherzig und getrieben war. Er hat uns manchmal wie Vieh gescheucht. Wir durften kaum rasten, mussten immer weitergehen. Anfangs dachte ich noch, es läge an seiner Angst, dass uns IO finden und er mich wieder verlieren würde. Mir wurde schnell klar, dass dahinter mehr steckte. Aber das war nicht mal das Schlimmste. Unsere Flucht trieb jeden bis an seine Grenzen ...« Emma hielt kurz inne. »... und einige in den Tod.«

»Wen?«, fragte Claire schockiert.

Ihre Mutter war erneut in Gedanken versunken. Eigentlich konnte sie es sich auch denken. Sie brauchte nur durchzuzählen: Von der ursprünglichen Gruppe, von der ihre Mutter erzählt hatte, kannte sie nur drei Personen nicht. Sie atmete tief durch. Zwei von denen hatten sehr sympathisch geklungen.

»Die ganze Reise ...«, murmelte ihre Mutter vor sich her und schüttelte den Kopf. »Immer, wenn ich dachte, heute würde es besser werden ...«

»Hat er jemanden umgebracht? War er so wütend, oder wie?«

»Shane hat nur sein Bestes gegeben und versucht, mit dem Ganzen zurechtzukommen. Er hat uns bis an den Rand seiner Kräfte verteidigt. Gestorben wäre er für uns! So ist er eben.« Im Kamin fiel ein Holzscheit in sich zusammen und ließ sie zusammenzucken. »Es waren die Ereignisse, weißt du, die auf uns niederfielen wie Platzregen ... aus dem Nichts ... eins nach dem anderen. Und ich habe mich die meiste Zeit aufgeführt wie eine dumme Prinzessin. Ich dachte, es wären sein Stolz und seine Attitüde, dass er mich – uns alle – ausschloss. Dabei hatte er uns nur beschützen wollen. An sich dachte er am wenigsten. Aber ich war noch so jung. Ich hatte kein Verständnis davon, dass einige Menschen im Stress ruhiger werden und sich zurückziehen, um irgendwie weitermachen zu können. Ich dachte wirklich, er würde mich weniger mögen, jetzt, wo er mich kennengelernt hatte.« Ein tiefer Atemzug voller Selbstenttäuschung kroch aus ihrem Mund. Sie sah ihre Tochter an. »Ich bereue das sehr.«

»Mum!« Sie konnte die Schuld in den Augen ihrer Mutter kaum ertragen und streichelte ihre Hand. »Hat er es dir übelgenommen?«

Emma lächelte zum ersten Mal seit vielen Minuten und schüttelte den Kopf. »Nein ... Nein, er hat mir selten etwas übelgenommen. Wir konnten nie lange sauer aufeinander sein.«

Claire lächelte. Es waren eben diese Geschichten, die sie ihr ganzes Leben lang hatte hören wollen: voller Erleichterung und Bedeutung für sie selbst, um sich zu verstehen – woher sie kam und wer sie war, wer ihre Eltern waren. Echte Menschen mit Abgründen, von denen kaum jemand wusste - nicht einmal IO. Sie machten sie lebendiger. Menschlich. Nahe. Aber sie traute sich weder Fragen zu stellen, die ihre Mutter in eine andere Richtung treiben würden als die ihrer Gedanken, noch wollte sie sie unterbrechen, aus Angst, sie würde den Rest der Geschichte nicht mehr erzählen. Claire wollte alles wissen – von Anfang bis Ende, jede noch so kleine Minute des damaligen Lebens ihrer Eltern miterleben. Alles, was ihre Mutter mit ihr teilen würde, wollte sie aufsaugen und für immer in ihr Herz schließen. Sie würde ein Stück ihres Vaters an sich ketten, dass ihr niemand mehr nehmen könnte. Das vage Bild, das sie von der wahren Natur ihrer Familie, zu der auch Maggie und sie gehörten, im Kopf hatte, könnte endlich Form annehmen.

Emma legte das zugeklappte Tagebuch mit der Aufschrift »1« in den Karton zurück und griff nach dem zweiten. »Was jetzt kommt, ist sehr aufwühlend. Ich will, dass du das weißt, bevor ich weitererzähle.« Ihre braunen Augen hatten all ihren Glanz verloren, seit sie zu erzählen begonnen hatte. Claire glaubte, sie wären soeben noch eine Nuance trauriger geworden.

»Okay.«

Emma nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie den ledernen Buchdeckel öffnete und über die erste Seite mit Shanes Handschrift strich.

Kapitel 1

  

Kapitel 1

 

Donnerstag, 26. Dezember 2024

 

SHANE

 

 

Wolf blieb stehen und wartete auf mich. Die anderen stapften mühsam an ihm vorbei, auch wenn uns der Wind seit Stunden in den Rücken peitschte. Manchmal schien er mir mein einziger Komplize zu sein. Der dicke weiße Schnee quietschte unter unseren Schuhen und machte das Vorankommen schwer; stockender Nebel verhinderte eine Sicht weiter als fünf Meter. Er hing zwischen den Bäumen wie Geister, die nur darauf warteten, uns heimzusuchen.

»Shane«, sagte Wolf, als ich nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war. »Wir müssen Pause machen!«

Ich sah auf meine Uhr. Uns blieben noch etwa drei Stunden, bis es stockdunkel sein würde. »Klar! Am besten wir suchen uns ein lauschiges Plätzchen, machen Feuer und bereiten das Abendessen vor. Dann können wir nachher gemeinsam mit IO essen.«

Er seufzte laut. »Wir sind seit fast sechs Stunden ohne Pause unterwegs!« Unter seiner dicken dunkelblauen Strickmütze runzelte er die Stirn. Ich glaubte sogar zu sehen, wie er ermahnend seine Augenbrauen hochzog. »Komm schon, nur zehn Minuten! Connor kommt kaum noch geradeaus und den anderen geht’s genauso.«

Wir waren seit vier Tagen in den Wäldern und Bergen Utahs unterwegs. An die unzumutbar raue irdische Umgebung hatten wir uns schnell gewöhnt. Nur die Steigungen waren stellenweise selbst für mich anstrengend. Wir hatten uns zwischen den nebligen Baumgruppen bewegen müssen, statt den vorgegebenen Wanderwegen zu folgen – die ohnehin durch den täglichen Neuschnee nicht zu erkennen waren –, während wir in Richtung Salt Lake City wanderten. Wenigstens minderte es IOs Handlungsfähigkeit und machte unsere Reise einen Hauch sicherer – solange uns das Wetter vor ihren Blicken schützte. Und doch erschien der Jahrhundertwintersturm zu oft der größere Gegner zu sein.

Ich drehte mich von Wolf weg und schaute zurück auf den kleinen zugeschneiten Pfad, der nur als solcher erkennbar war, weil unsere Fußstapfen ihn säumten. Die Höhe, auf der wir uns befanden, ließ keinen Blick zu auf das, was sich unsichtbar irgendwo hinter uns befand: Melanie und ihre Truppen. Auch wenn ich nichts außer dem unendlichen Pfeifen des Windes hörte, schätzte ich, dass wir maximal fünf, sechs Stunden Vorsprung hatten. Schon in den Morgenstunden am Tag unserer Flucht musste IO unsere Abwesenheit bemerkt haben, denn ungefähr zu dieser Zeit waren Helikoptergeräusche am Himmel aufgetaucht. Tracys Sichtschutz war eine Hilfe gewesen, als das Terrain weniger bewaldet gewesen war oder zwischen den Bergen und Baumgruppen eine zu große Weite geherrscht hatte – wenn die Sicht ausnahmsweise besser gewesen war. Aber ihre Kräfte erschöpften sich zu schnell. Wir brauchten ihre Anomalie für Essen und andere überlebenswichtige Dinge.

Dieses beklemmende Versteckspiel: Aus unerklärlichen Gründen schien es unmöglich, IO abzuschütteln. Laut Lew wussten sie genau, wo wir waren. Vielleicht lag es an den Spuren, die wir im Schnee hinterließen und weiterhin hinterlassen würden. Oder es war reine Mathematik, Ergebnis ihrer Berechnungen aus Wegstrecke und Tempo. Ich wusste es nicht. Die Möglichkeit, dass ich den Schnee schmelzen ließ, hatten wir verabschiedet – es würde erst recht auffallen und unsere Verfolgung noch erleichtern. Mir war bewusst, dass Melanie nicht aufgeben würde, bis sie uns – oder besser, mich – gefunden hatte. Wenn wir weiterhin so gemütlich durch den Schnee stapften, war es nur eine Frage der Zeit.

Der Wind wehte uns unaufhörlich Schnee in die Augen; die Eiskristalle brannten und ließen sie tränen. Vor allem machte es die Polarluft für die anderen nötig, dicke, schwere Kleidung zu tragen, was unsere Flucht zusätzlich erschwerte. Bepackt mit großen Rucksäcken, in die wir Schlafsäcke, Zelte, einige Anziehsachen und tägliche Utensilien verstaut hatten, überquerten wir Hügel und Berge und versuchten dem Wetter zu trotzen. Der Rest der Gruppe gewöhnte sich nur schwer an die eisigen Temperaturen. Tracy hatte zwar Mondkleidung manifestiert, die vor Erfrierungen schützte. Doch auf ihren Gesichtern zeichnete sich der schneidende Gegenwind bis in den letzten Winkel ab: aufgeplatzte, blutige Lippen und Mundwinkel, große rote Stellen an den Wangen und rissige, geschwollene Areale unter der Nase. Schnee, der sich wie klebriger Zucker auf ihre Haut, in die Augenbrauen und Wimpern und bei den Männern im Bart niederlegte und nicht mehr aufzutauen schien. Ich hingegen spürte das bloße Gegenteil: Seit wir losgegangen waren, glühte ich, als würde jemand unentwegt Holz ins Feuer werfen, damit es ja nicht ausginge. Ich fühlte mich wie ein lebender Ofen.

War es meine latente Angst davor, entdeckt und gefangen zu werden, oder verstärkte sich meine Anomalie wirklich? Ich sollte ruhigbleiben und vertrauen, dass mein Körper dem standhalten würde, hatte Janine gesagt. Ich hielt es kaum mehr aus und hoffte, sie würde sich wenigstens in diesem Punkt täuschen. Meine Hände schienen stets kurz davor, in Flammen aufzugehen und den Rest meines Körpers mit zu verschlingen. Es war ein Gefühl, das ich nicht kannte, als würde das Monster in mir meine Haut aufplatzen und von meinem Körper reißen wollen, um endlich frei zu sein. Alles spannte und dehnte sich unter meiner wenigen Kleidung; meine Muskeln waberten unter meiner Haut und hin und wieder sah ich Schlieren in tiefem Rot mit gelb leuchtenden Bahnen aufblitzen.

