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Wir waren Freunde ...

 

„Du bist verrückt.“

Etwas anderes fiel mir nicht ein. Vic lachte kurz auf und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Das weißt du doch.“

„Hör auf. Das ist etwas ganz anderes. Du kannst nicht …“

Er hob die Hand und brachte mich zum Schweigen.

„Ich weiß, dass es für dich verrückt klingen muss.“ Vic setzte sich auf die Lehne meines Sessels und legte seinen Arm um mich. „Aber ich liebe Frank und werde mit ihm gehen.“

Ich schlang meine Arme um seine schlanke Taille. „Ihm nach Frankreich folgen?“

„Frankreich ist nicht aus der Welt.“

„Und dein Studium?“

„Hab mich schon erkundigt. Es gibt entweder die Möglichkeit, ein Fernstudium zu machen, oder dort einen englischsprachigen Studiengang zu wählen.“ Vic drückte einen schmatzenden Kuss auf meine Stirn. „Das Einzige, was ich nicht mitnehmen kann, bist du, mein bester Freund.“

Sein bester Freund. Das war ich wohl. So wie er mein bester Freund war. Alles begann im Kindergarten. Drei der größeren Jungs hatten Vic auf das Klettergerüst getrieben, auf dem er völlig verängstigt saß, und hänselten ihn nun wegen seiner Furcht. Ich war zwar jünger, aber selbst zu diesem Zeitpunkt recht groß und kräftig. Unrecht konnte ich schon damals nicht ertragen, darum bin ich zu ihm geklettert. Ich strich ihm über den Rücken.

„Komm, wir klettern gemeinsam runter.“

Mit laufender Nase und Tränen in den Augen sah er mich an. Ich lächelte aufmunternd. Gemeinsam stiegen wir hinab und drehten uns zu den drei um. Als sie sich näherten, trat ich einen Schritt nach vorn und schaute so grimmig, wie ich konnte.

Zu einer Auseinandersetzung kam es nicht, weil Frau Lorenz auftauchte und uns zurück in den Gruppenraum brachte. Von diesem Tag an waren wir Freunde. Jetzt, fast zwanzig Jahre später, waren wir es immer noch.

„Boo?“

Ich sah ihn an. Ernst erwiderte er meinen Blick.

„Ich werde dich vermissen.“ Er rutschte neben mich und quetschte sich in den Sessel, der eigentlich viel zu eng war.

„Ich werde dir schreiben, dich auf Skype belästigen und dich besuchen. Glaub nicht, dass du mich loswirst, nur weil du tausend Kilometer zwischen uns bringst.“

„Versprich es.“

„Ich verspreche es dir.“

 

„Du bist ein Chaot, Robert Alexander Willer.“

Wenn jemand meinen vollen Namen benutzt, wird es meist ernst. Um dem folgenden Vortrag meiner Mitbewohnerin und Freundin Josy zu entgehen, ließ ich die Augen geschlossen.

„Ich weiß, dass du mich hörst.“

Ein Kissen traf mich und ich hob ein Augenlid. Mit in die Hüften gestemmten Händen stand sie vor mir.

„Ein lausiges Wochenende bin ich nicht da und die Wohnung sieht aus, als ob ein Tornado hindurchgefegt wäre.“

„Ich wusste nicht, dass du so früh zurück bist“, entgegnete ich lahm und erntete ein wütendes Schnaufen.

Nachdem Vic vor zwei Jahren mit Frank nach Frankreich gezogen war, zog Josy bei mir ein. In meinen Augen war sie ein Pedant, ich in ihren ein Chaot. Aber eigentlich kamen wir sehr gut miteinander aus. Im Laufe der Zeit wurden wir Freunde und sie half mir in der Zeit, als Vic den Kontakt zu mir abbrach. Ich verstand es nicht. Kein Wort, keine Begründung, nichts. Zuerst hatte ich mir Sorgen gemacht, war letztlich sogar nach Rouen gefahren. Dort erklärte mir eine Nachbarin, dass die beiden Herren nach Südfrankreich gezogen wären, irgendwo bei Toulouse oder Montpellier. Eine Adresse hatte sie nicht.

Nicht sonderlich beruhigt fuhr ich nach Hause. Vics Familie wusste nichts von ihm – wollte auch nichts mehr mit ihm tun haben, die brauchte ich nicht fragen. Ich durchsuchte die sozialen Netzwerke, fragte alte Bekannte, doch niemand wusste etwas.

 

„Bobby, mein Schatz“, säuselte Josy, ihre Augen blitzten. „Ich gehe jetzt zu Jean. Wenn ich wiederkomme, ist dieses Chaos verschwunden.“ Sie lächelte wie ein Haifisch und ging.

Seufzend stand ich auf. Okay, ich war nicht der Ordentlichste, aufräumen war so eine unkreative Zeitverschwendung. Ich machte mir Musik an und begann das Geschirr einzusammeln.

Meine Gedanken wanderten zu Vic. Wo war er? Warum hatte er den Kontakt zu mir abgebrochen? Auf Franks Betreiben? Ging es ihm gut?

Keine dieser Fragen konnte ich beantworten, also drehte ich die Musik lauter, um die Fragen in meinem Kopf nicht mehr zu hören.

Trotzdem konnte ich es nicht vermeiden, während ich meine Klamotten vom Boden aufhob, an Vic zu denken. Lange Zeit unseres Lebens hingen wir wie die Kletten zusammen. Unsere Eltern konnten uns kaum für die Nächte trennen, laufend schliefen wir abwechselnd bei ihm oder bei mir. Es war erstaunlich, dass wir nie, obwohl wir beide schwul waren, unsere Sexualität miteinander ausprobierten. Dazu waren wir wahrscheinlich zu sehr wie Brüder.

