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Rückkehr zur Weihnachtszeit

 

Der Zug verlangsamte sein Tempo und fuhr in den Bahnhof ein. Morten nahm den Rucksack aus dem Gepäcknetz und reihte sich hinter einer älteren Dame ein, die neben einigen anderen ebenfalls aussteigen wollte. Er bückte sich leicht, stützte sich am Gepäcknetz ab und sah aus dem Fenster. Viel war nicht zu sehen, graue Häuser hinter Bahnschienen, dann ein letzter Bogen und sie erreichten den Bahnsteig. Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Schnell stützte Morten die alte Dame, die das Gleichgewicht verlor. Dankbar lächelte sie ihn an.

Draußen ließ Morten die Menschen an sich vorbei die Treppe hinuntergehen. Erst als das Gedränge verebbte, folgte er ihnen. Im Bahnhof herrschte emsiges Treiben, das ihn an Ameisen erinnerte, allerdings ohne deren arbeitsame Effektivität.

Es hatte sich einiges verändert, seit er die Stadt vor sieben Jahren verlassen hatte. Als er aus dem Bahnhof trat, kam ihm alles fremd und zeitgleich vertraut vor. Langsam ging er die altbekannten Straßen entlang, betrachtete die Veränderungen und bereitete sich darauf vor, nach Hause zurückzukommen.

 

Aus seinem Rucksack angelte er den Schlüsselbund und betrachtete ihn. Ob er damit die Tür noch öffnen konnte?

Eigentlich wollte er ihn damals gar nicht mitnehmen, hatte ihn aber ganz in Gedanken eingesteckt. Später hielten ihn Skrupel davon ab, ihn einfach wegzuschmeißen – oder ihn der Post anzuvertrauen. Vielleicht war er auch nur sentimental.

Jetzt stand er vor der Haustür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er passte noch. Trotzdem zog er ihn wieder heraus und drückte auf die Klingel. Sein Herz begann zu klopfen und nervös fuhr er sich mit der Hand durch das Haar. Die blonden Locken fielen gleich wieder in sein Gesicht.

Der Summer ließ ihn zusammenzucken. Er lehnte sich gegen das Holz, knarrend schwang die Tür nach innen.

Das Treppenhaus sah genauso aus wie vor sieben Jahren. Die Stufen waren vielleicht ein bisschen stärker ausgetreten, die Farbe auf dem Handlauf weiter abgenutzt, aber der Geruch hatte sich nicht verändert. Erinnerungen fluteten ihn, wie er mit dem Ranzen auf dem Rücken hier hinaufgegangen war, um später zwei Stufen auf einmal nehmend wieder hinunterzulaufen.

Langsam ging er in den zweiten Stock. Noch immer knarrte die dritte Stufe zur zweiten Etage. Mit jedem Schritt wurde Morten langsamer. Dann sah er die Tür, ihr vertrautes Grün, die undurchsichtigen Scheiben, das Namensschild. Bevor er den Absatz erreichte, ging sie auf. Morten blieb stehen und sah von unten in das Gesicht seiner Mutter. Einen Moment stand sie still, dann schlug sie die Hand vor den Mund und murmelte seinen Namen.

„Morten“, sagte sie dann laut und streckte die Hände nach ihm aus. Schnell überbrückte er die letzten Stufen und schloss sie in die Arme. Sie schien mit den Jahren kleiner geworden zu sein und ihm fielen graue Strähnen in ihren dunklen Haaren auf. Auf einmal kamen ihm die sieben Jahre wie eine Ewigkeit vor.

„Komm herein.“ Sie löste sich ein Stück von ihm und zog ihn in die Wohnung.

Auf einmal schienen die Jahre, die er fort gewesen war, nicht existent. Erinnerungen überspülten ihn und rissen ihm den Boden unter den Füßen fort. Der letzte Tag, der letzte Abend. Heiligabend. Der Vater, der ihn anschrie, verfluchte, und seine Mutter, die weinend versuchte, ihn davon abzuhalten, seinen Sohn zu schlagen. All die Worte, die gefallen waren, all die Wunden, die zugefügt wurden. Seine Mutter, die hinter ihm herrief, während er die Treppe hinunterstürmte.

„Er hat sich verändert.“

Die Stimme seiner Mutter durchbrach die Erinnerung. Sie lächelte schüchtern, fast ängstlich. Er versuchte es zu erwidern, war sich aber sicher, daran zu scheitern.

„Oft schon hat er nach dir gefragt.“

Das hatte sie ihm wiederholt gesagt, wenn er mit ihr telefoniert hatte. Geglaubt hat er ihr nie. Warum war er dann jetzt hier?

Weil er nach Hause wollte – wobei er damit nicht diese Wohnung meinte, sondern diese Stadt, dieses Land. Nach sieben Jahren, die er am Strand von Hawaii verbracht hatte, wollte er endlich …

„Komm, Morten.“ Seine Mutter nahm seine Hand und zog ihn hinter sich her. Er folgte ihr in die Küche, auch hier hatte sich nichts verändert. Es war ein komisches Gefühl, sich an seinen alten Platz auf der Eckbank zu schieben. Weitere Erinnerungen.

Die gemeinsamen Mittagessen mit seiner Mutter und seiner Schwester Lena. Lena, deren Mund nie stillstand, die die Mutter immer wieder daran erinnern musste, zu essen. An Heiligabend stand sie weinend hinter ihrer Mutter. Inzwischen war sie neunzehn Jahre alt und wohnte in Berlin.

