An dem Tag, an dem ein Anruf Kais Leben zerstört, sind wir gerade bei mir Zuhause.
Wir haben uns wie jeden Freitag zu einem Fußball-Abend verabredet. Es läuft Bundesliga und Dortmund spielt gegen Darmstadt. Weder Kai noch ich sind Fan eines dieser Vereine, unser Herz schlägt für den Verein unserer Stadt, den Hamburger SV. Aber bei diesen wöchentlichen Treffen geht es auch nicht hauptsächlich um den Fußball, sondern vielmehr um unsere Freundschaft, darum Zeit miteinander zu verbringen, auch noch nach all den Jahren, die wir uns schon kennen, sich gegenseitig Probleme anvertrauen zu können und natürlich auch um zu lästern, was wir natürlich niemals zugeben würden. Männer tun so etwas schließlich nicht.
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie Kai und ich Freunde geworden sind. Es muss wohl im Kindergarten gewesen sein, auch wenn ich das Gefühl habe, wir sind schon immer befreundet gewesen und haben zusammen die Nachbarschaft unsicher gemacht. So lange ich denken kann, ist Kai an meiner Seite gewesen. Wir gingen zusammen zur Grundschule, später auf das gleiche Gymnasium und schrieben uns für die gleiche Universität in Hamburg ein. Die Zeit unseres Studiums war wild und unvergesslich. Mit Anfang zwanzig ließen wir beiden keine Party aus und begleiteten unsere Studienkommilitonen zu Festivals, Wacken und Tomorrowland sicherlich die bekanntesten davon. Aber wir arbeiteten gleichzeitig hart für unseren Erfolg. Die kleine Studentenbude, die wir uns damals gerade so leisten konnten, war während der Prüfungszeiten ein einziges Chaos. Ungewaschene Wäsche und schmutziges Geschirr reihten sich aneinander, weil uns einfach die Zeit fehlte, um das Problem zu beheben. Schlaf wurde zu einem kostbaren Gut.
Irgendwann in dieser Zeit die von Stress, Schlaflosigkeit und wilden Feiern dominiert wurde, hat sich meine Wahrnehmung von Kai zu ändern begonnen. Es war keine plötzliche Erkenntnis, vielmehr ein schleichender Übergang. Kleine Gesten, ein Lächeln, die Art wie er wild gestikulierte, wenn er mal wieder eine seiner lustigen Anekdoten zum Besten gab, wie er sich mit der Hand durch die schwarzen Haare fuhr, bis sie ihm völlig wirr vom Kopf abstanden und wie seine grauen Augen mich schalkhaft anfunkelten, wenn wir mal wieder etwas ausgeheckt hatten. Das Kribbeln im Bauch, das so klammheimlich aufgetaucht war, wollte einfach nicht verschwinden. Das Kai ein Mann war, stellte nicht einmal den größten Schock dar. Ich habe schon früh bemerkt, dass mein Interesse sich nicht ausschließlich auf Frauen beschränkt. Ich mache mir schlichtweg nicht viel aus Geschlechtern, wer mir sympathisch ist, mit dem verbringe ich meine Zeit. So einfach ist das.
Mit Kai war leider nichts einfach. Eine so beständige und innige Freundschaft, wie wir sie teilen, setzt man nicht einfach aufs Spiel, wenn man sich nicht hundertprozentig sicher ist, ob es auch klappen wird. Die Chancen dafür standen leider auch nicht besonders gut, denn Kai hatte immer nur Augen für Frauen gehabt. Also wartete ich. Auf was genau weiß ich auch heute nicht. Vielleicht darauf, dass sich meine wenig freundschaftlichen Gefühle für Kai ändern würden oder auf ein Zeichen, auch wenn es noch so klein war, dass er Interesse zeigte, an mir oder sonst irgendeinem Mann. Natürlich fragte Kai mich neugierig wie immer über meine Verabredungen aus. Es hatte ihn noch nie gestört, meinen Erzählungen zuzuhören, auch wenn sie von Männern handelten. Meist wich ich ihm aus, denn seit ich festgestellt hatte, dass ich Gefühle für Kai hatte, war natürlich nichts mehr mit anderen gelaufen. Und so verging die Zeit ...
Im Nachhinein bereue ich meine Untätigkeit, frage mich, ob ich irgendetwas hätte ändern können. Für ihn und für mich. Aber natürlich ist das Quatsch. Ich konnte nichts ändern, nicht verhindern, dass Kai und Julia sich in der Stadtbibliothek über den Weg liefen, sich sympathisch waren und zusammen einen Kaffee trinken gehen würden. Die Sache wurde schnell zu etwas Ernstem und Julia wurde Kais erste richtige Freundin. Na klar war ich eifersüchtig, aber ich konnte niemandem außer mir selbst die Schuld daran geben. Und Julia macht Kai glücklich, sogar ich muss zugeben, dass ich sie mag. Mit ihren langen blonden Haaren und dem frechen Grinsen, das sie stets zur Schau trägt, ist es auch kaum möglich, dies nicht zu tun.
Ich gebe zu, dass ich anfangs noch Hoffnung hatte, dass es mit den beiden nicht klappen würde, aber die begrub ich schnell wieder. Zu Beginn war es hart, die beiden zusammen zu sehen, zu sehen wie glücklich und verliebt sie waren. Ich wollte das auch und nicht mit irgendjemandem, sondern mit Kai. Aber ihm das zu gestehen wäre nicht fair gewesen, für keinen von uns und so sperrte ich jedes Gefühl in Bezug auf Kai, das nicht bloß freundschaftlicher Natur war, in eine dunkle Kiste tief in meinem Inneren.
Während Kai sich weiterhin durch sein Psychologie Studium quälte, machte ich meinen Master in Informatik. Kai, der mich nie etwas alleine machen lassen wollte, folgte mir ein halbes Jahr später mit seinem Master of Science, während Julia parallel ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester abschloss. Kai bekam einen Platz im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angeboten und von ihrem ersten gemeinsamen Gehalt legten sich die beiden dort eine kleine Wohnung zu. Ich selbst behielt unsere ehemalige Studentenbude, die ich mir mit meinem Gehalt als IT-Freiberuflicher nun leisten konnte. Umzuziehen, auch wenn mein Gehalt längst für eine größere Wohnung gereicht hätte, brachte ich anfangs nicht übers Herz, dafür steckten zu viele Erinnerungen in den Wänden der kleinen Wohnung.
***
Jetzt mit einunddreißig Jahren verläuft das Leben in geordneteren Bahnen. Bei der Arbeit habe ich vor einigen Monaten einen ziemlich großen und verdammt gut bezahlten Auftrag an Land gezogen. Die Security Firma IMA.sec hat mich nach diversen, wenn auch schon einige Zeit zurückliegenden Hackerangriffen beauftragt, ihnen ein komplett neues und ausgeklügeltes Sicherheitssystem zu installieren. Mein Fachgebiet ist es schon immer gewesen, Computer vor unbefugten Zugriffen zu schützen und seit ich im vergangenen Jahr das System der Landesbehörde Hessen gesichert hatte, kann ich mich vor Aufträgen kaum noch in Sicherheit bringen. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und darüber bin ich froh. Es gibt viele die der Annahme unterliegen, dass die Informatik ein trockener und langweiliger Beruf sei. Aber das stimmt so nicht. Allein das triumphierende Gefühl, das mich jedes Mal durchströmt, wenn ich einen besonders hinterhältigen Fehler in den Quellcodes entdecken und beheben kann, ist die mühselige und oft nervenaufreibende Suche allemal wert. Viele Arbeitgeber bauen sogar absichtlich Fehler in ihrem System ein, um den betreffenden IT-Fachmann zu testen, aber aus dieser Phase bin ich zum Glück schon lange heraus. Ich muss zugeben, ich bin äußerst pingelig, was meine Arbeit betrifft und wenn man sich erst einmal einen Namen in der Branche gemacht hat, kann eigentlich nichts mehr schief gehen.
Mein Job ist es derzeit die Firmenzentrale von IMA.sec mit der benötigten Hardware inklusive eines eigenen Servers auszustatten und die Software vor Ort zu konzipieren und aufzuspielen. Die Installation dürfte eigentlich nicht mehr als vier oder fünf Wochen in Anspruch nehmen. Am Montag habe ich angefangen und bin bisher recht gut vorangekommen. Die Mitarbeiter von IMA.sec sind alle sehr sympathisch und zuvorkommend und nicht wenige sehen mir während der Arbeit neugierig über die Schulter. Meine Erklärungsversuche werden jedoch sofort lachend im Keim erstickt, Informatik ist eben nicht jedermanns Fachgebiet. Ich habe keinerlei Anlass mich zu beklagen, die Arbeit macht Spaß, ist anspruchsvoll, aber durchaus realisierbar. Genau wie ich es mag. Trotzdem bin ich froh, dass nun endlich Freitag und somit Feierabend für diese Woche ist.
Kai ist direkt nach der Arbeit im Universitätsklinikum zu mir gefahren. Noch im Gehen streift er seine Umhängetasche ab, schleudert sie achtlos in die Ecke und wirft sich mit Schwung in meine graue Sofaecke. Die kurzen schwarzen Haare stehen ihm im Gegensatz zu sonst ein wenig wirr vom Kopf ab, ganz so, als wäre er sich mehrmals mit den Fingern hindurchgefahren. Auch ist Kai heute nicht so formell gekleidet wie sonst, stattdessen trägt er ein graues Shirt zu einer ausgeblichenen Bluejeans. Beides steht ihm gut.
„Ich ruf nicht an“, sagt er beiläufig. „Und ich nehme das gleiche wie immer. Salamipizza mit Extrakäse.“
„Hallo erstmal.“ Mein leicht sarkastischer Unterton scheint ihm nicht entgangen zu sein, aber natürlich kümmert es ihn nicht die Bohne. Stattdessen grinst er nur frech und legt seine Beine auf dem Couchtisch ab.
„Füße vom Tisch, Kai! Du weißt ich mag das nicht. Und warum muss eigentlich immer ich bestellen?“, murre ich genervt - zum Glück kennt Kai mich gut genug um zu wissen, dass ich nicht alles, was ich sage, auch so meine - schnappe mir das Telefon und quetsche mich neben ihn aufs Sofa. Von hier aus hat man einen guten Blick auf den restlichen Teil des Wohnzimmers und die angrenzende Küche. Alles ist sauber und ordentlich, wie ich es mag. Mein Blick schweift über den dicken, warmen Teppich, der vor der Couch liegt, bis hin zu dem in die Wand eingelassenen und mit Gas betriebenen Kaminfeuer. Mir gefällt meine Wohnung, die in gedämpften Farbtönen gehalten ist und bloß durch einige Farbtupfer in Form von bordeauxroten Couchkissen erhellt wird.
„Sei nicht so spießig, Connor“, sagt Kai vorwurfsvoll, nimmt aber gleichzeitig die Füße wieder vom Tisch. „Und du musst immer anrufen, weil ich den ganzen Tag mit Menschen zu tun habe und du eben nicht. Da brauche ich mal eine Pause zwischendurch.“
„Ich habe auch mit Menschen zu tun“, verteidige ich mich schnell und verschränke die Arme vor der Brust. Kai wirft mir ständig vor, zu wenig mit anderen Menschen zu tun zu haben, aber da ich die meiste Arbeit von meinem Computer aus verrichten kann, kann es durchaus vorkommen, dass ich mich mitunter für einige Tage in der Wohnung verschanze. Meist ist das nicht einmal beabsichtigt, ich bin bloß so vertieft in meine Arbeit, dass alles andere leider auf der Strecke bleibt. Zum Glück kommt das nur sehr selten vor und auch nur dann, wenn ich einen besonders kniffligen Fall am Wickel habe.
„Oho... Nur weil du seit Montag an diesem Sicherheits-Dings arbeitest." Sein Gesicht nimmt einen interessierten Ausdruck an. „Wie läuft's da eigentlich? Kommst du gut klar?“
„Ja die Arbeit macht richtig Spaß. Ist mal was anderes, als dieser ganze 0815 Kram, den ich sonst so programmieren muss.“
„Angeber“, hustet Kai in seine Hand, was ich mit einem bösen Seitenblick kommentiere. Kai lacht nur und knufft mich in die Seite. „Du weißt ich meine es nicht so und du darfst jetzt auch nicht böse auf mich sein. Die Pizza bestellt sich schließlich nicht von alleine.“
Natürlich bin ich letztendlich derjenige, der beim Pizzadienst anruft und die beiden Pizzen bestellt, während Kai faul in der Sofaecke lümmelt und, wie soll es auch anders sein, die Fernbedienung an sich gerissen hat.
„Die Pizza kommt in dreißig Minuten.“
„Gut. Ich bin nämlich am verhungern“, murmelt Kai abwesend und zappt sich solange durch das Fernsehprogramm, bis er schließlich den richtigen Sender gefunden hat.
„Hast du nicht gerade erst gegessen?“, hake ich beiläufig nach, ernte aber nur einen tadelnden Blick für meine unerhörte Frage. Kai ist ein absolutes Vielfraß. Schon immer gewesen und er wird es auch bleiben, da mache ich mir keine Illusionen. Schon früher hat er freudestrahlend meine Reste verschlungen und der einzige Grund warum er nicht wie eine Kugel durch die Gegend rollt, ist seine Größe. Mit einem Meter sechsundneunzig muss man schließlich ordentlich essen, um nicht vom Fleisch zu fallen, ist eine von Kais beliebtesten Ausreden, mit denen er versucht sein Konsumverhalten zu rechtfertigen. Dieser elende Fresssack!
„Erstens war das um vier Uhr und ist somit schon mehrere Stunden her. Zweitens bin ich auch ein bisschen größer als du, also muss ich auch mehr essen. Und drittens muss ich mich nicht vor jemandem rechtfertigen, der denkt, dass Dosensuppen erhitzen unter die Kategorie Kochen zählt.“ Oh, der ist fies!
Ich muss lachen. „Du kannst doch auch nicht kochen! Ohne Julia würdest du dich viel schlimmer ernähren, als ich es jemals könnte und das weißt du auch!“
Grinsend dreht Kai mir sein Gesicht zu und für einen Moment sind seine Grübchen sichtbar. Eine Strähne seines schwarzen Haares fällt ihm in die Stirn und es kribbelt mich in den Fingerspitzen diese Strähne zwischen die Finger zu nehmen und sie ihm wieder hinters Ohr zu streichen. Ein Stich des Bedauerns durchfährt mich, ganz einfach weil ich niemals den Mut aufbringen werde, solche ja eigentlich ganz alltäglichen Berührungen zuzulassen.
Kai antwortet und verhindert so, dass meine Gedanken noch weiter abschweifen. „Da hast du Recht. Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir zwei zusammen die Studienzeit unbeschadet überstanden haben.“
„Da magst du Recht haben“, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. Es ärgert mich, dass die Melancholie mich meist in Momenten erwischt, wenn Kai und ich uns einen schönen Abend machen wollen. Und sogar Kai, der eigentlich höchst unsensibel für die Gefühlswelt anderer Menschen ist, bemerkt es stets, wenn die Schwermut einmal mehr von mir Besitz ergreift. Er versucht dann immer schnell und unauffällig das Thema zu wechseln um mich abzulenken, dabei kann er ja nicht wissen, dass er der Grund für meine seltsamen Stimmungswechsel ist. So versucht er es auch jetzt, wenn auch nicht gerade erfolgreich.
„Sag mal, was ist eigentlich mit diesem Ole? Triffst du dich noch mit dem?“
Fast hätte ich gelacht. Das ist wohl ziemlich der offensichtlichste Versuch, mich abzulenken, den er je gebracht hat. Aber ich bin dankbar, dass er nicht nachbohrt, um zu erfahren was mit mir los ist, schlimm genug, dass ich seit fast zehn Jahren in meinen besten Freund verliebt bin. Außerdem funktioniert es und so bin ich die nächste halbe Stunde damit beschäftigt, einem empörten Kai zu erklären, warum ich mich auf kein zweites Date mit Ole eingelassen habe und muss mir anhören, dass ich allgemein viel zu wählerisch sei, was Beziehungen angehe. Die Klingel unterbricht schließlich Kais Redefluss und macht den Pizzaboten damit zu meinem Helden des Tages. Wie heißt noch gleich der Spruch? Not all heroes wear capes? Wie recht da doch jemand hat!
Nachdem ich den Pizzaboten bezahlt und mit einem ordentlichen Trinkgeld abgespeist habe, verbringen wir die nächste Zeit in gefräßigem Schweigen. Ich habe mir doch tatsächlich den Sofaplatz in der Ecke sichern können, von dem aus man den idealen Blick auf den großen Flachbildschirm an meiner Wand hat. Darmstadt spielt einfach grottig, die Stimmung hingegen ist großartig, denn Kai bringt mich mit seinem Gepöbel gegen den armen Aufsteigerverein mehr als nur einmal zum Lachen.
„Herrgott nochmal! Nichts drauf, außer Zahnbelag!“, schimpft er frustriert, als Darmstadt sein bereits drittes Gegentor kassiert. Das Wasser, das ich gerade getrunken habe, kommt leider niemals in meinem Magen an, sondern nimmt eine Abkürzung und kommt zusammen mit einem Prusten aus meiner Nase wieder heraus.
„Igitt Connor!“, lacht Kai, schnappt sich eine der mitgelieferten Servietten und hilft mir die Schweinerei aufzuwischen, die ich angerichtet habe. Dann grinst er breit. „Aber freut mich, dass ich so witzig bin, dass dir das Wasser schon aus der Nase wieder heraus kommt.“
Was für ein Idiot. Unfreiwillig erwidere ich sein Grinsen. „Träum weiter!“
Wir albern noch eine Weile herum, zappen uns durch die verschiedenen Sender, wobei einer schlimmer ist als der andere und bleiben schließlich bei einer Dokumentation über Cyber War hängen.
„Jetzt reicht's aber, Connor! Gib mir sofort die Fernbedienung wieder!“, beschwert sich Kai. Er scheint mit der Senderwahl nicht ganz einverstanden zu sein, wie ich schadenfroh feststelle und streckt die Hand auffordernd in meine Richtung.
Ich hebe eine Augenbraue. „Mit den Fettfingern lasse ich dich ganz sicher nicht an meine Fernbedienung.“ Ha! Dieser Punkt geht ganz eindeutig an mich, denn Kai weiß, wie heilig mir meine geliebte Technik ist!
Der Blick, den Kai mir daraufhin zuwirft, als er an mir vorbei geht und das Badezimmer ansteuert, verspricht Vergeltung und zaubert ein Lächeln in mein Gesicht. Erst das Klingeln eines Telefons unterbricht meinen Siegesrausch. Leicht verwirrt sehe ich mich um. Das ist ganz sicher nicht mein Klingelton und es dauert eine Weile, bis ich das Geräusch ausfindig gemacht habe, es erklingt direkt aus Kais Tasche.
„Kai dein Handy klingelt!“
„Ich bin auf Klo“, erklingt seine Stimme gedämpft durch die geschlossene Badezimmertür, woraufhin ich die Augen verdrehe.
„Ach nee, sag bloß?“, rufe ich sarkastisch zurück. „Was soll ich machen?"
„Wer ruft denn an?“ Gute Frage. Ich erkämpfe mir meinen Weg über den Couchtisch hinweg, bis hin zu Kais Tasche und wühle solange darin herum, bis ich das Handy gefunden habe. Marius steht auf dem Display.
„Julias Bruder ist dran. Brauchst du noch lange oder soll ich rangehen?“, frage ich lachend. Diese Situation ist einfach absurd. Kai sitzt auf dem Klo und wir beide brüllen uns durch die Tür hindurch an. Das ist fast wie in der guten alten Studienzeit.
„Geh schon mal ran, bin eh gleich fertig.“ Ich kann hören wie die Klospülung betätigt wird und kurz darauf ist das Wasserrauschen des Wasserhahns zu vernehmen.
„Hallo Marius, hier ist Connor.“ Auf der anderen Seite der Leitung ist hektisches Atmen zu hören.
„Connor? Wo ist Kai?“ Marius Stimme überschlägt sich fast, so heftig wie er nach Luft schnappt.
„Kai ist jeden Moment da. Was ist denn los? Ist alles in Ordnung?“, frage ich besorgt, denn Marius' Verhalten erscheint mir seltsam.
„Nein, nichts ist in Ordnung, ich muss sofort Kai sprechen und dann muss er herkommen." Seine Stimme zittert und eine dunkle Vorahnung beschleicht mich. Etwas Schreckliches muss passiert sein. Panisch durchquere ich die Wohnung und hämmere gegen die Tür des Badezimmers. „Kai, komm raus! Ich glaube, es ist was passiert!“
Mit einem Klicken öffnet sich die Tür und Kai steht vor mir. Nur am Rande registriere ich seinen erschrockenen Gesichtsausdruck und drücke ihm das Handy in die Hand. Mit angespannter Mimik nimmt er das Telefon ans Ohr. „Marius, was ist los?“
Ich kann nicht verstehen, was genau gesagt wird, aber Kais Gesichtsausdruck alleine jagt mir eine Höllenangst ein. Während des kurzen Telefonats wird Kai immer blasser und presst schließlich die Zähne so fest zusammen, dass seine Kieferknochen scharf hervortreten. Ruckartig stürmt er ins Wohnzimmer und schnappt sich seine am Boden liegende Tasche, das Telefon hält er dabei fest umklammert. „Ich bin sofort da.“
„Was ist passiert? Wo willst du hin?“ Meine Stimme klingt selbst in meinen eigenen Ohren fremd. Viel zu rau und zittrig. Als Kai mir nicht antwortet packe ich ihn an der Schulter und halte ihn fest. Ich kenne Kai gut genug und das er mir nicht antwortet, kann genau zwei Gründe haben. Entweder ist er zu durcheinander um mir zu erzählen, was los ist oder aber er will mich nicht dabei haben. Also stelle ich ihm nur eine einzige Frage und hoffe, dass nicht letzteres zutrifft. „Wo müssen wir hin?“
Bei meiner Frage hat Kai mir den Kopf zugewandt und ich meine einen Hauch von Dankbarkeit in seinen Augen schimmern zu sehen, bevor er sich wieder von mir abwendet und die Wohnungstür ansteuert. „Ins Albertinen-Krankenhaus.“
Ich habe das Gefühl, mein Herz setzt für einen Moment aus. „Warum?“, frage ich.
„Ich weiß es nicht. Marius wollte mir nicht sagen, was passiert ist.“ Bei dem letzten Satz bricht seine Stimme und mir wird ganz schlecht vor Angst. Schnell schnappe ich mir meine Autoschlüssel und laufe hinter Kai her, der bereits auf dem Weg runter ins Erdgeschoss ist. Beim Parkplatz angekommen, entriegele ich meinen Audi und verweise Kai auf den Beifahrerplatz, fahren lasse ich ihn in dieser Situation ganz sicher nicht.
Auf der Fahrt ins Krankenhaus gehen mir tausende Dinge durch den Kopf. Vor allem beunruhigt mich, dass Kai mir nicht einmal widersprochen hat und anstandslos auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Was ist nur passiert, dass Marius es Kai nicht am Telefon erzählen kann? Ob irgendetwas mit Julia ist? Denn warum sonst sollte Marius Kai anrufen und ins Krankenhaus beordern?
Die Lichter der Stadt ziehen nur so an mir vorbei und im Nachhinein kann ich mich kaum noch an den Weg erinnern, den ich genommen habe. Ich funktioniere wie auf Autopilot. Kai wiederrum hat während der gesamten Fahrt nicht ein einziges Wort gesagt, nur stumm aus dem Fenster gestarrt und die Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich mache mir Sorgen um ihn, will ihm Mut machen, ihm sagen das bestimmt alles in Ordnung sei und Marius am Telefon bloß überreagiert hat, aber die Worte wollen nicht über meine Lippen kommen, denn es wären bloß leere Floskeln und falsche Versprechungen. Denn Fakt ist, dass keiner von uns weiß, was genau passiert ist und was uns gleich erwarten wird.
Pure Erleichterung durchflutet mich, als wir das Albertinen-Krankenhaus endlich erreicht haben. Erleichterung darüber, endlich dieser bedrückenden Stille entflohen zu sein und sich Gewissheit über den Stand der Dinge verschaffen zu können. Ich habe Mühe mit Kai mitzuhalten, der aus dem Auto springt, sobald es zum Stillstand kommt und nun den Anmeldungsbereich ansteuert. Die ältere Dame, deren Namensschild sie als Betty ausweist, schickt uns in die dritte Etage, direkt auf die Intensivstation.
Von da an verschwimmt der restliche Abend in einem einzigen Wirrwarr aus Eindrücken, Geräuschen, Farben und Gefühlen. Ich sehe Kai auf Marius zustürmen, auf ihn einreden. Sehe vertraute Gesichter auf dem Flur stehen, Tanja und Jens, Julias Eltern, die uns mit rotgeränderten Augen vom Ende des Flurs aus entgegenblicken. Hilflos muss ich mit ansehen, wie Kai wütend auf Julias Bruder einredet, nicht wahr haben will, was dieser ihm soeben mitgeteilt hat. Undeutliche Wortfetzen dringen an mein Ohr - Auto. Kontrolle verloren. Unfall.
Ich sehe wie ein Kaleidoskop aus Gefühlen sich auf Kais Gesicht abspielt - Wut, Unglaube und letztendlich Schmerz. Sehe wie er aus lauter Verzweiflung die Hände in seinem Haar vergräbt, sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen lässt und langsam daran zu Boden sackt. Julia ...
Gott, ich habe geahnt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Aber jetzt hier zu stehen und mitzuerleben, dass das Schlimmste was hätte passieren können eingetroffen ist und dass ein Mensch, den man so sehr liebt, fortgeht und einfach für immer verschwindet, der Gedanke daran übersteigt meine Vorstellungskraft.
Es tut mir so weh, Kai mit diesem Schmerz alleine zu lassen, aber ich gehe nicht zu ihm, stattdessen bleibe ich am Eingang stehen wie der Unbeteiligte, der ich in Wahrheit bin. Alle diese Menschen auf diesem verfluchten Krankenhausflur, mit den schäbigen weißen Wänden und den längst verblichenen Bildern, die aus einer Zeit stammen, in der die Welt noch eine bessere gewesen ist, sie alle haben etwas gemeinsam. Einen gemeinsamen Schmerz, den gemeinsamen Verlust eines geliebten Menschen.
Ich habe nicht das Recht hier zu sein, denn obwohl ich Julia gemochte habe, habe ich ihr nie ganz verzeihen können, dass sie so plötzlich in Kais Leben geplatzt ist. Da ist immer dieses: "Was wäre wenn", in meinem Kopf herumgegeistert, wie ein lästiges Insekt, dass man nicht zu vertreiben vermag, egal wie sehr man es auch versucht. Dafür quält mich jetzt mein schlechtes Gewissen und das obwohl ich Julia nie etwas Böses gewünscht habe. Das hier, diese ganze Situation ist so verdammt abstrus. Solche Dinge geschehen in Büchern oder Filmen, aber doch nicht im wirklichen Leben, nicht denjenigen die man liebt.
Ein älterer, ganz in weiß gekleideter Herr mit dunklen Haaren und Brille betritt den Flur und steuert direkt auf Kai zu. Von meinem Standort am Ende des Flurs aus, kann ich nicht verstehen, was genau gesagt wird, aber Kais hilfloser Blick reicht aus, dass ich mich nun doch in Bewegung setze. Kai hat sich die letzten Minuten nicht vom Fleck gerührt, sitzt nur stumm und mit glasigen Augen auf dem hellen Krankenhausflur. Was will dieser Mann von Kai, besonders in dieser Situation? Es ist offensichtlich, dass er geschockt und völlig überfordert mit der ganzen Situation ist. Gerade eben erst hat er die wohl schlimmste Nachricht seines Lebens erhalten und die bloße Anwesenheit des Fremden scheint ihn nun vollkommen zu überfordern. Ich bin mir nicht sicher, ob der Arzt sich dessen nicht bewusst ist oder es schlichtweg ignoriert, aber auf jeden Fall animiert es mich dazu, nun doch direkt auf die beiden zuzusteuern.
Erst als der Arzt meine sich nähernden Schritte vernimmt, unterbricht er das bisher recht einseitige Gespräch und wendet sich mir zu. Fragend sieht er mich über den Rand seiner Brille hinweg an. „Entschuldigung, aber Sie sind?“
Die ausgestreckte Hand ignorierend stelle ich mich neben Kai und lege ihm meine Hand auf die Schulter. „Mein Name ist Connor Grüning“, stelle ich mich trotz der herrschenden Umstände höflich vor. Ein Blick auf das Namensschild informiert mich darüber, dass ich es mit Doktor Woschetzky, Leiter der Abteilung für Unfallchirurgie, zu tun habe.
Er nickt mir freundlich zu und schenkt mir ein schmerzlich verständnisvolles Lächeln, was mich sehr überrascht. „In welcher Beziehung stehen sie zu Herrn Bender?“
Auf seine Frage hin werfe ich einen Blick auf Kai, der nach wie vor unverändert an die Wand gelehnt, auf dem Boden sitzt, aber als keinerlei Reaktion erfolgt wende ich mich wieder dem Arzt zu. „Ich bin der beste Freund.“
Meine Aussage wird nickend zur Kenntnis genommen. „Dann gehe ich Recht in der Annahme, dass ich vor Ihnen frei sprechen kann?“ Ein Blick zu Kai. „Herr Bender?“
Ich habe nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet und mein Gegenüber, so wie es aussieht auch nicht, aber dafür scheint ihm der fehlende Protest Antwort genug zu sein. „In Ordnung, Herr ... Grüning?“
Ich nicke bestätigend, damit er fortfährt.
„Ich werde nun ganz offen mit Ihnen sprechen. Der Zustand der Patientin war bereits irreversibel, als sie bei uns eingeliefert wurde. Frau Neumann hatte infolge des Unfalls ein Polytrauma erlitten, das bedeutet, dass mehrere Regionen des Körpers von schweren Frakturen im Bereich der unteren Gliedmaßen, der Rippen und des Schädels betroffen waren. Eine der sternalen Rippen hatte während des Aufpralls den rechten Lungenflügel durchbohrt. Die schwerwiegendste Verletzung lag jedoch im unteren Bereich der Hauptschlagader, der Bauchaorta vor. Durch die Wucht des Aufpralls auf den Airbag ist in einem bereits vorhandenen Aneurysma ein Riss entstanden, welcher die innere Blutung zur Folge hatte ...“
Geschockt lausche ich den Worten des Arztes und versuche zu erfassen, was mir hier gerade mitgeteilt wird. Eines ist mir sofort aufgefallen, die Tatsache, dass er in der Vergangenheitsform von Julia spricht. Wie die Motte vom Licht wird mein Verstand von dieser Tatsache angezogen, kreist unablässig darum herum und stürzt letztendlich taumelnd zu Boden. Ich bin gut genug informiert um zu wissen, was ein Aneurysma ist und welche lebensgefährlichen Folgen ein Riss an eben dieser Stelle der Arterie hat. Innere Blutung ... Zwei Wörter. Nur zwei harmlose Wörter, die für einen Menschen jedoch die Welt bedeuten können. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken daran, welche Angst Julia vor und auch nach dem Aufprall verspürt haben muss, welche Schmerzen sie erlitten hat. Ist sie bei Bewusstsein gewesen? Wem hatten ihre letzten Gedanken gegolten, kurz bevor die erlösende Bewusstlosigkeit sie in die Tiefe gezogen hat?
Innerlich zu verbluten ist, besonders wenn eine der Hauptschlagadern betroffen ist, eine Sache von wenigen Minuten, wie ich aufgeklärt werde. Ein junger Mann, der zufällig Zeuge der Kollision des Autos mit dem Pfeiler der Autobahnbrücke geworden ist, hat sofort den Notruf verständigt und versucht erste Hilfe zu leisten. Der Krankenwagen ist bereits nach wenigen Minuten eingetroffen und hat die Erstversorgung auf dem Weg ins Krankenhaus geleistet. Im Durchschnitt braucht ein Krankenwagen sechs Minuten, um die Unfallstelle zu erreichen. Alles muss so schnell wie möglich von Statten gehen, Fixierung, Abtransport und die sechs Minuten Fahrt zurück in das nächstgelegene Krankenhaus. Im Idealfall ist Julia bereits in weniger als einer viertel Stunde nach dem Unfall im Krankenhaus eingetroffen. Fünfzehn Minuten. Nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte unserer Erde, aber eine Ewigkeit zu viel für einen Menschen, dessen Lebenszeit sich dem Ende entgegen neigt, dessen Herz dabei ist, Liter um Liter des eigenen Blutes durch den Riss der Arterie in den Bauchraum zu pumpen.
Der Arzt fährt fort, über die Umstände der aktuellen Situation aufzuklären, wobei ich mir nicht sicher bin, ob Kai auch nur irgendeines seiner Wörter vernommen hat. Stumm ins Leere starrend sitzt er da, weint nicht, flucht nicht, tut einfach gar nichts.
Eine Seelsorgerin hat während des Gespräches mit Doktor Woschetzky die Betreuung von Julias Eltern übernommen, die so bitterlich weinen, ihren Schmerz so offen zeigen, dass mir das Herz blutet. Fast wünsche ich mir, dass Kai sich ihnen anschließen würde, denn alles Weinen und Schreien ist besser als diese teilnahmslose Stille, die ihn umgibt und die mir wiederrum eine Höllenangst einjagt.
„Das ist der Schock“, werde ich von meinem Gegenüber aus den Gedanken gerissen. „Er verhindert jegliches Denken, engt das Bewusstsein ein und die Betroffenen ziehen sich in sich selbst zurück. Es ist wichtig, dass Herr Bender die psychologische Betreuung eines Seelsorgers oder Therapeuten erfährt.“
Ich nicke mechanisch. Der erste Eindruck hat getäuscht, ich muss meine anfängliche Abneigung, den Doktor betreffend revidieren, denn wie es scheint ist er doch ein kompetenter Arzt. Gerade in diesem Moment geht er neben Kai in die Hocke und beginnt mit ihm zu reden, spricht beruhigend, wenn auch sachlich auf ihn ein, so wie man es mit einem wilden, unberechenbaren Tier tun würde, das bereit ist, jederzeit zuzuschlagen. Ich muss ihm unwillkürlich Respekt zollen, als ich sehe, dass Kai auf ihn eingeht, sogar eine Frage, wenn auch schleppend, beantwortet. Sicher ist dies nicht das erste Mal, dass ein Patient es nicht schafft, den Ärzten und Krankenschwestern unter den Händen wegstirbt. Sie wissen, wie sie zu reagieren haben, wie sie es den Angehörigen schonend beizubringen haben und welches die richtigen Worte dafür sind. Das ist ihr Job, ihr tägliches Brot. Aber macht es das einfacher? Den Tod eines Menschen weniger tragisch? - Ich glaube es nicht.
Auf dem Flur lastet eine bedrückende Stille, die nur durch das leise und beruhigende Flüstern der Seelsorgerin und des Arztes zu meiner Rechten unterbrochen wird. Mein Blick wandert zu Marius, der etwas abseits von seinen Eltern auf einer der zahlreichen Bänke sitzt. Julias Eltern sind im Gegensatz zu ihrem Sohn sehr gläubig und das Gespräch mit der Seelsorgerin gibt ihnen offensichtlich Kraft. Mit einem kurzen Blick zur Seite vergewissere ich mich, dass der Doktor noch in sein leises Gespräch mit Kai vertieft ist und ich ihn somit alleine lassen kann, und mache mich auf den Weg zu Marius.