Wir erzählten uns alles, zogen über schlechte Liebhaber und untreue Freunde her, trösteten uns gegenseitig, wenn uns wieder einmal das Herz gebrochen wurde. Bis Vic Frank kennenlernte, hatten wir beide kein Glück mit Männern. Frank jedoch schlug bei Vic ein wie eine Bombe. Zum ersten Mal sah ich ihn erst selten, dann fast gar nicht mehr. Er schlief bei Frank, aß bei Frank und lebte schließlich bei ihm. Ich selbst kam mit Frank nicht besonders gut aus. In meinen Augen war er ein Idiot. Sicher, er sah gut aus, besaß Geld, war zehn Jahre älter als wir und erfolgreich in seinem Beruf. Irgendwas mit Immobilien. Er mochte mich genauso wenig wie ich ihn. Nur wegen Vic rissen wir beide uns zusammen und gaben uns Mühe, uns nicht an die Kehle zu gehen.

Nachdem sie fortgegangen waren, hatten Vic und ich uns anfangs noch jeden Tag Mitteilungen geschickt, regelmäßig stundenlang telefoniert und geskypt, mit der Zeit jedoch wurde es weniger. Vic erzählte kaum noch etwas, war kurz angebunden und irgendwann war er einfach verschwunden. Warum?

Wütend nahm ich den verhassten Staubsauger aus dem Schrank, nachdem ich die Waschmaschine gestartet hatte.

Widerspenstig folgte mir der Sauger durch die Wohnung, blieb stur an jedem Türrahmen, jeder Kante hängen, rollte mir zuverlässig in die Hacken, wenn ich zu stark an dem Schlauch riss. Wir würden nie Freunde werden.

Zu guter Letzt schrubbte ich das Bad und wischte die Küche. Erschöpft sank ich anschließend auf das Sofa. Nach getaner Hausarbeit verließ mich regelmäßig sämtliche Energie. Ich rollte mich auf die Seite, jetzt hatte ich mir ein Schläfchen verdient.

 

Zuckende Lichter, laute Musik, eine völlig überfüllte Tanzfläche. Wie hatte mich Josy nur dazu überreden können, hierherzukommen? Ich lehnte am Tresen und hielt mich an meinem Gin Tonic fest. Neben mir brüllte sich ein Paar seine Liebe in die Ohren.

Josy tanzte mit Jean. Obwohl, tanzen war eigentlich nicht möglich. Vom Schweiß glitschig bewegte sich diese Masse im stampfenden Beat wie Dosenfisch im Öl.

Ich wandte mich dem Barkeeper zu und hob mein Glas. Er nickte und lächelte mir zu. Hübscher Kerl. Ich lächelte zurück.

 

Meist übernachtete ich nicht bei One-Night-Stands. Damit umging ich die peinlichen Momente am Morgen. Nicht, dass ich oft Kerle aufriss, aber ab und an tat es sowohl meinem Ego als auch meiner Seele gut.

Die Nacht war kühl, die Sterne glitzerten am Firmament und ich erkannte den Großen Wagen. Das einzige Sternbild, das ich überhaupt bestimmen konnte.

Die Straßen waren leer, einsam tanzte eine Plastiktüte vom Wind getrieben über die Fahrbahn.

Die Hände tief in den Taschen, die Schultern gegen den Wind hochgezogen, folgte ich der Straße, die sich endlos hinzuziehen schien. In der Ferne hörte ich das Fauchen zweier Kater, die sich für den Kampf bereit machten.

An der nächsten Ecke war eine dieser kleinen, schmutzigen Kneipen, welche nur von ihren allabendlich kommenden Stammgästen lebten, die sich auf ihren Barhocker setzten und tranken, bis sie fast herunterkippten.

Die Tür ging auf und ein Schwall nach Alkohol und Zigaretten stinkender, warmer Luft traf mich. Dann stolperte ein Mann heraus und fiel vor meine Füße. Ich konnte ihn gerade noch halten, bevor er den Boden küsste. Schwerfällig richtete er sich auf. Als sich unsere Blicke trafen, ließ ich ihn wie vom Blitz getroffen los. Fast wäre er erneut gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen.

Struppige, dunkle Haare schauten unter einer schwarzen Beanie vor, die braunen Augen versuchten ihren betrunkenen Blick auf mich zu fokussieren. Der Parka sah ebenso schäbig aus wie die zerrissene Jeans und die abgetragenen Sneaker.

„Danke“, lallte die Stimme, die ich so gut kannte und ewig nicht gehört hatte. Mein Herz schlug hart, in mir kämpften Wut und Fassungslosigkeit.

„Vic?“, fragte ich unnötigerweise.

Die Augen verengten sich bei dem Versuch, das Bild scharf zu stellen. Er rülpste und ein Schwall seines alkoholschwangeren Atems traf mich. Dann sah ich die Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen. Panik machte sich auf seinem Gesicht breit, er drehte sich um und wollte fortrennen. Der hohe Alkoholpegel und meine vorschnellende Hand, die ihn am Parka packte, hielten ihn davon ab.

„Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt abhauen lasse?“, fauchte ich wütend. Ich wollte ihn schütteln, vielleicht auch schlagen.