„Ich habe Linsensuppe gekocht.“ Sie hob den Deckel vom Topf und der Duft zog durch den Raum. „Das war deine Lieblingssuppe.“

Seit er fortgegangen war, hatte er keine Linsensuppe mehr gegessen. Der Geruch brachte seinen Magen zum Knurren. Sie stellte einen vollen Teller vor ihn und setzte sich ihm gegenüber.

„Ich bin so froh, dass du da bist.“ Mit strahlenden Augen sah sie ihn an und jetzt gelang es ihm, zurückzulächeln.

 

Zum Glück hatte sie ihm keine Fragen zu seinen Vorstellungen über seine Zukunft gestellt. Er hätte sie nicht beantworten können. Vage Ideen, ja, aber keinen Plan.

Die Sehnsucht, nach Hause zu kommen, hatte ihn ganz überraschend gepackt und recht spontan war er ihr gefolgt. War es eine gute Idee gewesen, ausgerechnet zur Weihnachtszeit zurückzukehren?

Sein Zimmer war nicht mehr sein Zimmer. Sein Vater hatte fast alles von ihm rausgeschmissen. Nur sein Bett stand als Gästebett noch unter dem Fenster. Ansonsten war es ein Arbeitszimmer, das offensichtlich nur sehr selten genutzt wurde.

Morten fühlte sich fremd und fehl am Platz. Lange würde er nicht hierbleiben. So schnell wie möglich musste er sich einen Job suchen. Als Surflehrer würde er hier wohl kaum etwas bekommen.

Auf dem Bett ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ließ er die Gedanken sieben Jahre zurückwandern. Nachdem er fluchtartig die Wohnung verlassen hatte, war er zu Karim gegangen.

Karim, seine erste große Liebe, der Mann, wegen dem es zu diesem furchtbaren Abend gekommen war. In seine Arme hatte er sich geworfen, geweint und gehofft, dort Trost und Verständnis zu finden. Warum war ihm Karims verhaltene Reaktion nicht gleich aufgefallen? Weil er am Ende war. Mit dem Geständnis, schwul zu sein, war seine Welt zusammengebrochen.

Natürlich hatte Karim ihn aufgenommen. Er hatte ihn getröstet, ihn im Bett den Schmerz für eine Zeit lang vergessen und auf eine gemeinsame Zukunft hoffen lassen.

Dies hielt jedoch nicht lang. Schon bald machte er ihm klar, dass er nicht an einer festen Beziehung interessiert war, dass er zu jung wäre, um sich an einen Mann zu binden, wenn es doch so viele andere gab. Außerdem fühlte er sich außerstande, die Verantwortung für Morten zu übernehmen – und überhaupt wären seine Gefühle dafür nicht stark genug. Natürlich könnte er bleiben, bis er etwas anderes gefunden hätte.

Sein Herz war gebrochen und er floh erneut. Als Karim am nächsten Tag zur Arbeit gegangen war, nahm er seine Sachen und verließ die Wohnung.

Selbst nach sieben Jahren schmerzte ihn die Erinnerung. Vielleicht war er naiv gewesen, zu denken, dass Karim dasselbe für ihn empfand, aber die Wahrheit hatte ihn hart getroffen.

Morten drehte sich auf die Seite und rollte sich zusammen. Das alles war Vergangenheit. Darüber nachzudenken hatte keinen Sinn. Jetzt zählte wieder einmal nur, wie es weiterging.

 

Es war dunkel im Zimmer, als er die Augen aufschlug. Unter der Tür sah er einen schmalen Lichtstreifen, draußen fuhr ein Auto vorbei.

Morten setzte sich auf und streckte sich. Was für ein verworrener Traum. Karim war darin vorgekommen und Jules, der Mann, der ihm geholfen hatte, auf die Beine zu kommen, ebenso wie sein Vater. Sie saßen alle in einem Whirlpool und diskutierten über seine Zukunft. Verrückt. Keiner von ihnen hatte mehr etwas dazu zu sagen.

Er stand auf und ging in den Flur. Aus dem Wohnzimmer hörte er den Fernseher. Langsam ging er auf die Tür zu. Eigentlich wollte er sich nicht seinem Vater stellen, aber Unvermeidliches aufzuschieben hatte keinen Zweck. Das hatte er die letzten Jahre gelernt.

Seine Eltern saßen wie immer nebeneinander auf der Couch, diese war jedoch neu. Die alte braune war durch einen dunkelrote ersetzt worden. Auf dem ebenfalls neuen Tisch stand das übliche Feierabendbier.

Sein Vater war alt geworden. Die Haare grau und durchscheinend, mehr Falten im Gesicht und die breiten Schultern wirkten gebeugt. Jetzt sah er ihn an und Morten machte sich auf alles gefasst.

Als er aufstand, spürte Morten den Fluchtinstinkt in sich erwachen. Einen Schritt vor Morten blieb er stehen. Mit seiner Größe von fast zwei Metern überragte er seinen Sohn. Einen Augenblick sahen sie sich an, dann streckte sein Vater die Arme aus und zog ihn völlig überraschend in eine Umarmung. Überrumpelt legte Morten die Arme um ihn.

„Mein Junge“, flüsterte er, „ich habe dich vermisst. Es tut mir leid. Ich war ein Idiot.“

Morten wollte seinen Ohren nicht trauen. Träumte er vielleicht noch?

Sein Vater schob ihn ein kleines Stück zurück. Tränen glitzerten in seinen Augen. „Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

Morten konnte nichts sagen, ein Kloß saß in seinem Hals, er nickte nur. Konnte es wahr sein?