„Hey“, murmele ich leise und setze mich neben ihn. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass der sonst so starke Marius sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen wischt, bevor er sich zu mir umdreht.
Ein kurzes Räuspern. „Hey.“
Unangenehm wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was ich jetzt sagen soll, wie ich mich verhalten soll und warum ich mich überhaupt zu ihm gesetzt habe. Was sagt man zu jemandem, dessen Leben einem Scherbenhaufen gleicht?
„Es tut mir leid.“ Die Worte sind mir entschlüpft, bevor ich es verhindern kann und ich hasse mich dafür, so unsensibel zu sein. Sie sind dumm, diese Wörter. Viel zu schwach und banal für das, was er gerade durchmachen muss, dafür, dass gerade seine kleine Schwester gestorben ist.
Er nickt nur und lässt anschließend den Blick durch den Raum schweifen, zu seinen Eltern, zu Kai. Das Flackern und Summen der Leuchtstoffröhren über uns erscheint mir ohrenbetäubend laut und der Geruch nach Desinfektionsmittel verursacht mir Übelkeit. Ich habe Krankenhäuser noch nie gemocht, aber von nun an werde ich wohl nie wieder den Geruch von Desinfektionsmittel vernehmen können, ohne an das hier zu denken. An Tränen, Trauer und Tod.
„Weißt du ...“ Marius' Stimme reißt mich aus meinen tristen Gedanken. "Als ich Kai angerufen habe, da war sie noch am Leben.“ Er wendet mir den Kopf zu und sieht mich direkt an. Die hellblonden Haare, die Julias so sehr ähneln, wirkten matt und stumpf. Tiefe Schatten umgeben seine sonst so fröhlich strahlenden Augen, der Schmerz und die Trauer, spiegeln sich dort wider und verstärken meine Übelkeit. „Sonst hätte ich es ihm doch gesagt“, fährt er hastig fort. „Ich wollte ihn bloß nicht beunruhigen, für den Fall, dass es schlimmer aussieht als es ist. Die Ärzte haben doch zuerst nur etwas von Frakturen gesagt!“
Ich entgegne nichts, höre nur stumm zu und lasse zu, dass er sich die Last von der Seele reden kann.
„Und dann waren die Hände der Krankenschwester, die aus dem Schockraum gerannt kam, plötzlich voller Blut und alles war in heller Aufregung. Und niemand, wirklich niemand wollte uns sagen, was denn nun los sei ...!“ Seine ineinander verschränkten Hände beben und ich kann nicht anders, ich lege meine Hand auf seine und drücke zu. Ein schwacher Trost, aber ein kleines Zeichen der Anteilnahme, welches er mit einem kaum merklichen Druck erwidert.
Ein hörbares Schlucken neben mir, dann ein zittriger Atemzug. „Sie konnten nichts für Julia tun, von Anfang an nicht. Nicht bei einer beschädigten Hauptschlagader, sie wäre so oder so verblutet, hat der Arzt gesagt.“
Marius' Stimme verklingt und wir bleiben auf dieser Bank sitzen, beobachten stumm das Treiben um uns herum und ich lasse meine Hand auf seiner ruhen. Worte sind nicht meine Sprache, aber selbst wenn sie es wären, gäbe es keine passenden. Nicht in diesem Fall, denn selbst mit den stärksten Worten kann ich nicht zum Ausdruck bringen, was ich fühle. Nichts was ich sagen werde, wird die Situation für Marius erträglicher, weniger schrecklich machen. Also lasse ich es bleiben.
„Ich mache mir Sorgen um Kai.“ Ich kann Marius' Blick regelrecht auf mir fühlen, spüre, wie er mich eindringlich mustert und dann, als ich mich nicht rühre, mit dem Kopf in Kais Richtung deutet. Ich weiß, was er meint. Diese Stille um ihn herum, das passt einfach nicht. Kai ist fröhlich, laut und mitunter auch ein wenig aufbrausend, aber nicht so, niemals so ... passiv.
Ich kann kein besseres Wort für Kais Verhalten finden, diese Teilnahmslosigkeit, die, wie es scheint nicht nur mir Bauchschmerzen bereitet. Das ist nicht der Kai, der in der achten Klasse in einer Art Trotzaktion, auf den mir verordneten Hausarrest, durch mein Fenster zu mir ins Zimmer geklettert ist, gestützt von nicht viel mehr als einem alten und verrosteten Rosengitter, das nur zufällig bis kurz unter mein Fenster reichte. Oder der Kai, der in Klasse zehn Anna Maria aus dem Jahrgang über uns eine Portion Spaghetti Bolognese direkt in den Ausschnitt gekippt hat, bloß weil diese kurze Zeit vorher darüber gelästert hatte, dass sie mich und Björn, den schnuckeligen Typen aus der Parallelklasse, beim rumknutschen erwischt hatte.
Diesen Kai und den Kai, der uns gegenüber unverändert auf dem Boden, an die Wand gelehnt sitzt, trennen Welten.
„Ich weiß“, gebe ich widerwillig zu und stoße ein tiefes Seufzen aus. „Ich mir auch."
Dieses Eingeständnis kommt mir nur schwer über die Lippen. Ich, der Kai sonst vor allem und jedem in Schutz nehme und sein Verhalten vor anderen rechtfertige. Ich, der immer der Meinung gewesen ist, dass Kai der stärkste Mensch sei, dem ich je begegnet bin, muss mir nun eingestehen, dass Kai einer Situation nicht gewachsen ist, dass er völlig neben sich steht. Verständlicherweise.
Neben mir rückt Marius unruhig auf der Bank umher, macht Anstalten etwas zu sagen, ringt aber offensichtlich noch mit sich. Da weiß ich sofort, dass das Gesagte Kai betreffen wird, denn anderenfalls hätte er keine Hemmungen, sich mir mitzuteilen. Langsam wende ich mich von Kai ab und werfe Marius einen auffordernden Blick zu. Na los! Jetzt sag schon, was du zu sagen hast!
Er windet sich unbehaglich unter meinem Blick, räuspert sich, bevor er spricht. „Ich gehe mit zu meinen Eltern. Ich will nicht, dass sie heute Nacht alleine sind. Nicht nach dem, was passiert ist.“ Seine Augen füllen sich mit Tränen und ich fühle mich schrecklich. Warum kann ich das nicht auch? Ein oder zwei Tränen, mehr braucht es doch nicht, um meine Trauer zu zeigen, zu zeigen, dass mir Julias Tod auch wehtut, aber meine brennenden Augen bleiben trocken. Und ich komme mir vor wie der letzte Arsch.
Marius scheint von meinem inneren Konflikt nichts mitbekommen zu haben, denn er wirft mir einen seltsamen Blick zu. Irgendwie schuldbewusst, was ich nicht verstehe. Es gibt schließlich nichts, wofür er sich schuldig fühlen muss. Es ist doch selbstverständlich, dass er seinen Eltern beistehen will und in seiner Trauer nicht alleine sein will. Seine nächste Aussage liefert mir aber letztendlich den Grund: „Du weißt doch, dass meine Eltern und Kai sich nie besonders gut verstanden haben. Ich glaube nicht, dass es gut wäre wenn er, ... nun ja ... mit zu meinen Eltern nach Hause kommen würde.“
Er verzieht das Gesicht, wird sich wohl ebenso wie ich, seiner harten Worte bewusst. „Gott das klingt falsch. Ich meine damit nur, dass es keine gute Idee ist, wenn Kai heute alleine ist, aber ...“
„Er soll auch nicht mit zu euch kommen“, vervollständige ich seinen Satz. Marius' Kopf ruckt bei meinen Worten nach oben und er sieht mich stirnrunzelnd an.
„Verdammt, das klingt einfach nicht richtig.“ Ärgerlich beißt er sich auf die Lippe. „Ich will nicht grausam klingen, aber ich glaube nicht, dass ein trauernder Kai und meine trauernden Eltern zusammen in einem Raum sein sollten. Verstehst du, was ich meine?“
Leider tue ich das nur zu gut. Kai ist nicht immer einfach, ist es noch nie gewesen. Dafür ist er zu impulsiv, schert sich einen Dreck um die Meinung anderer Leute. Ein Seitenblick auf Kai lässt mich zwar daran zweifeln, dass dieser Interesse daran hat, einen Streit vom Zaun zu brechen, aber ich widerspreche nicht. Ich denke gar nicht daran, Kai zu Julias' Eltern schicken zu wollen. Das ist wohl mit Abstand das Letzte, was er wollen würde. Julias' Eltern sind schon immer schwierig gewesen, haben nie ein gutes Haar an Kai gelassen, ihn ständig kritisiert, besonders seitdem er ihnen unter die Nase gerieben hat, dass er Atheist ist. Dieses ganze Drama ist nun etwas, was er zurzeit überhaupt nicht gebrauchen kann.
„Ja, ich verstehe dich durchaus, da brauchst du dir keine Gedanken machen. Deswegen habe ich auch vor Kai mit zu mir zu nehmen, sofern er das zulässt. Das war doch deine Sorge, oder?“ Er nickt mir zu, wirkt erleichtert und ich finde es gut, dass er sich um Kai sorgt. Dazu kommt, dass ich um ehrlich zu sein sogar froh bin, dass ich Kai mit zu mir nehmen kann und so ein Auge auf ihn haben werde. Ich kenne ihn nun schon so lange, und auch wenn er sich zurzeit untypisch verhält, so weiß ich doch, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Kai liebt so sehr, wie er hasst - mit ganzem Herzen. Er wird ebenso stark trauern, wenn der Schock erst einmal nachgelassen hat und als sein bester Freund ist es meine Pflicht, bei ihm zu sein und auch diese, unsere bisher schwerste Krise, gemeinsam mit ihm durchzustehen.
Mit einem leisen Klicken schließt sich die Wohnungstür hinter Kai und mir. Noch immer fällt es mir schwer zu glauben, dass dies hier die Realität sein soll. Eine Realität in der Julia tot ist und Kai ein Schatten seiner selbst. Wie ein Zombie ist er mir aus dem Krankenhaus gefolgt, nachdem Doktor Woschetzky uns das Okay gegeben hat. Das Gespräch mit Julias Eltern und dem zuständigen Arzt habe ich geführt, ein endlos langer Dialog der sich um Formalitäten wie den Abschied von der Toten und die Wahl des Bestattungsunternehmens drehte. Wie es bei einem Todesfall üblich ist, wird das zuständige Bestattungsunternehmen Julia oder nunmehr ihren Körper vom Krankenhaus abholen und ins Bestattungsinstitut bringen. Dort wird sie zurecht gemacht und in den offenen Sarg gelegt. Die Kleiderwahl hätte eigentlich Kai treffen sollen, aber weil er sich noch immer in dieser seltsamen Schockstarre befunden hat, sich weder gerührt, noch ein Wort gesagt hat, werden dies nun Julias Eltern und Marius erledigen müssen.
Ich glaube sie waren alle geschockt von Kais Verhalten, sogar Tanja und Jens haben echte Sorge um ihn gezeigt und ich habe ihnen versprechen müssen, mich in den nächsten drei Tagen zu melden. Drei Tage, weil das die Zeit ist, in der die Angehörigen sich von der Toten verabschieden können und uns ist allen klar, dass Kai diesen Abschied brauchen wird.
Langsam tauche ich auf aus meinen Gedanken, hebe den Blick und nehme erst jetzt meine Umgebung so richtig wahr. Auf dem Wohnzimmertisch stehen noch immer unsere Pizzakartons und der Fernseher, den ich vor dem Telefonat auf stumm gestellt habe, taucht den Raum mit seinem Flimmern in ein unwirkliches Blau. Alles wirkt so surreal, aber gleichzeitig auch so normal, so verdammt alltäglich - die graue Couchecke, unsere noch halb vollen Gläser und Kais Tasche, die noch immer vor der Couch steht. Ganz so, als wären wir bloß für einen kurzen Augenblick weg gewesen und würden nun, wo wir wieder da sind, da weitermachen, wo wir stehen geblieben sind. Aber das können wir nicht, nicht nach allem, was passiert ist.
„Möchtest du etwas essen?“ Keine Reaktion. „Ich könnte uns etwas kochen.“ Wieder nichts.
Ich weiß auch nicht, warum ich überhaupt eine Reaktion von Kai erwartet habe. Vielleicht hatte ich die Hoffnung, dass wenn ich mich ganz normal verhalte, er das auch tun wird, aber das ist, wie man sieht, leider reines Wunschdenken meinerseits. Verflucht, diese ganze Situation beschert mir Kopfschmerzen!
Ein Blick zu Kai holt mich in die Wirklichkeit zurück und bereitet mir ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er sieht schlimm aus, richtig schlimm! Dunkle Ringe unter den Augen, die von der fahlen Blässe seiner Haut noch verstärkt werden, rissige Lippen und das schlimmste sind seine Augen. Das sonst so stürmische Gewittergrau ist einem matten Bleigrau gewichen. Es wird Zeit, dass ich etwas unternehme. Ich bin doch sein bester Freund, verdammt! Irgendwie muss ich ihm doch helfen können ...
Vorsichtig gehe ich zu ihm und greife nach seinem Arm. „Hey“, murmele ich leise. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ Ich stehe direkt vor ihm, jetzt muss er mich einfach wahrnehmen und tatsächlich, die erste richtige Reaktion seitdem wir wieder zurück sind, seitdem wir von Julias Unfall erfahren haben. Ein leichtes, kaum merkliches Kopfschütteln.
„Willst du darüber reden? Wir können ...“
Kai lässt mich nicht ausreden. „Nein.“ Seine Stimme klingt seltsam, schwach und irgendwie abwesend. Schrecklich. Ihn so zu sehen, zu erleben, tut mir an einem Ort weh, von dem ich nicht einmal wusste, dass er schmerzen kann.
„In Ordnung. Wenn irgendetwas ist, wenn du irgendetwas brauchst. Sag mir einfach Bescheid, ich ...“
„Connor, bitte!“ Noch immer erhebt er nicht die Stimme, ganz leise, fast geflüstert und gepresst klingend verlassen die Worte seinen Mund. Er sieht so verloren aus.
„Aber ...“ Ich will die Hand austrecken, ihn berühren, aber er lässt mich nicht.
„Connor, lass es gut sein. Ich möchte nicht darüber reden, ich möchte überhaupt nicht reden und auch sonst nichts. Lass mich bitte einfach in Ruhe.“ Er schiebt sich an mir vorbei und wendet mir den Rücken zu, die Hände ineinander verschränkt, der Körper starr. Er will nicht darüber reden und das verstehe ich sogar, aber das heißt nicht, dass es mir gefallen muss. Reden ist ein Teil der Verarbeitung eines Erlebnisses, ist ein essenzieller Schritt davon, aber es ist wohl zu früh, das Ganze noch zu frisch.
„Okay, tut mir leid. Ich hole dir Schlafsachen für die Couch.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, die sowieso niemals kommen wird, gehe ich ins Schlafzimmer und hole Kais Bettzeug, das er immer benutzt, wenn er hier schläft. Bevor ich ins Wohnzimmer gehe, schließe ich die Augen und atme einmal tief durch um mich zu beruhigen. Im Türrahmen angekommen bleibe ich wie angewurzelt stehen, habe das Gefühl, mein Herz setzt für einen Schlag aus, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit weiterpumpt. Kai. Wo ist Kai? Ich kann ihn nirgendwo entdecken! Suchend irrt mein Blick durch den Raum. Wo ist er hin?
Erleichterung durchflutet mich, als ich seinen dunklen Haarschopf hinter dem Rand der Sofalehne ausmachen kann und plötzlich komme ich mir dumm vor. Warum bin ich derart in Panik geraten? Habe ich tatsächlich geglaubt, dass er sich etwas antun will? Würde er? Ein kalter Schauer überläuft meinen Körper und ich schiebe den Gedanken schleunigst fort von mir. Wie ferngesteuert tragen mich meine Füße zu ihm und ich lege die Decke, das Kissen und die Bettbezüge neben ihm auf der Couch ab. Wie gerne würde ich ihn jetzt in den Arm nehmen und ihm ein paar sinnlose Floskeln ins Ohr flüstern, nur damit es ihm besser geht. Aber seine starre Haltung hält mich davon ab und weil ich weiß, dass er meine Nähe jetzt nicht ertragen kann.
Und ich ertrage diese Situation, die Stille und das Schweigen nicht, flüchte mich aus dem Wohnzimmer in die Küche und koche eine Kanne Tee auf. Einfach um etwas zu tun zu haben, meine Hände zu beschäftigen und gleichzeitig meinen Kopf frei zu bekommen. Meine Flucht ist allerdings nicht sonderlich durchdacht gewesen, nur die etwa brusthohe Theke markiert die Grenze zwischen Wohn- und Essbereich, weswegen ich nun wieder ungehinderte Sicht auf Kais reglose Gestalt habe. Entschlossen drehe ich ihm den Rücken zu und lehne mich mit der Hüfte gegen die Küchenzeile, die sich links von der großen Fensterfront befindet. Trotz der Dunkelheit draußen kann ich den wolkenverhangenen Himmel durch das Küchenfenster sehen. Kahle Bäume recken ihre dunklen Äste knochigen Fingern gleich dem Himmel entgegen und der Wind wirbelt ihr längst vertrocknetes Herbstlaub durch die Luft, fort von ihnen. Schwermut erfasst mich bei diesem Anblick. Was für ein tristes Bild! Und doch so passend zu dieser vertrackten Situation.
Das helle Badezimmerlicht blendet mich, brennt in meinen Augen. Der Mann, der mir aus dem Spiegel entgegenblickt, ist mir fremd. Die gleiche blasse und ungesunde Hautfarbe, die mich bei Kai so sehr erschreckt hat, leuchtet mir entgegen. Die blonden Haare wirken stumpf, die Augen rotgerändert und die Pupillen so stark erweitert, dass sie beinahe sämtliches grün verschlucken. Am liebsten würde ich ins Bett gehen, mir die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis alles wieder gut ist, bis alle Probleme sich wie durch ein Wunder in Luft aufgelöst haben. Aber so funktioniert Erwachsensein nicht und ich weiß, dass ich die Dinge in die Hand nehmen muss, weil Kai es zurzeit nicht kann. Bei dem Gedanken daran, was ich noch zu erledigen habe, würde ich meinen Kopf am liebsten aufs Waschbecken schlagen. Aber das kann ich mir schlichtweg nicht leisten.
Im Schlafzimmer angekommen rufe ich als allererstes im Universitätsklinikum-Eppendorf an und berichte Kais Arbeitgeber von den Vorfällen. Ehrliche Betroffenheit und tiefes Mitgefühl schlagen mir entgegen und Dr. Sablanski informiert mich über Kais Freistellung, auf die er bei Todesfällen in der Familie einen Anspruch hat. Der bezahlte Sonderurlaub beläuft sich auf einen bis zwei Tage, kann aber auf zwei Wochen verlängert werden.
Nachdem das Gespräch beendet ist, bin ich unglaublich erleichtert, weil ich Kai eine Schonfrist von immerhin zwei Wochen erkaufen konnte. Was nach diesen zwei Wochen ist und wie es Kai dann geht, werden wir sehen müssen.
Als nächstes rufe ich im Sekretariat meines aktuellen Arbeitgebers an und informiere auch dort das zuständige Personal über die Vorkommnisse. Ich weiß, dass ich nicht das Recht auf Freistellung habe, schließlich bin ich kein direkter Angehöriger von Julia, aber ich möchte Kai ungern alleine lassen, weder in seiner noch in meiner Wohnung. Ich werde weitergeleitet an Sabrina Winter, die Assistentin der Geschäftsführung. Sabrina habe ich im Laufe der Woche kennengelernt, eine ungemein sympathische und bodenständige Frau. Ich bitte sie darum, die Arbeit, die ich von meinem Laptop aus verrichten kann, die nächsten Tage von Zuhause aus erledigen zu dürfen und glücklicherweise stimmt sie zu. Wir einigen uns auf ein Treffen am Mittwoch, zur Besprechung der Ergebnisse und des weiteren Verlaufs unserer Zusammenarbeit.
Jetzt wo das Wichtigste geklärt ist, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Völlig geschlaucht lasse ich mich rückwärts auf das große King Size Bett sinken, das ich mir letztes Jahr zur Feier meines ersten großen Auftrages gekauft habe. Eigentlich habe ich keinen Hang zum Verschwenderischen oder Extravaganten, aber dieses Bett ist ein absoluter Traum. Es hat eine breite Liegefläche, etwa kniehoch und das Gestell ist aus Metall mit kunstvollen Verzierungen an Kopf- und Fußende in orientalischem Stil. Mit der schwarzen Bettwäsche passt es zum Rest meines Schlafzimmers, das im Gegensatz zu der übrigen Wohnung ebenfalls dunkel möbliert ist.
Ein Blick zum ebenfalls schwarzen Nachttisch, die Uhr zeigt 22:46 Uhr. Zu spät um meinen Eltern oder meinen zwei Schwestern von den Vorkommnissen des Tages zu berichten, das werde ich morgen erledigen müssen. Besonders meine Schwestern Klara und Marie werden nicht erfreut darüber sein, so spät erst von den Geschehnissen zu erfahren, sie bilden sich etwas auf unser gutes Verhältnis ein und wären sicher gerne hergekommen. Ich hätte mich sogar darüber gefreut, aber ich bin mir sicher, dass Kai da anderer Meinung gewesen wäre. Er war so schon angespannt genug und gehemmt von meiner Anwesenheit und ich bin sein bester Freund! Wie wäre das dann wohl erst bei meinen Schwestern gewesen?
Ich bin so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich erst jetzt, wo ich allmählich zur Ruhe komme, die Stille in der Wohnung registriere. Ob Kai schon schläft?
So leise wie möglich öffne ich die Schlafzimmertür und spähe ins Wohnzimmer. Alles ist soweit dunkel, der Raum wird nur schwach vom Licht der Straßenlaterne erhellt, die durch das Küchenfenster scheint. Auf der Couch kann ich die Umrisse von Kais liegender Gestalt ausmachen, den Tee, den ich ihm vorhin auf den Wohnzimmertisch gestellt habe, hat er nicht angerührt. Auch die Kissen und Polster hat er nicht vom Sofa genommen, um sich mehr Platz zum Schlafen zu machen. Stattdessen liegt er ganz vorne am Rand des Sofas, mit dem Rücken zur Lehne, die Decke bis zur Hüfte über den Körper gezogen. Das kann unmöglich bequem sein!
Als ich Anstalten mache die Kissen vom Sofa zu räumen, unterbricht mich Kai. „Lass nur.“
Beim Klang seiner Stimme zucke ich erschrocken zusammen, ich habe nicht damit gerechnet, dass er noch wach ist. Er sieht mich an, das weiß ich obwohl es dunkel ist. Das schwache Leuchten der Straßenlaterne spiegelt sich in seinen dunklen Augen wider und lässt sie wirken wie funkelnden Onyx. „Ich habe nicht geschlafen“, sagt er ruhig. „Falls du das dachtest.“
Ruhig. Warum ist er so gottverdammt ruhig? Seine Miene gibt nichts preis, keine Regung, nicht das geringste Gefühl. Was stimmt denn nicht mit ihm? Dieses seltsame Verhalten auf die Nachricht von Julias Tod vorhin habe ich schlichtweg dem Schock zugesprochen, aber das hier? Stunden später? Sollte er nicht weinen? Julias Verlust betrauern oder wenigstens irgendein Gefühl zeigen?
Plötzlich ist mir alles zu viel! Es ist als bricht ein Damm in mir, die Ereignisse des Tages, Julias Tod, Kais Verhalten und die ganzen Folgen und Probleme, die all das mit sich bringt, stürzen auf mich ein. Mir ist schlecht, Hitze breitet sich in mir aus, verstärkt die Übelkeit. Meine Beine können mich kaum tragen, als ich aufspringe und in Richtung Badezimmer stürze. Gerade noch rechtzeitig erreiche ich die Toilette, falle auf die Knie und würge. Schweißperlen sammeln sich an meiner Stirn, der Geschmack von bitterer Galle erfüllt meinen Mund. Elendig, mir ist so unglaublich elend zumute!
Ich weiß nicht wie lange ich auf dem Boden hocke und mir die Seele aus dem Leib kotze, aber als das Würgen verebbt, weil sich schlichtweg nichts mehr in meinem Magen befindet, dass es wert ist, ausgekotzt zu werden, fühle ich mich erstaunlicherweise irgendwie ... besser. Leichter. Paradox, nicht wahr?
Erschöpft betätige ich die Spülung und fahre mir mit dem Handrücken über den Mund, will den Geschmack des Erbrochenen so schnell wie möglich loswerden. Sich zu übergeben, dieses Gefühl habe ich schon immer gehasst. Dieser Moment wenn man die Kontrolle über seinen Körper verliert, seiner Gnade ausgesetzt ist und nur darauf warten kann, dass es irgendwann aufhört.
Ich bin selten krank, eigentlich so gut wie nie. Und das bin ich auch jetzt nicht, da bin ich mir sicher. Vielleicht brauchte ich das, dieses Loslassen von all dem Ballast der letzten Stunden. Wer weiß das schon?
Den Blick in den Spiegel erspare ich mir dieses Mal, als ich nach Zahnbürste und Zahnpasta greife und anfange mir die Zähne zu putzen. Nach einigen Minuten, einer ausgiebigen heißen Dusche, blitzsauberen Zähnen und blutig geschrubbtem Zahnfleisch fühle ich mich endlich wieder wie ein Mensch.
Zurück im Wohnzimmer ist alles wie vorher, nichts hat sich geändert. Kai liegt immer noch seitlich auf der Couch, vollkommen reglos, aber ich weiß, dass er nicht schläft. Meine kleine Showeinlage von eben kann er unmöglich überhört haben, warum sagt er also nichts? Interessiert es ihn denn überhaupt nicht?
Plötzlich bin ich unheimlich wütend! Nicht nur auf Kai, sondern auf alles und jeden, auf die ganze verdammte Welt. Was soll das alles hier? Womit haben wir das verdient? Göttliche Fügung? So ein Quatsch, an so etwas glaube ich nicht. Schicksal? Nein bestimmt nicht, da muss ich bloß an diesen Roman "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" denken. Geht es da nicht um ein todkrankes Mädchen und seinen einbeinigen krebskranken Freund? Na super, damit muss ich mich ja nun nicht auch noch beschäftigen.
Rastlos tigere ich durch die Wohnung, überprüfe, ob die Eingangstür abgeschlossen ist, sehe nach der Post, nichts Neues dabei. Egal. Hauptsache weg von Kai, bevor ich etwas tue, was ich später bereuen werde. Ich merke selbst, dass ich mich hier gerade in etwas reinsteigere, aber es würde so verdammt gut tun, etwas Dampf abzulassen. Eben noch hatte ich das auch vorgehabt, aber wenn ich mir Kai jetzt so ansehe, wie er dort verloren und starr auf meiner Couch liegt, kann ich es einfach nicht. Es wäre ihm gegenüber nicht fair, denn er trägt an dem Ganzen hier schließlich die geringste Schuld.
Das Problem ist, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, wie er sich fühlt, was er wohl gerade durchmacht. Er hat Julia verloren, seine große Liebe, mit der er fast zehn Jahre seines Lebens verbracht hat. Vielleicht kann ich das nicht verstehen, weil es niemals etwas in meinem Leben gegeben hat, das den Namen Beziehung verdient gehabt hätte. Es gab oder gibt niemanden vergleichbares wie in Kais Situation, ich ... Kai ...
Natürlich, ich bin so dumm. Kai ist für mich, was Julia für Kai gewesen ist. Das war schon immer so und das weiß ich ja auch seit Ewigkeiten, aber erst jetzt, wo ich ihn an Julias Stelle setzte und mir vorstelle was wäre, wenn er sterben würde, mich verlassen würde, wird mir bewusst, was er wohl gerade durchmachen muss. Wie muss er sich fühlen? Ich mag es mir kaum vorstellen, denn alleine bei dem Gedanken daran, Kai zu verlieren wird mir ganz anders und alles in mir rebelliert gegen diese Vorstellung. Was würde ich ohne ihn tun? Mein Blick wandert zu seiner reglosen Gestalt, mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Ich weiß es nicht! Ich kann mir ein Leben ohne ihn, ohne sein Lachen, seine Gesellschaft und seine grauenhaften Witze einfach nicht vorstellen.
Meine Sorge um ihn lässt mich kaum schlafen, mehrmals in der Nacht schrecke ich hoch und erwische mich dabei, wie ich angestrengt in die Dunkelheit lausche und mich erst beruhige, als ich Kais leisen Atem hören kann. Wirre Träume plagen mich, halten mich gefangen in ihren klebrigen Fängen und ziehen mich wieder hinab in die Dunkelheit. Sie lassen mich schweißgebadet und mit klopfendem Herzen erwachen und doch entgleiten sie mir, sobald ich versuche mich an sie zu erinnern. Was für ein Chaos!
Es ist bereits vier Uhr morgens und ich fühle mich schon vollkommen erschlagen, als sich mein Körper meiner endlich erbarmt und mich in einen tiefen und traumlosen Schlaf fallen lässt.
Schlurfende Schritte hinter mir reißen mich aus der Konzentration. Ich blicke von meiner Arbeit auf und beobachte Kai dabei, wie er in die Küche geht, sich ein Glas Wasser nimmt, zwei Schlucke davon trinkt und wieder ins Wohnzimmer geht. Wobei gehen nicht das richtige Wort ist, schleichen trifft es schon eher.
Es sind jetzt drei Tage seit Julias Tod vergangen und um ehrlich zu sein hatte ich wirklich gedacht, dass dieses seltsame Verhalten nur vorrübergehend ist. Aber das ist es, wie man sieht nicht. Vielmehr ist es noch schlimmer geworden. Hat Kai am Tag des Unfalls nur leise und leicht abwesend mit mir geredet, spricht er jetzt überhaupt nicht mehr. Dass mir das Sorgen bereitet, ist noch untertrieben ausgedrückt. Denn wie weit das Ganze schon geht sieht man daran, dass ich mich freue wie ein Schneekönig, wenn ich ihn dazu bringen kann immerhin etwas zu essen, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Dass das erbärmlich ist, weiß ich selbst.
Die Wahrheit ist, ich bin vollkommen überfordert mit der ganzen Situation.
Kais Eltern habe ich bereits am Tag nach dem Unfall angerufen, völlig verzweifelt, weil Kai bloß regungslos auf meiner Couch gelegen und überhaupt nicht auf mich reagiert hatte. Nichts von dem Essen oder Trinken, das ich ihm gebracht habe, hat er angerührt.
Seine Eltern wussten Gott sei Dank schon Bescheid, denn wenn ich ihnen noch alle Einzelheiten der Vorfälle hätte erläutern müssen, wäre ich durchgedreht. Ganz sicher!
Helfen konnten sie mir trotzdem nicht, Kais Eltern sind beide erfolgreiche Anwälte und leben zurzeit in Italien, wo Katrin, Kais Mutter, einen wichtigen Fall zu vertreten hat. Irgendetwas mit Drogen und Bestechungsskandal habe ich aufgeschnappt, ist mir aber im Grunde genommen auch egal. Was mir nicht egal ist, ist dass ich nun vollkommen auf mich alleine gestellt bin, was das Thema Kai betrifft. Ist ja schön, dass seine Eltern im Ausland ordentlich Kohle scheffeln, aber wenn es um ihren traumatisierten Sohn geht, leider keine Zeit haben. Wirklich klasse!
Ich habe nichts gegen Kais Eltern, auf ihre Art und Weise sind sie gute Eltern für ihn gewesen, aber ich bin in einem führsorglichen und liebevollen Haushalt aufgewachsen, mit einer Mutter, die immer ein offenes Ohr hatte und einem Vater, der toleranter überhaupt nicht hätte sein können. Bei diesem Vergleich können seine Eltern einfach nicht mithalten.
Ich weiß nicht, wie viele Nächte Kai bei uns verbracht hat, wie oft meine Mutter uns heißen Kakao serviert hat und mein Vater uns Geschichten über unzählige Abenteuer mit Rittern oder Piraten erzählt hat, während Kais Eltern spontan für einen wichtigen oder eher gesagt lukrativen Fall verreist waren. Und jetzt sieht es wieder so aus, als wäre der Job wichtiger als das eigene Kind und das stört mich gewaltig. Immerhin haben sie angekündigt, dass der Fall bald abgeschlossen sei und sie voraussichtlich Ende der nächsten Woche hier sein können. Das Julias Beerdigung schon morgen ist, ist ihnen entweder entgangen oder wurde unter "unwichtig" im Terminkalender vermerkt.
Okay, ich sollte wirklich aufhören, mir Gedanken über das Verhalten von Kais Eltern zu machen. Es macht mich bloß wütend und wütend kann ich nicht arbeiten, dafür brauche ich einen kühlen Kopf. Auch wenn dieser Zug schon längst abgefahren zu sein scheint ...
In der Küche schneide ich ein wenig Obst - eine Banane und einen Apfel - in kleine Stücke und teile sie auf mehrere kleine Schüsseln auf. Die verteile ich dann in der ganzen Wohnung, also im Wohnzimmer, im Flur, der Küche und sogar im Bad. Ich weiß, dass klingt ein wenig verrückt, vielleicht auch ein wenig sehr verrückt, ist aber gleichzeitig die einzige Möglichkeit Kai auszutricksen und ihm ein wenig Essen unterzujubeln. Bekanntermaßen macht Not ja erfinderisch, denn als ich schon kurz davor gewesen bin, den Arzt anzurufen und Kai einweisen zu lassen, hat er die Hand nach der Schüssel mit den Nüssen ausgestreckt und ein paar davon gegessen. Klingt ziemlich unspektakulär, aber für mich war das eine Riesenerleichterung!
Auf die gleiche Weise mache ich das auch mit dem Trinken und ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass eventuelle Besucher verstört wären, von der Anzahl der halbvollen Gläser, die hier in der gesamten Wohnung verstreut herumstehen. Nun ja, was soll ich sagen? Shit happens.
Es ist bereits später Vormittag, als es an der Tür klingelt. Ich lasse augenblicklich alles stehen und liegen, gehe zur Wohnungstür und reiße sie mit Schwung auf. Ein blonder Haarschopf ist alles, was ich sehe, denn noch bevor ich irgendetwas sagen kann, werde ich in eine feste Umarmung gezogen und erst wieder daraus entlassen, nachdem ich fast halbtot gedrückt wurde.
„Hallo Großer“, sagt Klara, schiebt mich ein Stückchen von sich und mustert mich eingehend. Oh oh, ich kann regelrecht sehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehen, als sie meinen leicht derangierten Aufzug bemerkt, ihre leicht erhobene Braue spricht Bände. Wobei derangiert eigentlich nicht das richtige Wort ist, aber die Tatsache, dass ich eine Jogginghose trage, scheint sie zu verstören. Zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass ich nie Jogginghosen trage, bis vorgestern wusste ich ja nicht einmal, dass ich überhaupt welche besitze.
„Wo ist er?“, fragt meine kleine Schwester und schiebt sich ungeduldig an mir vorbei in die Wohnung. Sie sieht gehetzt aus und ein wenig besorgt. Leise meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich weiß, dass sie momentan viel Stress auf der Arbeit hat - sie arbeitet als Kinderkrankenschwester im Asklepios Klinikum Nord - und der kleine süße Fratz zu Hause braucht schließlich auch seine Aufmerksamkeit. Aber ich bin einfach so unglaublich froh sie zu sehen, da muss sich mein Gewissen erst einmal hinten anstellen.