„Lass mich los!“, brüllte er und mit unerwarteter Kraft riss er sich los, torkelte ein paar Schritte weg. „Verschwinde. Geh.“

Das glaubte er doch nicht im Ernst? Ich ging auf ihn zu und erneut versuchte er wegzulaufen. Wieder waren seine Füße nicht willig. Er stolperte vorwärts, viel zu langsam und unkoordiniert. Ich legte meine Hände auf seine Schultern, hielt ihn fest.

„Oh nein, du hast mir eine Menge zu erklären.“

„Gar nichts muss ich dir erklären. Verpiss dich. Ich will nicht mit dir reden.“ Seine Stimme war schwer, jedoch entschlossen.

„Warum?“

Ich spürte unter meinen Händen, wie er Luft holte.

„Es geht dich nichts an, weil du mir scheißegal bist. Deine Meinung geht mir am Arsch vorbei und ich habe nicht die geringste Lust, mit dir zu reden. Jetzt nimm deine Hände von mir.“

Das Letzte hätte er sich schenken können. Meine Hände rutschten angesichts seiner entschieden ausgesprochenen Worte von ihm ab.

Ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen, ging Vic weiter. Erst zögernd, dann immer schneller auf unsicheren Beinen, bis er plötzlich auf die Knie fiel.

Einen Augenblick blieb ich stehen, dann lief ich zu ihm. Er sank nach vorn, stützte sich mit den Händen ab und kotzte. Verdammt.

Angewidert und mitleidig sah ich auf ihn herab. Mein Kopf versuchte zu verstehen, was hier passierte, doch die Situation war zu skurril.

Mühsam stemmte Vic sich auf die Beine, wankte, taumelte ein paar Schritte und sackte wieder zusammen. Ich sprang vor und hielt ihn. Er sah mich an, dann verdrehte er die Augen und ich sah nur das Weiß darin. Sein Körper wurde schwer und glitt mir fast aus den Armen. Scheiße!

Krankenhaus? Das Handy aus meiner Jackentasche zu friemeln, ohne Vic loszulassen, war nicht einfach. Ich rief Josy an.

„Nein“, murmelte sie verschlafen.

„Ich brauche dich.“

An meiner Stimme hörte sie anscheinend, dass dies kein mitleiderregender Hol-mich-ab-Anruf war.

„Wo bist du?“

Ich konnte mir vorstellen, wie sie die Füße aus dem Bett schwang und nach ihrer Jeans angelte, während ich ihr die Adresse nannte.

„Bin gleich da.“

 

Keine Viertelstunde später hielt Josys kleiner grüner Micra mit quietschenden Reifen neben mir. Sie stieg aus und trat zu uns. Inzwischen waren mir fast die Arme eingeschlafen, aber Vic atmete ruhig und als er sich mal kurz regte, konnte ich seine Pupillen wieder sehen. Schnell erzählte ich, was geschehen war, ohne zu erwähnen, dass ich Vic kannte.

Mit dieser professionellen Ruhe, die sich völlig von ihrem sonst so aufgedrehten Wesen unterschied, sah sie sich Vic an; schaut ihm in die Augen, testete die Reaktionen seiner Pupillen.

„Also, um sicherzugehen, sollten wir ihn ins Krankenhaus bringen.“

„Nein“, stöhnte Vic. „Nicht, bitte.“

Er wehrte sich gegen meinen Griff, allerdings nicht mit mehr Kraft, als ein Hundewelpe entwickeln würde.

Josy sah mich an. „Dann nehmen wir ihn eben mit.“

Im Film sieht es immer so spielerisch leicht aus, wenn der Held das arme Opfer auf seine starken Arme hebt und durch den tropisch heißen Urwald kilometerweit in Sicherheit trägt. Ich brach auf dem Weg die Treppe hoch in den ersten Stock fast zusammen und ließ Vic mehr fallen, als dass ich ihn auf das Sofa legte.

„Sei mal ein bisschen vorsichtig.“ Josy kniete sich neben ihn. Sie rümpfte die Nase. „Und hol mal warmes Wasser und Seife.“

„Aye, aye“, brummte ich und machte mich auf den Weg.

Zusammen schälten wir Vic aus den stinkenden Klamotten. Während ich die Sachen leerte und anschließend in die Waschmaschine steckte, wusch Josy ihm das Gesicht und die Hände und versuchte ihm ein Lebenszeichen zu entlocken.

Ich blieb einen Moment im Bad stehen und sah mir im Spiegel in die Augen. Vor nicht allzu langer Zeit war ich aus dem Bett des Barkeepers gestiegen, recht zufrieden mit der Welt und in Erwartung einer ruhigen Nacht. Jetzt lag mein bester Freund, von dem ich jahrelang nichts gehört hatte, besoffen auf unserem Sofa und ich fragte mich, was ihm wohl geschehen war. Warum hatte der Vollidiot sich nicht bei mir gemeldet, wenn er wieder in der Stadt war?

Er würde diese Wohnung nicht verlassen, bevor ich meine Antworten hatte.

 

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, stöhnte Vic leise. Josy tätschelte ihm nicht sehr sanft die Wange.

„Sieh mich an.“

Mühsam fixierte Vic seinen Blick auf sie.

„Wie heißt du?“

„Victor“, murmelte er leise.

Josy sah mich an, hob die Augenbrauen. Ich konnte die Rädchen in ihrem Kopf arbeiten hören, einen Kommentar sparte sie sich jedoch.

„Koch mal einen Tee, Bobby.“

Ich nickte nur und ging in die Küche.

Geduldig flößte sie Vic den Pfefferminztee ein, immer wieder fielen ihm die Augen zu.

„Der Junge muss sich ausschlafen.“

„Ich bringe ihn in mein Bett.“

Wieder zog sie die Augenbrauen hoch und ich verdrehte die Augen.