„Komm, setz dich zu uns und erzähl uns von dir.“ Mit dem Arm um seine Schultern zog ihn der Vater zur Couch.

 

Stunden später lag er noch wach im Bett. Ein Stück seines verletzten Herzens war geheilt worden, ein Teil des Schmerzes war verschwunden. Narben würden bleiben, nie würde er alles vergeben können, aber nun gab es eine Chance auf eine Zukunft mit seiner Familie. Etwas, woran er nie geglaubt hatte. Da der Schlaf nicht kam, stand er auf und zog sich an.

Wenig später ging er durch die nächtlichen Straßen. Nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht oder war der blaue Schein laufender Fernseher zu sehen.

Er lief bis zu Evis Wohnung weiter und klingelte. Einzig mit Evi war er in den letzten Jahren in Verbindung geblieben. Verschlafen klang ihre Stimme nach einigen Augenblicken aus der Gegensprechanlage. Als er seinen Namen gesagt hatte, ertönte sofort der Summer.

In einem rosa Pyjama mit kleinen Schafen darauf lehnte sie am Türrahmen und sah im entgegen. Kaum stand er oben, sprang sie ihm in den Arm.

„Morten, du verrückter Kerl.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du zu Weihnachten herkommst?“ Kaum wieder auf dem Boden zog sie ihn in ihre Wohnung.

„Wo wohnst du? Wie lange bleibst du? Was machst du zu Weihnachten?“ Die Fragen regneten auf ihn herab, während sie eine Flasche Wein öffnete und zwei Gläser einschenkte. „Wieso kommst du ausgerechnet in der kalten Jahreszeit her? Oh mein Gott, ich freue mich so, dich zu sehen.“ Spontan küsste sie ihn erneut.

Morten musste lächeln. Sie war einfach wundervoll und gab ihm immer ein gutes Gefühl.

„Langsam. Ich bleibe hier und fahr nicht wieder zurück.“

„Was? Warum? Du schienst so glücklich …“

„Es war schön, aber nichts für die Ewigkeit. Jetzt wird es langsam Zeit, etwas längerfristig zu planen – und hier bin ich zu Hause.“

„Und was willst du machen? Studieren? Arbeiten? Hast du schon Pläne? Kann ich dir helfen?“

„Nein, ich weiß es noch nicht genau. Erst mal brauche ich einen Job, bis ich weiß, wie es weitergeht.“

Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten und ihre Beine über seine Oberschenkel. „Hm, für die nächsten vier Wochen hätte ich was.“

„Ernsthaft? Ich mache alles … fast alles.“

Sie sahen sich an und lachten.

„Ein Freund sucht jemanden für den Glühweinausschank auf dem Weihnachtsmarkt. Man wird nicht reich dabei.“

„Das klingt super. – Ich wusste, du bist die Beste.“ Jetzt küsste er sie auf die Wange.

„Nur für dich, Süßer.“

Bis zum Morgen redeten sie, tranken den Wein und Morten schlief schließlich auf dem Sofa ein.

 

Matthias, dem der mittelalterliche Glühweinstand gehörte, war groß und wirkte eingehüllt in mehrere Lagen Kleidung wie ein Bär. Seine Hand war riesig wie eine Bratpfanne und Morten befürchtete, er würde ihm seine zerquetschen, als er ihn begrüßte.

Die Arbeit war nicht schwer, die passenden Sachen aufzutreiben dagegen schon. Wer hatte schon mittelalterlich wirkende Kleidung im Schrank, die man dann auch in mehreren Lagen tragen konnte, da es verdammt kalt werden würde?

Es gab verschiedene Schichten, da der Ausschank schon um 11:00 Uhr begann. Sie waren ein Team aus acht Leuten, die sich die Arbeit teilten. Zwei, am Abend auch drei Leute mussten immer am Stand sein. Auch an den Wochenenden.

Morten war es recht. Zurzeit brauchte er nicht viel Freizeit. Wenn er nicht arbeitete, würde er versuchen müssen, sein Leben ab Januar zu organisieren. Was wollte er machen? Das war die zentrale Frage, an der alles hing und auf die er noch keine Antwort hatte.

Der Dezember begann sehr kalt und ungewöhnlicherweise sogar mit Schnee. Morten hatte sich Skiunterwäsche besorgt, damit er nicht erfror in dem nach fast allen Seiten offenen Stand. Der Wind trieb kleine Flocken herein, die augenblicklich schmolzen und winzige Wasserflecken hinterließen.

Der Ansturm war an diesem ersten Abend unglaublich und er füllte Becher um Becher. Die Leute waren gut gelaunt und gaben reichlich Trinkgeld.

Eine Truppe Musikanten zog vorbei und blieb in der Nähe des Standes stehen. Für einen Moment wurde es ruhiger, da viele lauschten. Er nutzte die Gelegenheit und wusch Becher ab.

„Hallo?“

Morten drehte sich um und erstarrte. Unter einer grauen Beanie schauten wilde, schwarze Locken hervor; ein schmales Gesicht mit gepflegtem Dreitagebart und Augen in der Farbe dunkler Schokolade. Karim. Ein wenig älter, aber genauso verdammt gut aussehend wie vor sieben Jahren.

Zum Glück hatte auch Silvie reagiert und Morten drehte sich weg, um sich wieder dem Abwasch zu widmen. Das leichte Flattern in seinem Bauch passte überhaupt nicht zu dem Schmerz in seiner Brust. Er war wütend. Auf sich selbst, dass er auf Karim hereingefallen war, und auf Karim, der ihn so abserviert hatte.