Ich wusste, ich konnte nicht vor meiner Anomalie – vor mir – weglaufen. Und so redete ich mir ein, Bewegung würde helfen, mich abzulenken. Je mehr mein Körper beschäftigt wäre, desto weniger könnte mein Kopf denken. Deshalb – und wegen meiner Angst vor IOs Maßnahmen – stimmte ich nur nötigen Pausen zu. Die meisten, die wir bisher eingelegt hatten, waren in meinen Augen verzichtbar gewesen. Besonders Connors Untrainiertheit zwang uns regelmäßig zu Stopps, die Janines Plan nicht vorsah. Sie kosteten uns Zeit, die wir nicht hatten. Mein Bauchgefühl hatte sich damit bestätigt: Er war eine Last.

»Wir hätten ihn in Monroe lassen sollen«, sagte ich zu Wolf und schüttelte wütend den Kopf, weil ich mich darauf eingelassen hatte, Con mitzunehmen.

»Mann, deine Launen sind schlimmer als auf dem Mond«, totterte Wolf. »Er ist jetzt nun mal dabei.«

»Ja ...«, seufzte ich als Antwort.

»Was ist nur los mit dir?«

»Bescheuerte Frage!« Ich durfte nicht zulassen, dass IO uns einholte. Ganz einfach.

Bis nach Idaho waren es laut P.I.P.S. nur rund 100 Stunden, aber wegen der Wetterbedingungen schätzte er, würden wir ›vielleicht auch 110‹ brauchen. Bislang hatten wir fast 50 Stunden Wanderung hinter uns mit je 12 Stunden pro Tag. Durch den ersten Tag, als wir morgens um 2 Uhr aufgebrochen waren, hatten wir einiges vorgeholt. Wenn wir unser Tempo beibehielten, würde ich in ungefähr fünf Tagen ankommen – an jenem Ort, den Janine oder Henry auf der Wanderkarte mit einem schwarzen Kreuz markiert hatte: nahe der Grenze von Utah zu Idaho, versteckt in den Bergen, wo sich eine von IOs Basen befinden sollte, und, so hatte Henry es Janine vor Jahren erzählt, meine Mutter. Lebendig, nicht tot. In ihrem Brief hatte Janine geschrieben:

 

Er meinte, wenn wir wirklich wissen wollten, ob Lizzy noch lebt, müssten wir in den Caribou National Forest. Dort, irgendwo am Fuße einer der höchsten Berge, lege der Eingang zur Militärbasis. Und eben dort sollten alle Toten – und Überlebenden – sowie Mitarbeiterteams sitzen und IOs Projekte voranbringen. Aber ich weiß nicht, ob es stimmt, Sha. Er war so betrunken in dieser Nacht und so heilfroh, dass wir wieder auf der Erde waren, sicher und weit, weit weg vom Mond. Du wirst diesen Ort nicht betreten! Du wirst meine Tochter sicher zu Lindon nach Kanada bringen und dort auf mich warten. Hörst du?

 

Ich hatte nicht vor zu warten. Im Gegenteil: Notfalls würde ich jeden Einzelnen der Gruppe dort hintragen. Janine kannte mich und wusste, wie ich war, was ich aushielt und was nicht. Und doch hatte sie es mir erzählt.

»Shane!« hörte ich Wolf fordernd gegen den eisigen Wind rufen. »Ich bitte dich! Zehn Minuten, mehr nicht.«

In fünf Tagen waren es genau 21 Jahre, in denen ich gelernt hatte, ohne meine Mutter zu leben. Noch kam es mir leichter vor zu glauben, Janines Zweifel würden stimmen - dass meine Mutter tot wäre. Und doch fragte ich mich, ob es nicht sinnvoller wäre, es zu überprüfen. Henry könnte richtigliegen. Es wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, seit ich Janines Zeilen gelesen hatte. Wieso sollte Henry sie belügen – und das bei so einem Thema, nachdem sie nicht einmal mehr in der Mondbasis gelebt hatten? Nach meinem Verständnis war es sein schlechtes Gewissen, das in jener Nacht gesprochen hatte.

 

Deine Mutter hatte nach deiner Geburt einen Herzstillstand, aber Henry reanimierte sie, als weder ich noch dein Vater im Labor waren. Alle, die nicht zum medizinischen Team gehörten, hatten den Raum verlassen müssen. Nur Henry und drei Mitarbeiter durften bleiben - bis auch sie von Chris aufgefordert wurden, das Labor zu verlassen. Henry versuchte, ihm zu erklären, dass Lizzys Herz wieder schlug und er sich um sie kümmern müsse, aber Chris hatte nicht mit sich reden lassen. Es wäre eine Anweisung von allerhöchster Stelle und sie würde sowieso sterben.

 

Henry glaubte deshalb, meine Mutter würde in dieser Bergbasis leben – dort, wo sie oder ihre Leiche angeblich hingebracht worden war.

 

Er hatte kurz nach unserer Rückkehr zur Erde von IOs Stützpunkt in den Bergen erfahren. Aber Sha: Alles, was dafürspricht, sind ein paar Bemerkungen von Henry. Lass dich davon nicht beirren. Das ist es nicht wert! Lass deine Vergangenheit hinter dir und widme dich eurer Zukunft. Folge dem Weg, den ich auf der Karte eingezeichnet habe. Geh nicht nach links und nicht nach rechts, bevor ihr nicht in Sicherheit seid. Bitte! Wir können später herausfinden, ob sie noch lebt. Ich werde dir helfen, das verspreche ich dir wenn ihr sicher in Macklin seid und ich bei euch bin.

Mir war es immer Spanisch vorgekommen, dass alle Kolonisten, die auf dem Mond gestorben waren, wieder zur Erde zurückgebracht wurden. Wir hätten genug Platz im Lava-Tunnel gehabt, um dort einen Friedhof zu errichten. So hätten mein Vater und ich wenigstens das Grab meiner Mutter besuchen können – und Lew und Jonas die ihrer Mütter. Auch die, die sich das Leben genommen hatten, hätte man so gewürdigt. Stattdessen hatte IO außerplanmäßige Flüge anberaumt, um die Leichen abzutransportieren, angeblich, um den Toten auf ihrem Heimatplaneten ›ihre letzte Ruhe‹ zu gewähren. Was war an diesem Ort mit dem Kreuz wirklich?

Dass ich uns alle gefährden würde, nicht zuletzt unsere Flucht, wenn ich es herauszufinden versuchte, war mir bewusst. Diesmal hatte ich auch nicht vor, jemanden in meine Pläne einzuweihen. Dieses eine Mal würde ich auf mich allein gestellt sein - freiwillig - und bereit, alle Konsequenzen zu tragen, die meine Entscheidung nach sich ziehen würde. Wir mussten nur schneller werden, weniger rasten, weniger schlafen.

»Meinetwegen«, gab ich mich geschlagen und ging an Wolf vorbei. »Machen wir noch eine Pause.«

Wolf seufzte und folgte mir mit genervtem Blick.

Vielleicht würde ich meinen Vater einweihen, der unverhofft mit Wolf und Belle nachts vor Ems Haus gestanden hatte, schulterzuckend und als wenn nichts wäre: ›Ohne mich kommst du doch gar nicht klar.‹ Er hatte Angst gehabt – um mich oder um sich. Keine Ahnung. Vielleicht auch um uns beide. Es spielte keine Rolle. Er gehörte momentan zu den wenigen Personen, denen ich blind vertraute - ein Umstand so ironisch, dass er fast zum Lachen war.

»Kommst du oder willst du die Pause im Stehen verbringen?«, fragte ich Wolf.

»Ja«, raunte er. »Ich komme ...« Er schüttelte den Kopf.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mit ihm aneinandergeraten war. Es störte mich nicht einmal mehr. Ich hatte aus einem Bauchgefühl heraus begonnen, an seiner und Belles Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln. Waren sie wirklich mitgekommen, um uns zu helfen oder um in IOs Auftrag unsere Unversehrtheit zu gewährleisten, während sie heimlich unseren Standort durchgaben? Zumindest hätte das einiges erklärt. Dagegen sprach nur, dass er Nora von Herzen liebte. Annabelle wiederum hatte bisher zwar kein einziges Mal gemeckert, weder über die Temperaturen noch die stundenlangen Wanderungen bergauf und -ab. Dafür hatte sie einfach so, angeblich wegen mir, Chris verlassen und sich auf unsere Seite geschlagen. Jedenfalls ließ sie uns das glauben. Die wenigen Situationen, in denen sie sich in der Mondbasis gegen ihn gestellt hatte, konnte man an einer Hand abzählen. In allen anderen, deutlich zahlreicheren Momenten war sie die Schweigsame und Gefügige gewesen, hatte den Kopf gesenkt, als hätte sie ihre Stimme verloren oder nie eine besessen. Sie war viel zu verliebt in ihn – und hörig. Ihn zu verlassen, sah ihr nicht ähnlich. Hinzu kam, dass Wolf und sie als IOs Mitarbeiter zur Rechenschaft gezogen werden würden. Also, wieso riskierten sie ihr Leben für uns? Wolf für Nora, ja. Meinem Vater war sein Leben egal. Aber Belle? Sie hatte doch nichts außer Chris.

»Hier oben!«, rief Nora und kletterte einen Hügel hoch.

Wir folgten ihr. Sie krabbelte in eine kleine Höhle hinein, nicht größer als sechs mal sechs Meter. Wenigstens waren wir hier vor dem Schneewind geschützt. Ich zog meinen Kopf ein, als ich mich darin umsah: Der Schnee hatte hier keinen Halt gemacht. Er lag in einer dicken, aufgetürmten Schicht auf dem Boden und zog sich von dort aus wie Sprühfarbe die unebenen graubraunen Wände hoch.

»Gott sei Dank!«, sagte Connor und ließ sich auf den Boden fallen.

»Pass auf!«, ermahnte ihn Wolf.

Em hatte sich auf einen kleineren Stein gesetzt und rieb ihren rechten Knöchel. Sie schien ernsthaft erschöpft. Ich setzte mich zu ihr und sah in die Gesichter der anderen, während ich ihr übers Knie streichelte. Belle saß neben meinem Vater, der sich gerade eine Tablette in den Mund schob. Ich musterte den Plastikstreifen – es waren noch vier Pillen übrig.

»Hast du noch mehr davon?« Ein kalter Entzug während unserer Flucht erschien mir eine schlechte Idee.