 

Erinnerungen überkamen mich, als ich Vic in meinem Bett liegen sah. Sicher, er hatte sich verändert, aber es war eindeutig mein bester Freund. Wie oft hatten wir zusammen in meinem – oder seinem – Bett gelegen und geredet, bis uns die Augen zugefallen waren. Oder wir hatten Horrorfilme geschaut … mit Chips und Cola. Gezockt, bis die Sonne wieder aufging.

Jetzt lag er da und wirkte vertraut und fremd zugleich. Mein bester Freund und ein völlig Unbekannter. Ehe ich mich ebenfalls hinlegte, schloss ich die Wohnungstür ab und versteckte die Schlüssel. Ich wollte nicht Gefahr laufen, dass er sich fortschlich.

Das Bett war groß genug, dass ich neben ihm liegen und ihn betrachten konnte. Was war geschehen? Wo war Frank? Und was um alles in der Welt hatte ihn daran gehindert, sich bei mir zu melden?

Irgendwann fielen mir von den vielen nicht zu beantwortenden Fragen die Augen zu.

 

Ich schlief in dieser Nacht nicht tief. Jedes Geräusch schreckte mich auf. Immer rechnete ich damit, dass Vic neben mir verschwunden war. Konnte er sich aus dem dritten Stock abseilen?

Ein gedämpftes Geräusch, ein leises Fluchen und ich fuhr hoch. Vic saß auf der Bettkante und hielt sich den Kopf.

„Alles okay?“, fragte ich verschlafen und nicht besonders intelligent.

„Sieht das so aus“, brummte er.

Wut kochte in mir hoch und nur mit Mühe beherrschte ich mich.

„Kopfschmerzen?“

Ein Nicken war seine ganze Antwort. Wortlos kletterte ich an ihm vorbei und ging ins Bad, um wenig später mit Schmerztabletten und einer Flasche Wasser zurückzukommen. Ich hielt ihm beides hin.

Mit fahrigen Fingern öffnete er ungeschickt die Packung und drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Die Flasche verweigerte sich seinen Bemühungen, sie zu öffnen, ich nahm sie und schraubte sie auf.

Er trank gierig und spülte die Tabletten herunter.

„Wo warst du?“ Die Frage musste raus.

Vic sah kurz hoch, wich dann aber meinem Blick schnell aus. Er zuckte mit den Schultern.

„Du weißt es nicht? Du willst es mir nicht sagen?“, fragte ich gereizt. Verdammt, ich wollte ihn kräftig schütteln.

„Nicht jetzt. Ich bin müde.“ Mit diesen Worten ließ er sich wieder auf das Bett fallen, drehte sich um.

Tief holte ich Luft, zählte bis zehn. Jetzt einen Streit anzufangen hatte keinen Sinn. Also kletterte ich ebenfalls wieder ins Bett.

 

„Wo ist der verdammte Schlüssel?“

In meinem Traum war ich gerade panisch durch ein Maislabyrinth geirrt und die Frage erschien mir völlig absurd.

„Du hast kein Recht, mich einzusperren!“

Ich hob die Lider, sah Vic vor dem Bett stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. In meiner Jogginghose und meinem Lieblingsshirt.

„Dir auch einen guten Morgen“, sagte ich, gähnte und streckte mich, ehe ich mich aufsetzte. „Du gehst nirgendwohin in meinen Sachen – und ohne mir ein paar Fragen zu beantworten.“

Wütend funkelte er mich an, dahinter jedoch verbarg sich Furcht. Er drehte sich um und stapfte in die Küche.

Ich zog ebenfalls eine Jogginghose an und folgte ihm. Er hantierte an der Kaffeemaschine.

„Vic …“

„Ich bin schon lange nicht mehr Vic“, sagte er tonlos. „Vic habe ich irgendwo unterwegs verloren.“

„Bist du deshalb nicht zu mir gekommen?“

Er drückte den Knopf und drehte sich zu mir um. Sein Gesicht sah grau aus, müde und erschöpft.

„Du gehörst zu einer anderen Zeit, zu einem anderen Leben – zu Vic.“

Vorsichtig trat ich näher. Tausend Fragen wollten aus mir strömen, doch ich spürte, dass jetzt nicht der rechte Augenblick dafür war. Unsere Blicke begegneten sich, Tränen standen in seinen Augen. Ich überbrückte den Abstand und schloss meine Arme um ihn. Zuerst versteifte er sich, dann lehnte er sich gegen mich.

„Du solltest mich gehen lassen. Ich bringe Unglück“, flüsterte er.

„Vergiss es.“

Er lachte kurz.

„Du bist unverbesserlich.“

„Ich bin dein Freund, ob es dir passt oder nicht.“

Seine Arme schlangen sich um mich, er presste sich gegen mich.

„Ich habe dich vermisst, Boo.“

 

Wenig später saßen wir mit unserem Kaffee wieder auf meinem Bett. Beide im Schneidersitz, sodass sich unsere Knie berührten.