Verstohlen sah Morten zu Seite. Neben Karim stand eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die ihn mit leicht verliebtem Blick anhimmelte. Vielleicht wusste sie nicht, dass er schwul war. Sie gaben die Becher, die ihnen Silvie reichte, nach hinten weiter. Bevor er wieder wegsehen konnte, begegnete er Karims Blick, der nachdenklich die Augenbrauen zusammenzog. Schnell drehte Morten sich weg. Hoffentlich hatte er ihn nicht erkannt, aber eigentlich war das nicht zu befürchten. In den letzten sieben Jahren hatte er sich verändert. Von dem schmalbrüstigen, blassen Jungen mit den kurzen Haaren und Brille zu einem trainierten Mann mit langen Haaren, zurzeit einem Bart und Kontaktlinsen.

Kaum beendeten die Musiker ihre Darbietung, drängten sich die Menschen wieder um die Bude. Keine Zeit mehr zum Nachdenken. Becher einschenken, zurücknehmen, Pfand herausgeben und abwaschen.

„Morten, zwei Waldgeisterzauber“, rief Jana und er schenkte das heiße, grüne Getränk in die roten Becher. Als er sie weitergeben wollte, blickte er erneut in Karims Gesicht.

„Morten?“ Verwunderung, Erstaunen in der tiefen Stimme.

Er beachtete ihn nicht, stellte die Becher ab und wandte sich ab. Nein, nie wieder würde er mit Karim sprechen.

Die Schicht dauerte lang und immer wieder erhaschte er einen Blick auf Karim, der in der Nähe der Hütte stand. Wollte er nicht langsam verschwinden? Auf dem Weihnachtsmarkt gab es bestimmt mehr als nur diese Glühweinhütte.

Endlich näherte sich das Ende des Abends. Sie begannen aufzuräumen, Morten ging hinaus, um die Läden anzubringen.

„Morten?“ Wieder diese Stimme. „Du bist das doch.“

Nein, ich werde nicht reagieren.

Mit dem festen Vorsatz hob er den nächsten Laden in seine Halterung. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und entschieden schüttelte er sie ab.

„Das ist kindisch.“

Morten fuhr herum. „Das mag für dich kindisch und dumm sein, so wie ich. Aber ich will – ich werde nicht mit dir sprechen!“ Zornig funkelte er Karim an.

„Es ist sieben …“

„Es könnte hundert Jahre her sein. Lass mich einfach in Ruhe.“ Er hängte den letzten Laden ein und ging wieder in die Hütte. Silvie und Jana sahen ihn neugierig an; als er nicht auf ihre fragenden Blicke reagierte, reichte ihm Silvie einen Becher.

„Auf einen erfolgreichen ersten Abend.“

Sie stießen an. Mit den geschlossenen Läden merkte man erst die Wirkung des Heizgerätes, das seine Wärme verströmte. Den Abend über hatte man es nur gespürt, wenn man direkt davorstand.

Nachdem sie ausgetrunken hatten, wusch Jana schnell die drei Becher ab und Morten verschloss anschließend die Hütte. Sie verabschiedeten sich und gingen in unterschiedliche Richtungen nach Hause. Die Buden waren dunkel und nur vereinzelt waren noch Betreiber beim Schließen der Stände.

Es schneite wieder und Morten schob die Hände tief in die Jackentaschen. In der Luft lag noch der Duft nach Mutzemandeln und Gewürzen. Eine einsame Weihnachtsmannmütze blinkte auf einem Autodach.

Zu Hause lag ein Zettel auf dem Küchentisch. Seine Mutter hatte ihm Essen in den Kühlschrank gestellt, das er sich in der Mikrowelle erwärmen konnte. Allein beim Lesen knurrte sein Magen. Seine letzte Mahlzeit war das Frühstück gewesen. Dankbar stellte er den Teller in das Gerät. Es hatte auch Vorteile, zu Hause zu sein.

 

Zwei Tage später stand Morten in der Mittagsschicht allein in der Bude. Birger, mit dem er an dem Tag zusammenarbeitete, holte sich gerade etwas zu essen. Viel los war nicht. Einige schienen ihre Mittagspause auf dem Weihnachtsmarkt zu verbringen und am häufigsten wurde alkoholfreier Zwergentrunk bestellt.

Morten wischte den Tresen ab, als ein Kunde vor ihn trat. Er hob den Blick mit einem freundlichen Lächeln, das sofort wieder verschwand. Karim. Was wollte der Kerl bloß von ihm?

„Hallo Morten.“

„Was möchtest du trinken?“

„Was muss ich trinken, damit du mit mir redest?“

Morten wich dem bittenden Blick aus.

„Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu besprechen gibt.“

„Vielleicht nichts, vielleicht eine Menge.“

Morten seufzte. „Soll das jetzt geheimnisvoll klingen? Vor sieben Jahren warst du das vielleicht mal für mich, heute nervst du mich nur.“

Demonstrativ wandte er sich dem Tresen auf der anderen Seite zu. Natürlich wurde er Karim nicht so einfach los.