»Nein«, antwortete er, ohne mich anzusehen.

Er trug noch immer seine Halskrause. Wie er es schaffte, ohne zu murren, die vielen Stunden täglich zu gehen, war mir unbegreiflich. Bei ihm hätte ich Diskussionen am ehesten erwartet. Die vielen Jahre ohne meine Mutter hatten ihn offenbar gelehrt, selbst im Angesicht der größten Schmerzen und Herausforderungen zu schweigen. Sollte Henry recht behalten, würde sich für ihn alles ändern. Ich wünschte es ihm fast. Was es für mich bedeuten würde, konnte ich nicht in Worte fassen. Ich wusste lediglich: Ich musste sie finden, wenn ihr vorgespielter Tod auch weitere Fragen und Verletzungen aufwerfen würde. Aber vielleicht hielt IO sie ja bis heute gefangen oder hatte sie früher unter Androhungen dazu gezwungen, sich als tot auszugeben? Mein Kopf war alle möglichen Varianten mehrfach durchgegangen und keine davon gefiel mir – am allerwenigsten die, in der sie die letzten 21 Jahre aus freien Stücken nicht bei uns verbracht hatte. Gleichzeitig fragte ich mich: Wenn man sie zur Erde gebracht und hier wieder gesund gepflegt hatte, hätte sie dann die Möglichkeit gehabt, wieder zu uns zurückzukehren? Nur wieso hätte IO sie überhaupt als tot ausgeben sollen? Ich konnte nicht anders, als immer wieder an Ems Traum zu denken, den sie mir bei unserer Ankunft anvertraut hatte: der, in dem meine Mutter vier Jahre nach ihrem vermeintlichen Tod in einer Abstellkammer der Basis mit jemandem, der für Em wie Chris geklungen hatte, Sex hatte – während ich in den Gängen herumlief und Em suchte. Mein Vater konnte ein riesiger Arsch sein, ja, so verletzend, wie kaum jemand, den ich kannte. Vielleicht hatte sie wirklich eine Affäre mit Chris gehabt. Belle war ihm ja auch verfallen. Doch mich wegen Chris – oder der Kälte meines Vaters – nicht nur zu verlassen, sondern den eigenen Tod vortäuschen? Es ergab keinen Sinn.

Em legte ihre Hand auf meine. »Ich bin so müde«, sagte sie und ließ ihren Kopf auf meine Schulter sinken. Sie kuschelte sich an mich und atmete tief und laut, als sie ihre Augen schloss. »Ich könnte sofort einschlafen.« Sie würde höchstens noch Kraft für zwei weitere Stunden haben.

Ich küsste ihre Stirn und ließ meine Lippen auf ihr liegen. Die endlose weiße Weite lag bleiern auf mir, als wollte sie mich verschlucken, selbst wenn ich die Augen schloss. Bäume, Schnee, Bäume, Schnee. Schwarzweiß verhangene Riesen, die inmitten des grellen Pulvers, das uns seit Tagen in der dunkelvioletten, fast blauen Sonnenlosigkeit entgegenschlug, in den versteckten Himmel ragten.

»Ich sterbe vor Hunger!«, sagte Lew und sah hilfesuchend zu Trace, die ihren Blick ins Leere wandern ließ. »Haben wir noch Sandwiches, Babe?«

»Ich will auch!«, rief Nora, die mit Jonas und Kate auf ihren Rucksäcken auf dem Boden saß und die Beine langmachte.

Trace griff geistesabwesend in die Vordertasche ihres Rucksacks und verteilte sie still.

»Alles okay, Baby?« fragte Lew, bevor er in seins hineinbiss. »Oh Mann, es ist gefroren«, verzog er sein Gesicht augenblicklich.

Der Hunger trieb es trotzdem rein.

»Ich spüre meine Füße nicht mehr«, hauchte Trace schwermütig.

»Ich meine schon seit gestern nicht mehr«, fügte Kate mit gequälter Stimme hinzu.

Ich prüfte die Zeit. Ich würde sie in zehn Minuten wieder hochscheuchen müssen, wenn wir das restliche Tageslicht nutzen wollten, um noch möglichst viel Strecke hinter uns zu bringen.

»Da kommen wir nicht mit den SUVs hoch ... Wir müssen zu Fuß weiter ... Los! Ich dulde keinen weiteren Verzug! Noch nie habe ich solche Waschlappen wie euch gesehen! Ich habe eine Katze, die schneller ist als ihr«, gab Lew wieder, was er ein paar Kilometer hinter uns hörte.

»Melanie?« Ich musste grinsen.

Ihre Art, die Männer, mit denen sie unterwegs war, zu mobilisieren, hatte witzige Züge angenommen, auch wenn ich befürchtete, dass mir mein Lachen bald vergehen würde. Sie wollte mich zurück und ich wusste, ihr würde dafür jedes Mittel recht sein.

»Ja«, grinste Lew mit.

»Ob sie wirklich ‘ne Katze hat?«, dachte Con laut mit geschlossenen Augen.

»Sie wirkt mir nicht wie eine Frau, die ein Herz für Tiere hat«, entgegnete ich.

»Wenn sie überhaupt eins hat ...«, meinte Em.

Mein Vater sah kurz zu mir und anschließend in die Runde. »Esst auf und dann gehen wir weiter.« Er stand mit einem zügigen Ruck auf. Zu stehen fiel ihm seit unserer Auseinandersetzung in Ems Garten leichter als zu sitzen. Nur zu liegen, so hatte es den Anschein, war am schmerzfreiesten.

­ Ich beobachtete die Schneeflocken, die auf dem lederartigen Material meiner Schuhe liegengeblieben waren, wie sie schmolzen. Trotz der Strapazen der letzten Tage fühlte ich keine Reue, auch wenn es mir leidtat, was die anderen durchmachen mussten, damit Em und ich zusammen sein konnten. Aber sie hatten es so gewollt, redete ich mir ein. Ich hoffte nur, dass es irgendwann leichter würde, die Wege weniger beschwerlich, nicht so steil und unzugänglich wegen des Schnees. Dieser hatte sich auf manchen Strecken entweder in eine spiegelglatte Eisfläche oder in ein metertiefes Pulvermeer verwandelt. Je ausgelaugter sie waren, desto weniger würden sie sich verteidigen können, wenn IO angriff. Innerlich rechnete ich jeden Moment damit, dass IOs Hubschrauber über einer weniger dichten Baumgruppe auftauchten und uns einkreisten.

»Bitte sagt mir, dass wir nicht die anderen holen! Ich bin jetzt schon völlig am Ende«, wimmerte Kate.

Bis zu Julia nach Prineville, zu Brian nach Seattle und anschließend nach Macklin, Kanada, zu Lindon war es ein Umweg von dreihundert Stunden – über sechshundert Kilometer. Je mehr ihnen die Anstrengungen, die damit verbunden waren, bewusstwurden, desto weniger wollten sie sie auf sich nehmen. Zum Glück. Ich war nach wie vor der Überzeugung, dass wir direkt nach Kanada wandern sollten – nach meinem Abstecher in IOs Basis.

»Aber wir könnten doch spielend leicht bei Julia vorbei. Das ist doch nicht weit, oder P.I.P.S.?«, fragte Nora.

»Wir gehen nach Kanada«, sagte Wolf fordernd.

»Ja«, stimmte Belle mit ein und trank einen Schluck Wasser.

Em hatte sich bei dem Thema rausgehalten, während die Erwachsenen ausnahmsweise auf meiner Seite waren. Oder waren sie es nur, um IO ergeben zu bleiben? Spielte ich ihnen in die Hände, ohne es zu wissen? Bislang hatte es geheißen, sie würden ›unsere kleine Wanderung‹ so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen, angeblich zu unserem eigenen Schutz. Allein, dass sie mit mir einer Meinung waren, machte mich stutzig. Aber ich behielt meine Gedanken für mich, auch vor Em.

»Dad! Es gibt noch mehr von uns, verstehst du nicht? Vielleicht sind ihre Kräfte für uns nützlich! Und vielleicht brauchen sie uns ja auch? IO wird sicher auch bei ihnen die Drähte ziehen ...«, protestierte Nora weiter.

Wolf rollte mit den Augen. Er konnte es nicht mehr hören.

»Lasst uns das später klären«, sagte mein Vater und steckte seinen Kopf nach draußen. »Je näher IO kommt, desto kürzer wird unsere Nacht.«

»Noch fünf Minuten, bitte!«, sagte Kate und schaute betroffen zu ihm.

Mein Vater seufzte still und warf mir einen fragenden Blick zu.

Ich beantwortete ihn kopfschüttelnd. »Wir haben keine Zeit.«

»Hast du mal nach draußen gesehen? Der Wind wird immer stärker!«, versuchte sie mich umzustimmen.

»Ich weiß, aber uns bleibt keine andere Wahl!«, sagte ich ruhig.

»Ich kann nicht mehr, Shane!« beschwerte sie sich jetzt laut.

Sie war eine der Stärksten und Sportlichsten. Es wunderte mich schon die ganze Zeit, dass sie so wenig abkonnte und ... plötzlich zickte. Kate hatte noch nie gezickt. Es war nicht ihre Art.

»Es geht uns allen so, Kate. Bitte ... noch zwei Stunden!«, sagte ich.

»Ach, geht’s dir auch so, ja?«, brüllte sie mich wütend an.

Em senkte den Kopf und atmete hörbar, bevor sie sich hochstemmte und ihren Rucksack nahm. Jede noch so kleine Bewegung strengte sie an, aber sie beklagte sich nicht. »Shane und Tim haben recht. Wir müssen das Tageslicht nutzen.«

Kate verzog ihr Gesicht und stöhnte abfällig. Dass sich die beiden nicht ausstehen konnten, war mittlerweile jedem klar geworden. Die Atmosphäre zwischen ihnen ließ selbst die Außentemperaturen zittern.

»Es sind noch zwei Stunden und siebzehn Minuten, bis es vollständig dunkel ist«, sagte P.I.P.S., der neben mir in der Luft schwebte.

Wegen des vielen Schnees übersah ich ihn die meiste Zeit; er war ja selbst so weiß wie unsere Umgebung.

 »Heute Abend kocht aber jemand anderes! Damit das klar ist«, ging Trace mit erschöpfter Stimme dazwischen und erhob sich ebenso.

»Dein Kochen besteht daraus, daran zu denken!«, lachte Em zum ersten Mal wieder, seit wir aus Monroe geflohen waren. »Das ist doch kein Kochen!«

Ich vermisste ihr Lachen so sehr. Wir funktionierten nur noch. Die wenigen Stunden, in denen wir in den letzten Tagen wir gewesen waren, konnte man an einer Hand abzählen.