„Ich hätte auf dich hören sollen. Mein Leben ist komplett den Bach runtergegangen. Frank war ein Arschloch.“ Vic trank einen Schluck Kaffee und starrte in die Flüssigkeit. „Ich weiß nicht einmal, wie es genau passierte, aber es waren Drogen und Alkohol im Spiel – und Kerle. Es wurde zu einem Rausch, der nie zu enden schien. Wir feierten Partys, schluckten kleine bunte Pillen, die einem jede Hemmung nahmen. Wir hatten Sex, miteinander, mit anderen.“ Vic schluckte, wischte sich über die Augen. „Ich kam erst viel später darauf, dass ich der Preis für die Drogen war. Als ich nicht mehr mitmachen wollte, schlug Frank mich zum ersten Mal. Von da an ging es nur bergab. Ich ertrug das Leben nur im Vollrausch – um diesen zu bekommen, musste ich …“ Er brach ab. „Ich hatte kein Geld, nicht einen Euro, war völlig abhängig von Frank und seinem Spiel. Doch eines Nachts bin ich abgehauen. Nur mit dem, was ich am Leib hatte.“

„Warum …“

„Warum ich mich nicht bei dir gemeldet habe?“ Ein bitteres Lachen. „Weil ich mich geschämt habe – immer noch schäme.“

„Vic, du bist mein bester Freund, egal, was passiert, ich bin für dich da. Ich wäre nach Frankreich gekommen, hätte dir Geld geschickt, was auch immer.“ Sacht legte ich meine Hand auf seine.

„Ja, ich weiß, aber ich konnte nicht. Du solltest mich eigentlich nie so sehen.“ Sein Kopf sank noch ein Stück tiefer.

„Man muss sich nicht vor seinen Freunden schämen … du sollst dich nicht vor mir schämen.“ Ich beugte mich vor, legte den Finger unter sein Kinn und hob es an. „Ich kenne dich ewig und nichts könnte mich dazu bringen, schlecht von dir zu denken.“

„Ich bin schlecht“, flüsterte er.

Ich legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. „Hör auf, Blödsinn zu reden.“

Erst jetzt hob er den Kopf und ich sah seine Augen. Dunkelbraun, wie geschmolzene Schokolade. Warm. Das war mir früher nie aufgefallen. Augen sind die Fenster zur Seele, sagt man. Jetzt sah ich in Vics Seele, in sein verletztes, verängstigtes Selbst. So vollkommen anders als sein früheres Ich, das fröhlich, selbstbewusst und manchmal etwas laut war.

„Du bleibst jetzt erst einmal hier, kommst zur Ruhe und überlegst dir, wie es weitergehen soll.“

„Das geht nicht … ich kann nicht.“ Er schüttelte den Kopf.

„Natürlich kannst du.“

„Du hast schon eine Mitbewohnerin.“

„Ja, aber das ist kein Hindernis. Wir teilen uns mein Zimmer.“ Ich lächelte ihn an. „Das haben wir schon öfter gemacht.“

Er lächelte kurz zurück und sein Gesicht hellte sich auf. Ein Stück des alten Vic erschien dabei.

„Das ist schon lange her.“

„Ja, aber das ist kein Hindernis.“

 

„Wo wohnst du?“

Vic wich meinem Blick aus. „In einem dreckigen Loch.“

„Dann holen wir jetzt deine Sachen.“ Energisch stand ich auf. „Komm.“

„Ich weiß nicht …“

Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt, doch ich verkniff mir die Geste und legte meine Hand auf seine Schulter.

„Du ziehst hier ein. Keine Widerrede.“

 

Das Haus war eine Abbruchbude. Vollgeschmiert mit schlechten Graffitis. Die Hälfte der Fenster war kaputt und zum Teil provisorisch mit Kartons repariert.

„Hast du hier eine Wohnung gemietet?“

Vic sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. „Glaubst du das?“

Ich schüttelte den Kopf, er lächelte schief.

Die Haustür stand offen. Kaum betraten wir das Treppenhaus, wollte ich wieder raus. Es stank erbärmlich. Schimmel, Urin – und Schlimmeres.

„Liegt hier irgendwas tot in der Ecke?“ Ich versuchte verzweifelt, nicht durch die Nase zu atmen.

„Möglich“, antwortete Vic mit einem Blick über die Schulter.

Meine Fantasie gaukelte mir vor, dass die Ratten hinter den Wänden leise kicherten.

Die Wohnungstür hatte kein Schloss. Im Flur lag der fleckige Rest eines ehemals gemusterten Teppichs, abgetragene Schuhe lagen wie ein abstraktes Kunstwerk getürmt unter einer überfüllten Garderobe.

Vic ging in das zweite Zimmer auf der rechten Seite. Eine Matratze lag auf den blanken Dielen, deren rote Farbe zum größten Teil abgesplittert war. Darauf ein zerknülltes Kissen und eine einfache Decke. Ein Schrank ohne Türen, darin ein paar Klamotten. Leere Flaschen Wodka, Gin und Cola in einer Ecke neben Pizzakartons und anderen Fast-Food-Verpackungen.

Der Anblick erschütterte mich zutiefst. Kein Mensch sollte so leben. Als wir wieder draußen waren, atmete ich durch.

„Sorry, ich konnte mir keine Wohnung leisten und hier wohnen wir ohne Miete, nur mit der Angst, morgen vor die Tür gesetzt oder von der Polizei abgeholt zu werden.“ Vic hielt wieder einmal den Kopf gesenkt.

Heb den Kopf! Du bist ein Mensch! Keiner – auch ich nicht – hat das Recht, über dich zu urteilen. Wir müssen uns schämen, dass Menschen unter solchen Bedingungen leben müssen. Der Philanthrop, der Gutmensch in mir wollte in diesem Moment wieder einmal die Welt retten.

 

Vics Sachen passten ohne große Mühen in meinen Schrank. Ich merkte, wie unwohl er sich mit der Situation fühlte. Wie konnte ich ihm dieses Gefühl nehmen?