„Ich … ich muss mich bei dir entschuldigen.“

„Fein, das hast du jetzt getan. – Entweder du trinkst etwas oder du gehst.“

„Morten, ich war jung und dumm. Ich wollte dir nicht wehtun.“

„Verdammt, Karim, halt die Klappe. Es ist mir egal. Das ist Vergangenheit.“ Jetzt sah er ihm in die Augen. „Warum denkst du, dass es mich heute noch interessieren könnte? Du bist mir egal, ebenso wie deine hohlen Entschuldigungen. Vor sieben Jahren habe ich dich gebraucht. Heute nicht mehr.“

„Ich habe einen Fehler gemacht.“

„Nein, ich habe den Fehler gemacht“, unterbrach Morten ihn. „Ich habe etwas in dir gesehen, was du nicht warst. Das ist allein mein Problem – gewesen.“

„Gibt es Ärger?“

Birger stand auf einmal neben ihm und sah Karim mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Nein, alles gut. – Möchtest du einen Wunschpunsch?“ Mit seinem professionellsten Lächeln sah Morten Karim an.

„Nein, danke.“ Karim drehte sich um und ging.

Morten erlaubte sich, tief durchzuatmen. Ganz so egal, wie er es behauptet hatte, war Karim ihm leider nicht. Vielleicht lag es daran, dass er seine erste Liebe gewesen war.

 

„Bist du dir sicher, dass er dir nichts mehr bedeutet?“

Evi saß im Schneidersitz neben ihm auf dem Sofa und nahm einen Löffel von dem Karamelleis, das sie sich teilten.

„Ja – nein – ich weiß nicht. – Ziemlich eindeutig, oder?“

Sie mussten beide lachen.

„Ja, sehr eindeutig. – Spannend ist doch die Frage, was will er jetzt von dir?“ Sich nach vorn beugend angelte sie nach dem Weinglas. „Vielleicht bereut er ja seit sieben Jahren, dass er dich hat gehen lassen.“

„Ja, bestimmt. Vor sieben Jahren war er sich sehr sicher, dass ich nicht mehr als ein vorübergehendes Vergnügen war.“

„Na, manchmal erkennen wir erst, was wir verloren haben, wenn es zu spät ist. – Wie lange wart ihr zusammen?“

„Wir haben uns im Sommer kennengelernt. Ich war gerade mit der Schule fertig und habe in dem Geschäft seiner Tante gearbeitet. Ein Sommerjob, da ich im Herbst vor Beginn des Studiums in den Urlaub fahren wollte. Waren einsortieren und auszeichnen. All so was.“ Morten trank einen Schluck Wein. „Eines Tages stand er im Laden und es hat mich sofort erwischt.“ Bei der Erinnerung lächelte er. „Ich bin ihm auch gleich aufgefallen, auf jeden Fall sagte er das. Von da an kam er jeden Tag unter fadenscheinigen Gründen vorbei. Seine Tante dachte, es wäre wegen ihrer Verkäuferin.“ Er grinste. „In seiner Familie war er nicht geoutet. Genauso wenig wie ich. – Eines Tages wartete er vor dem Geschäft und sprach mich an. Wir gingen zusammen spazieren, redeten und lachten zusammen. Zwei Tage später lag ich in seinem Bett. Gegangen bin ich im Januar.“

„Okay. Ist er eigentlich viel älter als du?“

„Nein, knapp zwei Jahre. Er war mitten im Studium.“

„Aber er hatte eine eigene Wohnung?“

„Ja, er wurde großzügig von seinen Eltern unterstützt. Eine kleine Einzimmerwohnung unter dem Dach. – Was haben wir an den heißen Sommertagen geschwitzt.“

„Und seine Eltern wussten nicht, dass er schwul ist?“

„Nein, sein Vater war wohl meinem nicht unähnlich.“

Nachdenklich sah Evi ihn an. „Vielleicht hatte er ja einfach Angst, dass seine Eltern herausfinden, was los ist, wenn du auf Dauer bei ihm wohnst.“

„Und das hätte er mir nicht sagen können? Nein, er hat mir lieber mitgeteilt, dass ich ihm nicht viel bedeute und es noch mehr hübsche Jungs auf der Welt gibt.“

„Ja, aber unter Umständen nur, weil er Angst hatte.“

„Das rechtfertigt, mir das Herz zu brechen?“

„Nein, natürlich nicht.“

Evi rutschte näher heran und legte den Arm um seine Schultern. „Das rechtfertigt nichts. Das war mies. Ich versuche auch nur zu verstehen, warum er jetzt Wert auf deine Absolution legt.“

„Vielleicht ist es nur sein Ego. Er hat mich erkannt und will, dass ich ihn mit der gleichen Bewunderung betrachte wie vor sieben Jahren.“

„Hm, nicht sehr wahrscheinlich.“

„Genauso unwahrscheinlich wie die Idee, er könnte damals echte Gefühle für mich gehabt haben.“

 

Obwohl er der Idee vehement widersprochen hatte, ließ ihn der Gedanke nicht los. Warum war Karim wiedergekommen, hatte ihn am Stand angesprochen und sich entschuldigt?

Könnte Evi recht haben?

Nein. Man sagte einem Menschen, den man liebte, nicht, dass es noch zu viele andere schöne Männer gab, dass man nicht genug für ihn empfand, dass man keine Verantwortung übernehmen wollte.

Dabei erwartete er nicht, dass Karim Verantwortung für ihn übernehmen sollte. Damals wollte er Unterstützung, Trost, Hilfe, immerhin hatte seine Familie ihn rausgeworfen. Über Nacht hatte er alles verloren. Aber wie man es drehte und wendete, Karim dachte in dieser Situation nur an sich.

Morten verbot sich, noch weiter an Karim zu denken. Bald war Weihnachten, das erste Weihnachtsfest, das er seit Langem mit seiner Familie feiern würde. Lena kam zusammen mit ihrem Freund Roman aus Berlin. Er freute sich schon sehr, seine Schwester endlich wiederzusehen.

