Der Wolf in dir
Matthis und Corvin
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind meiner Fantasie entsprungen. Sollten Sie Ähnlichkeiten zu reell existierenden Personen feststellen, sind diese rein zufällig.
Das Model auf dem Cover steht in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches sowie der Inhalt des Buches nichts über die sexuelle Orientierung des Models aussagt.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.
Mein besonderer Dank gilt meinen Betaleserinnen
Monika Schmid
Mimi Guth
und Bernd Frielingsdorf für das Korrektorat
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Der Hirsch hob lauschend sein geweihbeladenes Haupt. Morgendliche Nebel schwebten träge über die Lichtung. Seine Ohren zuckten nervös, witternd zog er die Luft ein. Noch war die Stille perfekt und er senkte den Kopf zu den taunassen Gräsern. Einen Schritt bewegte er sich vorwärts, Muskeln strafften sich unter dem rotbraun glänzenden Fell. Ein Rascheln der Blätter veranlasste das majestätische Rotwild erneut den Kopf zu heben, erste zarte Sonnenstrahlen ließen die frisch gefegten Geweihspitzen wie blanke Knochen schimmern. Fließendes Spiel von Muskeln und Sehnen, mit kraftvollen Sprüngen verschwand es im Dickicht, lange bevor das weit entfernte Halali gepaart mit dem aufgeregten Bellen der Meute die Lichtung erreichte.
Der Hirsch jedoch war nicht die Beute der Jäger, die an diesem Tag, wie an unzähligen zuvor, durch den Wald zogen, sondern seine Feinde, die Wölfe. Ihren Spuren folgten die Hunde, trieben sie durch den Wald und in die Fallen der wartenden Häscher.
König Farold hatte endlich ein Einsehen, gab dem verzweifelten Rufen des Volkes nach und versuchte der Plage der Wölfe Herr zu werden. Beauftragt mit dieser Aufgabe war sein erster Jäger Corvin Venatoris. Jeder, der ihn sah, war froh, dass es die Wölfe waren, denen der finster dreinblickende Mann mit den stechenden grauen Augen nach dem Leben trachtete.
Mit Hunden und Gewehren drängte eine eng nebeneinander hergehende Phalanx aus Jägern und Treibern durch den Wald. Nach detaillierten Anweisung Corvin Venatoris’ hatten Schmiede große, stabile Käfige gebaut. In diesen wurden die Wölfe lebend gefangen. Auf speziellen Räderkonstruktionen wurden die gitterbewehrten Gefängnisse in die Burg Hohenstein gebracht, in der Corvin residierte und von der aus er die Jagd koordinierte. Dass keiner der Menschenfeinde entkommen möge und ihrem finsteren Treiben ein Ende bereitet würde.
Die Treiber schlugen Stöcke gegeneinander, laut hallte der Takt ihrer Schläge zwischen den Bäumen. Die Hunde jaulten und kläfften. Der Wald war in Aufruhr, der Fluchttrieb veranlasste natürliche Feinde, Jäger und Opfer, Füchse und Kaninchen, Rehe und Wölfe zur gemeinsamen Flucht durch das Unterholz. Weg von den Jägern, die Gefangenschaft und Tod brachten.
Verzweifelt versuchte Cajus Andres zur Eile anzutreiben, doch der kleine, schwarze Wolf blieb immer wieder zurück. Bei der Flucht am zurückliegenden Tag war er in ein Kaninchenloch getreten und gestürzt. Seitdem hinkte er mit dem linken Vorderlauf.
Das Bellen wurde lauter, der Klang der Stöcke aggressiver. Verzweifelt stupste Cajus Andres mit der Schnauze an. Hinkend versuchte der Wolf mit ihm Schritt zu halten. In den leuchtenden Augen konnte Cajus die Verzweiflung seines Gefährten sehen. Dicht lief er neben ihm, versuchte die Seite zu entlasten, wusste, dass alles vergebens war.
Andres hechelte und blieb stehen. Mit sanftem Stoßen versuchte Cajus den Geliebten anzutreiben, doch stattdessen legte sich der schwarze Wolf auf das Moos.