„Er ist im Wohnzimmer, auf der Couch.“ Ich schließe die Tür und geselle mich zu ihr. „Aber erwarte nicht zu viel.“
Ihre grünen Augen werden groß. „So schlimm?“, fragt sie und verzieht dabei das mit Sommersprossen überzogene Gesicht.
Ich nicke und fasse sie am Arm. „Komm mit.“
Zusammen gehen wir ins Wohnzimmer und wäre die Situation eine andere, hätte ich mich durchaus über den verblüfften Blick amüsiert, den sie mir zuwirft, als sie die zahlreichen Gläser und Schüsseln registriert. Aber so schüttele ich bloß den Kopf und vertröste sie mit einem: „Erkläre ich dir später.“
Klara nickt. „In Ordnung, ich ...“ Sie verstummt. Erschrocken sieht sie an mir vorbei und ich folge ihrem Blick, nur weiß ich bereits, was mich erwartet. Ich kann ihr den Schock nicht verdenken, denn Kai sieht furchtbar aus, ist kaum wiederzuerkennen. Wie auch die letzten Tage, sitzt er stumm auf der Couch, den Blick auf einen imaginären Punkt gerichtet, den wohl nur er sehen kann. Die schwarzen Haare fallen ihm strähnig ins Gesicht, was kein Wunder ist, schließlich hat er seit Tagen keine Dusche mehr von innen gesehen, sich weder gewaschen, noch rasiert. Jedenfalls soweit ich das mitbekommen habe.
Klara umfasst meinen Arm, ich kann spüren, dass sie mich ansieht, meine Aufmerksamkeit verlangt. Unbehaglich winde ich mich, drücke mich vor dem Augenkontakt, aus Angst, einen Vorwurf in ihren Augen zu sehen. Ich halte viel von meiner Schwester und es würde mich fertig machen, wenn sie mir sagen würde, dass ich in den letzten Tagen alles falsch gemacht und als Freund versagt hätte. Aber da ist nichts als Mitgefühl und Bedauern zu sehen, als ich mich letztendlich doch dazu überwinde, sie anzusehen. Und da weiß ich, dass sie mir helfen wird und dass wir das hinbekommen werden. Irgendwie.
Habe ich bereits erwähnt, wie sehr ich meine Schwester liebe?
Ich muss zugeben, dass ich meine größten Hoffnungen in Klara gesetzt habe. Als Krankenschwester hat sie einfach einen vollkommen anderen Blickwinkel auf die gesamte Situation, hat ganz anderes erlebt und im Laufe der Zeit gelernt, damit umzugehen. Ganz der gute Gast hat sie Brötchen vom Bäcker mitgebracht, die ich in der Küche aufschneide und belege. Ich weiß, was sie mag - Körnerbrötchen mit Marmelade und Käse. Kais beschmiere ich mit Nutella. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob das überhaupt etwas bringt, aber Klara hat mir versichert, dass sie nicht gehen wird, ehe er dieses "ungesunde" Teil gegessen hat.
Ein paar Minuten lungere ich noch in der Küche herum, räume das Nutellaglas und das dreckige Geschirr vorbildlich in die Geschirrspülmaschine und gieße meine traurige Topfpflanze Karl, die Klara und Marie mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt haben. Eigentlich ein ganz hübsches Ding, mit langen dunkelgrünen Blättern und einer gelben bis leicht ins rötliche gehenden Blüte. Leider bekommt sie oder eher gesagt er, Karl ist schließlich ein männlicher Name, nicht die Liebe und Führsorge, die ihm eigentlich zusteht. Zu oft vergesse ich, ihn zu gießen und dementsprechend traurig lässt er nun seine Blätter hängen. Ich bekomme Mitleid und zu der langersehnten Wasserspende bezieht er freudig seinen schönen neuen Platz auf der Fensterbank, direkt beschienen von der Sonne. Pflanzen mögen schließlich Sonne, nicht wahr?
Nachdem ich der Meinung bin, mich genug vor der Konfrontation mit Kai und Klara gedrückt zu haben, schnappe ich mir das Brett mit unseren belegten Brötchen und gehe zurück ins Wohnzimmer. Dort staune ich nicht schlecht, denn wie es aussieht, ist meine Schwester tatsächlich in ein Gespräch mit Kai vertieft. Sie hat ihr Krankenschwestern-Gesicht aufgesetzt, eine Mischung aus milder Nachsicht und leiser Entschlossenheit und scheint irgendetwas mit ihm zu besprechen. Jedenfalls gehe ich davon aus, denn ab und zu kann ich Kai nicken oder den Kopf schütteln sehen.
Unsicher bleibe ich einige Schritte von den beiden entfernt stehen, aus Angst, dieses Etwas, das in der Luft liegt, zu zerstören. Die Stimmung, ich kann es nicht benennen, sie ist irgendwie seltsam. Aber auf eine gute Art und Weise.
„Na los, komm schon her“, fordert Klara mich auf und so gehe ich zu den beiden, stelle das Brett auf den Wohnzimmertisch und setzte mich, mit Klara als Puffer zwischen mir und Kai, auf das Sofa. Die nächste Zeit ist ausgefüllt mit unangenehmem Schweigen, eine Tatsache die Klara, wie es ihrem Naturell entspricht, geflissentlich ignoriert. Unbarmherzig schiebt sie Kai das Nutellabrötchen vor die Nase und wirft ihm einen eindeutigen Blick zu. Scheint nichts zu nützen, denn das Brötchen rührt er trotzdem nicht an. Natürlich nicht.
„Also ...“, eröffnet Klara das Gespräch. „... wie läuft's denn bei dir momentan auf der Arbeit? Gefällt dir der Job?“
Ich starre sie an, mein Brötchen in der Hand, auf dem halben Weg zum Mund erstarrt. Was geht in ihrem verrückten Kopf vor? Diese Frage stelle ich mir schon seit über zwanzig Jahren, nämlich seit ich alt genug bin, meine Schwester in täglicher Aktion zu beobachten. Denn die eigentliche Frage ist doch: Wie soll ein Gespräch über meine Arbeit Kai dabei helfen, dass es ihm besser geht? Ich bin nicht sicher, was das hier werden soll und dementsprechend fragend fällt mein Blick an sie aus. Den sie ignoriert. Vollkommen ungerührt beißt sie in ihr Käse-Marmeladen Brötchen - an sich eine ekelhafte Kombination - und wirft mir einen auffordernden Blick zu. Nun gut, irgendetwas wird sie sich schon dabei denken, oder? Zumindest hoffe ich das.
Ich räuspere mich. „Die Arbeit läuft gut, das Projekt an dem ich arbeite ist prinzipiell nicht besonders kompliziert, nur die Durchführung ist zeitaufwändig.“
Sie nickt. „Und die anderen Mitarbeiter der Firma? Hast du viel Kontakt mit denen?“ Interessiert beugt Klara sich vor, das süße Gesicht mit den vielen Sommersprossen und der kleinen Stupsnase hat sie mir erwartungsvoll zugewandt. Wenn man sie so sieht, dann würde niemand den verrückten und manipulativen Teufel in ihr vermuten, der sie eigentlich ist. Immer auf der Suche nach dem neuesten Klatsch und Tratsch, heimliche Verkupplerin und Intrigenspinnerin - das ist meine Schwester. Na gut, das letzte eher weniger und wenn, dann bloß im engsten Familienkreis und um ein wenig Leben in ewig lahme Familienfeiern zu bringen. Sehr zu unser aller Unterhaltung!
„Eigentlich nicht, nein. Die meisten Mitarbeiter verrichten still ihre Arbeit, aber ab und zu schaut mir jemand Neugieriges, unter dem Vorwand, mir einen Kaffee bringen zu wollen, bei der Arbeit zu.“ Ich grinse sie leicht an. „Aber die sind alle total sympathisch und wollen wahrscheinlich bloß den Verrückten kennenlernen, der freiwillig ihr Sicherheitssystem wieder auf Vordermann bringt.“
Sie erwidert mein Grinsen und ich weiß, jetzt habe ich sie am Haken. Klara ist die neugierigste Person die ich kenne und tatsächlich, die nächste Zeit bin ich damit beschäftigt, sie genauestens über die Ereignisse meiner letzten Woche zu informieren und sie allgemein auf den neuesten Stand zu bringen, was mein Leben derzeit betrifft. Es ist schön mit ihr zu reden, auch wenn es ein wenig ungewohnt ist, ihr von Dingen zu berichten, über die ich sonst eigentlich nur mit Kai spreche.
„Und was ist mit dieser Sabrina? Wie es sich anhört, scheint die ja ganz nett zu sein“, wirft Klara ein.
Ich nicke bestätigend. „Ja das ist sie wirklich.“
„Oder hat sie etwas mit diesem Sicherheitschef am Laufen? Simon, oder wie der auch heißt.“
„Woher soll ich das denn wissen?“, frage ich verblüfft, woraufhin Klara nur lachend den Kopf schüttelt.
„Mensch Connor, so etwas sieht man doch!“
Na, ich weiß ja nicht. Es mag sein, dass Klara solche Feinheiten im Verhalten anderer deuten kann, ich aber ganz bestimmt nicht. Bei solchen Dingen bin ich wohl eher das Äquivalent zum Elefanten im Porzellanladen.
„Ich habe nichts bemerkt“, sage ich und zucke mit den Schultern. Meine Reaktion kommentiert sie bloß mit einem Schnauben und einem trockenen: „War klar.“
Der trockene Tonfall bringt mich zum Lachen und am Rande registriere ich wie Kais Mundwinkel leicht zucken. Einen Wimpernschlag später ist das Zucken auch schon wieder verschwunden und nichts deutet mehr daraufhin, dass er unserer Unterhaltung überhaupt gefolgt ist. Trotzdem bin ich sicher, mir die Reaktion nicht eingebildet zu haben. Ich beobachte ihn genauer, aber seine Miene bleibt ausdruckslos. Enttäuschung breitet sich in mir aus und ich will mich gerade wieder meinem Gespräch mit Klara zuwenden, als ich etwas registriere. Das Brett, auf dem unser Essen stand, ist leer. Das ist an sich nicht weiter verwunderlich, denn Klara und ich haben schon vor einer Weile unser Frühstück aufgegessen, aber Kais Brötchen ist auch nicht mehr da. Ich werfe meiner Schwester einen fragenden Blick zu und deute mit dem Kopf auf die leere Stelle, an der zuvor noch sein Nutellabrötchen lag. Meine unausgesprochene Frage beantwortet sie mit einem Kopfschütteln, dann lächelt sie. Kai muss sein Frühstück gegessen haben, während wir in unsere Unterhaltung vertieft gewesen sind. Deswegen habe ich es auch nicht bemerkt, denn zum ersten Mal seit Tagen habe ich mich getraut, ihn für kurze Zeit aus den Augen zu lassen. Freude durchflutet mich und als Klara meine Hand ergreift und sie leicht drückt, erwidere ich den Druck und lächele zurück.
„Wenn irgendetwas ist, dann kannst du mich anrufen. Zu jeder Zeit, dass weißt du“, sagt Klara, während sie sich ihre Tasche aus dem Flur schnappt und in ihre Jacke schlüpft.
„Ja, das weiß ich.“ Ich nehme sie fest in den Arm. „Danke für alles! Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.“
Sie löst sich aus der Umarmung und sieht zu mir hoch. Dann seufzt sie leise. „Ach Connor!“
Ich runzele die Stirn. „Was ist?“ Es ist, als wäre die Stimmung gekippt. Ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen. Bloß verstehe ich den Grund dafür nicht.
Klaras Gesichtsausdruck wird weicher. „Ich weiß, dass du nur das Beste für Kai willst, aber du darfst ihn nicht behandeln, als wäre er ein rohes Ei.“
„Das tue ich doch gar nicht!“, versuche ich mich zu rechtfertigen.
„Doch! Genau das tust du. Du schwirrst um ihn herum, wie eine Glucke um ihre Küken. Lässt ihn kaum aus den Augen. Du hast doch selbst gesehen, wie schwer es dir am Anfang gefallen ist, dich auf unser Gespräch zu konzentrieren und ihn nicht ständig im Blick zu behalten.“
„Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Ihn ignorieren und hoffen, dass sich das Problem schon von alleine löst?“, frage ich aufgebracht. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, Klara so anzufahren, aber ihre Worte machen mich wütend. Weil ich weiß, dass sie wahr sind.
„Connor, jetzt beruhige dich.“ Besänftigend greift sie nach meiner Hand. „Ich will dir doch auch keinen Vorwurf machen, Kai kann sich glücklich schätzen, dich zu haben. Aber du machst dich fertig und ihn vielleicht auch. Wer weiß schon, was gerade in seinem Kopf vor sich geht.“ Ihre Lippen verziehen sich zu einem traurigen Lächeln. „Ich habe bloß Angst, dass du dich verrennst. Dass du dich verbiegst und kaputt machst, um ihm zu helfen. Du musst auch an deinen eigenen Job denken, du kannst schließlich nicht immer von zu Hause aus arbeiten.“
„Das habe ich auch nicht vor. Am Mittwoch treffe ich mich mit Sabrina und wir besprechen das weitere Vorgehen“, erkläre ich ihr. Dass Klara sich um mich sorgen muss, ist das Letzte, was ich will. Sorgen hat sie schon genug eigene.
„In Ordnung“, murmelt sie und streckt sich, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie riecht nach Pfefferminzbonbons und dem Waschmittel, das schon unsere Mutter verwendet hat. Fest ziehe ich sie an mich und atme ihren vertrauten Geruch ein, der mich so sehr an Zuhause erinnert.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren.“
„Ist doch gut“, sagt sie lächelnd und drückt mich ein letztes Mal an sich. „So bist du nun einmal und ich bewundere dich dafür. Du sorgst dich um die, die du liebst und verteidigst sie mit allem, was du hast. So bist du schon immer gewesen.“ Sie streicht mir über die Wange, dann löst sie sich von mir und geht zur Tür. „Besonders wenn es um Kai geht.“ Mit einem Klicken fällt die Tür ins Schloss.
Dieser letzte Satz. Sie weiß es. Wie ein Mantra erklingen die Worte in meinem Kopf, sind das Einzige, an das ich gerade denken kann. Sie weiß es.
Mein Kopf ist wie leer gefegt, nichts hat darin Platz, außer dieser einen Erkenntnis. Meine Schwester weiß, dass ich Kai liebe. Seit wann weiß sie es? Und woher? Fragen über Fragen und auf keine von ihnen weiß ich eine Antwort. Wie betäubt verlasse ich den Flur, gehe ins Wohnzimmer und setzte mich neben Kai. Ich fühle mich seltsam, irgendwie erleichtert, auf eine verquere Art und Weise. Ich habe dieses Geheimnis so lange mit mir herum getragen, immer in der Furcht, dass jemand es aufdecken könnte. Und jetzt bemerke ich, dass all das sinnlos war. Weil sie es weiß. Natürlich weiß sie es! Wir reden hier schließlich von meiner kleinen Schwester, der neugierigen Intrigenspinnerin und Kupplerin, dem Teufel in Person. Manchmal jedenfalls.
Unwillkürlich muss ich lachen. Wie kam ich auf den absurden Gedanken, irgendetwas vor Klara verheimlichen zu können? Was bin ich doch für ein Idiot! Aber sie hat nichts gesagt, all die Jahre hat sie mich niemals darauf angesprochen. Warum nicht? Ich habe nicht den blassesten Schimmer und es ist müßig, sich darüber nun den Kopf zu zerbrechen. Ich werde sie fragen müssen. Wenn ich bereit bin, die Antwort zu hören.
Das Gespräch, auch wenn es sehr aufreibend war, hat mir die Augen geöffnet. Ich soll Kai also nicht wie ein rohes Ei behandeln? Gut, das kann sie haben. Frischer Tatendrang durchströmt meine Adern. Morgen ist Julias Beerdigung und jetzt, wo ich weiß, was zu tun ist und wie ich mich zu verhalten habe, werde ich Kai dazu bringen mitzukommen. Das wie steht noch in den Sternen, aber mal im Ernst, ich bin mit Klara verwandt und habe demnach ein eigenes kleines Teufelchen in der Familie. Irgendwie wird der morgige Tag zu bewerkstelligen sein, da bin ich mir sicher!
Dicke Tropfen fallen vom Himmel, perlen an der glatten Oberfläche der unzähligen Regenschirme ab und hinterlassen helle Rinnsale auf dem dunklen Stoff. Ich folge dem Verlauf der Tropfen mit den Augen, versuche ein Muster in den zurückbleibenden Spuren zu erkennen, irgendeinen Sinn. Aber da ist nichts.
Ein heftiger Windstoß wirbelt das feuchte Laub auf, fährt unter die Kleider und Röcke der anwesenden Frauen und bauscht diese auf. Hinter mir wird unwilliges Gemurmel laut, ich ignoriere es, wie auch sonst alles. Währenddessen hält der Pfarrer seine Rede, er spricht von Gott, Vergebung und dem Leben nach dem Tod. Hinter ihm türmen sich dunkle Wolken am Himmel, vereinzeltes Donnergrollen begleitet seine Worte und verstärkt den bereits vorhandenen Effekt, verleiht dem Ganzen etwas Bedeutsames. Ganz so, als würde selbst der Himmel an diesem Tag seine Schleusen öffnen um mit uns zusammen zu trauern und den Verlust eines geliebten Menschen beweinen.
„Herr, unser Gott, Du gibst uns Menschen das Leben und dann nimmst Du es wieder. Du verbirgst es eine Zeit im Geheimnis des Todes, um es dereinst ans Licht zu bringen als unser ewiges Leben. Sieh Du uns heute an und höre uns an diesem Ort ...“
Die ruhige und doch kräftige Stimme hat etwas Beruhigendes an sich und mir gefällt die Rede des Pfarrers, auch wenn ich mit dem Großteil des religiösen Geredes nicht sonderlich viel anfangen kann. Dennoch hat es etwas Tröstendes, diese Worte zu vernehmen und einmal mehr wird mir bewusst, dass eine Beerdigung nicht für den Toten, sondern für die Hinterbliebenen ist. Denn wo ich auch hinsehe, blicken mir verweinte und von Trauer gezeichnete Gesichter entgegen. Menschen, die sich aneinander klammern und Trost durch die Berührung ihrer Liebsten finden. Aber da ist auch Hoffnung in manchen Augen und der Wille, den Worten des Pfarrers Glauben zu schenken, auf dass die schlechten Zeiten vorüberziehen um den Guten Platz zu machen. Denn auch auf Regen folgt stets Sonnenschein.
„Nimm Du unser Erschrecken, unsere Trauer auf in Deinen Frieden. Nimm alle unsere Gedanken über die, dessen Sterben und Tod wir beklagen und über uns selbst hinein in die Erkenntnis Deines guten Willens mit ihr und uns. Herr, unser Gott.“
Nach und nach treten die Trauernden vor und jeder, ob nun Familienmitglied, Freund oder Bekannter von Julia, nimmt eine weiße Rose entgegen und wirft sie in das offene Grab. Eine Geste des Abschiedes, ein letztes Geleit.
Die Anwesenden verfolgen stumm und gebannt die letzten Worte des Pfarrers, die in meinen Ohren jedoch verklingen, in den Hintergrund treten und schlichtweg bedeutungslos werden, als ich Kai dabei beobachte, wie er die letzte und schönste aller Rosen in die Hand nimmt und an das offene Grab tritt. Den Regen ignorierend, der ihn bis auf die Knochen durchnässt, steht er da um Abschied zu nehmen - regungslos und unnahbar wie eine Statue. Die ebenmäßigen Gesichtszüge mit dem markanten Unterkiefer und den tiefschwarzen Augenbrauen, lassen ihn wirken, wie aus Stein gemeißelt und die im Vergleich zum schwarzen Anzug blass wirkende Haut hebt sich deutlich vom Rest seiner großen Erscheinung ab. Ohne das für ihn typische Grinsen auf dem Gesicht, erscheint er mir fremd, ganz so, als wäre er nicht er selbst, als würde ein wichtiger Teil von ihm fehlen. Trotzdem hat er in meinen Augen nie schöner ausgesehen, als in diesem Moment, in dem er so weit von mir entfernt ist, wie nie. So unerreichbar scheint.
Wenn ich so an die letzten Tage zurückdenke, dann wird mir Eines klar und zwar, dass Klara recht hatte. Ich habe Kai tatsächlich wie ein rohes Ei behandelt, das habe ich spätestens heute Morgen bemerkt, als ich ihn, ihren Rat befolgend, einfach vom Sofa gescheucht und ins Bad geschickt habe. Zumindest seit dem Gespräch mit meiner Schwester war mir klar, dass Kai mehr mitbekommt, als ich angenommen hatte und so war es an diesem Morgen Zeit, die Dinge zu ändern. Ich vermute, nein, ich bin mir sogar verdammt sicher, dass er nur ihretwegen jetzt hier ist. Irgendwie hat sie es gestern geschafft, durch seinen in den letzten Tagen errichteten Schutzwall zu dringen und ihm klar zu machen, wie wichtig das hier ist. Für ihn und auch für alle anderen. Dieses Gespräch hat etwas verändert, hat ihn verändert und ich bin unendlich froh darüber. Zwar hat er immer noch kein Wort gesprochen, aber er ist hier und das ist es doch, was zählt oder?
Gerade in diesem Moment kann ich beobachten, wie er aus seiner Starre erwacht und für eine Sekunde die Augen schließt. Ich weiß, dass Julias Eltern über Kais scheinbare Emotions - und Teilnahmslosigkeit während der Zeremonie verärgert sind, aber dass er so ist, ist einfach nicht wahr. Es mag sein, dass er auf Außenstehende kalt und unbeteiligt wirkt, aber ich kenne ihn zu gut. Ich weiß, dass er mit seinen Gefühlen kämpft. Ich sehe es an der Art, wie fest und doch gleichzeitig vorsichtig er die Rose umfasst hält, an dem kaum sichtbaren Zusammenpressen seiner Lippen und der starren Körperhaltung. Das alles sind Abwehrhaltungen, Reaktionen auf starke Gefühle, wie ich sie schon dutzende Male an ihm beobachtet habe. Ich weiß nicht, woher der plötzliche Sinneswandel kommt, aber wie es aussieht, wird Kai erst jetzt, wo er der Beerdigung beiwohnt und auf das offene Grab hinabblickt, gänzlich bewusst, dass all dies Realität ist. Dass Julia wirklich tot ist.
„Der Herr segne und behüte uns. Er erhelle unser Dunkel. Er lasse uns seinen Weg erkennen. Er habe mit uns Erbarmen und bleibe uns zugewandt.“
Als die letzten Worte des Pfarrers verklingen, beugt er sich hinab und lässt die Rose sanft in das offene Grab, auf das bereits bestehende Blumenbett, fallen. Die Geste hat etwas Endgültiges, ich kann es spüren.
Langsam zerstreut sich die Gesellschaft, kleine Grüppchen bilden sich und hier und da wird in Erinnerungen an Julia geschwelgt. Besonders Tanja und Jens werden belagert und mit Beileidsbekundungen regelrecht überschüttet. Etwas, worüber ich bloß den Kopf schütteln kann. Dass die beiden nicht wahnsinnig werden, bei all dem geheuchelten Mitgefühl, ist mir ein Rätsel. Ich wäre schon längst durchgedreht, beim Anblick dieser herausgeputzten und sensationsgeilen Meute, für die diese Beerdigung höchstwahrscheinlich das Highlight der Woche ist. Es mag sein, dass sie Julias Eltern täuschen können, mich aber nicht. Ich kann ihre missbilligenden Blicke beinahe spüren und das ach so unauffällige Getuschel nicht mehr ertragen.
„Meine Güte, wie der ausgeschaut hat!“
„Ja, da bin ich ganz deiner Meinung. Keine einzige Träne hat der vergossen! Was für eine Schande für die arme Familie!“, höre ich auch schon die abfällig geflüsterte Antwort.
Wut kann so ein schönes Gefühl sein, es erwärmt einen von innen und befreit den Kopf von allerlei unwichtigen Gedanken. Ich bin viel zu selten wütend, wenn es ein Problem gibt, ist es stets Kai, der sich hitzig ans Werk macht, um es zu lösen. Aber Kai ist nicht hier. Er ist nicht da um sich zu verteidigen und so werfe ich an seiner statt einen warnenden Blick über die Schulter nach hinten, den die beiden Damen hoffentlich zu verstehen wissen.
Ich muss mich arg beherrschen, denn natürlich weiß ich genau, von wem die beiden reden. Ignorante Kühe! Als ob sie auch nur die leiseste Ahnung haben, als ob sie das Recht haben, sich ein Urteil über ihn zu erlauben! Leben in ihrer scheiß-perfekten Welt, in der sie einmal im Monat Besuch von ihren dicken Enkelkindern bekommen und sich jeden Sonntagnachmittag zum Kaffee und Kuchen treffen, um den neuesten Klatsch und Tratsch zu verbreiten, ganz einfach, weil sie nichts Besseres zu tun haben und nicht einsehen wollen, dass ihr Leben aus eintöniger Langeweile und Gleichgültigkeit besteht.
Ich habe mich bisher stets für einen ruhigen und besonnenen Menschen gehalten, ich werde selten laut und meide hitzige Diskussionen, aber als die kleinere der beiden Damen in abfälligem Ton fortfährt, über den gefühlskalten Freund der Verstorbenen zu reden, platzt mir der Kragen und ich spreche meine Gedanken von eben laut aus.
Ich weiß nicht, ob es die Erwähnung ihrer dicken Enkelkinder oder doch das wöchentliche Kuchen-Treffen ist, welches letztendlich den Ausschlag gibt und ihnen die Gesichtszüge entgleisen lässt, aber das spielt ja eigentlich auch keine Rolle. Denn die Befriedigung, diese beiden Damen sprachlos zu erleben, kann mir keiner nehmen! Ohne auf die empörten und schockierten Gesichter zu achten, bahne ich mir einen Weg durch die Menge und mache mich auf die Suche nach Kai. Das gemurmelte "unverschämt", dass meinen Abgang begleitet, stört mich nicht weiter, vielmehr verschafft es mir Genugtuung. Sollen sie sich doch über mich beschweren, ich habe im Moment genug andere Probleme und was die beiden letztendlich von mir halten, kann mir doch eigentlich scheißegal sein!
Ich finde Kai auf dem Boden, vor dem Grab sitzend. Die Beine angezogen, den Blick scheinbar nachdenklich ins Nichts gerichtet. Es hat aufgehört zu regnen, wird mir erst jetzt bewusst. Vereinzelte Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch das Dickicht der dunklen Wolken und erhellen die Szenerie. Er hat etwas Magisches, dieser Ort. Die alten und mächtigen Trauerweiden, der von buntem Laub bedeckte Boden und das leise und entfernte Gluckern des Baches schaffen eine friedliche, aber auch geheimnisvolle Atmosphäre. Das Knirschen der Steine unter meinen Schuhen erscheint mir unnatürlich laut und wirkt fehl an diesem Platz. Es zerstört die sanfte Ruhe, die hier herrscht und ich fühle mich, als wäre ich gerade dabei, etwas Unerlaubtes zu tun, etwas Wichtiges zu stören und so zögere ich tatsächlich für einen Moment. Aber dann sehe ich Kais einsame Gestalt und es gibt nur noch einen Weg für mich. Die Nässe des noch feuchten Herbstlaubes ignorierend, die durch den Stoff meiner schwarzen Anzughose dringt, setzte ich mich neben ihn und eine Weile ist es still um uns. Einzig das Gezwitscher einiger vorlauter Vögel ist zu hören und ich versinke in Gedanken darüber, wie es jetzt weitergehen soll. Mit Kai, mit mir und so gut wie allem anderen.
„Hast du den Grabstein gesehen?“, durchbricht er plötzlich die Stille. Seine Stimme klingt rau und fremd, aber das ist nebensächlich, denn Worte können nicht ausdrücken, wie sehr ich den Klang seiner Stimme in den letzten Tagen vermisst habe.
Ich räuspere mich. „Ja habe ich, er ist sehr ... groß und prunkvoll. Nicht mein Geschmack“, sage ich ehrlich und hoffe, er ist mir nicht böse. Aber er hat schließlich nach meiner Meinung gefragt und ich soll ihn normal behandeln und nicht wie ein rohes Ei, das waren Klaras Worte. Vorsichtig werfe ich Kai einen Seitenblick zu und frage mich, warum er mich nach so langem Schweigen ausgerechnet nach dem Grabstein fragt, der gelinde gesagt tatsächlich nicht nach meinem Geschmack ist. Riesengroß, alabasterfarben und völlig überladen mit Verschnörkelungen und Gravierungen, wird er zu beiden Seiten von zwei etwa hüfthohen Engeln gesäumt. Man kann sehen, wie viel Mühe und Arbeit in dem Stein stecken und ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn nicht leiden kann.
Kai stößt ein Schnauben aus. „Ich finde ihn schrecklich.“ Mit den Augen verfolgt er scheinbar interessiert ein zu Boden segelndes Blatt, dann richtet er den Blick auf das Grab. „Julia hätte ihn gehasst, da bin ich mir sicher.“
Seine Worte klingen zynisch und mir blutet das Herz.
„Kai ...“, seufze ich.
„Was?“, unterbricht er mich und starrt mir direkt ins Gesicht. Die grauen Augen scheinen mich zu durchbohren, so viel Wut ist darin zu lesen. „Ist es zu viel verlangt, dass sie etwas aussuchen, das Julias Charakter widerspiegelt? Etwas, dass auch ihr gefallen hätte? Darum geht es bei diesem ganzen Scheiß doch, oder?“, fragt er aufgebracht.
„Und diese Engelsstatuen ...“, schnauft Kai. „Oder die Rede des Pfarrers vorhin. Von Gottes Gnade und dem ewigen Leben ... So ein Blödsinn! Warum diese Trauerfeier, warum all die Leute, Connor? Die Hälfte von denen hat Julia doch nicht einmal gekannt! Warum also das Ganze? Julia ist tot, sie wird nie wieder zurückkommen und daran kann niemand hier etwas ändern, auch kein beschissener Grabstein verziert mit Engeln oder diese völlig übertriebe Anzahl von Trauergästen. So einfach ist das!“
Gegen Ende wird er immer lauter, immer aufgebrachter und ich kann nicht verhindern, dass ich bei seinem letzten Satz zusammenzucke.
„Lass Tanja und Jens doch diese Trauerfeier, auch wenn du sie bescheuert findest. Das ist ihre Art damit umzugehen, Kai. Das kannst du ihnen doch nicht vorhalten!“ Beschwichtigend lege ich meine Hand auf seinen Arm.
„Ich sage ja nicht, dass ich den Grabstein oder all die vielen Menschen angemessen finde, aber Tanja musste diese Beerdigung innerhalb von nur vier Tagen auf die Beine stellen und dich konnte sie dabei auch nicht um Rat fragen.“ Für die letzte Bemerkung würde ich mir am liebsten selbst eine verpassen, aber Kai darf seine Wut, die er wegen Julias Tod verspürt, nicht an ihren Eltern auslassen, das wäre nicht fair. Ich weiß nicht, wo diese Wut so plötzlich herkommt, aber sie ist da und es ist immer leichter einen Schuldigen dafür zu finden, als sich damit abzufinden, dass es schlichtweg keinen gibt. Als einzusehen, dass es bei dieser Sache nur Verlierer geben kann.
Ein undefinierbares Geräusch ist die einzige Erwiderung, die ich vorerst erhalte. Seufzend lege ich den Kopf in den Nacken und warte einfach ab. So zerrissen wie Kai innerlich zurzeit ist, wird er nicht lange ruhig bleiben können.
„Der Stein ist gar nicht das Schlimmste“, sagt er schließlich. „Es sind diese fremden Menschen, die ich nicht ertrage. Sie haben nicht das Recht hier zu sein und das Recht über meine Liebe zu Julia zu urteilen, schon gar nicht!“ Verdrossen starrt er den Pfad entlang, der zum Hauptgebäude führt, in dem auch gerade der traditionelle Leichenschmaus stattfindet.
„Das hast du mitbekommen?“, frage ich und sehe ihn erschrocken an.
Unbestimmt zuckt er mit den Achseln. „Klar, ich bin doch nicht taub.“
Armer Kai! Meine Wut über das achtlose Geplapper der ignoranten Kühe von vorhin wächst ins Unermessliche, erst recht, als ich Kais nächsten Worte vernehme.
„Ich will da nicht rein.“ Mit dem Kopf deutet er in Richtung Hauptgebäude und Leichenschmaus. Allein bei dem Gedanken an all das Gedränge und das Gerede, das dort sicherlich herrscht, stellen sich mir schon die Nackenhaare auf. Wie wird es dann wohl ihm erst ergehen?
„Dann gehen wir eben nicht“, schlage ich kurzerhand vor und ernte dafür einen mehr als skeptischen Blick.
„Wenn ich mich recht entsinne, warst heute Morgen du es, der mich hochgescheucht und mir deutlich gemacht hat, dass ich keine andere Wahl habe, als hier aufzukreuzen.“
„Das bestreite ich ja auch gar nicht“, sage ich und stehe auf. „Aber das hier ist schließlich für Julia, oder?“ Ich warte ab, bis er bestätigend nickt, dann fahre ich fort.
„Siehst du, alles was du heute hier getan hast, war für sie. Die Zeremonie, die Rose und all das hier.“ Ich mache eine Geste, die den ganzen Teil des Friedhofes, auf dem wir uns befinden, mit einschließt und deute auf das Grab. „Der ganze Rest, der Leichenschmaus und was sonst noch kommt, dass ist alles unwichtig. Diese Fremden sind unwichtig, weil sie nichts mit ihr zu tun haben. Das hast du selbst gesagt.“ Entschlossen klopfe ich mir den Dreck von der Hose und strecke Kai meine Hand entgegen. „Es kann dir egal sein, was sie von dir denken! Also lass uns gehen, okay?“
Einen Moment lang, der mir allerdings vorkommt wie eine halbe Ewigkeit, sieht er mich nur stumm von unten aus an, der Blick leicht nachdenklich. Dann endlich verzieht er einen Mundwinkel zu einem vorsichtigen Lächeln und ergreift meine Hand, damit ich ihm hochhelfe. Und das ist der Augenblick, indem ich es mir gestatte, dem Connor von vor zehn Jahren ein wenig Raum zu lassen. Zusammen mit seinen Hoffnungen und Träumen, die ich eigentlich schon längst in der Kiste verstaut hatte, lugt er hervor und betrachtet kritisch, was ich da so veranstalte. Und ich fühle mich gut, auf eine erfrischende Art und Weise vollständig, wie schon lange nicht mehr. Dieses Gefühl von Zufriedenheit rührt nicht von der Tatsache her, dass ich Kais Hand halte und dass er bei mir ist, nein, diese Zufriedenheit hat ihren Ursprung in mir selbst, sie entspringt meinem Innersten.