Trace zwinkerte ihr zu. »Für mich schon.«

Tracy hatte die vergangenen Tage nicht nur das meiste unserer Ausrüstung samt Schneemobilen erschaffen. Sie manifestierte auch Lebensmittel, die wir besonders abends am Lagerfeuer zubereiteten, auch wenn sich ihre Fähigkeit auf wenige Gerichte beschränkte: Stockbrot, Mond-Fakefleisch, das zumindest Connor gut schmeckte, Suppen, Kartoffeln, Dosengerichte, wie Trace sie aus der Basis kannte, Sandwiches und so. Für Trace kam das Kochen tatsächlich nahe. Ich lachte leise in mich hinein, wusste aber auch: Je mehr sie manifestierte – von den körperlichen Strapazen abgesehen –, desto kraftloser wurde sie. Mit jeder Manifestation litt ihre Genauigkeit ein Stück mehr. Ihre Gabe verlangte ihr eine messerscharfe Vorstellungskraft davon ab, wie das Endprodukt aussah und funktionierte – oder in unserem Falle schmeckte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie statt Burger eine Burg oder statt Brot ein Boot manifestiert hätte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir improvisieren mussten.

»Babe, wenn du nicht mehr kannst: Ich geh’ dir auch was jagen«, schlug Lew vor und trommelte wie King Kong mit den Fäusten auf seine Brust. »So, wie es sich gehört!« Er zwinkerte ihr grinsend zu und zog sie für einen langen Kuss an sich.

Lew hatte von uns allen am wenigsten seinen Humor verloren. Falls er Angst hatte, merkte man es ihm nicht an.

Trace kicherte. »Das würdest du für mich tun, Baby?« fragte sie, Nase an Nase, und machte dabei wohlige Geräusche.

Er grinste noch kurz verschmitzt zurück, bis er sich schlagartig umdrehte, die Höhle verließ und in einer alarmierten Handlung den Hang herunterrutschte.

Wir folgten ihm.

»Was ist?« fragte Nora als Erste. Sie stellte sich zu ihm und folgte seinem Blick.

Er starrte zwischen die Bäume. »Ich hab’ was gehört«, murmelte er.

»Von Nahem?« fragte Wolf.

»Ja ... glaub’ schon.«

Der Rest stellte sich geschlossen zu ihm, aber niemand konnte sehen, woher oder von wem das besagte Geräusch gekommen war.

»Bist du sicher, dass es aus dieser Richtung kam?«, fragte ich nach.

»Nein«, antwortete er zweifelnd. Sein Blick sagte etwas anderes.

Em und Jonas drehten sich jeweils nach links und rechts vom Wegesrand. Ich sah noch eine Weile mit Lew zwischen die Tannen, aber außer weißem Schnee, der sich wie eine Decke um ihre Stämme gewickelt hatte, erkannte ich nichts.

»Hm«, sagte Em. »Siehst du was, Jonas?«

»Nein ... Shane?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Vielleicht nur Schnee, der von Ästen gefallen ist«, mutmaßte Belle.

»Ja ... vielleicht«, erwiderte Lew und ließ seinen Blick ein letztes Mal prüfend von rechts nach links wandern.

Mein Vater wandte sich als Erster ab. »Los, lasst uns weitergehen.«

Wir schlossen uns still an, aber sahen uns noch ein paar Mal misstrauisch um, während wir unsere Positionen einnahmen: Lew und Tracy vornan, danach Connor und Wolf, dann mein Vater, Jonas und Nora, gefolgt von Belle und Kate und schließlich Em und ich. So waren wir im Notfall am ehesten geschützt und die, die sich aufgrund ihrer menschlichen Verwundbarkeit selbst nicht verteidigen konnten, am meisten.

Kapitel 2

  

Kapitel 2

 

EMMA

 

 

»P.I.P.S.?«, sagte Shane. »In zehn Minuten fliegst du los.«

»Ja, Shane.«

Wie ich lernen durfte, erreichte P.I.P.S. eine Geschwindigkeit von bis zu dreißig Kilometern die Stunde, das ungefähre Tempo eines extrem gut trainierten Läufers. Ich glaube, nur Usain Bolt schaffte um die siebenunddreißig.

P.I.P.S. legte seit unserer Flucht jeden Abend den Weg zu IO zurück. So konnte er uns rechtzeitig warnen, falls sie uns nachts zu nahekamen. Wir schliefen keineswegs ruhiger, aber immerhin bekamen wir Schlaf und die vielen Anstrengungen durch das Wandern halfen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, in den vergangenen Tagen abends länger als zehn Minuten wachgelegen zu haben.

»Schlaf einfach nicht mehr mit ihm. Dann muss er es dir sagen«, flüsterte Con leise und zog eine Augenbraue hoch.

»Hm«, antwortete ich unsicher und überlegte.

Das war drastisch, aber hatte er vielleicht recht? Es wäre zumindest ein gutes Druckmittel, um endlich herauszufinden, was ihm meine Mutter in dem Brief geschrieben hatte. Was konnte schon so wichtig sein, dass er es mir nicht erzählen durfte? Ich war seine Freundin! Er würde jeden Stein nach mir umdrehen, wenn ich verlorenginge. Doch bei diesem Thema versteckte er sich und seine wahren Gedanken hinter einer Mauer des Schweigens.

Wir hatten mehrere Baumstämme in einem Kreis angeordnet, in dem Shane ein Feuer gemacht hatte.

Er warf Holz nach. »Was tuschelt ihr?« Er setzte sich neben mich und beugte sich zu mir, um mich zu küssen.

»Du hast deine Geheimnisse, wir haben unsere«, antwortete ich kurz und biss in mein Stockbrot. Seine Lippen landeten auf meiner Wange.

»Immer noch dasselbe Thema?«, fragte Jonas genervt.

»Ja«, entgegnete ich. »Und wir werden es solange haben, bis mir Shane erzählt, was meine Mutter geschrieben hat.« Ich setzte einen ernsten Blick auf, um meine Konsequenz zu unterstreichen.

Shane küsste noch einmal meine Wange, bevor er sich von mir wegdrehte. »Es geht nicht, Em. Lass gut sein.« Seine strömend warme Hand streichelte über mein Bein.

»Sag noch mal: Wieso nicht?« Ich wollte es hören, um wenigstens erneut meinen Kopf über dieses Gehabe zu schütteln. Vielleicht verstand er es ja dann.

»Hör endlich auf zu nerven! Wenn er es nicht sagen will, will er es nicht sagen, Herrgott«, ging Kate dazwischen.

Du dumme ...

»Weil sie mich darum gebeten hat, Em«, antwortete Shane kurz.

»Seit wann, bitte, interessiert es dich, was meine Mutter will?«

»Eins zu null für Emma«, warf Wolf trocken rein.

Shane schaute ihn böse an, als hätte er Unterstützung von Wolf erwartet.

»Was?«, reagierte Wolf abrupt. »Ich finde, sie hat recht!«

»Ach, findest du, ja?« Shane stand auf und stellte sich vor ihm hin. »Wie wäre es denn damit? Du oder Belle erzählen es ihr einfach. Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der Dinge verschweigt.«

»Was redest du da?«, fragte sein Vater.

Shane starrte still zwischen Wolf und Belle hin und her, schien zu glauben, dass sie seine Bemerkung verstanden hätten. Beide sahen ihn starr an und doch irritiert, als würden sie überlegen, ob Shane nur bluffte. Was zum Teufel ging hier vor sich?

»Okay. Jetzt will ich‘s auch wissen«, rief Lew dazwischen und wischte sich die Hände, die klebrig und dreckig vom Fleisch waren, mit einem Taschentuch ab.

Wolf sah kurz zu ihm, aber wandte sich schnell wieder zu Shane. »Shane«, begann er und ging noch einen Schritt auf ihn zu, »keine Ahnung, was dir Janine erzählt hat, aber wir wissen wirklich nicht, wovon du sprichst. Also, entweder du sagst es uns und wir reden darüber oder du lässt es bleiben.«

Dass er ernsthaft glaubte, er könnte die Wogen in Shane glätten! Ich musste unweigerlich an das denken, was mein Vater vor ein paar Tagen gesagt hatte: ›Er ist ein Tier! Er beißt sich solange an etwas fest, bis er es hat.‹ Spätestens in dem Moment, als er die Worte meiner Mutter gelesen hatte, hatte ich die Ausmaße endgültig verstanden. Und sie schienen größer zu werden, statt Frieden zu finden.

Shane überlegte kurz und winkte schließlich ab. »Nicht nötig. Ich finde es auch allein heraus«, antwortete er kalt und ging zu unserem Zelt.

»Vielleicht hat Janine dich ja belogen! Hast du daran schon mal gedacht?«, rief Nora ihm hinterher.

»Janine würde mich nie belügen!«, brüllte er wütend zurück.

Ich zuckte zusammen und schloss meine Augen.

»Woher willst du das wissen?«, konterte sie laut.

»Menschen, für die Worte Waffen sind, Nora, brauchen keine Lügen.«

Man hätte meine Mutter nicht besser beschreiben können. Was sie Shane auch offenbart hatte: Es stimmte. Daran bestand kein Zweifel.

Hinter uns knackte es – ein Geräusch wie Äste, die unter dem Gewicht eines Menschen brachen. Ein weiteres Mal an diesem Tag drehten wir uns geschlossen um. Es war mittlerweile stockdunkel. Auch wenn der Schnee Teile des Waldes um uns herum aufhellte und in ein tiefes Blau tauchte, wirkten die Bäume in ihren weißen Gewändern wie Schreckgespenster. Es war ein furchterregendes Gefühl, so ungeschützt auf der Anhöhe eines Berges zu sitzen und sich mit aller Mühe in Sicherheit zu wähnen. Denn wir wussten: Wir waren alles, nur nicht sicher.

Shane, der noch immer am Eingang unseres Zeltes stand, schaute geradeaus in die Dunkelheit, bis er drei Sekunden später ängstlich, wütend - oder beides - brüllte: »Rein in die Zelte!«

»Wieso? Was ist da?«, rief Tim.

»Ich sagte: Rein in die Zelte!«, wiederholte er in einem aufgebrachten Ton und ging, ohne sich umzudrehen, zwischen die Bäume.