„Komm, wir müssen weiter!“ All seine Gedanken waren auf Andres gerichtet.
„Geh!“ Die einsilbige Antwort.
„Nicht ohne dich!“
„Verschwinde.“ Ein Gedanke, gefolgt von einem tiefen Knurren.
„Niemals! Entweder gehen wir zusammen oder wir sterben zusammen!“ Der hellgraue Wolf legte sich neben seinen kleineren Gefährten. „Ohne dich hat mein Leben keinen Sinn!“
Ein Gewehr knallt, Andres zuckte zusammen. „Cajus, bitte.“
Doch Cajus legte nur seine Schnauze unter Andres´. „Ich gehöre zu dir. Für immer und ewig!“
Laute Stimmen. Gebrüllte Wortfetzen waren zu verstehen. Andres wusste, dass Cajus ihn nicht verlassen würde. Im umgekehrten Fall wäre er auch nie gegangen. Eng schmiegte er sich an den Gefährten. Möge das Schicksal ihnen gnädig sein.
„Erfolgreiche Jagd, Herr! Vier Wölfe!“ Einer der Jäger stand mit stolzgeschwellter Brust vor ihm und drehte nervös seinen Hut in den Händen. Corvin wusste, dass er, wie alle anderen, Angst vor ihm hatte. Doch das war ihm nur recht. Wer das rechte Maß an Angst hatte, kam nicht auf dumme Ideen. Nicht zu streng oder brutal zu seinen Untergebenen, aber jederzeit respekteinflößend, das war seine Devise.
Obwohl kleiner als die meisten Männer in seiner Umgebung, war seine Ausstrahlung beeindruckend und düster. Keiner sah ihn bisher lachen und das würde auch so bleiben. In dieser Welt gab es nichts zu lachen, solange sie von den Bestien bedroht wurden. Den Bestien, die keine Wölfe waren, sondern Geschöpfe des Teufels. Seine Kleider waren schwarz wie seine Haare, die über seinen Kragen reichten und in einem strengen Zopf gehalten wurden.
Mit einem kurzen Nicken schritt er an dem Mann vorbei und ging zu den Käfigen. Nach mehreren glücklosen Tagen endlich wieder ein Erfolg.
In dem ersten lag ein räudiger, alter Wolf mit struppigem, löchrigem Fell. In dem zweiten ein ganz junges Tier, das aufgeregt an den Gittern entlanglief. Nicht, was er suchte. In dem letzten lagen jedoch zwei und sein Herz begann zu schlagen. Das waren sie, genau darauf hatte er gewartet. Zwei Wölfe, Gefährten. Sie lagen dicht zusammen und der größere Wolf schien den anderen zu beschützen. Seine intelligenten Augen verfolgten Corvins Weg vor dem Gitter.
„Ich wusste es, Geduld zahlt sich aus. Ihr beide werdet beweisen, was für Bestien wir wirklich jagen!“ Seine Hände legten sich um die kalten Stäbe.
Der graue Wolf ließ ein tiefes Knurren hören. Er roch den Feind und die Gefahr.
Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft. Seine Pfoten verursachten kein Geräusch auf dem weichen Moos. In dem Wald roch es nach Menschen. Unzählige von ihnen waren hier gewesen. Ihre Ausdünstungen hingen wie Nebelschwaden zwischen den Bäumen. Auch die Wölfe konnte er riechen; bevor die Menschen herkamen, jagte ein kleines Rudel in diesem Gebiet. Wölfe, keine Gestaltwandler.
Mit der Nase auf dem Boden folgte er einer Spur. An einem Punkt, tief im Wald, stutzte er und schnupperte intensiver. Hier waren Brüder gewesen. Ihre Liebe spürte er ebenso wie die Angst. Gemeinsam waren sie geflohen, der Fährte zu folgen, die sie hinterlassen hatten, war mit seiner empfindlichen Nase ein Leichtes. Wie die anderen endete sie abrupt.
Der selbstgerechte Jäger, Richter. Der treue Diener seines Königs. Corvin Venatoris ließ wieder Wölfe jagen. Es wurde Zeit, aus dem Jäger einen Gejagten zu machen!