Sich selbst und seine Gefühle zu verleugnen und das für eine so lange Zeit, ist unglaublich anstrengend. Über die Jahre hinweg ist es bei mir jedoch zur Routine geworden und so habe ich gar nicht bemerkt, wie sehr es mich in Wirklichkeit belastet hat. Erst jetzt, wo ich die Kiste einen Spalt geöffnet habe, wird mir bewusst, was mir die ganze Zeit gefehlt hat. Das war nicht Kai, natürlich ist er es auch, ganz einfach weil ich ihn liebe, aber zuallererst bin ich selber es gewesen. Und diese Tatsache, dass ich selbst es war, der gefehlt hat, - zumindest zum Teil - ist es, die mich nachdenklich stimmt. Wie heißt es doch? Jeder ist seines Glückes Schmied und demnach ist auch jeder für sein eigenes Glück oder Unglück verantwortlich. Klingt eigentlich recht simpel, oder? Tja, ganz so einfach ist es leider nicht, denn immerhin habe ich für diese Erkenntnis ganze zehn Jahre gebraucht. Wie schon vorhin festgestellt, ist es immer einfacher, die Schuld anderen zuzuschieben, ganz einfach weil es leichter ist, als sich einzugestehen, selbst der Schuldige zu sein. Der richtige Weg ist es trotzdem oder gerade deshalb nicht, das ist mir klar. So wie mir auch bewusst ist, dass all das, was mich bisher stets von Kai weggetrieben hat, nicht mehr existent ist. Kai ist immer der Stärkere von uns gewesen, aber jetzt ist es an der Zeit, dass ich für ihn da bin, dass ich Stärke zeige. Und das habe ich auch vor, denn wenn es irgendjemanden gibt, der sich zu hundert Prozent auf mich verlassen kann, dann ist das Kai!
Ich habe meine Augen geschlossen. Den Kopf in den Nacken gelegt hole ich tief Luft und atme die frische, leicht salzig schmeckende Luft ein. Der Schrei einer Möwe zerreißt die Stille und ich lächele. Es war an der Zeit zurückzukehren, wir sind schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen.
In der Ferne ist bereits das Rauschen der Wellen zu vernehmen, rhythmisch schlagen sie an den Strand und folgen dabei ihrem ganz eigenen von der Natur vorgegebenen Takt. Ich liebe es einfach hier zu sein und schon jetzt kann ich die beruhigende Wirkung spüren, die dieser Ort auf mich hat. Mit einem Seitenblick versichere ich mich, dass Kai mir vom Auto hierher gefolgt ist. „Und?“, frage ich erwartungsvoll. „Was denkst du?“
Die Hände tief in den Taschen seiner Anzughose vergraben zuckt er mit den Schultern. „Windig, nass und ziemlich kalt.“ Mit den Augen verfolgt er die Flugbahn eines grünen Drachens, den jemand in der Ferne gen Himmel steigen lässt. Ich reiße mich vom Anblick des winzigen Flugkörpers los und als würde Kai meinen Blick spüren, legt er den Kopf schief und fügt hinzu: „Aber eigentlich ist es ganz schön, wir waren ewig nicht mehr hier.“
Ich nicke. „Ja, das stimmt.“
Früher sind wir ständig hier gewesen, ob zum Baden, in der Sonne liegen oder einfach nur zum Faulenzen, vollkommen egal, es hat immer etwas zu tun oder zu entdecken gegeben, sodass die Zeit wie im Fluge verging. Und als dann die rebellischen Jahre unserer Jugend anbrachen und wir uns nachts heimlich davon schlichen, um am Lagerfeuer das ein oder andere Bier zu trinken, entflohen wir damit für kurze Zeit dem Alltag und schufen uns den idealen Rückzugsort. Diese Ausflüge, all die Stunden und Tage die wir hier am Strand verbracht haben, zählen zu den schönsten Erinnerungen, auf die ich heute zurückblicken kann.
Ob noch alles so ist, wie ich es in Erinnerung habe?
Kurz überlege ich, ob ich dem Drang nachgeben kann. Nur ein kurzer Spaziergang ans Meer, bloß um zu sehen, was sich in den letzten Jahren so getan hat und um die schöne Aussicht zu genießen. Kann ja eigentlich nicht schaden, oder? Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe und lasse meinen Blick von Kai zum Wasser schweifen. Kann ich ...? Ach scheiß drauf, klar kann ich! Das hier wird uns guttun. In Windeseile befreie ich mich von Schuhen und Socken und krempele das rechte Hosenbein meiner Anzughose hoch. Kai verfolgt währenddessen argwöhnisch jede meiner Bewegungen.
„Was ist?“, frage ich.
„Ich wundere mich nur. Sonst bist du doch immer so versessen auf Ordnung und Sauberkeit. Ich hätte nie gedacht, dass du es zulassen würdest, dass deine kostbare Anzughose beschmutzt wird.“
Für einen Moment halte ich in meiner Beschäftigung inne. Muss er so gleichgültig sein? Interessiert es ihn denn gar nicht, dass wir hier sind? Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich habe so sehr gehofft, dass dieser Ort jetzt das Richtige für ihn ist, genau das ist, was er braucht, aber vielleicht war ich da zu voreilig. Betont gleichgültig zucke ich mit den Achseln und befasse mich mit dem anderen Hosenbein. „Na und? Dann tue ich das heute eben, ist schließlich ein besonderer Tag.“
Meine Aussage scheint ihn nicht wirklich zu überzeugen, also füge ich hinzu: „Außerdem krempele ich die Hosenbeine doch hoch, dann werden sie auch nicht schmutzig.“ Meine Logik ist unbestreitbar, das muss selbst ich zugeben.
„Kommst du nun mit?", frage ich und deute auf das Meer, welches in etwa hundert Metern Entfernung seine Wellen schlägt. Es wäre schön, gemeinsam den Strand entlang zu schlendern, aber da ich keine Antwort von Kai erhalte, warte ich nicht länger ab und befasse ich mich wieder mit dem wunderbaren Naturphänomen direkt vor meiner Nase. Fasziniert verfolge ich das graue Farbenspiel des Himmels, das sich auf der Oberfläche des Wassers widerspiegelt und es dunkler erscheinen lässt als es eigentlich ist, während meine Füße tiefe Abdrücke in dem vom Regen noch nachgiebigem hellen Sand hinterlassen. Ob Kai mir folgt? Unwahrscheinlich, auch wenn ich es hoffe. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntermaßen zuletzt.
Als ich so auf das Wasser zugehe, fühlt sich der kühle und weiche Sand unter meinen Füßen und zwischen meinen Zehen, auch wenn es seltsam klingen mag, einfach himmlisch an und ruft die schönsten Kindheitserinnerungen in mir wach. Erinnerungen an lange Strandspaziergänge, Sandburgen, Kai, vom Eis klebrige Finger und sonnengewärmte Haut. Erinnerungen an meine Familie, das Lachen meiner Schwestern und den Duft von Sonnencreme, natürlich mit Lichtschutzfaktor 50 - was auch sonst?
Je weiter ich vorankomme, desto mehr Steine und Muscheln, die das Meer im Laufe der Gezeiten angespült hat, säumen den Weg und zeigen die Vielfalt und Schönheit, die das Meer beherbergt und letztendlich hier angespült hat. Es war die richtige Entscheidung hierher zu fahren und wenn schon nicht für Kai, dann immerhin für mich.
Eine besonders große Welle bricht vor meinen Augen und endlich ..., endlich bin ich nah genug am Wasser und kühles Nass umspielt meine Füße bis hoch zu den Knöcheln. Genießerisch grabe ich meine Zehen in den feuchten Sand und spüre, wie jede Welle mir ein Stück weit den Boden unter den Füßen wegzieht.
„Wir waren so gerne hier.“ Unbemerkt ist Kai hinter mich getreten. „Kein Wunder, es ist wirklich schön, wenn auch ein wenig kalt zu dieser Jahreszeit. Warum sind wir so lange nicht hier gewesen, Connor?“
Etwas unbeholfen zucke ich mit den Achseln, eine schwierige Frage. „Ich denke mal der Alltag hat uns eingeholt. Familie, Job und andere Verpflichtungen, da bleibt nicht viel Zeit. Man muss Prioritäten setzen.“
„Hhm ...“, brummt er unbestimmt und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es an der Zeit ist.
Ich seufze. „Kai, du weißt, dass wir über das reden müssen, was passiert ist.“
„Aber nicht jetzt und auch nicht hier.“ Seine Stimme klingt fest, der Tonfall bestimmt.
„Wieso nicht? Dieser Ort ist genauso gut oder eben schlecht dafür geeignet, wie jeder andere auch.“
„Connor ...“, sagt er und klingt dabei leicht genervt. „Du bist zurzeit der einzige Mensch den ich ertragen kann und das auch nur, weil du mich kennst und mir den Freiraum gibst, den ich brauche. Mach mir das bitte nicht kaputt, ich wüsste nicht, wo ich sonst hinsollte.“
Stirnrunzelnd sehe ich zu ihm hinüber. Unbewusst haben wir uns in Bewegung gesetzt und folgen der Küstenlinie in Richtung Norden, laufen also direkt auf das Naturschutzgebiet zu. Nebenbei registriere ich, dass Kai ebenso barfuß ist wie ich und ich mache mir eine gedankliche Notiz, damit wir nicht vergessen die Schuhe und Socken nachher einzusammeln. Er wüsste nicht, wo er sonst hinsollte - Das ergibt keinen Sinn.
„Du sollst nirgendwo hingehen, Kai! Du weißt, dass du bei mir bleiben kannst, solange es eben nötig ist und du brauchst nicht zu glauben, dass du einfach so abhauen kannst, sobald dir irgendetwas nicht passt. So funktioniert das nicht! Es gibt Leute die machen sich Sorgen um dich und ich gehöre zufällig dazu.“
„Das musst du aber nicht, ich habe alles im Griff.“
„Ist klar“, sage ich und stoße ein für mich recht untypisches Schnauben aus. „Du bist Psychologe, Kai. Hör dir doch mal selber zu! Wärst du einer deiner Patienten, dann wüsstest du, dass du überhaupt nichts im Griff hast.“
Verärgert schaut er zu mir herüber und beschleunigt seine Schritte, sodass ich mich anstrengen muss, hinterherzukommen. „Ach ja? Bist du jetzt also unter die Experten gegangen?“, fragt er bissig.
„Nein, bin ich nicht, aber ich bin nicht ganz blöd. Und dein Verhalten in den letzten Tagen würde ich nicht gerade als normal bezeichnen.“ Erschrocken wird mir bewusst, dass meine Stimme im Verlauf des Gespräches immer lauter geworden ist - und ich werde nie laut! Augenblicklich macht sich das schlechte Gewissen in mir breit, Kai hat doch genug durchgemacht, seit dem Unfall sind erst wenige Tage vergangen und Julias Beerdigung heute war auch für ihn sicherlich nicht leicht. Denn egal, was heute über ihn gesagt wurde und wie ruhig er gerade ist, so ganz kaufe ich ihm dieses Verhalten nicht ab.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren“, sage ich deshalb betreten und frage mich, wann ich eigentlich so unsensibel geworden bin.
Aber offensichtlich hat meine Entschuldigung nicht die erhoffte Wirkung und scheint ihn, im Gegenteil, nur noch mehr zu verärgern. „Hör auf dich zu entschuldigen, Connor! Das würdest du doch auch nicht tun, wenn der Unfall nicht passiert wäre, also tue es auch jetzt nicht. Ich habe es satt, dass alle mich anstarren, als befürchten sie, dass ich mich jeden Moment irgendwo aufhänge“, knurrt er ungehalten.
Kais Worten folgt Stille, viel zu überrascht bin ich über seinen plötzlichen Ausbruch und weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Natürlich habe ich bemerkt, dass viele ihm heute argwöhnische Blicke zugeworfen haben - Tanja und Jens, Marius und sicher auch einige der anwesenden Gäste. Aber dass ihm das so sehr zusetzt, das habe ich nicht gewusst.
„Kai, ich ...“ Das habe ich nicht gewusst. Es tut mir leid. Alles, was du durchmachen musst, tut mir unendlich leid, tut mir weh. Ich will dir doch nur helfen. Rede mit mir. So viel will ich ihm sagen, so viele Worte wollen über meine Lippen. Ich will ihm gut zureden, will für ihn da sein und ihm versichern, dass alles gut wird, aber ich tue es nicht. Stattdessen halte ich meinen Mund - weil ich weiß, dass er es nicht hören will.
In vollkommener Stille legen wir den Rest der Strecke zurück. Es ist keine unangenehme Stille, aber sie ist auch nicht angenehm. Nicht so, wie es sonst ist, zwischen uns. Denn diese Stille, die nur vom Rauschen des Wassers und dem Geschrei einiger vorlauter Möwen unterbrochen wird, ist ausgefüllt von unausgesprochen gebliebenen Worten, tristen Gedanken und dunklem Schweigen.
Das Naturschutzgebiet ist schon von weitem zu erkennen. Dichte, dunkle Tannen säumen einen kleinen Trampelpfad, der sich vom Meer aus ins Landesinnere erstreckt. Der Duft von Tannennadeln und das frische Grün der Bäume sind eine nette Abwechslung zu dem längst verdorrenden Blätterkleid der Laubbäume und das kaum wahrnehmbare, aber doch vorhandene Rascheln und Knacken um uns herum verrät, mit wie viel Leben dieses kleine Fleckchen Erde doch erfüllt ist, auch jetzt im Herbst noch. Und so gerne ich auch bleiben und die Natur hier genießen würde, zeigt die rasch einsetzende Dämmerung mir doch, wie spät es inzwischen schon sein muss.
Mit einem letzten Blick in Richtung der unheilverkündenden Wolken über uns, bleibe ich schließlich stehen. „Kai, es ist schon spät. Ich denke wir sollten umkehren, wenn wir das Auto noch trocken erreichen wollen.“
Sichtlich aus seinen Gedanken gerissen, runzelt er die Stirn und wirft einen Blick gen Himmel. Wie es scheint hat er den Anmarsch der dunklen Wolkenfront bisher nicht wahrgenommen, denn er hebt überrascht eine Braue, bevor er zustimmend nickt. „Ja, du hast Recht. Lass uns zurückgehen.“
Gemeinsam treten wir den Rückweg an und schaffen es tatsächlich, den Großteil der Strecke in nur der Hälfte der Zeit zu bewältigen. Gerade als der Strandabschnitt in Sicht kommt, an dem wir unsere Sachen haben liegen lassen, öffnet der Himmel plötzlich seine Schleusen und sorgt dafür, dass wir binnen kürzester Zeit bis auf die Knochen durchnässt sind.
Hastig schnappe ich mir unsere Schuhe und Socken und sprinte in Richtung Auto. „Komm schon, Kai!“, rufe ich ihm über die Schulter zu und entriegele per Fernbedienung den Wagen. Unsere nassen Sachen schmeiße ich auf die Rücksitzbank, bevor ich die Fahrertür aufreiße und ins Auto klettere. Kaum habe ich den Motor gestartet und die Sitzheizung eingeschaltet, wird die Beifahrertür ebenfalls aufgerissen und ein triefend nasser Kai erscheint im Türrahmen und lässt sich umgehend in den Sitz fallen.
„Was für ein Scheißwetter“, knurrt er ungehalten und ich lache kurz auf, amüsiert über seinen entnervten Tonfall. Durch diesen kurzen Moment rückt die Situation am Strand von vorhin in weite Ferne und löst das leichte Gefühl der Beklemmung, welches mich seitdem stumm begleitet hatte.
Kai hebt fragend eine Braue. „Seit wann bist du denn unter die Spaßvögel gegangen?“
Gute Frage. „Ich weiß es nicht. Vielleicht seitdem du diesen Part nicht mehr bekleidest“, sage ich und bereue meine Worte fast im selben Moment, denn Kai wird augenblicklich ernst, seine Miene verschlossen.
„Tut mir leid.“ Schnell beiße ich mir auf die Lippe, aber die Worte sind mir schon entschlüpft. So ein Bockmist, das war absolut taktlos, unterste Schublade, aber Entschuldigungen will er auch nicht hören, das hat er vorhin ausreichend klar gemacht.
Zu meinem Glück reagiert Kai anders als erwartet, stößt nur ein tiefes Seufzen aus. „Schon in Ordnung.“
Den Kopf seitlich gegen die Fensterscheibe gelehnt, schließt er die Augen und gibt mir so die Gelegenheit ihn kurz zu mustern - er sieht so erschöpft aus. Das feuchte Haar klebt ihm in der Stirn, einzelne Tropfen perlen an seinem Gesicht hinab und gesellen sich zu seinem völlig durchnässten Anzug. In jeder anderen Situation wäre ich komplett durchgedreht, ob der möglichen Wasserschäden meiner Autositze, aber so kann ich mir gar nicht den Kopf darüber zerbrechen. Da ist schlichtweg kein Platz für Unwichtiges.
„Was ist los mit dir, Kai? Warum willst du nicht über das reden, was passiert ist?“, frage ich und drehe mich im Autositz, damit ich ihn ansehen kann. „Ich will dich doch nicht dazu drängen, aber ich mache mir doch auch Sorgen um dich!“
Bei meinen Worten schluckt er und wirft mir einen seltsamen Blick zu. Irgendwie resigniert, aber auch unentschlossen. Als er dann anfängt zu reden, tut er das so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. „Natürlich tust du das, Connor. Weil du nämlich gut bist, im Gegensatz zu mir.“
„Was?“ Ich glaube mich verhört zu haben, das kann er unmöglich so gesagt haben, oder?
Er zuckt kurz zusammen, dann lässt er den Kopf in die Hände sinken und massiert sich die Schläfen, als hätte er tierische Kopfschmerzen. Ich will die Hand nach ihm ausstrecken, aber er wehrt ab. „Nicht.“ Kurz zuckt sein Blick zu mir hinüber. „Ich will nicht darüber reden, aber nicht aus dem Grund, den du vermutest. Ich will einfach nicht, dass du es weißt.“
„Dass ich was weiß?“, hake ich nach und bin erschrocken, als Kai unvermittelt den Kopf hebt und mich ansieht, die Augen rot gerädert, der Blick leer und trostlos.
„Wie leer es in mir ist“, sagt er leise. „Dass da nichts in mir ist, Connor! Keine Trauer, kein Schmerz. Rein gar nichts.“ Ein Herzschlag vergeht, bumm. Dann zwei, bumm bumm. Laut rauscht das Blut in meinen Ohren, so laut, dass es beinahe den Klang seiner Worte übertönt. „Ich habe Angst, dass sie mich hassen, wenn sie es erfahren. Dass du mich hasst.“
Ich habe keine Worte um auszudrücken, was gerade in mir vorgeht. Ich will etwas sagen, irgendetwas. Will Kai in den Arm nehmen und ihm sagen, dass ich ihn niemals hassen könnte. Egal, was auch passieren mag.
„Ich meine, ich habe sie doch geliebt, warum kann ich nicht um sie trauern? Was stimmt nicht mit mir, Connor? Wieso fühle ich nichts?“ Er sieht mich an, erwartet meine Antwort, wartet darauf, dass ich ihm helfen kann. Als wäre ich ein verdammter Held, der all seine Probleme zu lösen vermag. Aber das kann ich nicht, denn egal was ich auch versuche, egal wie sehr ich mich anstrenge nachzudenken, ihm die Antwort zu geben, die er hören will - mein Kopf ist wie leer gefegt. Warum muss das auch so schwer sein? Kai ist von uns beiden der Psychologe, nicht ich. Wie soll ich ihm bei etwas helfen, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe? Gefühle waren doch noch nie mein Metier!
„Ich ... scheiße, ich weiß es nicht Kai, wirklich nicht! Du weißt, dass wenn ich nur wüsste wie, ich dir sofort helfen würde. Aber das kann ich nicht, ich habe doch von so etwas keine Ahnung“, sage ich verzweifelt. Sein enttäuschter Gesichtsausdruck trifft mich tief und dieser sonderbare Ort in mir, der für ihn lebt, beginnt zu schmerzen.
„Ich meine, vielleicht ist das eine Kopfsache“, versuche ich es erneut. „So eine Art Schock. Der Unfall ist immerhin erst vor einigen Tagen gewesen und wer weiß, vielleicht willst du es unterbewusst noch nicht wahrhaben und kannst dementsprechend auch nicht um Julia trauern.“ Sogar in meinen Ohren klingt das einigermaßen plausibel und hatte Dr. Woschetzky nicht sogar etwas in der Art gesagt? Dass der Schock das Bewusstsein einenge und Kai deswegen umgehend psychologische Betreuung erfahren solle? Klingt ziemlich paradox, wo er doch selber sein Geld damit verdient, eben solchen Menschen mit ihren Problemen zu helfen. Aber vielleicht ist es doch das Richtige für ihn?
„Und wenn wir einen Termin bei einem Therapeuten für dich machen?“
Ein abfälliges Schnauben. „Ich gehe doch nicht zu einem Seelenklempner!“
„Auch nicht, wenn es dir helfen würde?“, hake ich nach.
„Wird es nicht. Ich bin vertraut mit den Methoden, die sie da verwenden und wenn ich denken würde, dass die mir da weiterhelfen könnten, dann wäre ich schon längst da gewesen.“
Ich seufze. „Nun gut, wie du meinst. Ich will dir doch bloß helfen können, Kai. Das ist alles.“
Er nickt abwesend, wahrscheinlich ist er längst wieder in seine eigenen Gedanken versunken und hat auf Durchzug geschaltet. Wer könnte ihm das auch verübeln? Erst das leichte Zittern seiner Beine ruft mir unsere missliche Lage inklusive nasser Klamotten wieder ins Gedächtnis und ich mache mich daran, uns nach Hause zu bringen. Je früher wir losfahren und aus den nassen Sachen wieder herauskommen, desto besser, immerhin haben wir noch rund eine Stunde Fahrt vor uns liegen. Während ich den Wagen starte, schalte ich Radio Hamburg ein, Kais Lieblingssender und so ziemlich der einzige den er hört, weil er das Moderatorengequatsche der anderen Sender nicht ertragen kann. Ich selber höre kaum zu, weder der Musik noch der Berichterstattung zu den aktuellen politischen Vorkommnissen, denn dafür bin ich viel zu beschäftigt damit, den Wagen durch den prasselnden Regen zu lenken und den heftigen Windböen entgegenzusteuern. Ein Glück sitzen wir hier drinnen im Auto, zwar nicht trocken, aber immerhin warm.
„Soll ich noch kurz anhalten, um uns etwas zum Essen mitzunehmen oder willst du, dass wir uns zuhause etwas kochen?“, frage ich Kai, als wir noch etwa zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt sind. Der heftige Regenschauer hat inzwischen nachgelassen und ist einem seichtem Nieselregen gewichen - typisches Wetter also, denn wie sagt man doch so schön? Nirgendwo strahlt der Himmel so schön grau wie in Hamburg.
„Können wir uns etwas mitnehmen? Ich habe keine Lust noch zu Kochen.“
„Klar, was willst du? Indisch und italienisch liegen auf dem Weg, für alles andere müssten wir noch einmal umdrehen.“ Still danke ich Kai für seine Entscheidung, meine Lust zu Kochen hält sich ebenfalls in Grenzen.
„Indisch klingt gut.“ Er wirft mir einen fragenden Blick zu. „Oder willst du lieber was vom Italiener?“
„Nein, nein. Wir fahren zum Inder“, sage ich erfreut über Kais Wahl - italienisch hatten wir schon Freitag - und setze den Blinker nach links, in Richtung des Masala, eines kleinen Restaurants mit indischer Küche. Während Kai im Auto wartet gebe ich drinnen unsere Bestellungen auf, die Priya, die Tochter des Besitzers mir kurze Zeit später in die Hand drückt. Das lange schwarze Haar hat sie heute zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die Schulter nach vorne fällt, die grünen Augen sind mit dunklem Kajal umrandet und anstelle des traditionell gewickelten Saris, trägt sie Jeans und ein langärmliges Shirt. Sehr ungewöhnlich, aber es steht ihr und das sage ich ihr auch.
„Dankeschön Connor, das ist lieb von dir. Hier hast du das gleiche wie immer“, sagt sie mit einem gutmütigen Lächeln im Gesicht. Eine kleine Anspielung darauf, dass Kai und ich echte Langweiler sind und immer dasselbe bestellen. „Guten Appetit wünsche ich euch und grüß Kai von mir.“
„Dankeschön, das mache ich und ich bin sicher, ich soll dich von ihm zurück grüßen“, sage ich und zwinkere ihr zu, während ich ihr das köstlich dampfende Essen aus der Hand nehme. Ganz sicher bin ich mir meiner Aussage bei Kais aktueller Gemütslage zwar nicht, aber eine kleine Notlüge hat noch niemandem geschadet. Denn seitdem wir das erste Mal hier waren, weiß ich, dass die hübsche Inderin ein Auge auf Kai geworfen hat, weswegen ich sie regelmäßig damit aufziehe. Die herausgestreckte Zunge ignorierend, winke ich der jungen Frau noch einmal zu, bevor ich das Restaurant verlasse und zum Auto sprinte. Mein Anzug ist zwar inzwischen nicht mehr komplett nass, liegt jedoch unangenehm klamm auf der Haut, weswegen ich es kaum erwarten kann, endlich nach Hause zu kommen.
Stadtgeräusche steigen in die Nacht auf, als ich den Wagen abschließe und Kai das Essen in die Hand drücke. Über uns erstreckt sich die lichterblitzende Dunkelheit Hamburgs, gedämpfte Musik schallt aus dem Gebäude zu meiner Rechten und die beiden altersschwachen Straßenlaternen, die den Parkplatz und den Vorhof des Wohnkomplexes sichern sollen, flackern träge vor sich hin. In der Ferne bellt ein Hund.
Ich fühle mich, als hätte ich kürzlich einen Marathon hinter mich gebracht, als ich die Stufen zu meiner Wohnung hochgehe und die Tür aufschließe. Ich knipse das Licht an, entledige mich meiner feuchten Anzugjacke und mache mich daran, den mit Gas betriebenen Kamin in Gang zu bringen. Meine Arbeit zahlt sich aus und kurze Zeit später erhellt das warme Flackern eines Feuers den Raum. Jetzt nur noch raus aus den klammen Sachen.
Im Schlafzimmer angekommen, schlüpfe ich so schnell wie nur irgend möglich aus meinen Klamotten, ziehe stattdessen eine schwarze Leinenhose und ein graues T-Shirt an und fühle mich prompt um einiges wohler. Nachdem ich eine Weile im Schrank gekramt habe, suche ich für Kai ein weißes Shirt und die kürzlich entdeckte Jogginghose heraus und gehe zurück ins Wohnzimmer.
„Hier, die Sachen müssten dir eigentlich passen.“ Ich drücke ihm die beiden Kleidungsstücke in die Hand. „Vielleicht können wir trotzdem in den nächsten Tagen bei dir zuhause vorbei fahren und ein paar deiner Sachen hierher holen.“ Vorsichtig sehe ich ihn an. „Also sofern du hierbleiben möchtest. Vorerst natürlich.“
Nickend rafft Kai die Sachen zusammen und geht ins Bad, wahrscheinlich um den nassen Anzug dort gleich aufzuhängen. Ich sehe ihm nachdenklich hinterher und frage mich, worauf genau sich sein Nicken bezieht. Als Zustimmung dafür, dass wir zu seiner und Julias Wohnung fahren, um einige Sachen zu holen oder als Bestätigung, dass er bei mir bleibt? Vorerst natürlich, wie ich es so nett ausgedrückt habe. Gott, ich könnte mich für diesen Kommentar umbringen! Das klingt so vollkommen falsch, als wäre Kai bloß irgendein Besucher, ein Fremder. Dabei will ich doch bloß nicht, dass er sich von mir bedrängt fühlt und ich ihn mit meinem Verhalten erst recht von mir stoße.
Du bist zurzeit der einzige Mensch den ich ertragen kann und das auch nur, weil du mich kennst und mir den Freiraum gibst, den ich brauche. Seine Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie sagen, dass er Freiraum braucht und Zeit. Aber gleichzeitig auch jemanden, der für ihn da ist, der diesen Weg gemeinsam mit ihm geht und der alles tut, damit es ihm besser geht - und ich will diese Person für ihn sein!
„Ich habe das Essen in die Küche gestellt.“
Erschrocken ruckt mein Kopf in die Höhe. Kai steht an den Türrahmen gelehnt und beobachtet mich, die dunklen Augen unverwandt auf mich gerichtet. Wie lange steht er schon da? Ich kann es nur vermuten, aber ich habe die Tür nicht gehört, also wohl schon eine ganze Weile.
„Was ist?“, frage ich unbehaglich und sehe mich vorsichtshalber um.
„Nichts.“ Er löst sich vom Rahmen und steuert die Küche an. Bevor er aber dort ist, dreht er sich noch einmal um und mustert mich. Sein Blick ist seltsam, irgendwie bohrend. „Woran hast du eben gedacht?“
Sämtliches Blut weicht aus meinem Gesicht. Die Frage in Verbindung mit seinem forschenden Blick, kann nichts Gutes bedeuten und mir schwant Übles. Ich habe mich bisher stets zurückgehalten, mir meine Gefühle in seiner Gegenwart nicht anmerken zu lassen, aber in den letzten Tagen bin ich unvorsichtig geworden.
Den unverbindlichsten Gesichtsausdruck aufsetzend, den ich zustande bringe, erwidere ich seinen Blick. „An nichts Besonderes. Wieso fragst du?“ Es missfällt mir, Kai anzulügen, aber was ist schon die Alternative?
Einen Moment bleibt sein Blick noch auf mir ruhen, forschend und nicht sicher, ob er mir Glauben schenken soll, aber meine Maske sitzt und so wendet er sich mit einem nachdenklichen „Schon gut“, ab.
Ich warte noch eine Weile ab, bevor ich ihm in die Küche folge. Mein Herz klopft viel zu laut in meiner Brust und meine Hände sind so schwitzig, dass ich sie mir an meiner Hose abwischen muss. Was war das eben? Was für eine grandiose Idee aber auch! Lügen wir doch den Menschen an, der mich seit über fünfundzwanzig Jahren kennt und der sein Geld damit verdient, das Verhalten von Menschen zu analysieren und auszuwerten. Klasse Plan, auch wenn er fürs Erste aufgegangen zu sein scheint.
Jetzt, nachdem ich mich wieder eingekriegt und den kurzen Schreckmoment verdaut habe, meldet sich der Hunger und ich geselle mich zu Kai in die Küche. Das Essen hat er schon auf die Teller gefüllt, hauptsächlich, weil er weiß, dass ich es hasse aus diesen Pappboxen zu essen und gerade füllt er zwei Gläser mit Wasser und drückt mir eins davon in die Hand. Ich brauche nicht extra nachzusehen um zu wissen, dass es ohne Kohlensäure und somit so ist, wie ich es mag.
Essen tun wir gemeinsam im Wohnzimmer, nebenbei läuft der Fernseher vor sich hin und das helle Knistern und Knacken der Flammen schafft eine angenehme Stimmung. Diese Situation kenne ich, sie ist vertraut und ich fühle mich ein wenig in die Zeit zurückgesetzt, als wir uns hier zusammen Fußball angesehen haben. Kaum zu glauben, dass das erst wenige Tage her ist. Wenige Tage in denen sich doch so viel geändert hat, denn diesmal gibt es keine lustigen Kommentare von Kais Seite und auch die Atmosphäre ist eine ganz andere. Trotzdem ist es der erste einigermaßen angenehme Abend, seit Julias Tod, weil mir durch unser Gespräch heute viel klar geworden ist und die nagende Angst um Kai und dass er sich etwas antun könnte, nachgelassen hat. Denn das Problem liegt, wie es scheint, nicht in der Tatsache von Julias Tod begründet, sondern vielmehr in Kais Umgang damit und auch wenn er sich vehement dagegen ausgesprochen hat, zu einem Therapeuten zu gehen, werde ich diesen Gedanken im Hinterkopf behalten, ob es ihm nun gefällt oder nicht.
Es ist schon fast Mitternacht und es läuft wirklich nur noch Müll im Fernsehen, als ich registriere, dass Kai tatsächlich eingeschlafen ist. So leise wie möglich räume ich unser Besteck in die Geschirrspülmaschine und die Kissen vom Sofa, damit er endlich nicht mehr so zusammengekrümmt schlafen muss. Als letztes breite ich eine Decke über ihm aus, lösche alle Lichter und mache mich fertig, um ins Bett zu gehen. Für einen Tag ist viel passiert heute. Vielleicht zu viel, aber ich bin zu müde um mir darüber Gedanken zu machen. Außerdem - morgen kommt ein neuer Tag.
Es ist Montagabend, Tag Zehn nach Julias Unfall.
Orangefarbenes Licht flutet den Raum und reißt mich damit aus meiner Konzentration. Ich stehe auf, mein Rücken reagiert sogleich mit einem hörbaren Knacken, beschwert sich deutlich über die letzten Stunden, die ich in unbequemer Haltung verbracht habe und verlangt nach Bewegung, sofort. Dem nachkommend schlendere ich langsam hinüber zur großen Glasfront, die die komplette westliche Wand meines Büros darstellt - was dann kommt, ist purer Genuss! Vor meinen Augen erstreckt sich die Skyline Hamburgs, ein wahrhaft atemberaubendes Bild, ganz besonders jetzt, wo die letzten Strahlen der Sonne langsam hinter dem Horizont verschwinden, dabei die Silhouette der Gebäude nachzeichnen und die Lichter der Stadt zum Vorschein kommen. Wundervoll!
Bewusst langsam lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, vom glänzenden Schreibtisch über die kostspieligen Rechner, bis hin zu den nagelneuen Monitoren. Alles strahlt wie frisch aus dem Hochglanzmagazin. So verhält es sich mit der gesamten Einrichtung meines zur Verfügung gestellten Büros. Nichts wurde dem Zufall überlassen, alles ist perfekt aufeinander abgestimmt, geschmackvoll und luxuriös. Dunkle Parkettböden harmonieren mit weißem Mobiliar, bodentiefe Fenster fluten den Raum mit Tageslicht und ermöglichen mir diesen sensationellen Ausblick, während große grüne Topfpflanzen für ein erfrischendes Flair sorgen. Bunte, im expressionistischem Stil gehaltene Bilder runden das Gesamtpaket ab. Alles hier in diesem Raum schreit nach Luxus und Reichtum und zwar so sehr, dass ich mich nicht einmal getraut habe, die Namen der Künstler zu googeln, aus Angst davor zu erfahren, welche Summen beim Kauf dieser Bilder getätigt und an mich verschwendet wurden. Verschwendet, weil ich zugegebenermaßen ein richtiger Kunstbanause bin.
Womit ich sicher nicht sagen will, dass ich mich in all diesem Luxus nicht wohlfühlen würde, denn das tue ich schon. Wer würde all das hier nicht genießen? Es wäre bloß nicht nötig gewesen, zum Arbeiten reichen mir ein aufgeräumter Schreibtisch, ein Stuhl zum Sitzen, ein Rechner mit leistungsstarkem Prozessor und ab und zu ein heißes Getränk, das ist alles!
Bei dem Treffen mit Sabrina Winter am letzten Mittwoch sind wir uns weitestgehend darin einig geworden, wie unsere Zusammenarbeit in Zukunft ablaufen wird. Dieses Büro ist nur einer der Vorteile, die die Kooperation mit IMA.sec mir bietet. Geregelte Arbeitszeiten und eine stattliche Entlohnung, sowie Zugang zu sämtlichen Einrichtungen des Gebäudes sind weitere Extras, die mir die Arbeit hier erleichtern sollen. Und wenn ich sage erleichtern, dann spreche ich von einem firmeneigenem Restaurant, einem Fitnessstudio inklusive Spa, sowie Vorträgen zum Thema Stressbewältigung und Ernährung. Wobei ich Letzteres hoffentlich nicht in Anspruch nehmen werden muss, denn ein Stressbewältigungsworkshop setzt voraus, dass ich zuerst einmal welchen haben muss und auf den kann ich gut und gerne verzichten. Zum Thema Ernährungsworkshop ... da gehe ich besser nicht hin, das würde mir meine Unzulänglichkeiten nur allzu deutlich machen, denn sagen wir mal so: Mein Körper ist nicht das Ergebnis eines strikten Ernährungsplans und eiserner Disziplin, sondern vielmehr das Geschenk eines guten Stoffwechsels und einer gesunden Größe. Ein Umstand, für den meine Schwestern mich schon mein ganzes Leben lang verfluchen.