Geschenke, er brauchte noch Geschenke. Am nächsten Tag, wenn er zum Bürgeramt musste, um sich anzumelden, würde er durch die Stadt spazieren und sich auf die Suche machen.

 

Mit der Wartemarke in der Hand saß er in dem tristen Flur des Bürgeramts zwischen einer nicht mehr ganz jungen Frau, die offenbar die Parfumflasche über sich ausgegossen hatte, und einem Vater, der versuchte seine kleine, quengelnde Tochter zu beschäftigen. Menschen gingen von rechts nach links, Türen öffneten und schlossen sich, manchmal sprang hinterher sogar die Zahl auf den Anzeigen um.

Erneut quietschten Schritte über das robuste Linoleum. Geputzte, schwarze Schuhe blieben vor ihm stehen. Morten hob den Kopf und sah sich wieder einmal Karim gegenüber.

„Hallo Morten.“

„Hallo“, antwortete er einsilbig und sah wieder auf den Boden. Wieso trafen sie ständig aufeinander? Was machte Karim hier?

Einen Augenblick blieb Karim stehen, dann seufzte er leise und ging.

Eine gefühlte Ewigkeit später wurde endlich Mortens Nummer angezeigt. Zimmer 11. Zeitgleich mit dem Klopfen trat er ein. Hinter dem Schreibtisch saß Karim und am liebsten wäre Morten gleich wieder gegangen, das jedoch wäre wirklich kindisch, also schloss er die Tür und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.

„Eigentlich ist dies nicht mein Job, aber anscheinend gibt es keinen anderen Weg, um mit dir zu reden.“

„Ich bin hier, um mich wieder bei meinen Eltern anzumelden. Könntest du das bitte erledigen? Alles andere will ich nicht wissen.“

Plötzlich schlug Karim vor ihm mit der flachen Hand auf den Tisch. Erschrocken starrte Morten ihn an.

„Verdammt. Ja, ich habe mich wie ein Arschloch verhalten. Ich war der größte Idiot, den die Welt je gesehen hat – und es ist mir leider viel zu spät klar geworden. Aber nun lass mich bitte endlich sagen, was ich dir sagen muss.“

Morten erwog, ihn erneut abzuweisen, aber dann sah er Karim in die Augen und schwieg mit verschränkten Armen.

Karim schluckte und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Locken. „Ich war ein Feigling.“

Wenn er hoffte, dass Morten widersprach, so wurde er enttäuscht. Dieser starrte ihn weiterhin schweigend an.

„Als du zu mir kamst, weil dein Vater dich rausgeschmissen hatte, da war ich überfordert. Ich hatte Angst, dass meine Eltern erfuhren, dass ich schwul bin und ähnlich reagieren würden. Ich … ich sagte Dinge zu dir, die ich nicht meinte. Es gab zu dem Zeitpunkt keinen einzigen anderen Mann, der mich interessierte. Ich war verliebt in dich, aber mein Hasenherz ließ nicht zu, dass ich es dir sagte. Das war die idiotischste, dümmste Sache, die ich je getan habe. Als mir das bewusst wurde, konnte ich dich nicht mehr finden.“

„Wenn du nun hoffst, dass ich dir vergebe, dann muss ich dich enttäuschen. Ich hatte niemanden außer dir in dieser Zeit. Mein Vater hatte meinem Herz einen Riss verpasst, du hast es zerbrochen.“ Morten sah ihm in die Augen. „Du warst der Mann, dem ich mich anvertraut hatte, und du hast mich von dir gestoßen. Ich bin darüber hinweggekommen und habe überlebt. Du kannst mir glauben, dass das nicht immer einfach war.“

Über den Schreibtisch hinweg sahen sie sich an. Verdammt, warum war der Mann immer noch so schön und warum wollte sein idiotisches Herz, dass er ihm eine neue Chance gab? Zum Glück war sein Kopf da ganz anderer Meinung.

Karim seufzte erneut tief, dann wandte er sich dem Computer zu. „Du wohnst jetzt wieder bei deinen Eltern?“

 

„Schätzchen, glaubst du, du hast alles in deinem Leben richtig gemacht?“ Evi rührte im Kochtopf und sah ihn durch den aufsteigenden Dampf an. „Was hättest du getan, wenn die Situation andersherum gewesen wäre? Wenn er zu dir gekommen wäre und deine Eltern nichts gewusst hätten? Hättest du ihn mit offenen Armen empfangen und dein Outing in Kauf genommen?“

„Hm“, brummte Morten und schmiss eine Handvoll Oregano in den Topf.

„Wie ist es überhaupt zu deinem Outing an Heiligabend gekommen?“

„Das war purer Zufall. Ein Kollege meines Vaters hat Karim und mich gesehen. Natürlich hat er es am Tag vor Heiligabend brühwarm meinem Vater erzählt.“

„Du hast dich also auch nicht aus purer Liebe zu Karim geoutet“, stellte sie fest.