Als wir die Angst in seiner Stimme hörten, sprang sie augenblicklich auf uns über. Ich warf mein Brot in den Schnee und lief los. Als ich den Reißverschluss des Zeltes zugezogen hatte, kniete ich mich hin und wartete. Mein Herz raste und stolperte. Ich schwöre, ich konnte das Adrenalin in meinen Adern fließen hören. Im Zelt war es noch dunkler als draußen. Ich holte eine Taschenlampe aus meinem Rucksack, knipste sie an und klammerte mich am eiskalten Griff fest. Jeder Versuch, wieder zu Atem zu kommen, schien vergebens. Die Luft blieb mir im Halse stecken.

Ich überlegte, was Shane so in Alarm versetzt hatte: Ich hatte weder etwas gesehen noch gehört. Ob es IO war? Nein, nein. Wenigstens Lew hätte sie kommen hören. Aber Shane irrte sich nie. Er hatte diesen Radar für jede noch so kleine Gefahr und er stand im Standby-Modus, seit wir aus Monroe geflohen waren. Hätte ich nur besser aufgepasst!

Ein Windstoß prallte gegen das Zelt und kippte es leicht zu mir. Ich fiel vor Schreck zur Seite. Das konnte nur eine von Shanes Hitzewellen gewesen sein ... Ich verspürte den überwältigenden Drang, ihm zu helfen, aber mein Körper war gelähmt vor Furcht. Ich starrte auf die Wände des Zeltes und wartete.

Als Shanes Wärme langsam durch den Waldboden in meine Handflächen floss, wurde mir endgültig bewusst: Die Gefahr war real. Zum ersten Mal waren wir einer Bedrohung ausgesetzt, die er schon die ganze Zeit über befürchtet hatte. Wenn wir wieder herauskämen, würde auf einer Fläche von mindestens zwanzig mal zwanzig Metern keine einzige Schneeflocke mehr liegen. Der Boden würde stattdessen an ein abgebranntes Feld erinnern oder gar an jene pechschwarz verkohlten Wälder in seinem Heimatland Australien, je nachdem, ob er noch weitere Wellen hinterherschob oder nicht. Alles hing davon ab, wie groß er das Risiko einschätzte, das zwischen den Bäumen lauerte.

Irgendwo inmitten der dunklen, angsterfüllten Stille ertönte plötzlich ein Brüllen, das näher zu uns zu kommen schien. Es drang in meine Ohren - tief, röhrend, gewaltig - und zog sich wie ein langer blinder Schrei durch diese panischen Sekunden der Nacht. Ich hielt mir vor Angst den Mund zu und kniff meine Augen zusammen. Aber meine Tränen liefen aus mir heraus wie ein Eimer Wasser, den jemand aus Versehen umgekippt hatte. Ich gab mir Mühe, mich zu beruhigen, atmete mehrmals tief ein und aus, als ich langsam begriff: Das Brüllen hatte nicht nach Shane geklungen, eher wie ein Bär. Hielten die nicht gerade Winterschlaf?

Noch einmal schallte es durch den Wald, nur dieses Mal zog es sich endlos in die Länge. Ich betete still, dass es kein Siegesschrei war, und presste meine Hand auf meinen Mund, um nicht augenblicklich vor Angst loszuschreien. So wimmerte ich vor mich hin, während ich die Geräusche von draußen zu filtern versuchte - und hoffte, dass sich bereits mein Schild um Shane gewickelt hatte. Wenn ich jetzt hinausginge, würde ich Shane sicher in Gefahr bringen. Nach unserer Erfahrung und den Erlebnissen der letzten Tage, in denen ich vor Schreck immer wieder wie ein Ballon in die Luft gestiegen war, aktivierte sich mein Nebel entweder nur bei Shane oder bei mir, je nachdem, wer am meisten Schutz benötigte.

Ich sah auf meine Arme und Hände, aber konnte an mir nichts erkennen. Ich redete mir ein, dass das ein gutes Zeichen war. Ihm würde nichts passieren. Ganz sicher nicht. Bleib ruhig! Bleib ganz ruhig! Du musst dich nur dar

Kapitel 3

 

Kapitel 3

 

Monroe, Utah

 

EMMA

 

 

Wie mir Mum später erzählte, saßen sie und Karen währenddessen bei uns zu Hause am Küchentisch. Sie hatte sich krankschreiben lassen, weil sie nach unserer Flucht kaum mehr als zwei Stunden pro Nacht schlief. Karen, die als Einzige der Crew zurückgeblieben war, hatte versucht sie zu unterstützen, aber es schien vergebens. Sie geisterte wie eine Tote durchs Haus, sprach kaum ein Wort und war gerade mal so viel Mutter, dass Sammy nicht stutzig wurde. Über die Erklärung, dass Dad und ich über die Ferien einen Vater-Tochter-Ausflug zu Colleges machten, hatte er sich keine Sekunde gewundert. Wie 11-jährige Jungs eben sind: zu sehr beschäftigt mit sich selbst.

»Möchtest du auch ein Glas Wein?«, fragte Karen.

Mum nickte stumm, während sie geistesabwesend in die Luft starrte.

»Gehen sie dorthin, wo ich denke, dass sie hingehen?« Karen stand nervös vom Tisch auf und ging zum Kühlschrank. Es war das erste Mal, dass sie sich traute, diese Frage zu stellen.

»Ja«, antwortete meine Mum. »Genau da gehen sie hin.«

»Dann sollte ich einen Anruf tätigen«, dachte sie laut.

Mum zog aus ihrer hinteren Hosentasche ein Prepaid-Handy und hielt es still in die Luft. »Draußen, bitte.«

Karen starrte eine Weile aufs Handy und ging schließlich langsam zu ihr. Dass dieser Zeitpunkt tatsächlich gekommen war ... »Kümmerst du dich um den Wein?«, schluckte sie. Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ sie die Küche.

Mum blieb sitzen, als hätte sie ihre Bewegungsfähigkeit verloren, und versuchte die Horrorszenarien, die ihr seit Tagen durch den Kopf gingen, zu verscheuchen. Jede Nacht quälte sie sich in den Schlaf, aber wachte nach nur wenigen Stunden wieder auf – weil sie mehr wusste, als sie Shane und allen anderen gestanden hatte. Das machte ihr in Wahrheit zu schaffen, nicht etwa ihre Sorge um uns. Es waren ihre eigenen Abgründe und Gräueltaten, die ihr in diesen Tagen fast den Verstand raubten.

Einige Minuten später kam Karen zurück in die Küche und fand meine Mutter genauso apathisch vor, wie sie sie verlassen hatte. Sie legte kurz ihre Hand auf Mums Schulter, bevor sie zum Kühlschrank ging.

»Was sagt er?«, fragte Mum.

»Er weiß Bescheid und kümmert sich um alles.« Sie schluckte ihre Aufregung herunter, aber die Stimme ihres Ex-Mannes blieb in ihren Ohren hängen.

»Ich hab’ es ihm erzählt«, stammelte Mum leise.

»Was hast du Lindon erzählt?«

»Nicht Lindon. Ich hab’ es Shane erzählt ...«

Wieder ließ Karen die Kühlschranktür zufallen, ohne den Wein herausgeholt zu haben, und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, während sie meine Mutter argwöhnisch beäugte. »Was hast du ihm erzählt, J?« Ein schlechtes Gefühl überkam sie. Dass wir zu Lindon unterwegs waren, war das Eine. Aber nun befürchtete sie weitaus Schlimmeres.

Mum drehte ihren Kopf leicht zu ihr, während sie sprach: »Ich habe Shane die Wahrheit erzählt.«

Karen japste nach Luft. »Welche Wahrheit, J?«, fragte sie ängstlich leise.

»Die Ganze.«

Karen riss Augen und Mund auf. »Oh, mein Gott, J! Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist!«

Mum schwieg.

»J?« Aber es kam keine Reaktion. »Janine!« Sie ging zu Mum und rüttelte an ihrem Arm. »Sag mir sofort, dass du das nicht getan hast!«

»Er hatte das Recht, es zu erfahren ... Sie alle!«

»Bist du des Wahnsinns?«, brüllte Karen sie an. »Ist dir klar, was du gemacht hast ... was er machen wird?«

»Ja«, sagte meine Mutter gefasst, beinahe unbeteiligt. »Es ist Zeit, Karen ... Es ist Zeit, dass das alles endlich aufhört.«

»Wieso ... wieso hast du ...?«, stammelte Karen und drehte sich im Kreis. Die Hände in ihren Haaren vergraben, hielt sie ihren Kopf fest umklammert, als hätte sie Sorge, er würde vor lauter Gedanken platzen.

»Manchmal denke ich, dass wir zu lange nur darauf geachtet haben, dass er sich ideal an seine Umwelt anpasst ... und dabei völlig vergessen haben, wie es in seinem Inneren aussieht. Seitdem ich ihn wiedergesehen habe, muss ich die ganze Zeit daran denken, wie er werden sollte und wie er stattdessen geworden ist: so anders, als ich angenommen hatte. Ich dachte, er würde ...» Sie schürzte die Lippen und dachte nach. »... einfach so werden, wie die anderen, weißt du?« Sie blickte zu Karen, die jetzt steif vor Panik neben ihr stand und sie anstarrte. »Dass er lernen würde, sich einzufügen und«, zuckte sie mit den Achseln, »unauffällig bleiben würde, so wie Lew und Jonas und so.« Sie schaute auf den Tisch und legte ihre Hände mit den Handflächen nach unten auf die dunkelbraune Holzplatte. Sie musterte ihre Finger und ließ sie leicht wippen, in einem Takt, den nur sie hörte. »Ich habe ein Ungeheuer erschaffen, Karen. Ich wusste nicht, was ich tat.« Sie legte ihre Hände wieder zurück in ihren Schoß und starrte weiter in die Luft. »Aber nun, da es geschehen ist, muss sich der Lauf der Dinge an Shane anpassen ... nicht etwa Shane sich an den Lauf der Dinge.«

»J, bist du komplett irre geworden?», platzte es aus Karen.

»Wir haben Fehler gemacht und jeder Einzelne von uns – allen voran IO – wird die Konsequenzen dafür tragen müssen. Es ist ganz einfach, weißt du?«, lachte sie Karen an und hob ihre Arme in die Luft. »Wenn man darüber nachdenkt, ist es so einfach.« Sie lachte weiter.

Karen schüttelte den Kopf über diese abstrusen Worte und wusste nichts zu sagen. Sie dachte, Mums brillanter Verstand hätte sich endgültig gegen sie gewandt – dass aus ihrem Genie Wahnsinn geworden wäre. »Du wirst sie alle töten!«, schrie sie.