Apropos Schwestern. Am Wochenende ist Klara vorbeigekommen um sich nach meinem, vorrangig aber wohl nach Kais Gesundheitszustand zu erkundigen. Der war zu der Zeit allerdings laufen, weswegen ich dem Verhör meiner Schwester gnadenlos und ohne Unterstützung ausgesetzt war. Ein Erlebnis, das sich sehr viel schlimmer anhört, als er eigentlich war, denn in Wahrheit habe ich das Gespräch mit Klara sehr genossen, vor allem, weil es sich nicht vordergründig um Kai, den Unfall und mich, sondern um ihr Leben gedreht hat. So habe ich beispielsweise erfahren, dass Nelly gerade dabei ist, unter großem Gezedere ihren ersten Milchzahn zu verlieren und schon sehnsüchtig den Besuch der Zahnfee erwartet. Natürlich versucht der kleine Giftzwerg den Prozess ein wenig zu beschleunigen um das versprochene Geschenk früher abzustauben, aber auch dafür hat Klara eine Lösung: Die Zahnfee kommt nur dann, wenn der Zahn auch von alleine herausgefallen ist. Alles andere wäre schließlich geschummelt. So eine Schande aber auch!
Kurz bevor Klara gegangen ist, hat sie mir noch ein aktuelles Foto von Nelly gezeigt. Das blonde lockige Haar zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden, sieht sie aus wie eine blonde Ausgabe von Pippi Langstrumpf. Passend dazu trägt sie ihre Lieblings-Latzhose aus Jeans, natürlich völlig bedeckt mit bunten Grasflecken, und grinst mit sommersprossenüberzogenem Gesicht direkt in die Kamera. Meine Güte ist der Zwerg groß geworden! In diesem Alter wachsen die aber auch wie Unkraut, kaum dreht man sich einmal um und passt nicht auf, überraschen sie einen mit einem erneuten Wachstumsschub.
Dass Kai erst von seiner Runde zurückgekommen ist, nachdem Klara sich schon verabschiedet hatte, scheint wohl eine Fügung des Schicksals gewesen zu sein, denn auf eine Runde Quiz mit Klara hätte wohl keiner von uns noch Lust gehabt. Ob er da wohlmöglich nachgeholfen hat, kann ich nicht sagen, aber ich denke die Tatsache, dass Kai keine fünf Minuten nachdem meine Schwester verschwunden ist, zurückkommt, spricht für sich. Wirklich verübeln kann ich es ihm nicht, Klara ist die weibliche Version eines Bluthundes. Bloß in verrückt.
Das gedämpfte Klopfen an der Tür hallt durch den Raum und reißt mich aus meinen Gedanken. „Herein“, sage ich überrumpelt.
Julie, die junge Empfangsdame lugt vorsichtig herein. „Guten Abend, Herr Grüning! Bitte entschuldigen Sie die Störung, ich wollte Sie nur darüber informieren, dass ich für heute Schluss mache. Sollten Sie also noch etwas benötigen, sagen Sie mir bitte Bescheid. Ich lasse ihnen sonst die Mitarbeiterküche geöffnet, da können Sie sich im Notfall bedienen, sollten Sie noch etwas brauchen.“
Das ist das erste Mal, dass Julie mich direkt anspricht und dieser Umstand scheint sie erstaunlich nervös zu machen. Bestimmt sagen das die meisten Menschen von sich, aber ich würde meine Person an sich jetzt nicht gerade als einschüchternd bezeichnen. Klar, ich bin groß, woher genau ich diese Eigenschaft habe, weiß niemand, denn in meiner Familie leben allesamt Zwerge, aber das an sich ist kein Grund so dermaßen nervös zu sein. Unruhig zupft sie beim Sprechen zuerst ihren schwarzen, etwa knielangen Rock zurecht, dann muss die weiße Bluse dran glauben. Als sie dann auch noch ihre langen braunen Haare um einen Finger wickelt und abwechselnd daran zieht, wird es mir zu viel und ich beschließe, sie von ihrem Elend zu erlösen. Ob es am Anzug liegt? Um sie ein wenig in Schutz zu nehmen, sie ist aber auch ein junges Ding! Vielleicht Anfang zwanzig und mit ihren großen braunen Augen und den langen dünnen Beinen hat sie etwas von einem verschreckten Reh im Scheinwerferlicht. Ich kann nicht anders, als Mitleid mit ihr zu haben.
„Dankeschön Julie, dass ist lieb von Ihnen, aber machen Sie sich keine Umstände. Ich hatte sowieso vor, Schluss zu machen. Ich packe nur noch schnell meine Sachen und dann bin ich auch weg“, sage ich und versuche es mit einem freundlichen Lächeln. Ich bin es nicht gewohnt, so sehr auf ein Podest gestellt zu werden und kann es auch nicht leiden, also füge ich hinzu: „Und nennen Sie mich bitte Connor!“
Ein etwas unsicheres, aber durchaus erfreutes Lächeln erscheint auf ihren hübschen Gesichtszügen, bevor sie sich mit einem Gruß verabschiedet und die Tür leise hinter sich zuzieht. Zufrieden stelle ich fest, dass ihre Verabschiedung dieses Mal mit meinem Vornamen, und nicht mit dem standardisierten und unpersönlichen Herr Grüning geendet hat. Wir machen also Fortschritte!
Julies Auftauchen hat mich daran erinnert, wie spät es bereits ist, also beginne ich damit klar Schiff zu machen. Routiniert schaffe ein wenig Ordnung auf meinem Schreibtisch, fahre vorschriftsgemäß alle Rechner herunter und mache mich auf den Weg hinunter ins Erdgeschoss. Mit einem Nicken verabschiede ich mich von Simon, dem Securitychef mit den eisblauen Augen und dem Attentätergesicht, und entriegele am Parkplatz angekommen, meinen Wagen. Kurz das Handy checken: Zwei Anrufe in Abwesenheit. Einer von Marie, der andere ... Meine Mutter.
Mit einem Seufzen, das aus den tiefsten Tiefen meiner Seele zu kommen scheint, starte ich den Wagen und fädele mich in den Verkehr ein. Ich hätte es wissen müssen! Hätte wissen müssen, dass Klara mich verpetzen wird und dass ihr Besuch am Samstag keine reine Höflichkeitsbekundung war. Jetzt hat sie sich nach ganz oben gewandt und mir damit die Möglichkeit genommen, den Rest der Familie selbst zu informieren. Maries Anruf ist wahrscheinlich bloß der verzweifelte Versuch gewesen, mich vorzuwarnen und ein wenig geschwisterliche Solidarität zu zeigen, ein Unterfangen, welches leider fehlgeschlagen ist. Kurz überlege ich, ob ich mich dem Ganzen sofort zu stellen habe, wäge das Für und Wider ab und beschließe dann aber, die Sache lieber gleich hinter mich zu bringen. Moriella Grüning lässt man nicht warten.
„Hallo Liebling!“ Die Stimme meiner Mutter ertönt klar und fest aus den Lautsprechern meiner Freisprechanlage. Kein Vorwurf herauszuhören. So weit, so gut.
„Hallo Mum.“ Im Hintergrund ist das Scharren eines Stuhles zu hören, dessen Beine über Fliesen schaben. Wahrscheinlich ist sie in der Küche.
„Ist das Connor?“ Die Stimme meines Vaters im Hintergrund klingt durch den Hall leicht verzerrt, also tatsächlich die Küche. Beinahe kann ich sie vor mir sehen, wie sie am großen Esstisch sitzen, das Telefon in der Mitte, die Gesichter gespannt. Meine Mutter hat die blonden Locken zu einem Knoten geschlungen, vielleicht trägt sie ihren grauen Lieblingsrock und dazu den Lippenstift in dunklem Rot. Daneben mein Vater, mehr funktionell als modisch gekleidet, mit braunem, an den Schläfen bereits ergrautem Haar. Neben ihm wirkt meine Mutter klein und zerbrechlich, ein Eindruck der gewaltig täuscht.
Ich höre, wie eine Hand über den Telefonhörer gelegt wird. „Schhh ... Andreas! Ja, es ist Connor, er hat gerade erst angerufen.“ Noch mehr gedämpftes Gemurmel, ich kann nicht alles verstehen, da ich mich gleichzeitig auf den Verkehr konzentrieren muss. Urplötzlich bremst das schwarze Auto ein Stück vor mir, was folgt ist ein wahres Hupkonzert.
Wieder meine Mutter. „Connor? Wo bist du? Ich höre Lärm im Hintergrund.“
„Ich bin auf dem Rückweg von der Arbeit.“
„So spät?“, fragt sie in typisch mütterlich besorgtem Ton.
„Ja, ich habe die Zeit vergessen. Das heute ist eine Ausnahme, normalerweise mache ich früher Schluss.“
Es ist still in der Leitung und ich weiß, dass sie gerade bedächtig mit dem Kopf nickt, eine kleine Eigenart, die sie nie ablegen wird. Ich verzichte, sie darauf hinzuweisen, dass ich das über das Telefon nicht sehen kann und warte ab.
„Also ... wie geht es dir?“, fragt sie schließlich zögernd und dieses Zögern in ihrer Stimme ist es, welches meine Aufmerksamkeit weckt. Diese Art der Zurückhaltung bin ich nicht von ihr gewohnt, ist meine Mutter doch sonst diejenige, die sofort mit der Tür ins Haus fällt. Was hat Klara ihr erzählt?
„Es geht mir gut. Und euch?“
„Schön, das ist wirklich schön“, sagt sie gedankenverloren. „Deinem Vater und mir geht es auch gut.“
Ich hasse diese Art von Gespräch, dieses unbehagliche Schweigen und vorsichtige Herantasten. Ich weiß, aus welchem Grund sie mich sprechen will, also reden wir nicht um den heißen Brei herum. „Mum?“
„Ja, mein Schatz?“
„Ich weiß, warum du angerufen hast und es tut mir leid. Ich hätte euch davon erzählen sollen, ich wusste nur nicht wie.“ Langsam lasse ich den angehaltenen Atem entweichen.
„Wovon genau redest du, Connor? Und was tut dir leid?“
Ich stutze. „Ich rede von dem Vorfall von vor anderthalb Wochen. Von Julias Unfall, der Beerdigung und dass Kai jetzt bei mir wohnt. Zumindest vorübergehend“, sage ich einigermaßen irritiert. Hat Klara meinen Eltern doch nichts gesagt? „Deswegen hast du mich doch angerufen, oder? Weil ich euch nicht Bescheid gegeben habe.“
„Aber nein, mein Schatz, deswegen habe ich nicht angerufen. Es stimmt, Klara hat gestern Abend bei uns durchgeklingelt und uns von diesem schrecklichen Vorfall erzählt. Es ist wirklich grauenvoll, da denkt man, es trifft immer nur andere Leute, aber nie einen selbst. So kann man sich täuschen.“ Ihre Stimme wird leiser. „Aber ich habe dich doch nicht angerufen, um dir Vorwürfe zu machen und dir braucht doch nichts leid zu tun. Wir sind es, die sich entschuldigen müssen! Dein Vater und ich, wir waren in letzter Zeit so sehr beschäftigt mit dem Umbau des Hauses, dass wir uns viel zu selten nach dir und deinen Geschwistern erkundigt haben. Es tut mir leid, wenn wir dir in irgendeiner Art das Gefühl gegeben haben, nicht mit uns über alles reden zu können, das lag nicht in unserer Absicht. Denn zu uns kommen, kannst du immer und zu jeder Zeit. Das weißt du doch, nicht wahr?“
„Ich ... natürlich weiß ich das, Mum!“, sage ich ein wenig überwältigt. „Daran hat es doch auch überhaupt nicht gelegen, ihr zwei habt mir zu keiner Zeit das Gefühl gegeben, dass ich nicht mit euch reden könnte. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wie ich es auch sagen soll. Die letzten Tage waren wirklich anstrengend, mit der Arbeit und vor allem auch mit Kai. Ihm geht es schlechter, als er zugeben will, aber es ist so verdammt schwer ihm das klarzumachen und ihm zu helfen!“
Ein kurzes Rascheln, wahrscheinlich hat das Telefon die Hand gewechselt, dann spricht sie weiter. „Aber das musst du doch nicht alleine tun, Connor. Das wäre auch so gut wie unmöglich, bei dem Dickschädel, den Kai sein Eigen nennt! Wusstest du, dass als du Hausarrest hattest - ich meine du warst fünf oder sechs - Kai bei mir aufgetaucht ist, um dich zum Fußballspielen abzuholen? Und weißt du, was er getan hat, als ich ihm erzählt habe, dass du nicht mitkommen könntest, weil du Hausarrest hättest? Er hat nicht gefragt, was du getan hast um dir die Strafe zu verdienen, das war ihm egal. Nein, stattdessen hat er da in meiner Küche gestanden und mich angestarrt. Die ganze Zeit lang und er hat nicht damit aufgehört!“ Sie lacht leise. „Das war so dermaßen seltsam, dass ich ihm letztendlich erlaubt habe, dich aus deinem Zimmer zu holen und zum Spielen mitzunehmen. So ist er schon immer gewesen, stur wie ein Maulesel! Durchaus eine bewundernswerte Eigenschaft, denn jedes andere Kind hätte sich mit der Tatsache abgefunden, dass du Hausarrest hast und wäre an einem anderen Tag wieder gekommen. Nicht so Kai.“ Wehmut begleitet den Klang ihrer Stimme.
„Das wusste ich gar nicht“, sage ich verblüfft. Ich stoppe den Wagen in der Einfahrt zum Wohngelände und warte, bis das automatische Tor zur Seite fährt, um mich durchzulassen.
„Dann hat er es dir wohl nie erzählt“, schlussfolgert meine Mutter, ihre Stimme klingt bedrückt. „Das ausgerechnet ihm solch ein Unglück widerfahren muss, ist schrecklich.“
Nickend stimme ich ihr zu. Schrecklich ist kein Wort um auszudrücken, was hier im Moment so vor sich geht. Ich parke das Auto und stelle den Motor ab, dann löse ich vorsichtig das Handy aus der Freisprechanlage und schließe die Autotür hinter mir. Auf dem Weg zu meiner Wohnung überlege ich charmant, wie ich meine Mutter am besten abgewimmelt bekomme. Nicht die feine englische Art, das weiß ich selbst. Und ich liebe meine Mutter ja auch, nur bin ich für dieses ganze Gefühlsgerede denkbar schlecht geeignet - und das nicht erst seit neuestem.
„Mum, hör zu. Ich bin jetzt zu Hause und muss Schluss machen. Kai ist hier und ...“
„Und du willst nicht, dass Kai uns über sich reden hört, natürlich mein Schatz“, beendet sie meinen Satz. Ich atme bereits erleichtert auf, da zerstört sie meine schillernden Hoffnungen und Träume mit gewohntem Pragnatismus. „Aber eigentlich möchtest du bloß dieses Gespräch beenden, weil du dich in dem Moment unwohl gefühlt hast, als das Thema Gefühle angeschnitten worden ist. So warst du schon immer, Connor, also versuch' es erst gar nicht mit Ausreden!“
Oh oh. So ein Mist! Aber was soll ich sagen? Meine Mutter kennt mich eben und ich hoffe doch es ist nicht zu vermessen, zu behaupten, dass sie mich trotz meiner Macken liebt. So sind echte Mütter nun einmal, auch wenn ich das Gefühl habe, dass meine mit einem Extrapaar Röntgenaugen gesegnet wurde. Die Male bei denen ich mit einer kleinen Notlüge bei ihr durchgekommen bin, lassen sich an der Hand abzählen und waren meist nicht einmal mein Verdienst, sondern der von Klara. Die ist allerdings auch die einzige, die mit allerlei Blödsinn davonkommt. Früher wie heute.
„Das Thema ist nicht abgehakt, falls du das jetzt denken solltest. Ich will, dass du herkommst. Und bring Kai mit! Ich will sehen, wie es ihm geht“, sagt sie bestimmend und damit ist für sie das Thema offensichtlich durch.
„Moment, das geht nicht. Ich habe hier viel zu tun und ... du kannst nicht einfach über andere Menschen bestimmen, Mum.“ Meine Stimme klingt entnervt, was kein Wunder ist, bei so viel Dreistigkeit auf einem Haufen.
„Natürlich kann ich das, ich bin schließlich deine Mutter.“
Na super, das aber-ich-bin-deine-Mutter Argument wurde soeben ins Spielfeld gebracht. Am liebsten würde ich jetzt mit den Augen rollen, aber davor ich hüte mich. Am Ende bekommt sie es doch nur wieder mit. Fragt mich nicht wie! „Diese Karte spielst du schon seit drei Jahrzenten“, sage ich daher trocken.
Sie lacht leise. „Und es funktioniert trotzdem.“
„Nicht immer“, korrigiere ich sie. „Ich meine, ich würde ja zu euch kommen, aber ich kann nicht für Kai mitentscheiden. Er hat im Gegensatz zu mir noch seinen freien Willen.“
„Ach jetzt stell dich nicht so an, mein Schatz! Frag ihn einfach ob er mitkommt, ich bin sicher, er sagt ja. Für alles weitere ist später noch Zeit. Jetzt geh erst einmal zu ihm hoch und sieh nach, wie es ihm geht. Ich plane euch für übernächstes Wochenende ein und wenn ich von dir keine Rückmeldung erhalte, notiere ich das als festgelegt.“
Ein unbestimmtes Brummen von mir gebend, suche ich in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel. Verärgert registriere ich, dass die Kinder von Frau Meier aus dem Erdgeschoss schon wieder den Fußboden mit bunter Kreide bemalt haben. Undefinierbares Gekrakel in blau, violett und orange neben ein paar grünen Bäumen und einer halbwegs erkennbaren Sonne. Na halleluja!
„Sehr schön, das wird sicherlich großartig!“, freut sich meine Mutter. „Wir machen hier dann alles fertig, du und Kai ihr könnt dein altes Zimmer haben und Klara und Marie freuen sich sicherlich auch schon wahnsinnig dich wiederzusehen, vor allem Marie. Dann haben wir endlich mal wieder ein volles Haus, ich freue mich auf euch und Kai wird die Gesellschaft sicherlich auch gut tun. Also mach‘s gut, mein Schatz und wenn irgendetwas sein sollte. Ruf mich an, in Ordnung?“
„Ja, das mache ich. Bis dann, Mum“, sage ich überrumpelt. Wenn meine Mutter aufgeregt ist, plappert sie wie ein Wasserfall. Aber sie hat Recht, ein volles Haus zu haben, das wird wirklich schön. Die Familie, Klara, Marie ... Moment mal. Wieso zur Hölle sind meine Schwestern auch da? Davon, dass sie auch kommen, war nie die Rede!
„Moment, warte ...“, rufe ich ins Telefon, aber das einzig zu hörende Geräusch ist das des Freizeichens in der Leitung. Meine Mutter hat aufgelegt. Und während ich darüber nachdenke, dass dieses Wochenende eigentlich nur in einem Desaster enden kann, stelle ich amüsiert fest, dass das undefinierbare Gekrakel der Nachbarskinder, so hässlich es auch sein mag, den Gemälden in meinem Büro erstaunlich ähnlich sieht.
Das erste, was ich registriere, als ich die Wohnung betrete und meine Schlüssel auf die Kommode im Flur lege, ist Stille. Keine Musik, kein Fernsehergerede, kein Radiolärm. Nichts. Ich ziehe meine Anzugjacke aus und lockere den Krawattenknoten, dann gehe ich in Richtung Wohnzimmer. „Kai?“
Suchend lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und rolle dabei die Ärmel meines weißen Hemdes hoch. Keine Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch und auch keine stehengelassenen Wassergläser, die stets diese unschönen Wasserränder auf dem Tisch hinterlassen und das obwohl ich Kai schon seit Jahren predige Untersetzter zu benutzen. Ein Blick zurück in den Flur, seine Sportschuhe stehen auf ihrem Platz, eine Runde laufen gegangen ist er also nicht. Aber wo ist er dann?
Seine Tasche mit den Sachen, die wir am Freitag aus seiner und Julias Wohnung geholt haben, steht noch immer an der gleichen Stelle wie heute Morgen und auch das Sofa ist noch ausgezogen. Weg ist er also nicht.
Mir ist klar, dass diese Gewissheit mich nicht dermaßen erleichtern sollte, schließlich ist Kai ein erwachsener Mann und wenn er in seine eigene Wohnung zurück will, dann liegt das ganz und allein bei ihm. Aber dass er an den Ort zurück will, an dem er zusammen mit Julia gelebt hat und an dem sich alle Fotos, Habseligkeiten und gemeinsamen Erinnerungen befinden, das glaube ich nicht wirklich. Oh nein! Dafür war das am Freitag zu heftig.
Sein Gesicht, ich glaube das werde ich niemals vergessen. Diese starre Mimik, die unruhige Art, mit der sein Blick durch die Wohnung geschweift ist, vorbei an Büchern, Bildern, Möbeln und Besteck. Die Tatsache, dass Julias Eltern in der Zwischenzeit dort gewesen waren, um einige Erinnerungsstücke ihrer Tochter mitzunehmen, hat das Ganze nicht besser gemacht. Und so haben wir nur das Nötigste eingepackt und sind dann verschwunden. Länger hätte ich es dort auch nicht ausgehalten, die buntgestrichenen Wände, die Fotos und das aufgeschlagene Magazin auf dem Küchentisch, all das wirkte bedrückend, anklagend. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an das Bild denke, welches sich uns dort bot, ein Standbild, herausgerissen mitten aus dem Leben. Und trotzdem so voller Unbehagen, dass ich mir sicher bin, dass Kai es auch gespürt haben muss.
Darüber wie lange er bei mir bleibt, haben wir nicht geredet und werden wir wohl auch in Zukunft nicht. So als wäre diese Übergangslösung das normalste der Welt, solange wir es nur nicht ansprechen. Auch sonst spricht Kai nicht viel. Wenn, dann fragt er mich nach meinem Tag und was mir so spannendes passiert ist und dann erzähle ich ihm ausschweifend davon, was ich erlebt habe. Manchmal bringe ich ihn zum Lachen, wenn ich ihm von den seltsamen Macken berichte, die einige meiner Kollegen so an den Tag legen. Da wäre zum Beispiel Karin, die in der Buchhaltung arbeitet und immer zwei verschiedene Paar Socken trägt oder Timo, einer der Leibwächter, der wenn niemand hinsieht, bestimmte Gegenstände verrückt. Sei es nun ein Stuhl, der kleine Tisch im Erdgeschoss oder die Topfpflanze auf dem Gang. Verrückt, oder?
Besonders interessiert Kai sich für meine Arbeit und dass sie mir Spaß macht. Das dem so ist, habe ich ihm sicherlich schon hundert Mal versichert, trotzdem fragt er mich regelrecht aus, weswegen ich manchmal das Gefühl habe, dass er noch immer das Bedürfnis hat, mich vor anderen in Schutz zu nehmen. So wie das früher der Fall war, als wir noch jünger waren. Kinder können grausam sein und wer anders ist, der wird im besten Fall gemieden, im schlimmsten Fall verprügelt. Das mir ersteres widerfahren ist, habe ich nur der Tatsache zu verdanken, dass Kai seinen größten Wachstumsschub bereits in der neunten Klasse hinter sich hatte und sich dementsprechend keiner getraut hat, mir zu nahe zu kommen. Dass Kai und ich inzwischen beinahe gleich groß sind und ich meine Probleme schon lange selbst löse, scheint bei ihm noch nicht so wirklich angekommen zu sein. Der Unfall hat zwar dafür gesorgt, dass wir für einen Moment die Rollen getauscht haben, auf Dauer geändert hat sich aber nichts.
Das Klicken eines Schlosses, Schritte im Flur.
Ich sehe Kai durch die Tür kommen, sauge jedes Detail seiner Erscheinung in mich auf. Die langen Beine stecken in einer schwarzen Jeans, den grauen Pullover hat er von mir und die ebenfalls schwarze Jacke, welche er gerade an den Haken hängt, habe ich ihm letztes Jahr zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Als er meinen Blick bemerkt, dreht er sich zu mir um und schenkt mir die Andeutung eines Lächelns. Zu mehr haben wir es seit Julias Unfall noch nicht gebracht, aber ich arbeite daran.
„Hey. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du schon da bist“, sagt er leicht außer Atem. Vermutlich ist er die Treppe hochgejoggt, eine Tätigkeit, die er sich die letzten Tage über angewöhnt hat. Mit welchen Problemen er auch immer zu kämpfen hat, Sport scheint zu helfen und auch jetzt sieht er einigermaßen gelöst aus. Kleine, von der hohen Luftfeuchtigkeit herrührende Tröpfchen haben sich in den schwarzen Strähnen seiner Haare verfangen, die Wangen sind gerötet von der Kälte draußen.
„Wo warst du?“, übergehe ich seine Begrüßung, den Blick auf die schwarze Aktentasche in seiner Hand gerichtet. Natürlich kenne ich die Antwort auf meine Frage bereits, sie Kai aussprechen zu hören ist dennoch eine ganz andere Sache.
„Bei der Arbeit.“
„Dein Vorgesetzter hat dich freigestellt, Kai. Noch bis nächsten Montag, falls du das vergessen haben solltest.“ Ich versuche jeglichen Vorwurf aus meiner Stimme herauszuhalten, aber das ist leichter gesagt als getan.
„Und?“ Sein Blick ist herausfordernd.
„Nichts und“, sage ich. „Deine Trauerzeit ist noch nicht vorbei, wieso gehst du wieder zur Arbeit?“
„Die Frage ist doch, wieso sollte ich nicht zur Arbeit gehen? Hier fällt mir langsam aber sicher die Decke auf den Kopf, Connor, ich brauche etwas zu tun“, sagt er fest. „Und ob ich nun hier bin oder bei der Arbeit ist doch im Grunde egal, bloß dass ich dort wenigstens zu etwas nützlich bin.“ Beiläufig legt er die Aktentasche auf die Kommode, seine Hände zittern leicht.
„Und deine Patienten?“
„Was soll mit denen sein?“ Er sieht mich an, ein Muskel in seiner Wange zuckt.
„Wie stehen die dazu, von einem Psychologen betreut zu werden, der zurzeit selbst mit eigenen Problemen zu kämpfen hat?“
Er zuckt die Achseln. „Das geht sie nichts an. Außerdem geht es mir gut“, sagt er und schiebt sich an mir vorbei in Richtung Wohnbereich.
So ein Mist aber auch, langsam reicht's mir! Dauernd dieses Ausgeweiche - und warum sieht er mich nicht an, wenn ich mit ihm rede? Energisch folge ich Kai, der an den Tresen gelehnt steht und ganz offensichtlich nicht an einer Unterhaltung interessiert ist. Zumindest keine, die sich mit der Tatsache befasst, dass er trotz Freistellung wieder zur Arbeit gegangen ist. Zum Glück hat mich das noch nie gekümmert. „Was soll das?“, frage ich ihn. „Du musst niemandem etwas beweisen, Kai. Weder dir noch mir. Ich meine ... der Unfall ist doch erst wenige Tage her, niemand erwartet von dir, dass du einfach so weiter machst. So etwas braucht Zeit und ...“
„Woher willst du das wissen, Connor?“, fällt Kai mir ins Wort. Gefährlich langsam stößt er sich vom Tresen ab und starrt mich an, die dunklen Augen unverwandt auf mich gerichtet. „Woher willst du wissen, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat? Wie es sich anfühlt?“
Die Stimmung kippt, langsam richten sich die Haare auf meinen Armen auf. „Ich wollte damit nicht behaupten, dass ich das nachvollziehen kann. Ich ...“
„Das kannst du auch gar nicht, also sei nicht so verdammt selbstgerecht.“
Oh scheiße. „Das war ganz sicher nicht meine Absicht“, versuche ich die Situation zu retten. Ein Streit ist das letzte, was ich will und Kais wütendes Gesicht bereitet mir Unbehagen. „Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, Kai, aber ...“
„Nein verdammt, nichts weißt du!“, explodiert er plötzlich. „Du weißt nicht, wie ich mich fühle, hast keinen Schimmer davon, was in mir vorgeht - und weißt du auch warum? Weil du überhaupt keine Ahnung hast, wie es ist, jemanden zu lieben!“ Mit voller Wucht rammt er seine Faust seitlich gegen den Tresen. Gläser klirren, an seinem Hals pocht eine Ader, die Augen haben sich vor Wut beinahe schwarz verfärbt.
Dröhnend hallt das Echo des Schlages durch den Raum, klingt in meinen Ohren nach. Wie betäubt sehe ich Kai an, der Schlag, seine Wut, mit allem hätte ich umgehen können, all das hätte ich nachvollziehen können, seiner Trauer zuschreiben können. Aber nicht seine Worte ... Gott diese Worte! Sie sind es, die mich treffen, die etwas in mir aufreißen. Besser hätte er sich nicht ausdrücken können, mich nicht stärker verletzen können. Dieser besondere Teil in mir heult wütend auf, will nicht glauben, was er da gesagt hat. Er schlägt um sich, wie von Sinnen, reißt dabei die Wunde weiter auf, krümmt sich zusammen. Mein Körper fühlt sich taub an, wie mit flüssigem Öl übergossen und angezündet und doch gleichzeitig wie erfroren. Alles auf einmal. Weil du überhaupt keine Ahnung hast, wie es ist, jemandem zu lieben.
Ich sehe ihn an, habe das Gefühl, als wäre mein Gesicht ein offenes Buch, als wäre alles, was mich ausmacht, dort zu lesen. Da ist nichts, bloß schonungslose Offenheit, für alles andere reicht meine Kraft nicht mehr.
Kai starrt zurück, die Augen erschrocken geweitet, sämtliche Wut ist verraucht. „Connor, ich ... es tut mir leid“, flüstert er und streckt die Hand nach mir aus. Er sieht so geschockt aus, mindestens ebenso sehr wie ich es bin. Die dunklen Augen sehen mich flehend an, da ist der Wunsch, all das Gesagte zurücknehmen zu können und diese Unterhaltung noch einmal von vorn zu beginnen. Aber das ist nicht möglich. Worte kann man nicht zurücknehmen und diese erst recht nicht.
Ihm zu verzeihen, es wäre so leicht. Einfach die Berührung zulassen und alles vergessen. Aber das will ich nicht. Nein, dieses Mal nicht! Also straffe ich mich innerlich und schüttele seine Hand von meiner Schulter, eine Geste, die mich unendliche Überwindung kostet, auch wenn ich weiß, dass es sein muss. Meine Schritte hinterlassen kaum Geräusche auf dem dunklen Parkettboden, als ich mich abwende und gehe - das Geräusch des herumgedrehten Schlüssels in meiner Schlafzimmertür eine Botschaft, die deutlicher nicht sein könnte.
Noch lange liege ich wach, kann Kai in der Wohnung auf und ab gehen hören und halte den Atem an, wenn er vor meiner Tür steht. Ich weiß es jedes Mal, wenn er dort verharrt und das obwohl ich ihn nicht hören kann, denn er geht jedes Mal, ohne ein Wort zu sagen. Dafür spüre ich ihn, spüre seine Anwesenheit durch diese verrückte Verbindung, die er als Freundschaft bezeichnet, und die ich Liebe nenne. Eine Verbindung, die auch durch harte Worte nicht zerstört werden kann, ganz egal wie schlecht ich mich gerade fühlen mag. Ganz gleich wie benommen ich hier im Bett auf dem Rücken liege und stumm an die Decke starre. Weil du überhaupt keine Ahnung hast, wie es ist, jemandem zu lieben.
Doch, will ich sagen. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu lieben. Und ich weiß auch, wie es ist, wenn diese Liebe unerwidert bleibt.
Es ist idiotisch, aber dieser Satz beschäftigt mich stundenlang.
„Ich weiß es“, flüstere ich in die Dunkelheit, eine Bestätigung an mich selbst, ein Versprechen, es nicht zu vergessen. Das Ticken der Uhr meine einzige Antwort.
Immer und immer wieder geistert dieser eine, in einem unbedachten Moment ausgesprochene Satz durch meinen Kopf, verhöhnt mich, hält mich wach. Ich drehe mich auf die Seite, schließe die Augen, versuche zu schlafen. Aber nichts klappt.
Wer hätte gedacht, dass Worte so sehr wehtun können?
Ein leises Rascheln, das beständige Ticken der Uhr, Wind, der von außen gegen die Fenster schlägt und das feine Knacken des arbeitenden Holzes - irgendetwas davon scheint mich geweckt zu haben.
Benommen taste ich nach dem Lichtschalter, betätige ihn. Blinzelnd kneife ich die Augen zusammen, ignoriere diesen ersten unangenehmen Moment wenn grelles Licht auf empfindliche, an Dunkelheit gewöhnte Augen trifft und will gerade einen Blick auf die Uhr werfen, als eine Bewegung links von meinem Bett meine Aufmerksamkeit erregt.
Ich drehe den Kopf und blicke direkt in nachtschwarze Augen. Erschrocken schnappe ich nach Luft, mein Herz gerät für einen Moment aus dem Tritt, nur um dann in doppelter Geschwindigkeit damit weiterzumachen, Blut vermischt mit Adrenalin durch meinen Kreislauf zu pumpen. „Gott Kai, du hast mich fast zu Tode erschreckt. Was machst du hier?“ Entgeistert starre ich ihn an. „Und wie bist du überhaupt hier reingekommen?“ Die Tür war doch abgeschlossen.
Kai erwidert meinen Blick stumm, mit angezogenen Beinen sitzt er links von meinem Bett auf dem Boden. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen, die auf den Knien ruhenden Hände sind angespannt, die Fingerknöchel erscheinen weiß. Seine Stimme ist rau als er spricht. „Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.“ Unstet huscht sein Blick über mein Gesicht, verharrt bei meinen Händen, welche immer noch die Bettdecke umklammern.
Ich bemerke seinen Blick und löse die Umklammerung. Verstört werfe ich einen Blick auf die Uhr, dann zu Kai. „Was zum Geier machst du hier auf dem Boden? Es ist vier Uhr morgens!“ Dreht er jetzt vollkommen durch?
„Es tut mir leid“, flüstert er leise. „Es tut mir so unendlich leid, ich hätte so etwas Grausames niemals zu dir sagen dürfen, Connor. Ich schwöre, es wird nie wieder vorkommen.“
Für einen seligen Moment voller Ahnungslosigkeit habe ich nicht den blassesten Schimmer, wovon er spricht. Nur spärlich versorgt mein übermüdetes Gehirn mich mit Informationen und Erinnerungsfetzen. Der Streit, Kais wütender Ausbruch, der Fausthieb gegen den Tresen und ... sein letzter Satz. Ein Satz, den ich mir gestern geschworen habe, aus meinem Kopf und meinen Gedanken zu verbannen. So gut es eben geht.
Der Connor, der auf der Trauerweidenwiese bei Julias Beerdigung zum ersten Mal seit Jahren zum Vorschein gekommen ist, hasst es Kai leiden zu sehen. Hasst die Schatten in seinen Augen, die Anspannung und Schuldgefühle in seiner Miene. Er will Kais Hände in seine nehmen, die Anspannung lösen und sagen, dass es okay ist. Dass Fehler gemacht werden und auch wenn diese Fehler verletzen können, sie doch stets verziehen werden. Weil es das ist, was Freunde tun. Was Liebende tun.