Ich beobachtete ihn verstohlen, während ich uns etwas zu essen kochte. Vic saß auf der Küchenbank und spielte gedankenverloren mit dem Salzstreuer auf dem Tisch. Schmal sah er aus, hohlwangig und blass. Unentwegt zuckte sein Bein unter dem Tisch. War er Alkoholiker? Drogensüchtig? Seine Geschichte sprach dafür. Nun, ich würde es herausfinden.

Josy kam herein, holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank und fragte Vic, ob er auch ein Glas wollte; er verneinte. Nachdem sie noch fünf Eiswürfel klirrend ins Glas geworfen hatte, setzte sie sich zu ihm und sah ihn unverhohlen an.

„Wo warst du die letzten zwei Jahre?“

Vic zuckte sichtbar zusammen, wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich auf den Salzstreuer.

„Unterwegs“, murmelte er.

„Wo? Bobby hat erzählt, du wärst in Frankreich gewesen.“

„Josy, hör auf.“ Ich sah sie streng an, doch sie reagierte nicht.

„Womit verdienst du dein Geld?“

„Ich jobbe mal hier und da.“

„Warum gehst du nicht zum Jobcenter?“

„Weil ich noch gar nicht weiß, ob ich hierbleibe oder was ich mache. Verdammt, ich …“ Er unterbrach sich und starrte auf die Tischplatte.

Auf einmal beugte sich Josy vor, bis sie dicht vor seinem Gesicht war. „Ich warne dich, verarsch Bobby nicht. Hau nicht mit seinem Geld ab oder Ähnliches. Er ist ein viel zu netter Kerl und mein bester Freund.“

„Meiner auch.“ Jetzt sah Vic ihr in die Augen.

Einen Augenblick betrachteten sie sich aus kurzer Distanz, dann nahm Josy ihr Glas und ging. Ein wenig erinnerte sie mich an John Wayne, der aus einem Saloon stapfte.

„Sorry“, sagte ich, „sie hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.“

„Ist schon okay, es freut mich, dass sie sich um dich sorgt.“ Mit einem kleinen Lächeln sah er mich an.

 

Nach dem Essen überredete ich Vic zu einem Spiel. In diesem Moment waren die zwei Jahre nicht mehr da. Wir zockten, lachten und beschimpften uns wie immer.

Erst als Josy drohte, uns zu erschlagen und unsere Leichen in Salzsäure aufzulösen, weil wir viel zu laut waren und sie morgen früh aufstehen musste, gingen wir ins Bett. Wir putzen zusammen Zähne, wie wir es schon tausendmal getan hatten – und doch, als sich unsere Blicke im Spiegel begegneten, war etwas anders. Ich konnte nicht sagen was, aber ich spürte es.

Ich betrachte Vic, wie er sich auszog. Er war erschreckend dünn geworden. Deutlich waren die Rippen zu erkennen, zeitgleich waren seine Arme sehnig und kräftig, ebenso wie seine Beine. Sie waren beneidenswert gerade, meine wiesen eine deutliche Neigung zu einem O auf. Ich ertappte mich dabei, wie darüber nachdachte, wie es sich wohl anfühlte, sie zu streicheln. – Verrückter Gedanke. Ich wischte ihn aus meinem Kopf.

„Danke, Boo“, sagte Vic leise, als ich das Licht gelöscht hatte und wir nebeneinanderlagen.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und tastete nach seiner Hand. Unsere Finger verflochten sich und es war ein gutes Gefühl.

 

Am Morgen wachte ich in Löffelchenstellung hinter ihm auf, meine Hand auf seinem Bauch, meine Nase in seinen Locken. In diesem zeitlosen, denkfreien Moment kam mir alles richtig vor. Ich fühlte mich glücklich, zufrieden. Erst später, während ich dem Kaffee zusah, der langsam in die Kanne lief, wurde mir bewusst, dass ich mich, seit Vic fort war, nie so gefühlt hatte.

Vorsichtig hatte ich mich von ihm gelöst, war zurück auf meine Hälfte des Bettes gerutscht. Vic brummte, drehte sich um und zog sich die Decke bis zur Nase hoch. Still war ich liegen geblieben und betrachtete ihn. Meine Gedanken wanderten zu der Zeit, die hinter ihm lag, all den Dingen, die ihm geschehen waren, und ich schwor mir, von nun an auf ihn aufzupassen. Nie wieder würde ich zulassen, dass der Kontakt zwischen uns abriss, dass ich ihn aus den Augen verlor.

 

In den nächsten Tagen vernachlässigte ich mein Studium und steckte all meine Energie hinein, Vic aufzupäppeln. Ich sorgte für drei anständige Mahlzeiten und genügend Leckereien zwischendurch. Wir trieben auf der Welle der Erinnerung, es war unglaublich, wie schnell wir zu unserem alten Umgang miteinander zurückfanden.

Von Zeit zu Zeit fiel mir jedoch auf, dass sich mein Blick auf ihn verändert hatte. Ich nahm Dinge wahr, die ich früher nie beachtet hatte. Es waren Kleinigkeiten, wie er den Kopf in den Nacken legte, wenn er lachte und wie dabei sein Adamsapfel hervortrat; wie lang und schön seine Finger waren; seine Beine, die so wundervoll zu seinem runden Hintern passten …

Noch irritierender waren die Gefühle, die diese Dinge in mir auslösten, die nicht gerade freundschaftlichen Gedanken. Ich musste mir eingestehen, dass ich Vic zum ersten Mal als Mann sah, nicht nur als meinen besten Freund.