Mum lachte laut auf. Wie ausgewechselt stand sie auf und ging an Karen vorbei zum Kühlschrank, holte den Wein heraus und dann zwei Gläser aus dem Hängeschrank daneben. »Ihr seid so dumm manchmal.« Sie schüttelte den Kopf, während sie die Gläser mit hellgelbem Chardonnay füllte. »Alles, was ihr könnt, ist vor IO zu kuschen. Ihr glaubt, sie wären die Mächtigen und Starken und würden über euer Leben entscheiden.« Sie nahm einen großen Schluck und reichte Karen das andere Glas. »Shane wusste es immer besser.«

»Wovon zum Henker redest du? Du hast ihr aller Todesurteil unterzeichnet!«

Mum stellte Karens Glas auf die Arbeitsplatte, als sie nicht danach griff. »Nicht IO wird sie töten, Karen«, sagte meine Mutter. »Shane wird IO töten. Und die anderen ... werden ihm dabei helfen.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm ihre alte Pose ein.

»J, Shanes Anomalie mag stark sein, aber ...«

»Anomalien ...«, korrigierte Mum sie scharf und strafte Karens Unwissen mit einem bösen Blick. »Wie ich schon sagte«, sprach sie im ruhigen Ton weiter, nahm noch einen Schluck Wein und starrte nachdenklich zurück in die Luft, »ihr seid manchmal alle so dumm.«

Kapitel 4

 

Kapitel 4

 

SHANE

 

 

Noch vor ein paar Tagen hatte ich mir gewünscht, Tiere zu sehen. Vögel, Waschbären, die sich an Essensresten in Mülltonnen bedienen, herumstreunende Hunde und herrenlose Katzen, Ratten, Mäuse, Eichhörnchen ... keine Bären, die sich mit bis zu drei Meter Größe vor mir aufbäumen.

Ich kannte sie bloß von wenigen Fotos und Tierdokus, die uns Karen gezeigt hatte – Tiere der Erde, dem einzigen Planeten unseres Sonnensystems mit natürlich entstandenem Leben. Allein die Zeit, die ich bis jetzt vor ihm gestanden hatte, überstieg bereits die Dauer, die Karen dem Thema Irdische Wildnis im Unterrichtsraum unserer sicheren Mondbasis gewidmet hatte. Doch von Angesicht zu Angesicht war die Gewalt seines muskulösen Körpers, die seine tiefe Stimme ankündigte, mehr als verstörend. Sie war angsteinflößend und ehrgebietend. Von ihm ging eine Gefahr aus, die mich an Joseph Conrads Werke erinnerte – eine lebendig gewordene Darstellung seines Romans »Herz der Finsternis«, genauso roh, wie ich mir die Natur der Erde immer vorgestellt hatte.

Sollte ich Angst haben? Die Frage kroch mir kurz durch den Kopf, bis der Bär erneut zu röhren begann und sich ein weiteres Mal vor mir aufbäumte. Ich hob meinen Kopf und studierte – teils erstaunt, teils gelähmt – seine Bewegungen in Meterhöhe. Was ihn wohl angelockt hatte? Hatten wir zu viel Lärm gemacht? Waren wir in sein Revier eingedrungen? Wollte er klarstellen, dass er uns hier nicht duldete? Vielleicht war alles nur ein Bluff, eine Zurschaustellung seiner Kräfte, die er uns notfalls spüren lassen würde. Ich erinnerte mich daran, wie Karen vor Jahren in Erdbiologie gesagt hatte, diese Tiere würden bis zu drei Monate lang ruhen. Das war eine lange Zeit, um danach wegen des Hungers selbst Menschen zu jagen, um an Essen zu kommen. Sie hätten einen so feinen Geruchssinn, hatte Karen gemeint. Falls er hungrig war, war es sicher leicht gewesen, uns aufzuspüren.

Meine Gedanken fanden ein jähes Ende, als er mit seinen Pfoten auf dem Boden aufschlug und einen Schritt auf mich zuging - und den Blick auf das freigab, was sich hinter ihm versteckt hatte: ein Bärenjunges, das uns aufmerksam beobachtete. Er – sie – folgte also nur ihrem natürlichen Instinkt. Mit einem Schlag verstand ich, dass sie alles tun würde, um ihr Junges zu schützen, so wie ich alles tun würde, um die Gruppe zu verteidigen.

»Lauf weg, Shane!«, hörte ich Wolf leise sagen, der ein paar Meter neben mir aus dem Dunkel auftauchte. Er stand ganz ruhig da und starrte die Bärenmutter an. »Mach keine panischen Bewegungen!« Seine Stimme klang angestrengt.

»Wenn jemand geht, dann du«, sagte ich in ähnlich leiser Tonlage und ließ die Bärin nicht aus den Augen.

Ihr tief dunkelbraunes Fell war dicht und struppig und hier und da hatten sich kleinere Äste, Blätter und Schnee darin verfangen. Sie öffnete ihr riesiges Maul, streckte ihren Kopf in die Luft – die Pfoten wieder in die Höhe gehoben – und stieß einen weiteren Schrei aus, so bedrohlich, dass ich kurz den Atem anhielt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Hände zitterten, mein Kopf ratterte. Ich suchte nach Lösungen, um dieser Situation Herr zu werden – um alle, einschließlich mich, zu beschützen. Vor allem und zuerst Wolf. Er schien nicht zu verstehen, dass er in größerer Gefahr schwebte als ich.

Das Tier kam wieder auf alle Viere und machte dieses Mal zwei Schritte auf uns zu.

Wolf ging langsam und vorsichtig in kleinen Schritten zurück. »Shane«, forderte er mich erneut auf. »Das ist nicht die Zeit für Diskussionen. Geh jetzt endlich zu den anderen! Er fühlt sich nur bedroht.«

Aber etwas in mir ließ mich kurz erstarren, als müsste ich nur hier stehenbleiben, um sie zu vertreiben. Gleichzeitig machte ich mir meine wenigen Möglichkeiten bewusst: Entweder ich griff an, in der Hoffnung, mein Feuer würde sie verscheuchen. Doch die Gefahr, dass sie den Kampf auf sich nehmen würde, war mir zu groß. Vielleicht würde es genügen, wenn ich nur in Flammen aufginge? Vielleicht müsste ich nur den Boden unter ihren Pfoten erhitzen. Oder ich sorgte für maximalen Schaden – ohne absehen zu können, wie sie reagieren würde. »Tiere fürchten Feuer, oder?«, fragte ich Wolf.

»Shane, das ist der falsche Moment, um den Helden zu spielen.«

Wenn ich Wolfs Angst glaubte, wären alle meine Gedanken unnütz, weil ich nicht gewinnen konnte. »Es ist der falsche Moment für Angst«, resümierte ich. »Du bist nur ein Mensch, aber ich ...«, atmete ich tief ein und machte einen großen Schritt in Wolfs Richtung. »Aber ich kann nicht loslegen, solange du hier rumstehst – nicht, ohne dich zu verletzen«, brummte ich.

Würde sie von allein gehen, wenn wir sie und ihr Kind nicht angriffen? Oder war es Standhaftigkeit, die ihr zeigen würde, dass ich ihr zumindest ebenbürtig – wenn nicht sogar überlegen – war?

Als Wolf zwei weitere Schritte zurückging, begann die Bärin aufs Neue zu brüllen. Das tiefe Echo ihrer Gewalt trieb durch die dunkle Nacht und kam erst Sekunden später zum Ersticken.

»Lauf!«, hörte ich Wolf alarmiert rufen.

Er würde gegen sie nichts ausrichten können und doch blieb er ohne eine Chance gegen dieses überwältigende Tier wie angewurzelt stehen. So sehr ich ihm gerade misstraute: All die schwierigen Gespräche, die er an meiner Stelle mit meinem Vater geführt hatte - was Wolf mein Leben lang für mich getan hatte -, Nora und wie sehr sie mich hassen würde, wenn ihm etwas zustieße, spulten sich vor meinem inneren Auge ab.

Aus dem Nichts entfachten sich hinter der Bärenmutter mit einem lauten Knall mehrere Feuer - dann neben ihr, vor und hinter ihrem Jungen, das erschrocken aufschrie und zurücksetzte, nur um sich in einem Kreis aus Flammen gefangen wiederzufinden. Sie bäumte sich röhrend ein letztes Mal auf und schien sich endgültig ihrer Lage bewusstzuwerden.

»Shane, das war keine gute Idee«, hörte ich Wolf noch sagen.

»Ich war das nicht«, murmelte ich verwirrt.

Das Tier nahm uns ins Visier und kam in großen Schritten auf uns zu gerannt.

Doch er hörte mich nicht mehr; meine Stimme verschwand unter den lauten Bewegungen des Tieres, das auf uns zulief – mir blieb keine Zeit, nachzudenken. Das Gewicht ihres stämmigen braunen Körpers verdrängte den tiefen Schnee unter ihren gewaltigen Pfoten. Es knirschte wie der Mondstaub in unserem Lava-Tunnel, den wir mit Rovern in einigen Abschnitten zusammengeschoben hatten, um sie begehbarer zu machen. Nur dass sich bereits die Schrittlänge der Bärin so anfühlte, als bräuchte sie nur noch einen Satz zu machen, um uns beide niederzutrampeln.

»Lauf weg, Shane!«, brüllte Wolf und schubste mich an.

Ich kam ins Taumeln - um mich herum verschwamm das Schwarz der Nacht zu bunten Schlieren. Die vielen Nuancen ihrer Körperwärme, wie ich schließlich begriff. Wie mit einem Infrarotsichtgerät schillerten sie vor meinen Augen. Um uns herum lag der Schnee in einem tiefdunklen Violett, ihre Körper nur noch eine Mischung aus gelben und roten, dicken Linien, unterbrochen mit Weiß und Dunkelgrau, die den Umrissen Inhalt verliehen.

Als die Bärenmutter einen Satz auf Wolf zumachte und ihn schreiend zu Boden riss, ging ich in Feuer auf. Sie schoss nach hinten und stemmte sich brüllend in die Höhe, aber machte kaum Anstalten, sich zurückzuziehen. Erst als ich lodernd ein, zwei Meter dichter an sie heranging, wich sie im Angesicht meiner Hitze zurück. Ohne daran zu denken, dass meine Anomalie Wolf schaden würde, packte ich seinen Körper, der still am Boden lag, und begann ihn wegzuziehen. Ich bekam nicht mit, wie das Tier trotz der Flammen, die aus meinem Körper schossen, erneut auf uns zu kam und mit der linken Pfote ausholte. Ihre Krallen bohrten sich tief in meine rechte Schulter, schnitten wie ein Skalpell durch meine Haut. Wir brüllten beide auf - jeder wegen seines eigenen Schmerzes.