Der rationale Teil von mir hingegen ist verletzt. Ich bin nicht nachtragend, war es nie und will es auch eigentlich nicht sein und doch kann ich nicht leugnen, dass da etwas in mir zurückgeblieben ist. Eine faule Stelle. Ausgelöst durch verletzende Worte, schwelt in meinem Inneren eine Wunde vor sich hin und wenn ich Kai jetzt sage, dass alles gut ist und wir das Ganze vergessen sollten, dann wird diese Stelle nicht einfach so verschwinden. Nein, sie wird weiter vor sich hin schwelen, wie ein vergessenes Campfeuer in einem Wald, welches sich, wenn man nicht aufpasst, schnell zu einem ausgewachsenen Inferno entwickeln kann. Eine zerstörerische Kraft.
„Hör zu, ich erwarte nicht von dir, dass du mir Absolution erteilst. Das gestern war scheiße, ganz große scheiße, das weiß ich selbst. Ich würde alles tun, um zurücknehmen zu können, was ich da gesagt habe, aber das kann ich nun einmal nicht.“ Sein Blick ist flehend, der Tonfall verzweifelt, als er eine Geste macht, die den gesamten Raum mit einschließt, inklusive ihn und mich. „Aber das hier, das ertrage ich nicht. Du kannst sauer auf mich sein, wütend, weil ich so ein Arschloch bin und dich als Freund eigentlich gar nicht verdient habe, aber bitte, bitte sieh' mich nie wieder so an, wie du es gestern getan hast, nachdem ich diesen scheußlichen Satz zu dir gesagt habe. Nie wieder.“ Er holt tief Luft, lang und zittrig entweicht der Atem seinen Lungen, seine Hände zittern erneut und plötzlich habe ich Angst um ihn.
Mit den Füßen strampele ich die Decke beiseite und strecke die Hände nach ihm aus. „Nun komm schon her“, sage ich harsch, kann aber den belegten Tonfall nicht gänzlich aus meiner Stimme heraushalten.
Kais Haut fühlt sich fiebrig an, als ich ihn an mich ziehe und die Arme um ihn schlinge, seit langem der erste richtige Körperkontakt, den er zulässt. Sein Atem geht schwer und ich verdoppele die Anstrengung, ihn so gut es geht zu umfangen. Dass wir beide sitzen, macht es schwerer den Kontakt aufrechtzuerhalten. Sein Knie drückt unangenehm gegen meine Hüfte und ich muss mich stark verrenken, um mich zu ihm herüber beugen zu können. Aber das ist in Ordnung.
Stummes Beben schüttelt seinen Körper, es ist kein Weinen, aber es ist das, was dem wohl am nächsten kommt. Beruhigend streiche ich ihm über den geraden Rücken, den Nacken, übers Haar. Versuche mich daran zu erinnern, was Klara tut, wenn es Nelly einmal schlecht geht. Nicht reden, einfach nur da sein um zu halten. Kai ist lange genug stark gewesen.
Während draußen vor dem Fenster der Wind heult und das herbstliche Laub durch die Straßen wirbelt, taucht der Schimmer des Nachtlichtes das Schlafzimmer in angenehmes Gold. Schatten vermischen sich mit dunklem Holz, lassen Kantiges weich erscheinen, kein Laut ist zu hören. Vollkommene Stille und Harmonie.
„Ich werde morgen den Termin beim Therapeuten machen, Alexander Vogt. Einer meiner Kollegen hat mir gestern seine Nummer zugesteckt, er ist spezialisiert auf Trauerbegleitung- und Therapie.“ Seine Stimme schwankt ein wenig, ansonsten scheint er sich langsam zu beruhigen.
„Du musst da nicht hin, wenn du es nicht willst.“
Er seufzt und ändert die Position, legt den Kopf an meine Schulter. Als hätte die letzte Zeit ihn aushungern lassen, sucht er nach Nähe und Berührung. „Doch, ich denke es ist richtig so.“
Ich nicke abwesend, festige meinen Griff um seinen Körper. Kais Einwand beruhigt mich, denn starke Gefühle auf Dauer zu unterdrücken, funktioniert in den seltensten Fällen. Als meine Oma damals verstarb, sagte meine Mutter zu mir, dass jeder Mensch anders trauere, es gäbe kein richtig oder falsch. Trauer ist nicht nur ein Gefühl, es ist ein langwieriger Prozess, geprägt von Höhen und Tiefen und es ist nicht meine Aufgabe, Kais Trauer schön zu reden. Es ist nicht meine Aufgabe, Ratschläge zu erteilen und zu sagen, dass alles gut wird. Aber ich kann Trost spenden. Ihn sein Herz ausschütten lassen und zeigen: Ich bin da, ich bin bei dir.
Neben mir stößt Kai ein Schnauben aus. „Ich habe es ja schon immer gehasst mit dir zu streiten“, sagt er belustigt. „Aber das hier ist wohl die Höhe.“ Er lacht leise - versucht die Situation zu entschärfen, ins Lächerliche zu ziehen - es klingt falsch und macht mich wütend.
„Halt den Mund“, sage ich ärgerlich. „Spiel das jetzt nicht herunter.“
Unsicher wandert sein Blick durch den Raum, ich kann es spüren an der Art, wie er seinen Kopf an meiner Schulter bewegt. „Okay“, sagt er schließlich und schluckt. Mehr nicht, aber das braucht er auch nicht. Es wurde alles gesagt.
Ein unangenehmes Kribbeln in meinem eingeschlafenen rechten Bein veranlasst mich dazu, das Gewicht zu verlagern und eine bequemere Position zu suchen. Dabei rutscht Kais Kopf von meiner Schulter. Ich werfe ihm einen entschuldigenden Blick zu und rutsche bis an das Kopfende des Bettes, stapele ein paar Kissen auf und lehne mich dagegen. Eine einladende Bewegung später ist Kai neben mir. Es tut gut. Einfach nur hier zu liegen, nah beieinander. Ich spüre das Gewicht seiner Hand auf meiner Hüfte, seinen ruhiger werdenden Atem auf meiner Haut und plötzlich will ich mit ihm reden, will wissen, was in seinem Kopf vorgeht, was er denkt, was er fühlt. Alles. Diese undurchdringbare Mauer, die ihn in den letzten Tagen zu umgeben schien, ist verschwunden.
Sein Gähnen dämpft meinen Tatendrang ein wenig, schafft Platz für die Realität. „Hast du überhaupt schon geschlafen?“, frage ich nach einem kritischen Blick auf die Uhr. Halb fünf am Morgen. Gott, was für ein Albtraum. Draußen ist es stockdunkel, die Tage werden immer kürzer, die Nächte länger. Einzig das schwache Flackern einer Straßenlaterne erhellt den Gehweg. Am Himmel steht der Mond. Voll und leuchtend.
„Nein.“ Er gähnt, sieht vollkommen erledigt aus. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich es hasse, wenn wir uns streiten.“ Als wäre das eine Erklärung.
Langsam wird es kühl. Ich angele nach meiner Decke und breite sie über uns aus. Kais Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge entspannt. Es ist seltsam, mit ihm darin wirkt mein Bett plötzlich gar nicht mehr so riesig. Vielmehr passend, genau die richtige Größe. Ich verdrehe innerlich die Augen über mich selbst, falscher Zeitpunkt Connor.
Ich glaube jeder kennt die Situation, wenn man im Bett liegt und sich ausrechnet, wie viel Schlaf man bekommt, sollten einem just in diesem Moment die Augen zufallen. Zwei Stunden klingen da nicht gerade wie das Gelbe vom Ei, aber mit der Aussicht Kai beim Schlafen beobachten zu können, erscheinen mir diese zwei Stunden gleich um einiges verlockender.
Träge lasse ich meine Gedanken schweifen, nutze die Zeit zum Nachdenken und registriere nebenbei jede Bewegung die er im Schlaf so macht. Die Augenblicke fließen dahin und irgendwann zwischen dem Zeitpunkt an dem ich mich mit Kais Versuchen die Decke an sich zu reißen arrangiere und dem Moment, in dem die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster hereinbrechen, schlafe ich ein.
***
„Hast du dir schon überlegt, wie du später zur Praxis hinkommen willst?“, frage ich Kai über den Frühstückstisch hinweg. Auf meinen bittenden Blick hin, reicht er mir das Glas mit der selbstgemachten Erdbeermarmelade meiner Mutter und schnappt sich das Nutellaglas für sich. „Die Fenglerstraße liegt nämlich direkt in der Innenstadt. Ich könnte dich auf dem Weg zur Arbeit da rausschmeißen und du könntest den Vormittag an der Alster verbringen. Das Wetter soll heute richtig schön werden, könnte einer der letzten warmen Tage diesen Herbst sein.“
Er scheint einen Moment zu überlegen, furcht die Stirn und klopft rhythmisch mit dem Löffel gegen seine Tasse, dann zuckt er die Achseln. „Klar, warum nicht? Wir brauchen sowieso noch einiges fürs Wochenende.“ Er schenkt sich etwas von dem grünen Tee in seinen Becher und hält mit einem fragenden Blick die Kanne in die Höhe. Ich verneine kopfschüttelnd.
„Was brauchen wir denn noch fürs Wochenende?“, frage ich verwirrt. Ein Fehler, ganz offensichtlich, denn Kai sieht mich missbilligend über den Rand seiner Teetasse hinweg an.
„Das kann unmöglich dein Ernst sein, Connor. Hast du mal in den Kühlschrank geguckt? Wir haben weder Eier, noch Gemüse oder sonst etwas Essbares hier in diesem Haushalt. Von diesem seltsamen Brot einmal abgesehen.“
„Wenn du das Vegane mit den Sonnenblumenkernen meinst, das hat Klara gebacken. Du kannst ihr dann ja nächstes Wochenende selber sagen, was du davon hältst“, sage ich beiläufig und beiße von meinem Toast ab.
Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, Klara zu erwähnen scheint ein Allzweckheilmittel geworden zu sein. "Danke, ich verzichte. Aber einkaufen gehen müssen wir wirklich, du hast ja nicht einmal einen Obstkorb. Ich will gar nicht wissen, wovon du dich die letzten Jahre so ernährt hast." Kopfschüttelnd sieht er mich an. Ein vereinzelter Lichtstrahl stiehlt sich durch das Küchenfenster und beleuchtet sein Gesicht. Ein leichter Bartschatten bedeckt Kinn und Kiefer, lässt das Gesicht noch kantiger, noch männlicher erscheinen. Und auch wenn das sicher nicht die Absicht gewesen ist - wahrscheinlich war er bloß zu faul, sich zu rasieren - ist die Wirkung zusammen mit dem leichten Lächeln, dass er seit unserer Versöhnung im Gesicht trägt, verheerend.
Allgemein hat sich Kais Verhalten seit unserem Streit und der Aussprache drastisch verändert. Er wirkt gelöster, so als wäre eine tonnenschwere Last von seinen Schultern gefallen. Er lächelt öfter, wenn wir miteinander reden, gestikuliert mehr und sucht ständig den Kontakt. Dieser Streit war vermutlich das Beste, was uns hätte passieren können, denn wir saßen fest, drehten uns bloß im Kreis. Von dem Termin heute beim Therapeuten erhoffe ich mir einiges und Kai sich sicher noch mehr.
Neben ihm aufzuwachen, ich glaube das ist etwas, an dass ich mich gewöhnen könnte. Bettwarme Haut, verschlafenes Gemurre - zu behaupten Kai wäre kein Morgenmensch ist noch untertrieben ausgedrückt - und erstaunlich viel Körperkontakt. Wer hätte gedacht, dass er sich um mich wickeln würde wie sonst was? Wie ich so überhaupt schlafen konnte, ist mir ein Rätsel. Die Arme um meinen Bauch geschlungen und halb auf mir drauf, hatte ich nicht die geringste Chance mich zu bewegen. Als befürchtete er, ich würde verschwinden, sollte er mich auch nur für eine Sekunde aus den Augen lassen. Entsprechend unangenehm war der nächste Morgen, als ich ihn wecken musste, weil ich sonst ohne Hilfe nicht aus dem Bett und rechtzeitig zur Arbeit gekommen wäre. Ich muss jetzt noch grinsen, wenn ich mir sein peinlich berührtes Gesicht vor Augen führe. Wenn das seine Art ist, sich nach einem Streit zu entschuldigen, können wir uns von mir aus jeden Tag streiten.
„Erde an Connor“, sagt Kai, zieht die Worte dabei in die Länge und wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Musst du nicht zur Arbeit?“
Ein Blick zur Uhr, meine Schicht beginnt in zwanzig Minuten. Zuspätkommen und das nach nicht einmal drei Wochen. „Scheiße!“ Fluchend springe auf. Meine hektischen Versuche, den Frühstückstisch einigermaßen aufzuräumen kommentiert Kai nur mit einem Lachen. „Soll ich dich nun mitnehmen oder nicht?“, fahre ich ihn gereizt an. „Dann hör auf zu lachen und hilf mir!“ Gott, ich hasse Unpünktlichkeit. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?
„Jetzt beruhige dich, ich hab doch die Lebensmittel schon alle weggestellt. Die Teller und das Geschirr machen wir nachher. Und jetzt komm! Das schaffen wir schon noch“, sagt er optimistisch.
Tatsächlich ist der Großteil des Tisches bereits abgeräumt. Trotzdem kann so eine Aktion eigentlich nur von Kai kommen. Die Hälfte abräumen, den Rest stehen lassen. Meine Güte. Wenn ich nicht schon damit beschäftigt wäre, Jacke, Schlüssel und Tasche einzusammeln und zur Haustür zu rennen, würde ich wahrscheinlich durchdrehen. Hundertprozentig.
Wir haben Glück. Der gute alte Murphy scheint uns heute wohlgesinnt zu sein, weder sonderlich viel Verkehr, noch übermäßig viele rote Ampeln verzögern unsere Fahrt und sogar mein eigentlich unzuverlässiges Navi schafft es, die richtige Adresse zu finden. „So, wir sind da. Die Praxis ist im zweiten Stock. Nur damit du später weißt, wo du hinmusst.“ Ich sehe Kai an, präge mir sein Gesicht ein. Da, ein winziges Anzeichen von Unsicherheit. „Das wird schon werden. Der Kerl hat jeden Tag dutzende Patienten“, sage ich und schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Ich meine, du bist ja kein verrückter Stalker oder ein Irrer in einer Zwangsjacke. Du bist bestimmt nichts Besonderes, bloß weil du selbst Psychologe bist.“
Verblüfft sieht er mich an, dann lächelt er. „Du bist schon irgendwie seltsam, Connor.“
„Ich weiß.“ Ich lächele zurück und bin erleichtert, dass mein Versuch ihn ein wenig abzulenken, funktioniert hat. Er hat es nie erwähnt und doch weiß ich, dass es ihn ärgert, zu diesem Therapeuten gehen zu müssen. Die Situation an sich kennt er zur Genüge, bloß sind dieses Mal die Rollen vertauscht. Sicherlich kein angenehmes Gefühl.
Kai schnappt sich seine Tasche und steigt aus. Noch zehn Minuten, dann muss ich bei der Arbeit sein. Ich starte den Motor, warte aber noch einen Moment und sehe ihm nach. Ein Radfahrer rast an ihm vorbei, ein Auto hinter mir hupt. Vielleicht sollte ich hier langsam mal verschwinden. Und als hätte er meinen Gedanken gehört, dreht er sich noch einmal um und hebt die Hand zum Abschied. Aufmunternd strecke ich ihm beide Daumen entgegen. Er verdreht die Augen, dann lächelt er und ich fahre los.
Wenn die Leute sagen, der Herbst sei ihre liebste Jahreszeit, dann meinen sie damit sicherlich Tage wie diesen. Wärmende Sonnenstrahlen, ein strahlend blauer Himmel, angenehm kühle Luft und über allem der frische Duft nach feuchtem Laub. Das Lachen einiger Kinder, die in der Nähe des Stadtparks Fußball spielen und die Geräusche des geschäftigen Treibens und Summens einer Großstadt wehen zu mir herüber, als ich dem Eisverkäufer mein Geld in die Hand drücke und bewaffnet mit zwei Eistüten, eine in jeder Hand, zur Parkbank schlendere. Die Tatsache, dass ich nun hier im Stadtpark bin und Eis mit meinem besten Freund esse, ist einem ziemlich ereignislosem Bürotag geschuldet, zu dem ich übrigens nicht zu spät gekommen bin, wie ich betonen muss. Das in Kombination mit dem schönen Wetter und meiner Neugierde bezüglich Kais erster Therapiestunde hat mich schneller hier her gebracht, als ich das Wort Überstunden überhaupt buchstabieren konnte. Dementsprechend gespannt bin ich nun auf seinen Bericht.
„Hier, ich habe dir Vanille und Stracciatella besorgt. Joghurt-Kirsch war ausverkauft“, sage ich, drücke Kai das Eis in die Hand und setze mich zu ihm auf die Bank. Ein "Danke" murmelnd nimmt er seine Beute entgegen, zieht ein Bein unter den Körper und lehnt sich entspannt gegen die Rückenlehne der Parkbank.
„Nun erzähl schon“, fordere ich ihn auf. „Wie war's?“
Entgegen meiner Erwartung weicht er nicht aus, lenkt nicht vom Thema ab, sondern antwortet sofort. „Es war okay, denke ich.“ Seine Stimme klingt zögerlich, mit den Fingern trommelt er rhythmisch auf die Lehne der Parkbank.
„Denkst du?“ Ich horche auf, löse meinen Blick vom Spiel seiner Finger und sehe ihm ins Gesicht. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie hatte ich mit einer anderen Antwort gerechnet.
„Nun ja, er war sehr kompetent, hat die richtigen Fragen gestellt und diesen ganzen Kram halt“, sagt er ruhig, aber wirklich überzeugt wirkt er auf mich nicht.
„Wenn es dir da nicht gefällt, können wir auch woanders einen Termin vereinbaren. Es gibt viele qualifizierte Therapeuten hier in der Umgebung.“ Ganz in der Nähe spielt ein Mann Frisbee mit seinem Hund, das fröhliche Kläffen des Tieres fügt sich in die übliche Kulisse der Geräusche ein.
„Das ist es nicht.“ Mit der Hand streicht er sich eine verirrte schwarze Strähne zurück hinters Ohr und beißt ein Stückchen vom Rand der Eiswaffel ab, dann sieht er mich wieder an. „Es ist nur so, ich höre was er sagt, was er mich fragt und denke mir: Dieselbe Frage hätte ich auch einem meiner Patienten stellen können. Und das macht diese gesamte Sitzung so seltsam, weil ich weiß, was er hören will. Weil ich weiß, was ich sagen müsste, damit er zu der Ansicht gelangt, dass mit mir alles in Ordnung ist. Dass mir eigentlich nichts fehlt.“ Er zuckt die Achseln. „Es ist einfach eine merkwürdige Situation.“
„Das hast du aber nicht getan, oder? Ihm bloß gesagt, was er hören will. Das ist nämlich nicht Sinn und Zweck der ganzen Angelegenheit.“ Ich weiß nicht so recht, was ich von Kais Aussage halten soll. Natürlich ist es ungewohnt plötzlich in der untergeordneten Rolle zu sein, aber wenn er tatsächlich absichtlich die Sitzung manipuliert, hat diese ganze Therapie-Sache keinen Sinn. Dann können wir uns Zeit und Geld auch sparen.
Den Kopf in den Nacken gelegt, stößt er die Luft aus. „Nein, habe ich nicht. Aber ich habe darüber nachgedacht, es zu tun.“ Mit den Augen folge ich der geraden Linie, die Kinn und Kiefer in der leicht überstreckten Haltung bilden. Es sollte verboten sein so gut auszusehen, wenn ich doch eigentlich vorhatte, ihn gnadenlos auszuhorchen.
„Und warum hast du nicht?“, hake ich nach.
Er schielt vorsichtig zu mir herüber. „Weil ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde und ich wollte dir nicht noch einen Grund liefern, wütend auf mich zu sein.“
Ich halte inne, lasse die Hand, die das Eis hält, in den Schoß sinken. „Ich wusste gar nicht, dass ich so ein Tyrann bin“, sage ich erstaunt.
Seine Mundwinkel zucken, das Glitzern in seinen Augen nimmt seiner Antwort die Schärfe. „Doch, bist du.“
Die nächste Zeit verbringen wir jeder vertieft in die eigenen Gedanken, essen unser Eis und beobachten das Treiben im Park, das Spielen der Kinder und Hunde, sowie der Alsterschwäne, die bald schon in ihr Winterquartier umgesiedelt werden. Ich genieße Kais Gesellschaft, genieße es, Zeit mit ihm zu verbringen und einfach über die alltäglichen Dinge des Lebens zu reden. Mein Tag im Büro, seiner in der Stadt und dazwischen sinnloses, freundschaftliches Geplänkel. Einzig das Thema Julia ist weiterhin Tabu, aber dass sich das nach nur einer Sitzung beim Therapeuten ändert, habe ich auch nicht erwartet.
Erst als die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet und ihre wärmenden Strahlen mit sich nimmt, gehen wir nach Hause, schieben uns dort eine Pizza in den Ofen - selbstgemacht versteht sich - und siedeln ins Schlafzimmer um. Hätte mir jemand vor ein paar Wochen gesagt, dass ich unter der Woche zusammen mit Kai im Bett Pizza essen und mir irgendeinen komischen Actionfilm mit Bruce Willis ansehen würde, hätte ich ihm vermutlich einen Vogel gezeigt. Essen im Bett in Kombination mit einem sinnlosen Ballerfilm, bei dem der Held auf mysteriöse Weise allerlei tödliche Szenarien und Situationen überlebt und dann am Ende auch noch die Frau abbekommt, sind nun eigentlich so gar nicht meins. Aber in Verbindung mit Kais üblichen trockenen Kommentaren und einem kleinen Pizzaunfall, über den ich nicht weiter sprechen will, wird der Abend richtig lustig.
Erst als ich mitten in der Nacht vom Flackern des Fernsehers wach werde und auf der Suche nach der Fernbedienung ausversehen Kai mit der Hand ins Gesicht schlage, wird mir klar, dass wohl nicht nur ich mitten im Film eingeschlafen sein muss. Aber mal im Ernst, wer hält auch schon die komplette Stirb langsam Reihe durch?
Das Attentat auf sein Gesicht kommentiert Kai nur mit einem ärgerlichen Grummeln und einem Zug an der Bettdecke, aufwachen tut er nicht.
Ich schalte den Fernseher aus und beinahe augenblicklich wird der Raum in Dunkelheit getaucht. Das Mondlicht scheint nur schwach durch das Fenster, lässt mich Kais Gesichtszüge und Konturen nur erahnen, als ich meinen Kopf wieder aufs Kissen lege und die Müdigkeit erneut von mir Besitz ergreift.
Ich lausche seinen leisen Atemzügen, spüre die Wärme, die sein Körper ausstrahlt und lasse mich von der beruhigenden Gewissheit, dass es ihm gut geht und er hier bei mir ist, in den Schlaf lullen.
Die nächsten zwei Wochen vergehen in altgewohnter Routine. Ich frühstücke morgens zusammen mit Kai, gehe zur Arbeit und begleite ihn danach bei seiner täglichen Laufrunde. Wir gehen gemeinsam Einkaufen, sehen uns den neuen James Bond im Kino an und Kochen am Wochenende gemeinsam ein cremiges Curry aus Kokosmilch, Erdnüssen, Kartoffeln und Hack. Das Rezept, das Priya ihm wohl irgendwann im letzten Jahr zugesteckt haben muss, ist durchaus leicht zu bewerkstelligen, auch für einen Kochanfänger wie mich. Und ob man's glaubt oder nicht, das gemeinsame Kochen bei lauter Musik macht richtig Spaß und lecker schmeckt es dabei auch noch. Vielleicht sollten wir das in unsere tägliche Routine integrieren, schaden kann es auf jeden Fall nicht.
Kais Therapeut rät ihm zu einem Tapetenwechsel, zu etwas Neuem und Gewagtem und wir streichen eine Wand im Wohnzimmer mintgrün, die andere zitronengelb. Eine abenteuerliche Kombination für meinen doch recht kontrollwütigen Verstand, aber der von mir erwartete Herzkollaps bleibt aus. Wie es aussieht bin ich, was Veränderungen betrifft, lockerer geworden. Die Methoden von Kais Therapeuten scheinen zu fruchten, auch bei mir.
Am Donnerstag kommt Kai mit einer riesigen Ikea Tüte unter dem Arm durch die Tür und bringt einen eisigen Schwall kühler Luft mit sich. Für Ende Oktober ist es erstaunlich kalt draußen, sämtliche Bäume haben ihr buntes Blätterkleid inzwischen eingebüßt, die Temperaturen fallen des Öfteren nachts unter null Grad und dass es in nächster Zeit Schnee gibt, ist gar nicht mal so abwegig.
„Was hast du denn da?“, frage ich neugierig und lege das Buch, welches ich zurzeit lese, zur Seite. Auch ein Vorschlag von Kais Therapeuten und so lesen wir aktuell den sechsten Teil von Harry Potter. Nicht, dass wir die Teile davor alle gelesen hätten, aber dafür gibt's ja schließlich die Filme und Harry Potter und der Halbblutprinz verspricht von der Handlung her am meisten Spannung. Die seichte Anfangsstory weglassen und sich gleich dem Showdown nähern, das ist die Devise.
„Ich war nach dem Termin noch bei Ikea und dachte, ich hole uns noch neues Material für das Projekt Umgestaltung.“ Er malt Anführungszeichen in die Luft und stellt die Tüte schwungvoll auf den noch unberührt gebliebenen, weißen Couchtisch. Noch, weil von der ehemaligen neutralen Zone, die sich meine Wohnung schimpfte, nicht mehr viel übrig geblieben ist. Graues Sofa, weiße Möbel und Wände sowie dunkler Parkettboden, das war vor Projekt Umgestaltung. Jetzt lachen mich im Osten eine mintgrüne und im Süden eine zitronengelbe Wand an. Die dunkelroten Couchkissen mussten blassgrünen Kissen weichen und meine ehemals traurige Topfpflanze Karl hat inzwischen Gesellschaft bekommen und teilt sich seinen Platz an der Sonne nun mit einigen Kräuterpflanzen, darunter Rosmarin, Thymian und Zitronenmelisse. Von der restlichen Dekoration ganz zu Schweigen.
Mit gemischten Gefühlen beuge ich mich nach vorne um den Inhalt der Tüte zu inspizieren. Die Umgestaltung meiner Wohnung gefällt mir, keine Frage, sonst hätte ich dem auch niemals zugestimmt, trotzdem ist da immer dieses leichte Unwohlsein, wenn Gewohntes, Neuem und Unbekanntem weichen muss. Da kann ich einfach nicht aus meiner Haut.
„Was ist das?“, frage ich irritiert und bringe ein gefaltetes, erstaunlich schweres Stück Stoff ans Tageslicht. Etwas weiter unten in der Tüte klirren Glas oder Porzellan aneinander, Plastik raschelt.
Kai kommt näher und setzt sich neben mich, ein erwartungsvoller Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. „Das sind Vorhänge, einmal für die Fensterfront im Wohnzimmer und noch welche für dein Schlafzimmer. Gefallen sie dir? Ich dachte, das bringt etwas Farbe und Leben in die Wohnung und die alte Frau von gegenüber ist nicht mehr über jedes kleinste Detail unseres Lebens informiert.“ Er lacht. „Nicht, dass es nicht irgendwie charmant ist, wie sie jeden Morgen beim Frühstück zu uns herüber sieht und winkt, aber so ein bisschen Privatsphäre hat ja auch was.“
Ich grinse amüsiert. Frau Schulze von gegenüber ist tatsächlich etwas eigenartig. Gefühlt einen Meter groß oder klein, wie man's nimmt, mit Lockenwicklern in den Haaren und stets ihren blauen Morgenrock tragend, sitzt sie jeden Morgen an ihrem Küchenfenster und beobachtet das Treiben rundherum. „Und der Rest?“ Ich deute auf die Tüte vor uns. „Was ist da sonst noch so drin?“
Er zuckt die Achseln, ein feines Lächeln umspielt seine Mundwinkel. „Dies, das. Ein bisschen was für die Küche und das Bad, damit es auch so aussieht, als würde hier jemand wohnen und nicht nur leben.“ Er knufft mich leicht in die Seite. „Also, was sagst du?“
Jetzt keine positive Resonanz zu zeigen, wäre wie einen Hundewelpen zu treten, also rolle ich nur mit den Augen. „Ist gut. Wir können uns das ja gleich mal ansehen und gucken, was davon wir gebrauchen können.“
„Sehr schön“, entgegnet er, kaum dass ich fertig geredet habe und steht auf. „Ich habe mir da nämlich schon was überlegt. Die Vorhänge in Schlaf- und Wohnzimmer zusammen mit den frisch gestrichenen Wänden ...“
Ich schalte ab, Kais Stimme wird leiser und das Gesagte rauscht an mir vorbei, während seine Körpersprache für mich in den Vordergrund rückt. Gestik, Mimik und sprudelnde Euphorie. Ab und an lächele ich, nicke, nur damit er weiter fortfährt, von seinen Plänen zu sprechen und diese wundervolle ihm eigene, in letzter Zeit so sehr vermisste Begeisterung an den Tag zu legen. Ich sauge jedes kleinste Detail in mich auf, die leuchtenden Augen, das so selten gewordene Lächeln, sein Körper an sich, die langen Beine, die breiten Schultern, der Flache Bauch. Einfach alles. Er sieht gut aus, fit und unsere gemeinsamen Laufrunden sowie das gesunde Essen tun nicht nur ihm gut. Es sind die kleinen, kaum spürbaren Veränderungen, die zeigen, dass sich etwas tut. Ich fühle mich fitter, bin nicht mehr so schnell aus der Puste und mein Körper verändert sich langsam aber sicher, wird fester, definierter. Auch die kleinen Einlagen von Liegestützen, zu denen Kai uns bei unseren Runden regelmäßig zwingt, sind, so sehr ich sie auch hasse, Gold wert.
Es mögen ein paar Minuten vergangen sein, da wirft er sich plötzlich mit Schwung zu mir auf die Couch und sieht mich auffordernd an. Offensichtlich erwartet er nun doch eine Antwort. „Hm?“, frage ich Welten davon entfernt zu wissen, worum es gerade geht, was er mich soeben gefragt hat und wie zur Hölle ich ihm darauf eine Antwort geben soll.
„Du hörst mir ja gar nicht zu.“ Kai wirft mir einen strafenden Blick zu. „Ich habe gefragt, wann wir morgen losfahren und was genau du mit zu deinen Eltern nimmst.“ Er zieht ein Bein unter den Körper und trommelt mit den Fingern leicht aufs Knie. Eine Eigenart, die ich liebenswert finde und die ihn und mich schon seit unserer Jugendzeit begleitet. Meist nehme ich es deswegen gar nicht mehr wahr, wenn er das tut, heute allerdings schon. Ich versuche meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, schlichtweg aus dem Grund, weil ich mich weigere einzusehen, dass mein Verstand in der Lage ist, komplexe virtuelle Systeme zu erschaffen, aber gleichzeitig an der Faszination simpler motorischer Bewegungen scheitert. Das kann's doch nicht sein, oder? Gedanklich zucke ich die Achseln - scheiß drauf - und beobachte weiter das Spiel seiner Hände.
Zu meiner Verteidigung muss gesagt werden, Kai hat schöne Hände. Hände, die es verdient haben bis ins kleinste Detail analysiert und für gut befunden zu werden. Große Handflächen, mit langen geraden Fingern und gepflegten kurzen Nägeln.
Kai räuspert sich, reißt mich aus meinen doch recht abstrusen Gedankengängen. Ich blinzele verwirrt, mir so langsam der Tatsache bewusst werdend, dass ich höchstwahrscheinlich einen an der Klatsche habe. Okay, nicht nur höchstwahrscheinlich.
„Ach so, du meinst das Wochenende. Wenn wir gut durchkommen, brauchen wir in etwa zwei Stunden für die Fahrt zum Hof meiner Eltern. Drei, wenn viel Verkehr ist.“ Mit den Fingern fahre ich mir durchs Haar, die blonden Strähnen fallen mir leicht in die Stirn und könnten in nächster Zeit gut einen Friseur vertragen. „Ich denke, es ist sinnvoll im Laufe des Vormittags loszufahren und mitnehmen brauchen wir eigentlich nichts Besonderes, bloß Klamotten. Alles andere hat meine Mutter sicher da.“
Er nickt. „Okay, wird bestimmt spannend die ganze Bande auf einem Haufen versammelt zu sehen. Als ich das letzte Mal bei deinen Eltern zu Hause war, Gott ... da waren wir beide siebzehn und hatten den Kopf noch voller Flausen. Und Marie hat uns immer dazu genötigt, mit ihr zu spielen. Damals erschien mir das wie das Schlimmste auf der Welt und heute vermisse ich den kleinen Giftzwerg sogar ein wenig.“ Er lacht leise und sieht versonnen aus dem Fenster. Die Strahlen der Abendsonne tauchen den Horizont in ein warmes Rot, kleine, tiefhängende Cumuluswolken ziehen einer Schafherde gleich über den Himmel.
„Klein ist Marie immer noch, aber das Amt des Giftzwergs wurde inzwischen an Nelly weitergereicht“, antworte ich und grinse. „Sie freut sich übrigens schon darauf, dich zu sehen. Du bist ihr an meinem dreißigsten Geburtstag nur als Onkel Connors Freund in Erinnerung geblieben, bei dem sie stundenlang auf den Schultern sitzen durfte. Und dass du ihr trotz Klaras Verbot weiterhin Kekse zugesteckt hast, hat dich in ihren Augen auch nicht gerade unbeliebt gemacht.“
„Ich wollte mich eben ein bisschen einschleimen. Ich sehe Nele so selten, da muss ich einen dauerhaften Eindruck hinterlassen um später mit euch anderen mithalten zu können.“ Er schmunzelt und fragt ohne das geringste Anzeichen eines schlechten Gewissens: „Und sie hat wirklich gesagt, dass sie sich auf mich freut?“
Eine Augenbraue hochziehend entgegne ich: „Ja, aber bilde dir bloß nichts darauf ein. Ihr Lieblingsonkel bin immer noch ich.“
Am nächsten Tag klingelt der Wecker uns um neun Uhr aus dem Bett, damit wir auch ja rechtzeitig loskönnen. Wie jeden Morgen frühstücken wir zusammen und drehen danach vorsichtshalber noch eine Runde durch die Wohnung, überprüfen ob auch alles für unsere Abfahrt geregelt ist. Ich bin schon fast aus der Tür, da drückt Kai mir mit einem entsprechenden Seitenblick eine Gießkanne in die Hand. Ein Glück, fast hätte ich vergessen Karl zu gießen. Die vorwurfsvollen Blicke meiner Schwestern hätten mich noch Jahre lang verfolgt, also mache ich mich schleunigst daran, das arme Ding mit Wasser zu versorgen.
Unter Kais Aufsicht ist der Gute richtig aufgeblüht. Die Blätter sind nun von einem satten Grün und hängen nicht mehr so triste herab. Auch die gelben, ins rötlich gehenden Blüten recken sich fröhlich der Sonne entgegen und hüllen die Küche in einen angenehm blumig-frischen Duft. Eine Pflanze zu haben, die schön aussieht und gut riecht, ist sehr viel angenehmer als dieses halb verwelkte Ding, das noch vor wenigen Wochen meine Küche verunstaltet hat. Kais Kommentare bezüglich meiner Pflegeroutine ignoriere ich dabei geflissentlich, mit ein wenig Hilfe bin ich schon in der Lage für eine Pflanze in der Größe eines Fußballs zu sorgen. Zumindest rede ich mir das täglich aufs Neue ein.