„Nein, bestimmt nicht gerade an Weihnachten. Aber ich …“ Morten sah in den aufsteigenden Wasserdampf. Was hätte er gemacht? Er wusste es nicht. „Irgendwann hätte ich es ihnen gesagt. – Was immer ich auch gedacht oder getan hätte, niemals hätte ich Karim unter fadenscheinigen Gründen fortgeschickt.“

„Manchmal schafft man es für eine Zeit zu glauben, dass die fadenscheinigen Gründe echt sind. Ich bin jung, es gibt noch so viel mehr Männer, ist es überhaupt Liebe, kann es das sein …“ Evi schaltete den Herd aus. „Dann wird dir plötzlich klar, dass das alles nur idiotische Ausreden für deine eigene Schwäche, deine Angst sind. Wenn man Pech hat, ist es zu spät, um es wieder geradezubiegen.“

 

Später im Bett dachte Morten über ihr Gespräch nach. Auch er hatte sich vor der Reaktion seines Vaters gefürchtet. Wenn er nicht auf diese überraschende Art geoutet worden wäre, hätte es sicher noch ewig gedauert, bis er den Mut dazu gefunden hätte. Es war leicht, Mut zu fordern, wenn man nicht in der Situation war, ihn freiwillig aufbringen zu müssen. Trotz allem wäre es fair von Karim gewesen, offen mit ihm zu sprechen und sich nicht hinter irgendwelchen Ausreden zu verstecken. War ihm wirklich nicht bewusst gewesen, dass es nur Ausflüchte waren?

Spielte das alles noch eine Rolle?

Fluchend rollte Morten sich zusammen. Wieso war er nach Hause gekommen? Bestimmt nicht, um sich über Karim Gedanken zu machen. Ihn hatte er eigentlich nie wieder sehen wollen. Es gab genug andere Fragen in seinem Leben, die er klären musste. Ab jetzt würde er Karim aus seinem Kopf verbannen.

 

Kalt war es immer noch, doch statt Schnee fiel nun Regen vom Himmel. Vor dem Stand tanzten die Tropfen in der stetig wachsenden Pfütze. Menschen unter Regenschirmen gingen schnellen Schrittes vorbei. Seit geraumer Zeit war keiner mehr stehen geblieben. Morten warf einen Blick auf sein Handy, noch eine Stunde bis zum Schichtwechsel. Er war heute allein, da Jana sich kurzfristig krankgemeldet hatte.

Noch zwei Wochen bis Weihnachten und er hatte noch kein einziges Geschenk. Ebenso wenig wusste er, wie es ab Januar weitergehen sollte. Vielleicht hätte er am warmen Strand von Hawaii bleiben sollen. Was zum Teufel hatte ihn geritten, dies hier vorzuziehen?

Dort hatte er als Surflehrer genug für das tägliche Leben verdient.

Morten seufzte. Nein, auf Dauer war das nicht sein Leben. Vielleicht war es Zeit, zu den Wurzeln zurückzukehren und dem zu folgen, was einmal seine Vorstellung von seiner Zukunft gewesen war. Nach der Schule wollte er Mathematik und Physik auf Lehramt studieren. Jetzt sollte er sich vielleicht für Englisch und Sport entscheiden …

„Zwei Liebeszauber bitte.“

Morten sah auf und – wie konnte es anders sein – in Karims Gesicht. Der Anblick des völlig durchnässten Mannes ließ ihn schmunzeln. Das Wasser tropfte aus seinen Haaren, lief über sein Gesicht. Er drängte sich dicht unter den Überstand.

„Acht Taler, mein Herr“, sagte Morten, als er die beiden Becher auf den Tresen stellte.

„Kein Becherpfand?“, fragte Karim, als er ihm das Geld reichte.

„Ich denke nicht, dass du mit ihnen wegläufst.“

„Einer ist eh für dich.“ Bittend blickte Karim ihm in die Augen.

In Morten stritten sich kurz die Gefühle, dann nahm er den Trank und prostete Karim zu. „Auf den edlen Spender.“

„Auf das Leben und die Freiheit zu lieben, wen man mag.“

„Auf eine Liebe ohne Angst.“

Sie sahen sich an, während sie tranken, und Morten spürte ein leichtes Ziehen in seinem Magen. Erinnerungen an die guten Zeiten, an ihr gemeinsames Lachen, den Spaß, den Sex …

Schnell stopfte er das Bild eines Karims, der auf ihm lag und ihn mit seinen dunklen Augen verlangend ansah, in die hinterste Ecke seines Kopfes.

Zum Glück trat ein älteres Paar an den Tresen und lenkte ihn ab. Bloß nicht an all die Zärtlichkeiten und die Augenblicke des Glücks denken. Das war kontraproduktiv.

 

Karim wartete bis zum Ende seiner Schicht.

„Darf ich dich zum Essen einladen?“

Nachdenklich sah Morten ihn an. „Wofür soll das gut sein?“

„Bitte, Morten, nur ein gemeinsames Essen.“

Der Regen hatte etwas nachgelassen und fiel als feiner Nieselregen auf ihre Haare, kleine. glitzernde Sterne in Karims dunklen Locken. Für einen Moment war das Bedürfnis überwältigend, die verführerischen Lippen zu küssen. War er verrückt?

Karim deutete sein Zögern als Zustimmung und nahm seine Hand. Das war surreal. Morten ließ sich mitziehen. Ja, er war verrückt.

 

Über die Kerze im Restaurant hinweg redeten sie, erzählten von den Dingen, die in den letzten sieben Jahre geschehen waren. Morten sprach von Hawaii, dem Strand, dem Gefühl, die Welle zu reiten, Karim von seinem Studium und seinem Job in der Stadtverwaltung. Ihre Leben waren völlig unterschiedlich und doch kamen sie sich mit jedem Wort näher.

Als sie das Restaurant verließen, war es dunkel. Die Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Straßen mit ihrem warmen Licht. Schweigend gingen sie nebeneinander. Nach ein paar Schritten schob Morten seine Hand in Karims, der sie leicht drückte und festhielt.

Morten hatte das Gefühl für Zeit und Raum verloren, als sie vor einem Haus stehen blieben.