Die Mutter wich röhrend zurück und setzte sich auf dem Boden ab; abwartend - fast nachdenklich - scharrte sie ihre Pfote im Schnee. Obwohl sie mich nicht aus den Augen ließ, zog ich Wolf weiter über den Boden zurück zu den Zelten. Nur am Rande nahm ich wahr, wie sich der Schnee unter seinem Körper rot färbte. Das Brennen meiner klaffenden Schulterwunde, das Blut, das meinen Arm herunterlief, das Adrenalin in meinen Adern ... Damals spürte ich das Glühen in meinem Inneren nur im Angesicht einzelner Emotionen - wenn das Monster in mir nicht länger bereit war, wehrlos zuzusehen. Ich konnte noch nicht unterscheiden, was davon ich war und was die Taten und Worte eines anderen in mir entfachtet hatten. Ich wusste nur eins: Für den Moment sah ich die Bärin zurück zu ihrem Kind gehen, aber etwas sagte mir, dass die Auseinandersetzung mit ihr gerade erst anfing.

Kapitel 5

 

Kapitel 5

 

IOs Lager

 

EMMA

 

 

Einige Kilometer hinter uns hatten mein Vater und Melanie, alarmiert durch Shanes Schrei, ihre Zelte verlassen und starrten bewegungslos in die dunkle Nacht. Wie Dad mir im Nachhinein erzählte, versuchten sie herauszufinden, woher Shanes Stimme gekommen war und ob das fremde Gebrüll, das zwischen den Bergen hin und her gewallt hatte, aus derselben Richtung gedrungen war.

»War das ... ein Bär?«, überlegte mein Vater laut.

Er trug nur einen schwarzen Pulli über seiner Jeans, den er seit Tagen nicht gewagt hatte auszuziehen, so sehr fror er, seit er gezwungen geworden war, Melanie zu begleiten. Dass sie höchstpersönlich die Truppe aus sieben Soldaten und ihn plus Chris anführte, hatte ihn nicht weiter gewundert. Er wusste, wie sehr sie sich zu kontrollieren vermochte, wenn es um Shane ging. Vielleicht war es der einzige Umstand, der sie dazu brachte, ihre High Heels und Kostüme durch wadenhohe, gefütterte Winterboots und Skikleidung über ihrem dünnen Körper zu ersetzen. Woher diese Faszination – oder Obsession – für Shane auch stammte: Sie würde jeden einzelnen töten, ohne mit der Wimper zu zucken, nur um ihn zu schützen. Das wusste Dad.

»Kann sein. Das davor war Shane«, antwortete Melanie leise, ihr Gesicht so glattgezogen, dass man hätte meinen können, es wäre ein Moment wie jeder andere, der keinen Grund zur Besorgnis gab.

Ihre Gänsehaut, ihre roten Wangen und blauen Lippen: Sie fror wie der Rest von ihnen bitterlich, aber zitterte kein einziges Mal, als wäre sie ein Roboter wie P.I.P.S. in späterer Version, von außen nicht von einem Menschen zu unterscheiden und doch im Innern nicht mehr als Schrauben, Drähte und Technik. Wenigstens würde das die Kälte ihres Wesens erklären, dachte mein Vater.

Er drehte sich von ihr weg, damit sie sein Gesicht nicht sah. Er hatte fast jede Minute in Sorge um uns verbracht, seit ihm klar geworden war, dass meine Mutter mit Sammy nur im Krankenhaus aufgetaucht war, um ihn von unserer Flucht abzulenken. Einige Stunden später, nachdem er beide auf eine angebliche Lebensmittelvergiftung hin untersucht hatte – natürlich ergebnislos –, war IO in Form von Albert Cliff, begleitet von drei Soldaten, bei ihm auf Station aufgetaucht und hatte ihn informiert – oder besser gesagt: überprüft. Meine Mutter hatte sich weiterhin ihrer vermeintlichen Übelkeit unter vorgetäuschten Magenkrämpfen hingegeben. Auf Cliffs Frage, wo ihre Tochter wäre, hatte sie nur augenrollend geantwortet: ›Na, bei Shane. Wo sonst?‹

Alles war nach Plan verlaufen, nur war mein Vater nicht eingeweiht gewesen, sondern Teil der Verdächtigen – weil er sie in seiner Tätigkeit für IO außen vor gelassen hatte - wenn auch nur, um seine Familie zu beschützen. Er kannte seine Frau nun mehr als dreißig Jahre: In- und auswendig reichte nicht als Begriff. Mum hatte erbarmungslos gelogen - wie er -, um mir und Shane die Flucht zu ermöglichen. Und sie würde ungeachtet ihrer jahrzehntelangen Ehe nicht damit aufhören, weil sie ihren eigenen Ehemann für eine Gefahr hielt. Sie vertraute nur noch sich selbst. Was das bedeutete, wusste er: Seine Ehe war vorüber, seine Vaterschaft nur noch ein belangloser Fakt auf den Geburtsurkunden seiner Kinder. Dass er für seine Arbeit bei IO irgendwann den Preis zahlen müsste, hatte er all die Jahre geahnt. Nur dass die Zeit jetzt angebrochen sein sollte, wollte ihm nicht in den Kopf. Ein Teil von ihm hoffte still, sie würde ihm vergeben, wenn er mich und Shane heil wieder nach Monroe – nach Hause – brachte. Vielleicht würde sie ihn verstehen, wenn er die Möglichkeit bekäme, seine Motive zu erklären? Zwei Minuten, länger würde er nicht brauchen. Nur zwei verdammte Minuten.

»Was, wenn ihnen was passiert ist?«, fragte er verunsichert. »Sie haben nur Tim. Und der hat doch sicher nicht mal Verbandszeug mit!«, sagte er wütend, wenn auch aus Angst.

»Sie haben Tracy. Sie könnte das Meiste manifestieren, falls er was braucht«, unterbrach Chris und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch unters Kinn.

Dad war sich da nicht so sicher. Tracys Anomalie war neben Shanes und Emmas die unbekannteste und unberechenbarste von allen. Was konnte sie wirklich? Eigentlich bräuchte sie einen eigenen Analysten, dachte Dad. Albert verstand bis heute ihre Besonderheit nicht. Einige Dinge konnte sie erschaffen, andere nicht. Alles stand und fiel mit ihrer Vorstellungskraft. »Seit wann kann Tracy Medizin erschaffen? Und Tim ist bloß Genetiker, kein Arzt!«, konterte mein Vater lauter und drehte sich weiterhin im Kreis, unterbrochen nur von der Stimme des Tieres, die durch die Wälder drang und in seiner Brust abebbte.

Fünf Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, vergingen, bis sich Melanie schließlich abwandte und zurück zu ihrem Zelt ging.

»Wo gehen Sie hin, verdammt?« Dad konnte nicht fassen, wie belanglos sie mit dieser Situation umging. »Wir müssen zu ihnen!«

»Shane macht das schon«, erklärte sie ruhig und bückte sich, um in ihrem Zelt zu verschwinden.

»Was, wenn nicht?«

Sie hörte ihn nicht mehr oder ignorierte ihn absichtlich.

Chris klopfte meinem Vater auf die Schulter. »Sie hat recht. Du redest hier von Shane ... und er hat ja auch noch die anderen.« Auch er drehte sich um und ging.

Dad sah zu den drei wachehabenden Männern, die wie Spielzeugsoldaten mit ihren Gewehren stramm in einem Dreieck um ihr Lager standen, und wusste, dass er nichts tun konnte. Denn wie Shane bezweifelte auch er, dass die anderen Mondgeborenen bei Not eine große Hilfe sein würden.

Kapitel 6

 

Kapitel 6

 

EMMA

 

 

»Was ist passiert?«, hörte ich Jonas draußen rufen, gefolgt von vielen Fußstapfen im Schnee.

Ich überlegte, ob ich rausgehen sollte, mich trauen sollte, ob es richtig wäre, und riss schließlich den Reißverschluss auf und kroch raus.

Jonas stand neben Shane und bückte sich; Tim und Belle kamen auf sie zugelaufen, während Tracy, Lew, Kate und Nora langsam eine Traube um sie bildeten.

»Geht weg!«, rief Tim und verschaffte sich Platz.

Ich lief zu ihnen und erstarrte kurz im Angesicht von Noras hemmungslosen Tränen. Erst als Shane den Blick auf Wolf freigab und sich Nora auf den Boden kniete, verstand ich. Wolf regte sich nicht. Nicht mal, ob er atmete, konnte ich erkennen. Die Nacht war fast schwarz, wäre da nicht der gleißende Schnee gewesen, der alles in ein milchiges Grau tauchte. Lediglich eine tiefrote Spur aus Blut wurde im Taumel meiner Angst sichtbar; sie zog sich von der Dunkelheit des Waldes direkt bis zu Wolfs Füßen.

Das Brüllen eines Bären unterbrach meine Angst. Erst jetzt sah ich, wie das Tier versuchte ein Junges aus einem Feuerkreis zu befreien. Es bäumte sich mehrmals hintereinander auf, wann immer das Kleine wieder vor den Flammen stand, bei denen es einen Ausgang vermutete. Es begriff nicht, dass das Feuer nicht von allein weichen würde.

Es dauerte einige Sekunden und mehrere Versuche, mich zu orientieren und die beiden Situationen – die wieder und wieder aufschreienden Bären und der ohnmächtige Wolf – unabhängig voneinander zu erfassen. Etliche Sträucher und die Stämme einiger Bäume standen in Flammen. Shane hätte doch nur den Boden unter ihnen erhitzen müssen! Sie wären sicher weggelaufen. Wozu sie mit Feuer einkreisen? Aber er war nicht von dieser Welt. Woher hätte er es besser wissen sollen?

Ich folgte seinen schnellen Schritten auf die Bären zu und schluckte. »Leute?«, stammelte ich ängstlich und hielt mich am erstbesten Arm fest, den ich zu greifen bekam.

Jonas sah von meiner umklammernden Hand zu mir und folgte schließlich meinem Blick zu Shane. »Was hat er vor?«

Lew sah kurz von Wolf auf. »Er will sie töten.«

»Nein, nein, nein, nein.« Ich schüttelte panisch den Kopf. »Das ist nicht gut!«, sagte mir meine Intuition, obwohl ich weder wusste, welche Regeln unter Bären herrschten, noch ob es Rudeltiere oder Einzelgänger waren. »Was, wenn hier irgendwo eine ganze Horde von denen lauert?« Sie könnten uns aus dem Dickicht der Dunkelheit überraschen.