Es ist wenig los auf den Straßen, der Vormittag glücklicherweise keine Hauptverkehrszeit. Auf dem Weg raus aus der Stadt fahren wir am Gebäudekomplex von IMA.sec vorbei. Kai zieht nach einem Blick aus dem Fenster anerkennend die Brauen hoch. „Nicht schlecht. Und hier arbeitest du?“
Ich bejahe und werfe ebenfalls einen Blick aus dem Fenster, versuche meinen Arbeitsplatz mit seinen Augen zu sehen. Weißgepflasterte Wege, feinsäuberlich gestutzte und getrimmte Hecken und in der Sonne blitzendes Chrom vermengt mit Stahl. Ausnahmslos teure Autos parken vor dem Haupteingang und geben einen winzigen Geschmack davon, welcher Reichtum hinter dem Konzern steckt und mit welcher Art von Leuten dieser Geschäfte macht.
Ein Glück für mich, dass ich dieser regen Geschäftigkeit, dem Gewusel und dem ganz alltäglichen Chaos für heute entgehen konnte, indem ich mir den Tag freigenommen habe. Auch Kai ist aufgrund des schriftlichen Gutachtens seines Therapeuten fürs erste beurlaubt worden, worüber ich wirklich froh bin. Natürlich ist er gefrustet, dass er noch nicht wieder arbeiten kann, aber andererseits ist somit das Streitthema Arbeit endlich vom Tisch und das ganz ohne Eigeninitiative meinerseits. Wenn ich ehrlich bin, noch so einen Vorfall wie vor zwei Wochen könnte ich auch nicht ertragen, denn auch wenn wir uns inzwischen einigermaßen versöhnt haben, ist es doch eine festgeschriebene Tatsache, dass es zurzeit einfach Wichtigeres als verletzte Gefühle gibt. Es wird Zeit etwas zu ändern, der Routine des Alltags zu entkommen oder wie Kais Therapeut Alexander sagen würde: Es wird Zeit, die Wohlfühlzone zu verlassen und sich ins richtige Leben zu stürzen.
Unser Weg führt uns Richtung Norden. Das Haus meiner Eltern, ein ehemaliger Bauernhof im tiefsten Norden Deutschlands, ist umgeben von mehreren Hektar Weideland, besiedelt von unzähligen Kühen, Schafen und Ziegen. Nur einige wenige Gehöfte bilden eine kleine Gemeinde von rund dreihundert Einwohnern, mit dem spektakulären Namen Bünge. Bünge ... das mag jetzt nicht allzu interessant und verlockend klingen, aber ich habe eine wunderbare Kindheit dort verbracht. Habe es geliebt auf dem Land aufzuwachsen, im Freien zu spielen und eins mit der Natur zu sein. Den Geräuschen des Waldes und den Lauten der Tiere zu lauschen, verstecken in goldenen Maisfeld zu spielen und, und, und. Ganz in der Nähe meines Elternhauses verläuft ein Fluss an dem wir Kinder Frühling bis Sommer unsere Nachmittage verbracht haben. Sonne, Sand, Bier aus Flaschen, Grillen und Reden bis in die Nacht. All das schafft wunderbare Erinnerungen. Ob Kai sich ebenso sehr freut wie ich, nach Hause zu kommen?
Die Frage, warum sich Kais erfolgsverwöhnte Eltern ausgerechnet dieses kleine Dörfchen im Norden Deutschlands zum Leben ausgesucht haben, beschäftigt mich schon seit geraumer Zeit und wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben. Aber unabhängig davon werde ich ihnen den Rest meines Lebens für diese Entscheidung dankbar sein, will ich mir doch gar nicht ausmalen, wie mein Leben ohne Kai verlaufen wäre. Schon in frühster Kindheit war er mein engster Freund und Vertrauter, bester Zuhörer und der Bruder den ich nie hatte und auch nie bekommen sollte. Er war von uns beiden der Streichespieler, derjenige, der uns laufend in Schwierigkeiten brachte, aber auch der, der uns da wieder herausgeholt hat. Er war mein ganzes Leben, von früh bis spät und oft auch in die Nacht hinein und wenn die Umstände es erforderten, dann war er auch derjenige, der mich vor allem und jedem verteidigte und beschützte und genau aus diesem Grund würde ich ihn niemals aufgeben. Darum habe ich ihn zu mir geholt und alles Menschenmögliche versucht, damit es ihm wieder besser geht, damit auch er sich niemals aufgibt. Nennt es Freundschaft, Loyalität oder Liebe, das ist mir gleich, aber welche Kraft es auch ist, die mich antreibt, sie ist stark.
„Soll ich dich gleich ablösen?“ Leise dringt Kais verschlafene Stimme an mein Ohr. Aus meinen Gedanken gerissen werfe ich ihm einen Blick zu - und was ich sehe, bringt mich zum Schmunzeln. Er sieht völlig zerknautscht aus, die dunklen Haare stehen ihm in verstrubbelten Wirbeln vom Kopf ab und auf seinem Gesichts zeigen sich deutlich die Abdrücke vom Anschnallgurt, gegen den gelehnt er geschlafen hat.
„Musst du nicht. Aber wenn du möchtest, in etwa zwei Kilometern kommt eine Raststätte, da wollte ich sowieso anhalten und uns kurz was zu essen besorgen. Danach können wir Plätze tauschen.“
„In Ordnung“, nuschelt er, lehnt den Kopf erneut an die Fensterscheibe und ist keine drei Sekunden später auch schon wieder eingeschlafen.
Erst das Zuschlagen der Autotür, fünf Minuten später, weckt ihn wieder auf. Wir tanken, kaufen ein paar Snacks und auf meine Frage, warum er denn so müde sei, antwortet Kai nur mit einem brummigen: „Keine Ahnung, Nichtstun scheint anstrengender zu sein, als gedacht.“
Ich übergehe die Spitze und setze mich wieder in den Wagen, diesmal auf den Beifahrersitz. Während der Fahrt achte ich auf jede seiner Bewegungen, ein kleiner Kontrolltick meinerseits, aber alleine die Tatsache, dass ich Kai mein Auto anvertraue, sagt eigentlich schon alles. Zudem ist er ein guter Autofahrer, ruhig, routiniert und ein weiterer Vorteil: Jedes Mal wenn er den Gang wechselt, kann ich jede seiner Bewegungen am Spiel der Muskeln unter der leicht gebräunten Haut seiner Arme erahnen und eins kann ich euch sagen, nicht nur Frauen finden diese hervortretende Adern an Armen und Händen sexy.
Es vergeht sicher noch eine Stunde, bis die ersten Gebäude, Straßen und Läden anfangen mir bekannt vorzukommen. Hier der damals angesagte Friseur, da das früher größte Klamottengeschäft in der näheren Umgebung und dazwischen allerlei kleine Tante Emma Läden. Typisch Dorf halt.
Lange, von Linden gesäumte Alleen, mit Kopfstein gepflasterte Wege und allerlei idyllische Fachwerkhäuser in den unterschiedlichsten Farben, weichen einfachen Feldwegen sowie endlos erscheinenden Wiesen und Äckern. Schafe und Kühe so weit das Auge reicht. Anzeichen dafür, dass wir bald da sind. Zuhause.
Trotz später Jahreszeit und Kälte liegt dieser typisch ländliche Duft nach Heu, Vieh und Blumen in der Luft, als ich die Beifahrertür öffne und aussteige. Dunkler Kies knirscht unter unseren Füßen, als wir uns auf den Weg zum Haus meiner Eltern machen. Dafür, unsere Sachen aus dem Wagen zu holen, ist später noch genug Zeit. Jetzt ruft erstmal die Pflicht.
Am Ende eines breiten Schotterwegs und flankiert von allerlei Obstbäumen, steht das mit braunen Ziegeln verkleidete und mit kleinen urigen Fenstern sowie einem Reetdach ausgestattete Haupthaus. Im späten neunzehnten Jahrhundert erbaut und seitdem laufend renoviert, hat es sich dennoch irgendwie seinen altbäuerlichen Charme erhalten können, ein Umstand, an dem mein Vater sicher nicht ganz unschuldig ist. Als freiberuflicher Architekt hat er dieses gemütliche, aber durchaus baufällige Bauernhaus vor rund fünfunddreißig Jahren zu seinem lebenslangen Projekt auserkoren und im Laufe der Zeit das Dach erneuert, die Ziegel verputzt, Böden neu verfliest und Anschlüsse verlegt. Alles, damit wir Kinder ein schönes Zuhause unser eigen nennen können.
Vor der Haustür angekommen atme ich tief durch und merke erst an Kais fragendem Blick, dass meine Hand unschlüssig vor der Klingel verharrt. „Alles in Ordnung?“, fragt er mich, die sturmgrauen Augen mustern mich besorgt.
„Ja, alles gut. Ich bin nur irgendwie nervös, weiß selbst nicht, wieso.“ Verlegen zucke ich die Achseln und die Besorgnis weicht aus Kais Augen. Er lächelt mir aufmunternd zu und scheint plötzlich wieder ganz der Alte zu sein. Selbstsicher, jemand der alles regelt, auf den man sich verlassen kann. Ein richtiger Fels in der Brandung eben. Aber ich weiß, dass der Schein trügt, dass auch die stärkste Fassade Risse aufweisen kann. Die letzten Wochen haben mir das deutlich vor Augen geführt.
Die Tür wird mit Schwung aufgerissen und Marie erscheint darin. Mit sechsundzwanzig Jahren ist sie die Jüngste von uns Geschwistern, das Küken sozusagen. Ihr Anblick ist wie jedes Mal ein Schock für mich, denn Marie ist eine Farbexplosion für die Augen. Statt des hellen Blondtons, der in meiner Familie so gut wie überall vertreten ist - mein Vater ausgenommen - leuchtet mir kräftiges Dunkelrot entgegen. Die Stecker in Nase und Ohren kenne ich bereits, aber das Augenbrauenpiercing, in der ebenfalls rot gefärbten linken Braue, ist mir neu.
Schon immer war Marie der Sonderling in unserer Familie, ähnelt sie doch in puncto Aussehen weder Klara noch mir sonderlich stark. Denn während wir größtenteils nach unserer aus Schweden stammenden Mutter kommen, zieht Marie nach unserem Vater. So kommt es, dass man Klara und mir das skandinavische Blut deutlich ansieht: helle blonde Haare, hohe Wangenknochen, markante Gesichtszüge, grüne Augen - und Marie ... eher weniger. Schon als Kind war ihr Haar ein einziges Wirrwarr aus dunkelblonden Locken und auch die blauen Augen und die Unmengen an Sommersprossen hat sie von meinem Vater Andreas. Das in Verbindung mit ihrem herzförmigen Gesicht und der frechen Stupsnase gibt ihr etwas sehr Eigenes und Individuelles. Und das ist Marie auch. Ein richtiger Freigeist, wild und aufbrausend, kreativ und manchmal auch ein wenig rebellisch, mit dem Ziel, die Menschen in ihrer Umgebung, so gut es eben geht, zu schockieren.
Passend zu diesem Motto trägt sie ihren mehr oder weniger transparenten schwarzen Knierock, eine für sie geradezu züchtige Länge, giftgrüne Sneakers und einen grauen Pullover mit der Aufschrift: Feminist Mom. Marie hat keine Kinder, Gott sei es gedankt, aber nachdem der Versuch Klara dieses T-Shirt anzudrehen gescheitert war, Marie dieses Grauen schon im Internet bestellt hatte und ein Umtausch absolut ausgeschlossen war, musste sie das Teil wohl oder übel selbst tragen. Man könnte sagen, dieses Shirt hat inzwischen Kultstatus in unserer Familie erreicht.
„Hallo Bruderherz.“ Überschwänglich fällt meine Schwester mir um den Hals und drückt mir einen dicken Kuss auf die Wange. Aus Rücksichtnahme und reinem Selbstschutz bin ich am Fuße der drei Treppenstufen stehen geblieben, damit sie auch ja zu allen begrüßenswerten Körperteilen Zugang hat. Ich sagte ja bereits, dass in meiner Familie die Verteilung der Körpergrößen nicht sonderlich gerecht von statten gegangen sein kann.
„Hallo Zwerg“, erwidere ich liebevoll und drücke Marie fest an mich. Die Spitzen ihrer lockigen Haare kitzeln mich am Kinn, als ich ihren vertrauten Geruch einatme und darunter einen Hauch Zimt und Vanillearoma entdecke. Ein Duft, der es immer schafft, mich augenblicklich zurück in meine Kindheit zu katapultieren. Der Erinnerungen heraufbeschwört an gemeinsame Familienessen, bei denen es zum Nachtisch stets das selbstgemachte rote Grütze- Vanilledessert meiner Mutter gab und das der Hauptgrund dafür war, dass so gut wie keiner von uns je beim Essen gefehlt hat.
Neben mir hebt Kai die Nase in die Höhe und zieht scharf die Luft ein. „Ist es das, was ich denke?“
Ich nicke begeistert und Marie lacht an meiner Schulter, bevor sie sich von mir löst und Kai zuwendet. „Ja ist es, ihr Fresssäcke.“ Sie zieht auch ihn in eine feste Umarmung, nachdem er artig neben mir gewartet hat und winkt uns dann ins Haus. „Kommt rein, ihr kommt gerade richtig zum Mittagessen. Connor, unsere Mutter ist noch in der Küche, oh und Vorsicht mit dem Spielzeug.“
Die Warnung kommt gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment tut sich auch schon ein wahres Minenfeld an herumliegendem Spielzeug vor uns auf. Geschickt manövrieren wir uns durch verstreut auf dem Boden liegende Pferde, Menschen, Autos und sonstigen Kleinkram. Playmobil, bestätigt mir mein fachliches Auge sogleich und da kann ich im Wohnzimmer auch schon die Verursacherin all diesen Übels ausmachen.
„Onkel Connor!“ Mit einem Satz ist meine Nichte auf den Beinen, springt über einen erstaunlich guten Nachbau des Hauses meiner Eltern aus Playmobil und wirft sich mit Schwung in meine ausgebreiteten Arme. Ihre dünnen Arme umschlingen meinen Hals erstaunlich fest, als ich mich aus der Hocke wieder in den Stand begebe und Nele ihre weiche Kinderwange an meine schmiegt, dabei leise vor sich hinsummt. Ich schlinge die Arme fester um meine Nichte, platziere sie an meiner Hüfte, wo ich sie besser halten kann und ihre in weißen Strumpfhosen steckenden Beine bequem an mir herunterbaumeln können.
Wer mich jetzt so sieht, der wird kaum glauben, dass ich bis vor wenigen Jahren noch der Ansicht war, Kinder nicht zu mögen. Ich fand sie zu laut, zu anstrengend, zeitraubend und mal im Ernst, am Anfang sehen die doch alle gleich aus. Verschrumpelt, rot und nicht gerade sonderlich ansprechend. Dann kam Nele und ein einziger Blick in ihr kleines, vom Weinen ganz runzeliges Gesicht genügte und ich wusste, ich war verloren.
Die kleinen Finger und Füße, die winzige Stupsnase, die wenigen Haare auf ihrem kleinem Kopf und diese babyblauen Augen, die viel zu groß und ernst für dieses Kindergesicht schienen. Ich wusste einfach von Anfang an, dass sie anders ist. Ihr Blick, so aufmerksam und wach, verfolgte interessiert das Geschehen um sie herum, während sie mich, ohne es überhaupt zu beabsichtigen, völlig in ihren Bann zog.
Nele war eigentlich ein sehr ruhiges Kind, sprach mit zehn Monaten ihr erstes Wort, da erinnere ich mich noch sehr genau dran, weil Klara und ich an diesem Tag mit ihr im Park gewesen sind. Wir waren so überrascht, ich meine, da brabbelt dieses kleine Ding Monate lang sinnloses Zeug vor sich hin und plötzlich ist da ein Wort. So banal es auch erscheinen mag, genauer betrachtet, ist es doch ein kleines Wunder und ich bin mir dessen bewusst, dass bestimmt viele Eltern von ihren Kindern glauben, sie wären etwas Besonderes. Aber Nele ist es, das weiß ich, auch wenn ich nur ihr Onkel bin. Dank ihr habe ich erkannt, dass es wahr ist. Dass Kinder das wohl größte Wunder sind, dass die Natur je hervorgebracht hat.
Ein Schmunzeln stiehlt sich auf meine Lippen und nicht zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass Liebe etwas Seltsames ist. Ich blicke hinab auf Nelly, die unbeirrt am Kragen meines dunkelblauen T-Shirts zieht und aufgeregt davon berichtet, was sie und Mama heute alles zusammen erlebt haben. Auf dem Weg hierher waren die beiden Eis essen und die Kugeln waren ja so groß. Mit den Händen zeigt sie mir den Abstand und ich mache große Augen. „Wirklich? Und das hast du ganz alleine geschafft?“
Begeistertes Nicken, ihre zu Zöpfen geflochtenen blonden Haare schwingen wild umher. „Ja! Und dann waren wir mit Oma und Opa bei den Kühen und eine von denen, die mit den vielen schwarzen Flecken, durfte ich sogar streicheln. Die war so lieb und hatte einen ganz dicken Bauch. Opa hat gesagt, dass sie bald ihr Kalb bekommt und wenn der Bauer damit einverstanden ist, darf ich ihm einen Namen geben.“
Interessiert lausche ich dem aufgeregten Geplapper meiner Nichte, die beim Reden kaum Luft zu holen scheint, streiche ihr über das feine weiche Haar. Klara kommt zu uns herüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Sie wirft ihrer Tochter ein nachsichtiges Lächeln zu und streicht ihr durchs Haar. „Nele Schatz, nun lass Onkel Connor doch erst einmal ankommen. Du wirst später noch genug Zeit haben, ihm alles zu erzählen. Jetzt sind aber erst einmal die anderen an der Reihe, ich bin ziemlich sicher Oma und Opa möchten ihm auch Hallo sagen, wo sie ihn doch so lange nicht gesehen haben. In Ordnung?“
Nele legt den Kopf schief und scheint zu überlegen. Mit den Fingern zupft sie am Saum ihres roten, mit Erdbeeren bedruckten Kleides. Sie sieht so niedlich aus, eine exakte Ausgabe von Klara, nur eben in klein.
„Na gut.“ Achselzuckend windet sie sich aus meinen Armen, rutscht an meinem Bein herunter und geht zu Kai. Einfach so! Sprachlos sehe ich ihr hinterher, auf ein bisschen Widerstand hatte ich schon gehofft, wenn ich ehrlich bin. Klara fängt meinen Blick ein, ihr Ausdruck ebenso ratlos wie meiner. Ich winke ab, dieses Kind ist schon eine Marke für sich.
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Nele jetzt vor Kai steht, zu ihm hochsieht und irgendetwas sagt. Er antwortet, woraufhin sie kichert. Augenblicklich spitze ich meine Ohren, versuche dem Gespräch zu folgen und herauszufinden, worüber die beiden reden und vor allem, was Nelly zum Kichern veranlasst hat. Aber da sehe ich schon meinen Vater durch die Terrassentür hereinkommen, gebe den Versuch auf und gehe ihm stattdessen freudig entgegen.
„Connor, mein Junge! Schön, dass du da bist. Haben du und Kai gut hergefunden?“ Er klopft mir auf die Schulter, die wohl traditionelle Begrüßung eines jeden Vaters für seinen Sohn. Ich lächele und ziehe ihn, einem plötzlichen Impuls folgend, in eine kräftige Umarmung.
„Ja haben wir. Und danke für eure Einladung.“
Etwas verblüfft über die unerwartete Gefühlsbekundung sieht mein Vater mich an, dann lächelt er ebenfalls und winkt ab. „Ach du weißt ja, wie das ist. Das Ganze hier war die Idee deiner Mutter und wenn die sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat ...“ Er lässt den Satz unvollendet und wir beide lachen kurz auf, verfallen dann in angenehmes Schweigen.
Mein Vater war noch nie ein Mann vieler Worte. Neben meiner Mutter ist er stets der Ruhige und Besonnene gewesen, der Ruhepol dieser etwas verrückten Familie. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat sich einiges verändert. Ich muss zugeben, die Zeit hat es gut mit ihm gemeint und ihn in Würde altern lassen. Da ist mehr grau im einstigen braun seiner Haare und die Falten in Augen- und Mundwinkel, das Zeugnis eines Lebens ausgefüllt von Freude und Lachen, haben sich vertieft. Dennoch oder gerade obwohl er langsam auf die sechzig zugeht, ist er immer noch ein attraktiver Mann. Die hochgewachsene Statur, der von der vielen handwerklichen Arbeit gestärkte Körper und die leicht gebräunte Haut lassen ihn jünger wirken, als er ist. Kombiniert mit einem messerscharfen Verstand und allseits wachsamen Augen, hat er so manchen Mist aufgedeckt, den Kai und ich damals veranstaltet haben. An meine Mutter verpetzt, hat er uns allerdings so gut wie nie. Mit zwei Schwestern und einer überführsorglichen Mutter aufzuwachsen, ist schließlich kein Zuckerschlecken, da wird ein wenig Narrenfreiheit schon erlaubt sein.
Er legt den Arm um meine Schulter, wirft mir einen fragenden Blick zu. „Wo hast du deinen Kai gelassen?“
Meinen Kai. Die Formulierung löst ein Kribbeln in meinem Nacken aus und ich fühle mich seltsam beklommen, werfe ihm einen prüfenden Blick zu. Sein Lächeln ist ehrlich und erwartungsvoll und ich fühle mich dumm, auch nur den Gedanken in Betracht gezogen zu haben, mein Vater wüsste irgendetwas.
„Da bist du ja, mein Schatz.“ Die Stimme aus dem Hintergrund beendet meine abstrusen Gedankengänge, denn nun ist mein Herz vielmehr damit beschäftigt, freudige Sprünge zu machen, während meine Augen die Umgebung absuchen und schließlich fündig werden. Die grünen Augen voller Wärme, nimmt meine Mutter mich in den Arm und streicht mir über die Wange. „Ich freue mich so, dich zu sehen, mein Schatz. Gut siehst du aus.“
„Hallo Mum“, erwidere ich, gebe ihr einen Kuss auf die Wange und ergreife eine ihrer Hände. Ihr unfehlbares Gespür für die Gefühlswelt ihrer Kinder hat sie auch dieses Mal nicht im Stich gelassen und sie schnurstracks zu mir geführt, ein Umstand, für den ich sehr dankbar bin. Als hätte sie meinen Gedanken vernommen, lächelt sie verschmitzt und ich erwidere das Lächeln, genieße das Gefühl, zu Hause zu sein.
Meine Mutter sieht glücklich aus, hat dieses breite Lächeln im Gesicht, bei denen die Grübchen zum Vorschein kommen, freut sich sichtlich uns zu sehen. Sie ist eben ein echter Familienmensch. Das blonde Haar hat sie zu einem Knoten geschlungen und die weichen Gesichtszüge mit ein wenig Make-up betont. Dezent und elegant. Dazu trägt sie eine rosafarbene Bluse und einen grauen Knierock sowie schwarze Strumpfhosen. Modebewusst ist meine Mutter schon immer gewesen.
Sie wirft einen Blick ins Wohnzimmer hinüber, wo Kai sich mit Marie und Klara unterhält. Nelly zupft währenddessen ungeduldig an seinem Arm, verlangt eindeutig nach Aufmerksamkeit. Bei Nele durchaus ein gutes Zeichen, mit Menschen die sie nicht mag, beschäftigt sie sich erst gar nicht. Aber ich hätte mir ja denken können, dass Kai sich mit seiner Schmeicheleinlage letzten Winter nachdrücklich in ihr Herz geschlichen hat und so wie sie ihn von unten anhimmelt, scheint er sie auch jetzt gerade ziemlich zu beeindrucken. Die hochgewachsene kräftige Gestalt, das attraktive Gesicht, die dunklen Haare und dieses Lächeln ... Wer könnte ihr das verdenken?
Meine Mutter löst sich, gibt meinem Vater und mir einen auffordernden Schubs und geht ins Wohnzimmer. Dort schiebt sie meine beiden Schwestern beiseite, die Kai regelrecht belagern und sieht ihn einfach nur an. Stumm und ohne ein Wort zu sagen. Sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf beginnen zu schrillen, das Herz klopft mir schwer in der Brust. Sprich ihn nicht darauf an, flehe ich stumm, die Lippen fest zusammengepresst. Kai ist noch nicht bereit dafür. Meine Fingernägel bohren sich schmerzhaft in die Innenflächen meiner Hand, als ich wortlos zusehe und bete, dass meine Mutter emphatisch genug ist, die Signale zu verstehen, die Kais Körper mehr als deutlich aussendet.
Wie in Zeitlupe sehe ich, dass sie Kais Gesicht umfasst und ihm einen Kuss auf die Wange gibt, ihn danach in eine feste Umarmung zieht, die er erwidert. In den Augen meiner Mutter kann ich Tränen glitzern sehen, die sie entschlossen wegblinzelt, als sie ihm sagt, wie sehr sie sich freut, ihn zu sehen. Er lächelt, wenn auch ein wenig schief und bei diesem Anblick blutet mir das Herz. Kai gehört zur Familie, ist für meine Mutter fast so etwas, wie ein eigenes Kind, ein zweiter Sohn. Sein Schmerz ist ihrer, so wie er meiner ist. Das ist schon seit jeher so gewesen und wird auch immer so bleiben, weil es das ist, was eine Familie ausmacht. Was meine Familie ausmacht.
Über den Kopf meiner Mutter hinweg treffen sich unsere Blicke. Die sturmgrauen Augen, vor einigen Wochen so kalt und leer, sind nun voller Emotionen. Freude, Wehmut und ein Hauch von Dankbarkeit. Ich erwidere den Blick, nicke ihm leicht zu, die Botschaft verstehend. Hierherzukommen war die richtige Entscheidung, war vielleicht nicht das, was er unbedingt wollte, aber genau das, was er letztendlich gebraucht hat.
Die Spannung entweicht nur langsam aus meinen Gliedern, während nach und nach wieder Leben einkehrt. Klara und Marie beginnen wieder zu quasseln, Nelly drängelt sich zwischen meine Mutter und Kai, buhlt erneut um seine Aufmerksamkeit und mein Vater begrüßt Kai ebenfalls, schlingt einen Arm um die Hüfte meiner Mutter, verwickelt ihn sogleich in ein Gespräch. Sicherlich irgendein Männerthema. Autos, Immobilien, Grundstückspreise, was weiß ich.
Ich stehe da, beobachte stumm jede Regung, lausche den Gesprächen und versuche die Lage einzuschätzen. Fühlt Kai sich unwohl inmitten meiner Familie? Bedrängen sie ihn zu sehr? Nichts dergleichen ist zu erkennen, seine Körperhaltung ist offen und entspannt. So weit so gut.
„Hör auf, ständig alles analysieren und kontrollieren zu wollen und komm zu uns.“ Maries Stimme klingt genervt, als sie etwas zu energisch nach meiner Hand greift und mich dichter zu den Anderen drängt. Ich kann ihr das Augenverdrehen am Hinterkopf ablesen, dabei weiß ich gar nicht, was sie hat. So bin ich schon immer gewesen. Stets etwas abseits des Geschehens, auf gar keinen Fall im Mittelpunkt. Connor, wie er leibt und lebt. Zumindest dachte ich das.
Das sich etwas verändert hat, dass ich mich verändert habe, merke ich erst daran, dass ich mich in Mitten des Trubels, anders ausgedrückt: im Auge des Wirbelsturms, erstaunlich wohlfühle. Ich setze mich auf die große grüne Couch, auf der inzwischen alle Platz gefunden haben und erwische mich dabei, wie ich immer öfters Kommentare und Anmerkungen in das Gespräch einwerfe. Das Thema ist ... ach keine Ahnung. Ein Durcheinander aus Fragen und Erzählungen. Maries Studium in der Tiermedizin, das neuste Buch meiner Mutter, die als Kinderbuchautorin ihr Geld verdient und Nellys erster lockerer Milchzahn, der schon gefährlich wackelt und wenn alles glatt läuft, bald die Zahnfee anlocken wird. Lustigerweise sind es meist solche Momente, in denen meine Familie regelrecht aufblüht. Abenteuerliche Geschichten von Begegnungen mit der Zahnfee machen die Runde, wobei Marie es natürlich wieder übertreibt und Nellys Erwartungen an das Geschenk, welches sie im Austausch für ihren ersten Zahn erhalten wird, in unermessliche Höhe schraubt. Und während wir noch über die Geschichte lachen, in der seltsamerweise ein sprechender Koffer, eine Flöte und natürlich Marie selbst vorkommen, wirft Klara ihrer jüngeren Schwester einen Blick zu, der ziemlich deutlich sagt: Halt endlich die Klappe!
Geschwisterliebe ist etwas Wundervolles, stelle ich amüsiert fest, als wir in das Esszimmer umsiedeln und uns zusammen an den großen Grüning-Familientisch setzen. Wie fast alles im Haus meiner Eltern ist auch das Esszimmer in schlichten und gemütlichen Erdtönen gehalten. Heller Parkettboden, mokkabraune sowie beigefarbene Wände und ein großer runder Esstisch aus massiver Eiche. Unzählige Bilder an den Wänden erzählen ihre ganz eigene Geschichte. Links, Fotos von Klaras und Maries Einschulung, rechts, eine Aufnahme von Kai und mir in unserem Garten. Schlammverschmierte, in die Kamera grinsende Gesichter in Fußballshorts mit je einem Ball unter dem Arm. Mein achter Geburtstag und schon damals habe ich den lieber alleine mit meinem besten Freund und der Familie gefeiert. Vorwerfen, ich sei im Laufe der Zeit unsozial geworden, kann man mir also nicht. Prioritäten ist hier das Stichwort.
„Connor, magst du mir einmal mit den Schüsseln helfen?“ Die Stimme meiner Mutter dringt gedämpft aus der Küche. Ich stehe auf, nehme ihr die große Schüssel mit dampfenden Kartoffeln ab und stelle sie auf den Tisch. Im Nu erscheinen andere Leckereien, Rotkohl, Erbsen und der spezielle Hackbraten meiner Mutter, von Kai und meinem Vater herangeschafft, daneben. Beim Abstellen der Schüsseln verrutscht die rote Tischdecke ein wenig und entblößt dunkle Stellen im Holz. Eine unliebsame Erinnerung an die gescheiterte Hausparty, die ich in der zehnten Klasse, fälschlicherweise in der Annahme, sie würde glimpflich und ohne Schaden von Statten gehen, veranstaltet habe. So unauffällig wie möglich versuche ich, die Tischdecke wieder gerade zu rücken, aber die wachsamen Augen meiner Familie haben die verräterischen Flecken, verursacht durch das Ausdrücken von Zigarettenstummeln im Holz, bereits entdeckt.
„Sieh an“, sagt Marie mit süffisantem Grinsen. „Die Flecken sind ja immer noch da. Ich hätte gedacht, die verblassen mit der Zeit.“
Genervt stöhne ich auf. Muss das jetzt wieder hervorgekramt werden? Anscheinend ja, denn meine Familie ist sofort Feuer und Flamme.
„Solche Flecken verblassen nicht so schnell. Seht ihr:“ Fachmännisch streicht mein Vater über die entsprechenden Stellen. „Das ist tief ins Holz eingebrannt. Da wurde ganze Arbeit geleistet. Nicht wahr, Connor?“ Allgemeines Lachen brandet auf. Ich werfe ihm nur einen mürrischen Blick zu. Sticheleien von der weiblichen Seite meiner Familie bin ich ja gewöhnt, aber jetzt auch noch mein Vater? Ich hatte gedacht, zumindest wir Männer halten zusammen. So kann man sich täuschen.
„Ganze Arbeit? Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahres“, fällt meine Mutter mir nun auch noch in den Rücken. „Wie das Haus aussah, am nächsten Tag! Die müssen sich benommen haben, wie die Tiere. Überall Flaschen, Müll und Erbrochenes.“ Sie schüttelt sich übertrieben und ich weiß genau, sie tut das, um mich aufzuziehen.
„Guten Appetit.“ Mein Tonfall ist trocken, als ich mir demonstrativ Kartoffeln und einen Klecks Rotkohl auf den Teller fülle und versuche die schadenfrohen Gesichter um mich herum zu ignorieren.
„Das Schlimmste daran war ja wohl, dass du es versäumt hast mein Zimmer abzuschließen. Den roten Spitzentanga unter meinem Bett habe ich erst eine Woche später entdeckt und das auch nur durch Zufall.“ Klara zieht eine Grimasse. Inzwischen lacht der gesamte Tisch, mit Ausnahme von Nelly, die nicht weiß, wovon wir reden, der es aber offensichtlich auch egal ist, so seelenruhig, wie sie ihren Teller mit Essen befüllt. Ich muss zugeben, ich beneide sie um ihre Nonchalance.
Als dann aber auch noch mein angeblich bester Freund anfängt zu lachen, wenn auch nicht so unverschämt laut wie der Rest meiner Familie, reicht es mir. „Du brauchst gar nicht so zu lachen, Kai. Jeder hier am Tisch weiß, dass die Party nicht auf meinem Mist gewachsen ist.“ Gelassen schiebe ich mir eine Gabel mit Rotkohl in den Mund, meinem Gegenüber einen herausfordernden Blick zuwerfend.
Ich muss sagen, es ist schon irgendwie komisch wie sein Gesichtsausdruck innerhalb weniger Sekunden von ertappt zu verblüfft wechselt und dann bloß noch Verräter schreit. Kai sprachlos zu erleben ist wahrlich bemerkenswert und sicherlich etwas, womit keiner von uns in näherer Zukunft gerechnet hätte. So bemerkenswert, dass ich diesen schwerwiegenden Verdacht des Verrates auf mir sitzenlasse, dann aber doch nicht. „Ich hab ihnen nichts gesagt“, versichere ich deshalb, meiner Meinung nach, recht glaubwürdig.
„Das musste er auch gar nicht“, mischt meine Mutter sich amüsiert ein. „Für Connor war es ja schon bemerkenswert, wenn er dich abends mal auf eine Feier begleitet hat. Aber selbst eine veranstalten? Niemals! Das konnte nur dein Einfall gewesen sein.“
Mit dieser Anmerkung meiner Mutter entbrennt eine heiße Diskussion darüber, was für ein schrecklich langweiliges und sozialscheues Kind ich doch gewesen bin und welche Schwierigkeiten Kai dabei hatte, mich zu "sozialisieren", wie Marie es so nett auszudrücken weiß. Ich sitze einfach da und höre zu, beobachte meine Familie beim Versuch sich gegenseitig mit witzigen Anekdoten zu übertrumpfen und werfe ab und an geistreiche Kommentare ein. Gelegentlich korrigiere ich auch das ein oder andere Detail, zum Beispiel dann, wenn Marie und Klara es einmal wieder zu weit treiben und über das Ziel hinausschießen.
Ich zucke gefühlt eine Millionen Mal gleichgültig mit den Achseln und verteile hochgezogene Brauen. Man könnte sagen, ich gebe alles in allem den Mürrischen. Dass diese kleinen Sticheleien und Späße mich eigentlich gar nicht stören und ich in Wahrheit bloß das Zusammensein mit meiner Familie genieße, ist wohl für jeden der mich einigermaßen gut kennt, offensichtlich. Zugeben würde ich das natürlich trotzdem niemals. Wo würden wir da hinkommen?