Es drohte zu eskalieren, als wir das erste Mal wieder gemeinsam unterwegs waren und er mit einem anderen Typen tanzte. Ich war eifersüchtig – und konnte es nicht beherrschen. Völlig unberechtigt benahm ich mich zickig und streitsüchtig und wir fetzten uns auf dem gesamten Weg nach Hause. Vic schlief in dieser Nacht auf dem Sofa und ich lag unglücklich in meinem Bett. Noch nie waren solche Gefühle zwischen uns im Spiel gewesen und ich verstand mich nicht.

„Vielleicht sollte ich mir eine andere Bleibe suchen“, sagte Vic am Morgen zu mir. „Überhaupt muss ich mir überlegen, wie es weitergeht.“

Ich war versucht, mich zu entschuldigen, aber was sollte ich als Grund für mein Verhalten vorbringen? Sorry, ich habe mich in dich verliebt?

Dieser Gedanke schockierte mich, so konkret war er noch nicht in mein Gehirn eingedrungen.

„Eins nach dem anderen“, sagte ich und starrte in meinen Kaffee. „Vielleicht überlegst du erst, was du in Zukunft machen willst.“

Vic seufzte. „Wenn ich das wüsste. Das Einfachste wäre, mein Studium wieder aufzunehmen, doch ich habe das Gefühl, dass es nicht das Richtige ist.“

„Was wäre denn das Richtige?“, fragte ich und hoffte, dass er den Gedanken auszuziehen erst einmal vergaß.

„Wenn ich das wüsste.“

 

„Ich weiß, was mit dir los ist.“

Ertappt hob ich den Blick vom Bildschirm und sah Josy an. Sie stand in den Türrahmen gelehnt, einen Handtuchturban auf dem Kopf, eine schwarze Maske bedeckte ihr Gesicht und sie schlürfte einen grässlich gesund aussehenden, grünen Smoothie. Ihr wöchentlicher Schönheitstag.

„Aha“, entgegnete ich wenig intelligent.

„Du hast dich in Victor verliebt.“ Sie grinste – oder versuchte es zumindest.

„So ein Quatsch.“ Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu und hoffte, dass sie nicht die Röte bemerkte, die langsam in mein Gesicht kroch.

„Im Gegensatz zu dem Kerl bin ich nicht blind. Du bekommst ja schon Herzchen in den Augen, wenn er nur den Raum betritt.“ Lässig schlenderte sie in ihrem pinken Bademantel in mein Zimmer und setzte sich auf das Bett. „Vielleicht solltest du ihm sagen, wie es um dich steht.“

„Bist du bescheuert? Er ist mein bester Freund. Schon seit Jahren. Da kann ich ihm wohl kaum …“ Ich stockte.

„Warum nicht? Vielleicht empfindet er ja dasselbe für dich.“

Ich dachte an den Abend im Club und schüttelte vehement den Kopf. „Nein, für ihn ist alles so wie damals.“

„Und das weißt du woher?“

Ich war froh, dass Vic an diesem Morgen zum Jobcenter gegangen war.

„Weil ich es weiß.“

„Ah, deine Glaskugel hat es dir verraten, ich verstehe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich verrate dir mal was, Bobby, er sieht dich genauso an wie du ihn. Mit diesem furchtbaren Herzchen-Blick.“ Sie verdrehte die Augen.

„Du spinnst.“

„Wenn du meinst. Aber achte doch vielleicht einfach mal darauf.“

 

Ich folgte ihrem Rat, doch ich sah nichts. Vic war wie immer. Oder?

Ging er mir nicht eher aus dem Weg? Oder zumindest dem körperlichen Kontakt mit mir? Waren wir früher anders miteinander umgegangen? Ich stellte alles auf den Prüfstand und wurde immer unsicherer. Das führte wiederum zu einer angespannten Atmosphäre. Es kam, wie es kommen musste, wir stritten uns fürchterlich aus irgendeinem nichtigen Anlass. Das hatten wir schon immer gut gekonnt, Vic war dann in sein Zimmer gegangen und hatte die Tür zugeknallt und ich tat es ihm nach. Nach einiger Zeit trafen wir uns auf dem Flur, sahen uns verlegen an, fielen uns in die Arme und die Sache war vergessen.

Nun jedoch knallte die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss und ich stand in der Küche und schmiss ein unschuldiges Glas an die Wand.

„Verdammte Scheiße! Robert Alexander Willer.“ Josy stand in der Tür und starrte auf die Scherben. „Was wird das hier?“

„Lass mich in Ruhe“, schrie ich sie an, froh jemanden gefunden zu haben, an dem ich meine Laune auslassen konnte. „Du und deine Beobachtungen.“

„Mein Gott, sind Männer Idioten“, murmelte sie und holte den Handfeger.

Ihr zusehend kämpfte ich den Drang nieder, gleich noch ein Glas folgen zu lassen oder besser gleich eine ganze Flasche.

„Mindestens 80 Prozent von euch sind nicht in der Lage, ihre Gefühle klar auszusprechen“, dozierte sie, während sie eine Scherbe aus dem hintersten Winkel fischte. „Vielleicht doch eher 90 Prozent. Auf jeden Fall ist es ein echtes Wunder, dass zwei Männer überhaupt schaffen in eine Beziehung zu kommen.“

„Normalerweise habe ich überhaupt keine Probleme damit, meine Gefühle auszudrücken“, murrte ich. Sie zog die Augenbrauen hoch.

„Dann beweis es und sprich endlich mit Vic.“

 

Bis drei Uhr lag ich wach und wartete, da klappte endlich die Haustür. Ich lauschte auf die Geräusche, das fließende Wasser im Bad, die Klospülung. Vic kam nicht zu mir und ich nahm an, dass er wieder im Wohnzimmer schlief.