Räder ratterten über das Pflaster im Hof und eine Kutsche kam genau vor dem Eingang der Burg Hohenstein zum Stehen. Eilfertig sprang ein livrierter Diener herab, öffnete den Verschlag und klappte eine Stufe aus, damit die Insassen wohlbehalten heraustreten konnten. Anschließend reichte er seine Hand einer großen, sehr schlanken Frau, die sich von ihm hinaushelfen ließ.
Aus der Burg eilte der Hausherr Friedwart von Hohenstein den Gästen entgegen.
„Baronin!“ Fast landete er auf dem Boden vor dem mächtigen Kleid der Angekommenen, als er über eine Unebenheit stolperte. „Wenn Ihr nur etwas eher einen Boten geschickt hättet …“
„Sind wir nicht willkommen, Graf von Hohenstein?“ Die Stimme der Baronin von Lupatus schnitt scharf durch die Luft.
„Nein, natürlich nicht … ich meine … Ihr seid natürlich willkommen!“ Tief verbeugte er sich, berührte fast den Staub.
Die Kutsche knarrte und der Graf hob den Kopf. Vor dem prächtigen Gefährt stand ein junger Mann, hochgewachsen, schlank, mit skandalös kurzen Haaren. Waren sie weiß? Ihre Farbe war ungewöhnlich hell, wirkte ausgeblichen.
„Mein Sohn, Matthis von Lupatus“, stellte die Baronin den Mann vor, der einen Schritt näher trat und sich leicht verbeugte. Seine Augen waren hellbraun, erinnerten an Bernstein.
„Baronin, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Euch und Euren Sohn bei mir begrüßen zu dürfen.“ Dieses Mal formvollendet verbeugte er sich erneut. „Es ist nur, der Jäger des Königs, Corvin Venatoris, ist in der Burg und beschlagnahmt mit seinem Gefolge eine Menge Platz … Nicht dass ich mich darüber beschweren wollte, sind die Räume, die ich Euch anbieten kann, kleiner als Euch angemessen. – Verzeiht!“
Bei der nächsten Verbeugung würde seine rot geäderte Knollnase den Staub berühren, dachte Matthis belustigt. Seine Mutter war die Schwester der Königin und ihr Auftreten sorgte immer für Betriebsamkeit. Dabei war es ihr eine diebische Freude, unerwartet und kurzfristig bei den Adligen des Landes zu erscheinen. Nur selten begleitete er sie, doch nachdem sie ihm verraten hatte, dass Corvin Venatoris sich ebenfalls auf Burg Hohenstein aufhalten würde, schloss er sich ihr an. Schon viel hatte er von dem Jäger und seinem Auftrag gehört. Viele Gerüchte und Geschichten. Hier bot sich die Möglichkeit, dem Mann zu begegnen, der die Wölfe zu seinen persönlichen Feinden erklärt hatte.
„Ich bin mit der kleinsten Kammer zufrieden, Graf von Hohenstein, wenn sich dort ein ordentliches Bett befindet und Ihr ein anständiges Badehaus das Eure nennt.“ Bija schlug demonstrativ auf das Kleid, als wollte sie Staub ausklopfen. „Die Straßen sind sehr … dreckig.“ In ihrem Ton schwang ein Vorwurf mit, der den Grafen wieder den Rücken beugen ließ.
„Das beste Badehaus weit und breit, Baronin. Schon sind die Mägde unterwegs, das Feuer zu schüren und Euch ein Bad zu bereiten.“
Über den Kopf des Mannes hinweg tauschte seine Mutter einen belustigten Blick mit ihm.
„Ich danke Euch.“ Huldvoll neigte sie den Kopf und ging an dem kleineren Grafen vorbei. „Vielleicht ist es möglich, ein Stückchen trocken Brot in der Wartezeit aufzutreiben.“
Kaum waren sie an dem Mann vorbei, flüsterte dieser aufgeregt mit dem nächsten Diener, damit Essen und Getränke für die Baronin aufgetragen wurden. Nur der Unwille des Königs war schlimmer als der der Königin und die Königin hörte auf ihre Schwester.