Nachdem sich alle beim Essen die Bäuche vollgeschlagen haben, geht's raus an die frische Luft. Dick eingepackt in Jacken, Schals und Mützen erkundet unsere kleine Truppe die Gegend rund um das Haus meiner Eltern. Die Sonne scheint herrlich blass auf die vom Frost der letzten Tage gezeichneten Wiesen. Laub raschelt, Wasser plätschert. Herrliche Stille, nur unterbrochen vom Knirschen der Steine unter unseren Füßen. Es ist, als hätte die Zeit hier keine Bedeutung.
Mit einem Grinsen greift Nelly sich meine Hand, ihre kleinen Finger verschränken sich fest mit meinen und in der Annahme, sie wolle bloß Händchen halten, lasse ich sie gewähren. Mein Irrtum wird mir erst bewusst, als kurze Zeit später auch Kais Hand dran glauben muss. Ehe wir uns versehen, baumelt eine fröhliche Fünfjährige zwischen unseren ausgestreckten Armen und verlangt jauchzend nach mehr. Schneller, höher, weiter! Hauptsache Spaß. Na was auch sonst?
Beim überqueren einer kleinen Anhöhe, gerät unsere kleine Schaukel kurz aus dem Takt. Die Quittung folgt sogleich in Form eines bösen Blickes. „Ihr macht das nicht richtig. Ihr müsst die Arme gleichzeitig schwingen.“ Meine erboste Nichte lässt sich ein wenig zurück fallen, nimmt Anlauf und zieht unsere Arme mit Schwung hinter sich her. „So müsst ihr das machen!“
Wir wagen einen erneuten Versuch, der allerdings immer noch nicht zu Madames Zufriedenheit ausfällt. Irgendwie sind Kai und ich nicht gleich auf. Ratlos blinzele ich zu ihm hinüber. Wäre doch gelacht, wenn wir zwei an solch einer simplen Aufgabe scheitern.
Kai scheint unterdessen zu der gleichen Annahme gekommen zu sein. Kritisch analysiert er den Ablauf unserer Bewegungen. „Du musst den Arm weiter mit nach hinten nehmen. Von da kommt dann auch der Schwung“, schlussfolgert er schließlich.
„Das tu ich schon die ganze Zeit.“ Daran kann es also nicht liegen. Hm, aber woran dann? „Und wenn wir die Arme höher nehmen?“
„Nee, das bringt nichts. Wir brauchen einfach mehr Schwung.“
Ich verdrehe die Augen. „Wir haben genug Schwung. Nimm einfach deinen Arm ein Stückchen höher.“
Natürlich tut er das nicht und so fachsimpeln wir weiter über die Vorzüge des jeweils eigenen Vorschlags bis es Nelly wohl zu bunt wird und sie sich mit einem genervten Schnauben von uns losreißt und zu Klara rennt. Verblüfft sehen wir ihr hinterher.
„Das kommt davon, wenn ihr ewig nur am herum diskutieren seid und dabei nichts gebacken bekommt.“ höhnt Marie. „Aber ihr seid auch so süß, wenn ihr euch streitet.“ Ihr Lächeln ist dermaßen süß, dass man davon Karies bekommt. Ich verziehe das Gesicht, merkwürdig ertappt und unangenehm berührt. Kann Marie denn niemals ihre vorlaute Klappe halten?
„Wir streiten doch gar nicht“, setzt Kai zu unserer Verteidigung an. „Und dass wir süß sind, wissen wir.“ Er wirft mir einen verschwörerischen Blick zu und ich schmunzele amüsiert über die Reaktion meiner Schwester. Mit so einer Antwort hat sie sicher nicht gerechnet, aber Kai ist nun mal niemand, der sich auf der Nase herum tanzen lässt. Wenn wir uns untereinander ärgern, dann ist das okay. Aber wehe jemand Außenstehendes mischt sich ein. Das sollte Marie inzwischen eigentlich wissen.
Zurück im Haus versorgen wir unsere durchgefrorenen Glieder erst einmal mit heißem Tee. Während wir die Jacken zurück an den Haken hängen, lasse ich geduldig die belustigten Kommentare bezüglich meiner roten Nase über mich ergehen. Ich meine, was ist schon dabei? Dann reagiere ich eben empfindlich auf Kälte, das war schon immer so bei mir. Auch als Kind. Das ist noch lange kein Grund, mir den Spitznamen Rudolph zu verpassen. Aber wie heißt es doch so schön? Kinder können grausam sein - und Geschwister erst recht.
„Na, was haltet ihr von einer schönen Runde Mensch ärgere dich nicht?“ Erwartungsvoll blickt mein Vater in die Runde.
„Och nö“, stöhne ich gequält.
„Au ja!“ Begeistert wirft Nelly ihren Schal auf die Kommode und flitzt zu uns hinüber. Ihre Zustimmung alleine reicht - und das Vorhaben Mensch ärgere dich nicht scheint beschlossene Sache. Meine Eltern räumen den Wohnzimmertisch frei, Klara holt Getränke und ein bisschen was zu Knabbern. Ruck zuck ist das Spielfeld ausgebreitet und meine Nichte scheint schon in den Startlöchern.
„Wieso willst du nicht mit Mensch ärgere dich nicht spielen?“ Ein wenig erstaunt sieht Kai mich an. „Das hat doch immer einen Riesenspaß gemacht.“ Er lächelt, höchstwahrscheinlich versunken in Erinnerungen an früher. Übernachtungen, gemeinsame Spieleabende, Musik, gute Freunde und tolle Stimmung. Gott, er hat keine Ahnung was ihm bevorsteht.
„Hast du schon einmal mit Nelly Mensch ärgere dich nicht gespielt?“, frage ich lauernd.
„Nein, wieso?“ Er sieht mich an, die grauen Augen ohne das geringste Anzeichen von Arglist. Kai ist viel zu ahnungslos, viel zu nett für meine verrückte Nichte.
„Sie ist ein ziemlicher Raffzahn“, warne ich daher vor, aber er scheint sich nicht beirren zu lassen.
„Sie ist doch erst fünf.“
Na-ah gut. Ich habe ihn gewarnt. Was jetzt kommt, liegt außerhalb meines Einflussbereiches. „Okay, dann lass uns spielen.“ Innerlich grinsend beiße ich mir auf die Wange. Das verspricht interessant zu werden.
Interessant wird es tatsächlich, aber vor allem lustig. Kai und ich spielen notgedrungen zusammen, da unser Spielfeld nur für sechs Personen ausgelegt ist und Nelly sich weigert mit Klara zusammenzuspielen. Durchaus verständlich, es könnte sonst schließlich jemand auf die Idee kommen, Klara den Verdienst des Sieges zuzusprechen und dann wäre die Katastrophe vorprogrammiert.
Die Partie beginnt gut für Kai und mich, aber spätestens nach zehn Minuten wird ihm wohl klar, warum ich versucht habe, mich hiervor zu drücken. Nele ist ein Monster. Gnadenlos würfelt sie eine Sechs nach der anderen und scheint eine besondere Schwäche dafür zu haben, unsere Spielfiguren kurz vor dem rettenden Ziel herauszukegeln. Nach der ersten Partie ist Kai vollkommen am Ende, auch wenn wir es dank seiner Verbissenheit noch auf den dritten Platz geschafft haben.
Übertrieben erschöpft wischt er sich den imaginären Schweiß von der Stirn und steht auf. „Ich gehe kurz in die Küche, was zu trinken holen. Soll ich dir was mitbringen?“
„Ich bin bedient, danke.“ Zur Bestätigung halte ich mein noch halbvolles Glas hoch und sehe ihm dann stirnrunzelnd hinterher. Er war sehr still die letzten Minuten und die Show des erschöpften Verlierers zieht er nur für Nele ab, das weiß ich. Ob alles in Ordnung ist?
„Ist Kai böse auf mich?“, durchbricht meine Nichte plötzlich die Stille.
Verblüfft sehe ich sie an. „Kai ist doch nicht böse auf dich. Wie kommst du denn darauf, Mäuschen?“
„Na, weil er beim Spielen manchmal so traurig geguckt hat und ich gewonnen habe und ihr nur Dritter geworden seid.“
Mein Herz geht auf für meine kleine Nichte, die so herzzerreißend zerknirscht zu mir herübersieht und anscheinend der Annahme ist, sie hätte meinen besten Freund unglücklich gemacht. Dabei kann sie ja nicht wissen, dass seine Traurigkeit einem ganz anderem Umstand geschuldet ist. „Kai ist schon erwachsen, Süße. Er ist nicht traurig, weil du gewonnen hast und er nicht. Und böse ist er dir auch nicht.“
„Warum ist er dann traurig?“
Hilfesuchend sehe ich Klara an. Wie erklärt man einer Fünfjährigen das Prinzip des Todes? Tut man das in dem Alter überhaupt schon? Ich kann mich nicht erinnern, wann meine Eltern mir davon erzählt haben, nur dass ich, als ich klein war, das Gefühl hatte, meine Familie und Freunde würden ewig leben.
Zu meiner Überraschung spricht meine Schwester das Thema direkt an und erinnert Nele daran, dass Onkel Connors Freund jemanden bei einem Unfall verloren hat und dieser jemand nun im Himmel sei. Klara hat ihr also schon davon erzählt, vermutlich damit Nele sich ein wenig zurückhält und keine folgenschweren Fragen stellt. Wieder einmal bin ich ihr dankbar für ihre weise Voraussicht.
Als Kai nach fünf Minuten immer noch nicht zurück ist, stehe ich auf und mache mich auf die Suche nach ihm. Meine Eltern, Klara und Marie spielen weiter Spiele mit Nelly, vielleicht um sie ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Für eine Fünfjährige geht sie erstaunlich ruhig und verständlich mit dem Thema Tod um und auch das Prinzip des Himmels scheint sie äußerst interessant zu finden. Trotzdem sollte man nicht vergessen, was sie ist. Nämlich in erster Linie noch ein Kind.
Ich finde Kai an einen umgestürzten Baumstumpf gelehnt sitzend, etwa hundert Meter hinter dem Haus. Seine hochgewachsene Gestalt sehe ich schon von weitem, er hat den Kopf gesenkt, die Knie leicht angezogen. Das schwarze Haar flattert im Wind, seine Gesichtszüge sind angespannt. Er wirkt erschöpft.
„Hey“, murmele ich leise und setze mich zu ihm. Er wirft mir einen Seitenblick zu und lächelt schwach. Ich frage mich, was dieses Lächeln darstellen soll. Eine Art Begrüßung? Eine Form der Entschuldigung? „Was machst du hier?“
„Ich brauchte einen Augenblick für mich.“ Unschlüssig zuckt er die Achseln. „Schätze, ich wollte einfach ein wenig alleine sein.“
Ich kann nicht verhindern, dass sich bei seiner Antwort Ernüchterung in mir breit macht. „Verstehe.“ Meine Stimme klingt gepresst, aber als ich Anstalten mache aufzustehen, greift Kai nach meiner Hand und hält mich zurück.
„So meinte ich das nicht. Wenn ich sage, ich will allein sein, dann zählst du nicht.“ Seine sturmgrauen Augen sehen mich seltsam an, irgendwie ... bittend. „Also bleib.“
Ich nicke verblüfft und lasse mich wieder neben ihn sinken. Das Gedankenkarussell in meinem Kopf dreht sich unablässig, während die Kälte sich unangenehm durch meine Klamotten frisst. Wir werden uns erkälten, mosert mein nerviger Verstand. Ich ignoriere ihn, beschließe meinen Kopf einfach mal außen vorzulassen, wenn es um Kai geht. Bisher hat nichts von dem was ich versucht habe, wirklich funktioniert. Ich habe es satt, hilflos daneben zu stehen und ihm nicht helfen zu können. „Woran denkst du?“, frage ich daher.
Er lässt die Schultern sinken und seufzt. „Das weißt du.“
„Ja“, bestätige ich. „Ich will es aber von dir hören.“
„Warum?“ Er runzelt verständnislos die Stirn. Natürlich. Dieses Gesprächsthema beschäftigt uns seit Wochen - und seit Wochen schließt er mich aus seinem Leben, aus seinen Gedanken aus. Das verletzt mich. Bewusst oder unbewusst. Damit ist jetzt Schluss.
„Warum? Weil ich dein bester Freund bin. Ich will wissen, wie es dir geht und was in deinem Kopf vor sich geht. Aber du redest ja nicht mit mir, weichst seit Wochen aus, wann immer es um Julia geht. Aber du kannst das doch nicht totschweigen.“
„Tue ich nicht. Dafür bin ich doch bei der Therapie. Ich spreche mit Alexander darüber.“
Seit wann ist aus Herrn Vogt plötzlich Alexander geworden? Eifersucht frisst sich ätzend durch meine Adern, klingt auch in meinem Tonfall nach. „Ach, mit ihm sprichst du? Warum dann nicht mit mir?“
„Mensch Connor, darum geht es hierbei doch gar nicht. Ich rede mit Alexander darüber, weil es sein Job ist, nicht weil ich mich mit ihm lieber unterhalte als mit dir.“
„Das klang aber eben stark danach“, sage ich.
„So ist es aber nicht. Weißt du, ich will dich nicht auch noch damit belasten. Du lässt mich bei dir wohnen, verbringst die Tage mit mir und schaust dir sogar Stirb langsam mit mir an, dabei weiß ich doch, dass du diese Art von Filmen hasst. Ohne dich wäre ich schon längst durchgedreht, ich verdanke dir alles, Connor. Da will ich nicht auch noch meinen Seelenmüll bei dir abladen.“
Seinen Seelenmüll? Was für ein trauriger Begriff, seine Ängste und Gefühle in Worte zu fassen. Weiß er denn nicht, dass sein Seelenmüll für mich kein Müll ist? Keine Last? Anscheinend nicht. Es ist wohl an der Zeit, ihm das zu verdeutlichen. „Vielleicht will ich aber, dass du genau das tust.“
Er blinzelt verblüfft und wendet sich mir ganz zu. „Du willst, dass ich meinen Seelenmüll bei dir ablade?“, fragt er zweifelnd.
Unschlüssig ringe ich mit mir selbst. Einerseits will ich nicht zu forsch sein, ihn nicht verschrecken. Andererseits war ich lange genug ein Feigling. Die Worte wollen hinaus, also gebe ich ihnen nach.
„Ich bin es nicht gewohnt von dir derart ausgeschlossen zu werden, Kai. Früher haben wir uns alles erzählt. Ich bin dein bester Freund, natürlich möchte ich mit dir reden und darüber Bescheid wissen, was in dir vorgeht. Nicht nur die guten Details deines Tages, auch die schlechten. Ich will mit dir auch über die Momente sprechen, wo du dir denkst: Scheiße, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr und dann für dich da sein. Ich meine, das ist es doch, was Freundschaft ausmacht.“
Ich hole tief Luft, selbst erstaunt über den Redeschwall, der da aus mir hervorbricht.
„Ich fühle mich hilflos, weil ich sehe, dass es dir nicht gut geht.“ Kai öffnet den Mund, will etwas sagen, aber ich fahre einfach fort. „Nein, sag nichts. Dir geht es nicht gut, da kannst du mir nichts vormachen und die Tatsache, dass du es überhaupt versuchst, verletzt mich. Ich habe immer gedacht, wir würden über diesen Dingen stehen, aber dein Verhalten sagt das Gegenteil. Nach unserem Streit ...“ Ich stocke und auch Kai verspannt sich. „ ... da dachte ich, dass die Dinge sich ändern, das du dich mir öffnest. Ich habe gewartet, dir Zeit gelassen und jedes Mal mein schlechtes Gewissen bekämpft, wenn ich dich zu sehr gedrängt habe. Aber ich weiß nicht weiter. Ich will die ganze Angelegenheit, den Unfall, Julias Tod nicht unausgesprochen zwischen uns stehen lassen, weil es mich fertig macht. Ich ... ich kann das nicht mehr, Kai.“ Die letzten Worte flüstere ich fast. In meinem Hals steckt ein riesiger Kloß und plötzlich will ich nur noch weg. Weg von all den Problemen, all dem Schmerz.
Ich komme nicht dazu, meinen Fluchtgedanken in die Tat umzusetzen, denn ehe ich mich versehe, hat Kai mich in eine feste Umarmung gezogen. Überrumpelt wie ich bin, wehre ich mich anfangs, aber er lässt nicht locker und so gebe ich schließlich auf, lehne meine Wange an seine warme breite Brust. Tief darin schlägt sein Herz. Schnell und kräftig.
„Es tut mir leid.“ Erst als er die Worte ausspricht, registriere ich das Brennen in meinen Augen. Ich will den Blick abwenden, aber Kai greift nach meinem Kinn und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. Das stürmische Grau scheint mich zu verschlingen. „Ich hatte nie vor, dich auszuschließen, Connor. Das schwöre ich. Du würdest es niemals zugeben, aber dein Herz ist viel zu groß, als dass du dich aus den Problemen der Menschen heraushalten kannst, die dir wichtig sind. Du bist die mitfühlendste Person die ich kenne und ich schätze ...“ Er stockt, sein Blick wandert unstet über mein Gesicht. Verharrt bei meinen Lippen, die von der Kälte sicherlich schon blau angelaufen sind und kehrt dann zurück zu meinen Augen. „... ich wollte dich einfach beschützen. Wollte dich fernhalten von all dem Mist, der zurzeit mein Leben ist und der meine Gedanken beherrscht. Hätte ich gewusst, dass ich dich damit noch stärker verletze, hätte ich dich niemals derart ausgeschlossen. Ich dachte wirklich, es wäre das Beste. Für dich und für mich.“
Vorsichtig löse ich den Griff seiner Hand um mein Kinn, halte dabei den Augenkontakt. „Wie konntest du nur denken, deine Gefühle außen vorzulassen wenn wir zusammen sind, wäre eine gute Lösung?“
„Ich habe es nicht für eine gute Lösung gehalten. Ich wusste nur nicht ...“ Kai holt tief Luft, seine Schultern sinken herab. „Ich wusste nicht anders damit umzugehen. Anfangs war ich einfach viel zu sehr geschockt um das alles zu begreifen. Ich habe zwar verstanden, dass Julia tot ist und auch nie mehr wieder kommen wird, aber ich konnte es nicht ... fühlen. Ich habe mich gefühlt wie ein Zombie. Vollkommen leer und hohl innendrin, aber gleichzeitig war da diese unglaubliche Wut auf alles und jeden. Meine Eltern, die sich einen Dreck um mich scheren, Tanja und Jens - und sogar Julia.“ Er schnaubt, schüttelt leicht den Kopf. „Ich weiß das klingt verrückt, aber du warst der einzige der mich einigermaßen normal angesehen hat. Bei dem ich vergessen konnte, was passiert ist. Denn das wollte ich. Ich wollte einfach, dass alles so ist wie vorher: Arbeiten, nach Hause kommen und keine anklagenden Blicke von Menschen, die einem die Schuld am Tod ihrer Tochter geben.“
Mein Kopf ruckt in die Höhe. „Wovon redest du? Tanja und Jens geben dir doch nicht die Schuld an Julias Tod.“
„Ach nein?“
„Nein! Wie kommst du denn darauf?“
„Sie haben es mir gesagt. Kurz vor Julias Beerdigung.“ Ruhig erwidert er meinen fassungslosen Blick.
„Das ist nicht dein Ernst. Wieso sollten sie so etwas sagen? Julias Tod war ein Unfall, daran trägt niemand Schuld“, stoße ich heftig hervor.
Er seufzt, lässt den Kopf gegen den Baumstamm hinter uns sinken und sieht mich unter gesenkten Lidern an. „Wo war ich, als sie den Unfall hatte?“ Seine Stimme klingt resigniert. Glaubt er etwa auch, dass er Schuld sei?
Ich runzele die Stirn. „Du warst bei mir. So wie fast jeden Freitag, wir haben...“ Ich verstumme, sehe ihn dann fassungslos an. „Sie geben dir die Schuld, weil du bei mir warst? Das glaube ich einfach nicht!“ Wütend springe ich auf und stapfe in Richtung Haus.
„Wo willst du hin?“ Kai hat mich eingeholt, greift nach meinem Arm und hält mich auf.
„Ins Haus. Marius anrufen“, sage ich schlicht.
„Was?“ Er starrt mich erschrocken an. „Nein. Lass es doch einfach gut sein, Connor.“
„Nein, verdammt! Was fällt denen eigentlich ein, solche Dinge zu sagen? Das ist doch krank.“ Ich warte darauf, dass er etwas erwidert, mir zustimmt. Aber er bleibt stumm. Ein schrecklicher Verdacht beschleicht mich. „Du glaubst ihnen doch nicht, oder? Dass es deine Schuld ist?“
Kai weicht meinem Blick aus, zuckt mit den Schultern. „Nein ... ja. Ach, was weiß ich. Ich weiß nur, dass wenn ich an diesem Abend bei ihr geblieben wäre, der Unfall niemals passiert wäre.“
Irgendwie tut es mir weh, ihn das sagen zu hören. Zudem ist es völliger Blödsinn und ich hasse Tanja und Jens dafür, Kai diesen Mist eingeredet zu haben.
„Und wenn du an diesem Abend bei der Arbeit gewesen wärst? Wäre das dann auch deine Schuld gewesen?“, frage ich scharf. „Oder liegt es an mir als Person?“ Auf seinen Blick hin verdrehe ich die Augen. „Ach komm schon, Kai. Die einzige Person, die Tanja und Jens noch weniger Leiden können als dich, bin ich. Das weißt du. Sie haben es schon immer gehasst, dass du deine Zeit mit mir verbringst.“
Kai sieht erst mich an, dann lässt er den Blick nachdenklich über die Wiesen und das kleine Waldstück dahinter schweifen. „Du hast ja Recht. Ich will trotzdem nicht, dass du mit Marius darüber sprichst. Ich will so wenig wie möglich mit seinen Eltern zu tun haben und um ehrlich zu sein habe ich auch keine Nerven um mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Versprich mir, dass du ihn nicht anrufen wirst.“
Ohne darüber nachzudenken, haben wir uns in Bewegung gesetzt und steuern nun das kleine Waldstück an. Ich bin immer noch furchtbar wütend über dieses Maß an Dreistigkeit. Am liebsten würde ich persönlich bei Tanja und Jens aufkreuzen und ihr schickes Haus mit meiner Anwesenheit beehren.
„Connor?“
Ich verdrehe die Augen, will Kai dieses Versprechen eigentlich nicht geben. Aber er wird nicht locker lassen. Natürlich nicht.
„Okay“, sage ich schließlich. „Ich verspreche es.“
Er nickt dankbar, erleichtert und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Ohne darüber nachzudenken greife ich nach seiner Hand und verschränke sie mit meiner, während wir dem kleinen Trampelpfad durch die Natur folgen. Langsam wird es spät, die Sonne verschwindet einem rotglühenden Ball gleich hinter dem Horizont und taucht die Landschaft in ihr goldrotes Licht.
Ich sollte zufrieden sein. Glücklich, dass Kai mir endlich offenbart hat, wie es in ihm aussieht, wie er sich fühlt. Aber stattdessen hat unser Gespräch einen seltsam bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Julia war an dem Abend nicht bei der Arbeit und auch nicht zu Hause. Ihre engsten Freundinnen wohnen alle außerhalb von Hamburg, ebenso wie Tanja und Jens. Stellt sich die Frage: Wo war sie bevor der Unfall passiert ist? Oder besser gesagt, wo wollte sie so spät noch hin?
Später am Abend liege ich noch lange wach und zerbreche mir den Kopf über die Ereignisse des Tages, vor allem über das Gespräch mit Kai. Glücklicherweise hat niemand unser Fehlen kommentiert und so haben wir noch einen einigermaßen angenehmen Abend verbracht. Kai und ich größtenteils schweigend, Marie und meine Mutter dafür umso gesprächiger, wohl um über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass nun eben doch nicht alles in Butter ist. Friede, Freude, Eierkuchen im Hause Grüning? Leider Fehlanzeige, aber Nele scheint das Theater größtenteils geschluckt zu haben und das ist schließlich die Hauptsache.
Durch das geöffnete Fenster dringen nächtliche Laute. Das leise Tschilpen der Vögel, Wind, der durch die kahlen Kronen der Bäume fährt und das ferne Stampfen des Viehs in seinen Ställen. Die Laute beruhigen mich, erinnern mich so sehr an meine Kindheit - und schaffen es dennoch nicht, meinen grübelnden Geist in den Schlaf zu zwingen. Unruhig wälze ich mich auf der Matratze hin und her, verharre nur dann in meinem Tun, wenn Kais ruhiges Atmen aus dem Takt gerät und er droht aufzuwachen.
Mein altes Jugendzimmer, in dem inzwischen zumindest eine Person friedlich vor sich hinschnarcht, haben meine Eltern größtenteils unangetastet gelassen. Viel gibt es sowieso nicht zu sehen, ein Schreibtisch aus Eiche, ein etwa mannshoher Kleiderschrank und ein schlichtes Bett. Leider nur in standardmäßiger neunzig Zentimeter Breite und damit eindeutig zu klein um Kai oder mich darin zu beherbergen. Eine große aufblasbare Luftmatratze aus dem Keller schafft zwar Abhilfe, ist aber nicht gerade das Nonplusultra. Bei der kleinsten Bewegung seitens Kai wackelt die ganze Matratze und ich fühle mich, als wäre ich einem Erdbeben der Stärke neun ausgesetzt - so wie jetzt gerade wieder. Mit einem entnervten Schnauben drehe ich mich auf den Rücken. Was ist Kai auch so unruhig heute Nacht? Normalerweise schläft der wie ein Stein. Vollkommen reglos und ohne das geringste Bisschen Lärm zu veranstalten. Ein wirklich angenehmer Schlafpartner, zumindest war er das bisher. Aber offensichtlich ist der Tag auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen.
„Schläfst du schon?“ Das leise Flüstern bringt mich kurz aus dem Konzept. Ich sollte überrascht sein, dass er doch nicht schläft, bin es aber aus irgendeinem Grund nicht.
„Nein.“ Das Gähnen lässt meinen Kiefer knacken, meine Stimme klingt verschlafen. Ich drehe den Kopf zur Seite, versuche sein Gesicht im Dunkeln auszumachen. Vielleicht war ich mit meinem ruhelosen Herumgewälze doch lauter als gedacht. „Habe ich dich geweckt?“
Eine leichte Bewegung, er schüttelt den Kopf. „Nein, habe noch gar nicht geschlafen. Du?“ Es raschelt leise, als Kai sich unter der Bettdecke hervorwühlt und eine angenehmere Position zum Liegen sucht.
„Nein, auch nicht“, erwidere ich leise und drehe mich ganz auf die Seite, ebenfalls auf der Suche nach einer gemütlicheren Position zum Liegen. Gar nicht so einfach, wenn das sogenannte Bett dabei schaukelt wie ein rostiger Kutter auf Seefang.
Neben mir ertönt ein leises Klicken, dann blendet mich helles Licht. „Ah, verdammt!“ Schützend hebe ich eine Hand und schirme meine gepeinigten Augen vor den fiesen Strahlen der Lampe ab.
Einige hektische Bewegungen später und der Schaden ist behoben. Kai schnaubt. „Scheiße, tut mir leid. Ich dachte, ich hätte das Licht davor ausreichend heruntergedimmt.“ Er zieht eine Grimasse, dann grinst er. Ich winke ab und lasse mich erschöpft in die Kissen zurücksinken. Warum sich ärgern? Eingeschlafen wäre ich in absehbarer Zeit sowieso nicht. Und Kai, wie es scheint, auch nicht.
Eine Weile verbringen wir schweigend, einfach so daliegend, den Blick zur Decke gerichtet. Gedankenverloren zähle ich die weiß gestrichenen Holzbretter über uns. Es sind immer noch siebenundvierzig, genauso wie früher. Was eigentlich nur logisch ist, dennoch beruhigt mich dieses Wissen auf seltsame Art und Weise.
Die Zeit vergeht langsam, das Ticken der Uhr erscheint unnatürlich laut in diesem Zimmer, geht mir gehörig auf die Nerven. Meine Hände zucken unter der Bettdecke, mir ist langweilig und Kai ist seltsam still neben mir. Unter gesenkten Lidern linse ich vorsichtig zu ihm herüber und unsere Blicke treffen sich, als hätte Kai nur auf diese Gelegenheit gewartet. Er schmunzelt und ich verziehe, von plötzlicher Heiterkeit überfallen, spöttisch das Gesicht. „Wenn auch nur die geringste Chance darauf bestanden hat, dass wir beide es schaffen, in der nächsten Zeit einzuschlafen, hast du sie mit deiner Lampen-Aktion soeben endgültig zerstört, Sherlock.“
Kais Lachen erhellt den Raum, erreicht seine Augen und zaubert weiche Reflexe in das sonst so stürmisch dunkle Grau. „Und damit kommst du erst jetzt? Fünf Minuten später? Der Spruch muss dir ganz schön auf der Zunge gebrannt haben. Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich mit deiner Beschwerde herausrückst. So ruhig kennt man dich nämlich gar nicht.“
„Muss die Müdigkeit sein“, antworte ich leicht stichelnd, damit Kais kürzlich durchgeführte Aktion ja nicht in Vergessenheit gerät. Nicht, dass ich bei solchen Dingen nachtragend bin, nein, dafür genieße ich es viel zu sehr, ihn derart entspannt zu erleben. Unser Gespräch vorhin ist längst überfällig gewesen. Man merkt deutlich, dass Kai das gebraucht hat. Sich all die Last von der Seele reden zu können, seine Gedanken zu teilen, ohne dafür verurteilt zu werden.
„Natürlich.“ Er schmunzelt - glaubt mir, zu recht, kein Wort - übergeht meinen Tonfall und sieht sich suchend um. „Wie spät ist es eigentlich?“
Ich werfe einen Blick auf den Nachtisch. Der Wecker zeigt zwei Uhr nachts.
Kai deutet meinen Blick richtig und stöhnt genervt auf. „So spät schon?“ Er schaut ebenfalls nach, runzelt die Stirn und stellt dann trocken fest: „Wir sind alt geworden, Connor. Zwei Uhr nachts als spät zu bezeichnen, das wäre uns früher nicht passiert.“
„Ich weiß“, seufze ich, gebe den Versuch, eine bequeme Liegeposition zu finden, auf und setze mich im Schneidersitz auf das, was fehlgeleitete Menschen gewagt haben, als Matratze zu bezeichnen.
Kai tut es mir nach kurzem Zögern nach. Das gedämpfte Licht taucht das Zimmer in eine heimelige Atmosphäre, gibt der Tatsache, dass er und ich uns gegenübersitzen wie zwei übergroße Kinder bei ihrer ersten Übernachtungsparty einen ganz neuen Touch. Dass ich hellwach bin, könnte mir nicht gleichgültiger sein und auch das beständige Ticken der Uhr stört mich plötzlich nicht mehr. Es scheint ruhiger geworden, seit wir uns unterhalten. Alles Störende ist verstummt, in den Hintergrund gerückt, ganz einfach, weil es nicht wichtig ist. Nichts scheint wichtig zu sein in diesem Moment.
„Woran denkst du?“
Mein erster Gedanke lautet: An nichts. Aber damit würde Kai sich niemals zufrieden geben, also krame ich eine meiner liebsten Erinnerungen hervor, die ich an dieses Zimmer, ihn und mich habe. „Weißt du noch, wie deine Eltern eines Nachts plötzlich nach Rom mussten und dich nicht mitnehmen konnten? Das war das erste Mal, dass du hier übernachtet hast und du konntest einfach nicht schlafen.“
Seine Mundwinkel heben sich kaum merklich als ich fortfahre.
„Wir saßen fast genauso auf meinem Bett wie jetzt gerade und ich wusste ums Verrecken nicht, was ich tun soll, damit du dich nicht so unwohl fühlst.“ Auch jetzt noch durchfährt mich ein Stich, wenn ich mir das Bild in Erinnerung rufe. Das schwarze Haar verwuschelt, die Hände den Rand seiner Bettdecke umklammernd und diese großen grauen Augen, die so unsicher und unstet durch den Raum wanderten. Hätte ich damals schon gewusst, was Liebe ist, es hätte mir das Herz gebrochen.
„Ich habe mich nie unwohl gefühlt in deiner Gegenwart“, verbessert mich Kai. „Ich war traurig, dass meine Eltern mich nicht mitgenommen haben, das war alles. An dir oder deiner Familie hat das nicht gelegen.“ Ein amüsiertes Funkeln tritt in seine Augen. „Außerdem hast du das vermeintliche Problem doch ganz gut gelöst bekommen. Jedenfalls habe ich mich danach erstaunlich gut in den Kreis der Familie aufgenommen gefühlt.“
Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht als ich an meine geniale Idee, den Vorratsschrank im Keller zu plündern, erinnert werde. Nachts um drei, bei wenig Licht, noch weniger Raffinessen und mithilfe einer mehr schlechten als rechten Räuberleiter haben wir das Unmögliche versucht und sind gescheitert.
Noch heute klingt das Scheppern und Krachen des umstürzenden Schranks in meinen Ohren. Grässlich, und die Sauerei erst! Geplatzte Konservendosen, zerquetschtes Obst und herumliegendes Plastik - und das obwohl die Süßigkeiten auf dem obersten Regalbrett doch das eigentliche Ziel unserer missglückten Mission gewesen waren.
Die Standpauke meiner Eltern fiel erstaunlicherweise recht mild aus, einzige Konsequenz: das gemeinsame Saubermachen der Sauerei, bei der Kai und ich glücklicherweise tatkräftige Unterstützung von meinem Vater und Klara bekommen haben und das im Nachhinein an sich ein wirklich lustiges Unterfangen war.
Und - wer hätte das gedacht? - nichts schweißt so sehr zusammen, wie das gemeinsame Beseitigen eines vorangegangenen Fiaskos.
Kai amüsiert sich derzeit anscheinend köstlich über mein Mienenspiel, weiß genau, welche Szenen sich gerade in meinem Kopf abspielen. „Ach, an sich war das doch eine geile Aktion von uns. Ich würde das auf jeden Fall jederzeit wieder tun. Heute würden wir damit wahrscheinlich sogar ungestraft davonkommen. Groß genug, das oberste Regalbrett zu erreichen, sind wir ja jetzt.“ Sein verschlagener Blick geht mir durch und durch.
„Oh nein, das werden wir nicht tun“, sage ich hastig und lehne damit das zwischen den Zeilen versteckte Angebot ab. Egal, wie sehr ich seine ausgelassene Stimmung gerade genieße, ist das keine Option. „Diese Sauerei einmal wegzumachen hat mir gereicht und außerdem bist ja nicht du es, der sich all diese aufgewärmten Geschichten immerzu von seiner Familie anhören muss.
Kai zieht ein Knie an, stützt seinen Arm darauf ab, legt den Kopf schief und sagt grinsend: „Aber ich liebe diese Geschichten!“ Das Wort "liebe" betont er dabei besonders, dieser unverschämte Mistkerl.
„Wie schön für dich“, erwidere ich. „Dieser Blick zieht aber nicht bei mir, das kannst du also vergessen.“
Ertappt! Seine Haltung verändert sich und sein Grinsen wird breiter - sofern das überhaupt noch möglich ist - als er sich seiner ans Licht gebrachten Masche deutlich wird. „Spielverderber“, rügt er mich.
„Idiot.“
Bildmaterialien: Ilagam, "Hoffnung", CC-Lizenz (BY 2.0) , http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de, www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2015
Alle Rechte vorbehalten