„Magst du mit hochkommen?“, fragte Karim leise.

Morten nickte nur. Wahrscheinlich war er dabei, einen Fehler zu wiederholen, aber für den Moment war das egal. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Karim hielt seine Hand fest, bis sie vor seiner Wohnung standen. Zweimal fiel ihm der Schlüssel herunter, als er versuchte die Tür aufzuschließen.

Nachdem sie Jacken und Schuhe abgelegt hatte, standen sie sich im Flur gegenüber. Karims Nervosität war fast mit Händen zu fassen.

„Ich … möchtest du …“

Morten beugte sich vor und küsste ihn. Karim legte die Arme um ihn und erwiderte den Kuss verlangend. Fiebrig zerrte Morten an Karims Hemd, schob die Hand darunter und strich über die zarte Haut. Gänsehaut bildete sich unter seinen Fingerspitzen. Er wollte mehr, drängte sich dicht gegen Karim. Ein sehnsuchtsvolles Ziehen lief seinen Rücken hinunter.

„Du hast zu viel an“, murmelte Karim, der versuchte unter die verschiedenen Lagen Kleidung zu kommen.

„Kalt draußen“, antwortete er und grinste.

„Aber hier nicht. – Komm.“ Karim nahm seine Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Hektisch zogen sie sich gegenseitig unter Kichern und Fluchen aus. Die Kleider landeten überall verteilt im Raum. Endlich berührte Haut Haut, alle Worte wurden durch Küsse ersetzt und die Welt reduzierte sich auf das Fühlen. Geschickt dirigierte Karim ihn zum Bett und gemeinsam ließen sie sich auf die Matratze fallen.

„Du bist noch schöner geworden“, flüsterte Karim und strich sanft über Mortens Gesicht. Zärtlich fuhr er die Linien nach, ließ seinen Mund folgen. Auf nur ihm bekannten Pfaden erkundete er so Mortens Körper, verweilte an Stellen, die besondere Aufmerksamkeit verdienten, da sie Morten atemlose Reaktionen entlockten. Das scharfe Einsaugen der Luft, als er sich mit seiner Zungenspitze den Brustwarzen widmete. Das leise Stöhnen, als er sich mit Küssen und spielerischen Bissen die rechte Seite hinunter zur Hüfte bewegte, das Zucken seines Unterleibs, als er sich den Leisten widmete, immer wieder mit Kinn und Wange den harten Schwanz streifte. Er leckte über dessen Unterseite, pustete sacht über die feuchte Haut. Endlich erbarmte er sich und legte die Lippen um die Eichel, senkte langsam den Kopf und nahm ihn auf.

Morten spannte sich an, heiß zog die Lust in seinen Unterleib. Wie unter Strom sirrten seine Nerven, warteten auf die Erlösung. Die jedoch versagte ihm Karim. Er entließ ihn wieder aus seinem Mund, leckte sich über die geröteten Lippen, suchte Mortens Blick.

„Karim“, stöhnte er flehend.

„Ich liebe es, wie du meinen Namen stöhnst.“ Karim rutschte wieder neben ihn und küsste ihn.

Bevor Morten etwas darauf erwidern konnte, nahm Karim seinen Schwanz in die Hand und streichelte ihn. Nicht lang und die Energie in seinem Unterleib explodierte. Der Orgasmus löste die Welt in eine Welle aus Emotionen auf. Zufrieden öffnete er die Augen, sah in Karims Gesicht. Voller Zärtlichkeit betrachtete er ihn. Unter dem Blick wurde ihm warm und er zog Karim in einen Kuss. Immerhin musste – nein – durfte er sich noch revanchieren.

In dieser Nacht bekamen sie nicht viel Schlaf. Leidenschaft wechselte sich mit Zärtlichkeit ab. Verlangen mit glücklicher Zufriedenheit. Irgendwann siegte die Müdigkeit und sie schliefen eng aneinandergeschmiegt ein.

 

„Du bist dir ganz sicher?“ Zweifelnd sah Karim ihn an.

„Ja, meine Eltern freuen sich auf dich.“ Morten trat vor ihn und strich ihm eine Locke aus dem Gesicht.

„Dein Vater hat kein Problem damit, wenn du ausgerechnet an Heiligabend deinen Freund mitbringst?“

„Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Er freut sich auf dich genau wie auf Lenas Freund Roman, der heute auch zum ersten Mal dabei ist.“ Morten trat einen Schritt zurück und betrachtete sie beide im Spiegel. Sie waren ein schönes Paar.

„Okay.“ Tief atmete Karim durch. „Dann auf in den Kampf.“

„Es wird ein schöner Abend im Kreis von Menschen, die uns mögen. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn es anders wird, dann gehen wir sofort. Versprochen.“ Sanft küsste er Karim. „Und hinterher feiern wir auf – sagen wir mal intime Art und Weise weiter. Ich habe da schon so ein paar Dinge im Kopf, die ich mit dir ausprobieren möchte.“

Röte färbte Karims Wangen. „Wie lange müssen wir bleiben?“

Morten lachte. „Lass uns erst einmal hingehen.“

„Dann los.“ Karim schnappte seine Hand und zog ihn hinter sich her. Abrupt blieb er stehen und nahm Mortens Gesicht in seine Hände. „Ich liebe dich.“

Jetzt war es an Morten zu erröten. „Ich liebe dich auch“, wisperte er und küsste Karim.

 

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Unique Vision/Shutterstock.com; Kichigin/Shutterstock.com
Cover: Samjira
Lektorat: Mimi Guth / Lena M. Brand / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2020

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