Ungefähr um fünf Uhr wurde mir klar, dass Josy recht hatte. Irgendetwas musste ich tun. Nur was?

Als ich aufwachte, stand eine Tasse Kaffee neben meinem Bett und ein Brief lehnte daran. Mein Magen schlug einen Purzelbaum. Ich wusste nicht, ob ich lesen wollte, was darin stand.

Erst nach dem Kaffee fand ich den Mut. Ein schlichter weißer Zettel lag in dem Umschlag. 20:00 Uhr, Leonardo. Vics Handschrift. Was bedeutete das?

 

Das Leonardo war ein guter Italiener nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Den ganzen Tag hatte ich weder Josy noch Vic gesehen. Die Wohnung war wie ausgestorben. Meine Nervosität stieg mit jeder Stunde. Was sollte dieses Treffen auf neutralem Boden? Was wollte er mit mir besprechen, was wir nicht auch hier bereden könnten? Die Zeit verrann in merkwürdigen Sprüngen, mal schien sie zu stehen, dann war auf einmal eine Stunde vorbei.

Endlich war es so weit. Ich hatte mich nach vielem Hin und Her für eine dunkle Jeans und ein weinrotes Hemd entschieden. Keine Ahnung, ob es dem Anlass angemessen war. Ich grübelte noch immer über den Grund dieser Verabredung.

 

Fünf Minuten zu früh betrat ich das Restaurant. Das Leonardo zeichnete sich durch ein sehr gemütliches Ambiente aus. Die Tische standen getrennt durch begrünte Rankgitter, an den Wänden gab es kleine Nischen. Auf den Tischen brannten Kerzen und die gesamte Beleuchtung war indirekt.

Ein Kellner kam mir entgegen und da ich Vic nirgends sehen konnte, fragte ich nach einer Reservierung auf seinen Namen. Zuvorkommend führte er mich zu einer Nische. Auf dem Tisch stand eine langstielige weiße Rose. Noch nervöser als ohnehin schon schob ich mich in die Bank.

Pünktlich betrat Vic das Restaurant. Er musste beim Friseur gewesen sein, seine Locken waren kürzer. In der engen schwarzen Jeans mit dem weißen Hemd sah er umwerfend aus. Mit einem schüchternen Lächeln trat er an den Tisch.

„Hallo, Boo“, sagte er leise und schob sich neben mich auf die Bank.

Meine Kehle war trocken und ich konnte ihm nicht antworten, nur ihn anstarren.

„Ich …“ Er schwieg und griff nach dem Salzstreuer. Bevor er ihn fassen konnte, nahm ich seine Hand.

„Sprich mit mir, Vic. Ich dreh bald durch.“

Er sah mich an und ich versank in seinen schokobraunen Augen. Was immer er mir zu sagen hatte, ich musste ihm von meinen Gefühlen erzählen, sonst würde ich daran ersticken.

„Boo, ich … Verdammt, ist das schwer.“ Mit der freien Hand raufte er sich die Haare.

Mein Herz schlug bis zum Hals, mein Magen war ein Knoten.

„Boo, ich liebe dich.“

Ich starrte ihn an. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

„Ich weiß, das kommt jetzt etwas plötzlich, aber eigentlich ist es das nicht“, sprach er schnell weiter. „Ich habe dich schon immer geliebt, aber wir waren Freunde und um nichts in der Welt wollte ich das zerstören. Mit Frank fortzugehen war mein Versuch, etwas Abstand zu dir zu bekommen, vielleicht glücklich zu werden. Scheiße, er ist voll nach hinten losgegangen.“

Noch immer fand ich keine passenden Worte, konnte ihn nur ansehen. Vic liebte mich? Schon länger? Das konnte mein Gehirn nicht verarbeiten.

Meine Sprachlosigkeit verunsicherte ihn, langsam entzog er mir seine Hand.

„Ich kann verstehen, wenn du nicht das Gleiche für mich empfindest“, flüsterte er.

„Nein, ich … ich meine ja“, stotterte ich, dann zog ich ihn an mich und küsste ihn. Vorsichtig, sanft berührten meine Lippen seine. Sie waren zart und weich, überrascht, dann antworteten sie. Konnte ein Kuss Leben verändern? Ja! Dieser auf jeden Fall. Vic zu spüren war wie anzukommen, ein Ziel erreicht zu haben, endlich gefunden zu haben, was immer fehlte.

„Ich liebe dich auch“, hauchte ich.

Ein diskretes Hüsteln riss uns auseinander. Der Kellner stand neben uns, zwei Glas Champagner auf einem Tablett.

„Von der Dame am Tresen“, sagte er.

Josy prostete uns mit einem verschmitzten Lächeln zu, trank ihr Glas aus und verließ das Restaurant.

 

Dies war unser erstes Date, wir genossen es in vollen Zügen und schworen uns, von nun an immer über unsere Gefühle zu sprechen.

Das ist drei Jahre und etliche Verabredungen her. Regelmäßig, einmal im Monat, treffen wir uns bei Kerzenschein im Leonardo. Auch heute haben wir ein Date zum Jahrestag. In meiner Tasche befindet sich ein kleines Kästchen. Es wird Zeit, aus meinem Vic einen ehrbaren Mann zu machen. Drückt mir die Daumen, dass er das auch will.

 

 

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Barbara A Lane/Pixabay; Myriam Zilles/Pixabay; Ciker-Free-Vector-Image/Pixabay
Cover: Samjira
Lektorat: Mimi Guth / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2020

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