Jonas legte seine Hand auf meinen Arm und wand sich aus meiner Umklammerung. »Lew«, sagte er ruhig, ohne ihn anzusehen, den Blick noch immer auf Shane gerichtet, der den Feuerkreis fast erreicht hatte.

Er verstand Jonas schnell. »Ja«, entgegnete er gelassen.

Jonas verließ die Gruppe und ging Shane nach. Instinktiv machte ich einen Satz, um ihm zu folgen. Ich würde Shane nicht noch mal allein lassen. Vielleicht hätte sich mein Schild ja um Wolf gebildet, hätte ich gewusst, dass Shane nicht in Gefahr gewesen war. Vielleicht musste ich mit eigenen Augen sehen, wen mein Nebel einhüllen und beschützen musste.

Ich prallte gegen Lews Arm, den er aufhaltend gehoben hatte. Er sah mit kaltem, dunklem Blick auf mich herunter. »Du bleibst schön hier!«

Ich sah ihn überrascht an. »Nein!« Erschrocken über meinen Tonfall, schlug ich seinen Arm weg.

Doch er versperrte mir blitzschnell den Weg. »Wenn ich sage, du bleibst hier, dann heißt das: Du bleibst hier! Klar?«

Teils aus Empörung, teils aus völliger Verwunderung blieb ich sprachlos.

Lew hatte seinen Blick starr auf mich gerichtet; keine einzige Emotion huschte ich über sein Gesicht, nur eine kleine Strähne seines pechschwarzen Haars, die im Wind über seine Wange schwang, bewegte sich. »Wenn dir was passiert, sind wir alle tot. Und«, er musterte mich auffällig von oben bis unten und neigte seinen Kopf, »wenigstens ich sehe einfach zu gut aus, um jetzt schon zu sterben.«

Ich verzog mein Gesicht zu einer angewiderten Miene. »Wie kann man in so einer Situation noch so selbstverliebt sein?« Vollidiot! »Lass mich gefälligst durch!«, forderte ich ihn auf und rempelte gegen ihn.

Er ließ mich nicht gewähren, hielt mich mit aller Kraft fest. Uns trennten nur ein paar Atemzüge. Mein Körper zappelte panisch, wehrte sich mit der wenigen Gewalt, zu der er trotz – oder wegen – meiner Angst fähig war. Ich konnte nur daran denken, dass Shane lediglich Jonas als Unterstützung hatte.

»Hört endlich auf!«, brüllte Tim.

Lew und ich erschraken.

»Ich muss mich hier konzentrieren, verdammt!«, schrie Tim weiter.

Lews Augen musterten mich gefügig. Ich wollte ihn schlagen und anbrüllen und zur Seite schubsen. Ich wollte zu Shane. Stattdessen zog ich mit einem Ruck meinen Arm aus Lews Griff und strafte ihn mit einem wütenden Blick. »Wir sind noch nicht fertig, damit das klar ist!«

Er grinste abfällig, während er ungläubig den Kopf schüttelte. »Dich kriegt doch jede Fliege umgenietet«, lachte er in sich hinein und drehte sich zu den anderen.

Ich starrte noch eine Weile auf seinen Rücken, aber beschloss aufzugeben. Wolf regte sich noch immer nicht. Tim beatmete ihn abwechselnd mit einer Herzmassage; Nora saß weinend neben ihnen und hielt die Hand ihres Vaters. Es war dieser Moment - als ich Nora völlig aufgelöst am Boden sitzen sah, während Shane bei den Bären angekommen war, dicht gefolgt von Jonas -, in dem ich begriff: Einige würden für uns sterben, nur damit wir zusammen sein konnten

Kapitel 7

 

Kapitel 7

 

SHANE

 

 

»Shane!«, rief Jonas hinter mir. Er kam den kleinen Hügel zu mir hinaufgestapft und blickte auf die beiden Tiere, in seinem Blick eine Mischung aus Respekt und Angst. »Scheiße!«

»Geh wieder zurück! Ich krieg’ das allein hin«, sagte ich ruhig, aber bestimmend.

»Was hast du vor, Mann?«

»Weiß nicht«, gestand ich leise.

Das Feuer löschen und sie verscheuchen, war mein erster Gedanke, auch wenn ihr Tod mir sicherer erschien. Könnte ich sie überhaupt töten, und dazu noch ein Junges? Ich hatte noch nie jemanden umgebracht, weder Mensch noch Tier. Die paar Male, die ich jemanden schwer verletzt hatte, hingen noch immer wie ein Kreuz über mir. Würde ich diese Grenze jetzt überschreiten, gäbe es kein Zurück mehr - wenn das Tier in mir erst einmal Blut geleckt hatte.

Die Mutter riss das Maul auf und zeigte ihre gelbweißen Zähne, die wie Tropfsteine aus ihrem Oberkiefer ragten. Sie streckte ihre Klauen in die Höhe und hob demonstrativ ihren Kopf, bevor sie wieder auf allen Vieren landete, keine dreißig Zentimeter von einem Flammenhaufen entfernt. Woher waren all die Feuer gekommen?

Ihr Fell glitzerte im Licht des Scheins; die Funken verliehen ihr beinahe Anmut. Als würden sie tanzen, taumelten ihr Junges und sie in dem kleinen Areal umher, um einen Weg raus aus der Gefahr zu finden. Ihr Kind quiekte, schien ängstlich und hilflos.

»Lösch es!«, forderte ich Jonas auf.

»Was?«, fragte er entsetzt.

»Lösch das Feuer!«

»Spinnst du?«, prustete er. »Wenn ich das mache, greifen sie uns sofort an.«

Könnte sein ... Aber wir mussten das Risiko eingehen. »Ich werde sie nicht töten.«

Wieder brüllte die Mutter. Wir wichen instinktiv einen Schritt zurück und beobachteten sie. Es gab Dinge, auf die uns der Mond nicht vorbereitet hatte. Das Feuer vor unseren Füßen loderte auf einer Höhe von etwa 1,50 m. Jonas war etwas über 1,80, ich 1,92 m. Wir konnten über die Flammen hinweg in den Kreis schauen. Aber ich fragte mich, wie lange die Bärin noch warten würde, bevor sie sich und ihr Junges durch die Flammenzungen ziehen würde, auch wenn sie sich dabei selbst verletzte. Und was würde sie tun, wenn sie es geschafft hatte? Sie hatte Wolf in nur wenigen Sekunden niedergetrampelt und ihre Krallen in unser Fleisch gebohrt. Die Blutspur, die sich meterlang durch den Schnee zog, bezeugte ihre Gewalt. Es war nicht daran zu denken, welchen Schaden sie in voller Wut anrichten könnte – besonders jetzt, da sich alle draußen versammelt hatten und ein leichtes Ziel waren.

Ich hob prüfend meine Schulter und spürte sofort den schmetternden, pochenden Schmerz. Fünf ebenmäßig gerade, lange Linien zogen sich von meinem rechten Schulterblatt übers Schlüsselbein. Unaufhaltsam sickerte Blut aus ihnen und lief meinen Oberkörper herunter. Die Wunden blitzten hier und da gelborangefarbig inmitten von glühend roten Bahnen auf, als würde ich mein Blut beobachten, wie es seine Kreise durch meinen Körper zog.

Ich schloss kurz die Augen und schluckte, bevor ich mich wieder auf das Problem konzentrierte. Ich brüllte Jonas zu: »Jetzt mach endl...!«, aber es blieb keine Zeit, meinen Satz zu beenden.

Das Junge war dem Feuer zu nahegekommen und weinte vor Schmerz auf, als das Fell an seinem Rücken von den Flammen erfasst wurde. Unsere Gefangene brüllte beim Anblick ihres verletzten Kindes, als würde sie in ihrer Sprache schreien: Ich töte euch!

Es war dieser Moment, der mich in einem ohrenbetäubenden Knall in Flammen aufgehen ließ. Nicht einmal Jonas neben mir nahm ich wahr, als aus allen Ecken meines Körpers eine Druckwelle wich – kochend heiße Luft, die die Tiere in einem Wisch zurückwarf.

Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, sie wegen Jonas nach vorne zu richten, schaute den Flammenzungen am Boden des Waldes, Sträuchern und Baumstämmen dabei zu, wie sie nach hinten schossen und alles um sich herum entfachten. Sie trafen erst das Bärenjunge und dann seine Mutter. Panisch öffneten sie ihre Mäuler und jaulten tief.

»Jonas?« Hatte ihn meine Welle verletzt?

Dichter weißer Wind aus Eis schoss an mir vorbei, so dick und kräftig, wie ich es noch nie von Jo gesehen hatte. Ich schob Feuer in ihre Richtung. Sein Eis verflüssigte sich im selben Moment, als er die Tiere erreichte, die mit den Flammen an ihrem Körper hin und her wackelten. Das Wasser traf sie unerwartet; vor Schreck röhrten sie, gefolgt von der Erleichterung, als sie die erloschenen Flammen wahrnahmen. Sie schüttelten ihr nasses Fell und blickten kurz in meine Richtung, bevor das Junge zu seiner Mutter ging, die es von der Stelle wegzog. Geschlossen verschwanden sie im Dunkel der Nacht.

Ich folgte ihnen mit demselben Blick aus Wärme wie vorhin, bis ich keinen ihrer Umrisse mehr sah.

»Scheiße!«, brüllte Jonas rechts von mir. »Was sollte das?«

Er tauchte mit den Händen in den Seiten - wütend und entsetzt - vor mir auf.

»Was meinst du? Sie sind weg. Das ist das einzig Wichtige!«, entgegnete ich und machte mich auf den Weg zurück zu den anderen.

Sie standen unten am Ende des kleinen Hügels um Wolf im Kreis herum und schauten zu uns hoch.

Jonas lief mir schnaufend hinterher. »Weißt du was, Shane?«, zischte er und lief schneller, um mich einzuholen. »So langsam hab’ ich echt die Schnauze voll!«

Ich drehte mich um und versuchte meine Stimme ruhigzuhalten. »Was willst du, Jo? Ich habe uns gerettet.«

Er schüttelte unverständlich den Kopf. »So ein Bullshit! Du hast sie laufen lassen.«

»Es war unnötig, sie zu töten.« Ich setzte mich wieder in Bewegung.

Wir waren noch etwa zehn Meter von den anderen entfernt. Wolf lag am Boden, bewusstlos und blutend; Nora presste ihre Hand auf seine Wunde, die sich wie bei mir von seiner rechten Schulter bis zur Brust herunterzog, und versuchte die Blutung zu stoppen. Mein Vater hockte neben ihnen auf der anderen Seite und fühlte seinen Puls.

»Es war unnötig?«,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6823-4

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