„Hast du tatsächlich Hunger, Mutter?“ Matthis warf einen Blick über seine Schulter auf den hektisch agierenden Grafen.
„Nein, aber dieser kleine Wicht hat vor der Hochzeit von Elenora und ihrem Aufstieg zur Königin auf mich herabgesehen, dafür kann er heute ein klein wenig schwitzen.“ Sie erklommen die Stufen, die in die Burg führten.
Ohne zu zögern, ging Bija in den Salon. An der geöffneten Tür blieb sie stehen und sah durch den Raum. An der Fensterfront, direkt ihr gegenüber, stand ein Mann. Das schwungvolle Aufstoßen der Tür ließ ihn sich umdrehen. Im einfallenden Licht waren seine Gesichtszüge nicht zu erkennen. Um ihn herum lag eine starke Ausstrahlung, die ihn gleich einer Aura umgab.
Auf die Entfernung konnte Matthis ihn spüren, seinen starken, unbeugsamen Willen. Dieser Mann war besessen von seinem Auftrag.
Warum jedoch beherrschte diese Aufgabe den Mann? Matthis gestattete sich nicht, von Corvin Venatoris´ Auftreten beeindruckt zu sein, ihm ging es um die Intention des Jägers, dessen Beute die Wölfe waren.
„Corvin Venatoris, wenn ich mich nicht irre.“ Schwungvoll rauschte die Baronin ins Zimmer. „Ich freue mich, Euch kennenzulernen.“ Würdevoll und auffordernd hielt sie ihm die Hand zur Begrüßung hin.
Einen winzigen Moment zögerte er, bevor er sich verbeugte und den obligatorischen Kuss andeutete.
„Baronin von Lupatus, ich bin erfreut, Sie kennenzulernen.“ Eine strenge, tiefe Stimme. Er drehte sich zu Matthis um.
„Mein Sohn Matthis von Lupatus“, stellte seine Mutter ihn vor.
Zum ersten Mal begegneten sich ihre Blicke. Die grauen Augen Corvins sahen in die bernsteinfarbenen Matthis’. Alle seine Sinne reagierten auf den anderen Mann, ließen ihn zögern, seine Hand auszustrecken und ihn zu berühren.
„Verzeiht, wenn ich Euch durch meine Anwesenheit Unannehmlichkeiten bereite“, wandte sich Corvin wieder an die Baronin, nachdem er seinen Blick von Matthis gelöst hatte.
„Oh, macht Euch keine Gedanken, Graf von Hohenstein wird uns schon angemessen unterbringen.“ Mit ihrem charmantesten Lächeln winkte seine Mutter ab.
„Was treibt den königlichen Jäger in diese Gegend?“, fragte Matthis, nachdem er neben den Mann an das große Fenster getreten war und auf die gepflegte Parklandschaft sah.
„Ein vermehrtes Auftreten der Wölfe in diesem Gebiet“, entgegnete Corvin, dann wandte er sich an die Baronin. „Ihr müsst erschöpft sein von der Reise und mich rufen die Geschäfte. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet.“ Eine angedeutete Verbeugung, ein letzter Blick auf Matthis, der immer noch am Fenster stand, und Corvin Venatoris verließ den Raum.
„Und?“ Die Baronin war neben ihn getreten.
„Ich weiß nicht, er ist verwirrend.“ Er sah seiner Mutter in die Augen, die etwas dunkler waren als seine. „Gib mir etwas Zeit.“
„Wir haben keine Zeit!“, sagte sie leise und seufzte, dann straffte sie ihre Gestalt und sah ihn an. „Versuch dein Bestes, Matthis.“
„Ja, Mama.“ Zärtlich küsste er ihre Wange.
Corvin war froh, als die Türen des Salons hinter ihm zufielen. Mit energischen Schritten ging er hinunter in den Keller, verbot sich dabei jeden Gedanken an den jungen Matthis von Lupatus.
Lupatus, welch ein Name in diesen Zeiten! Doch er wusste, dass es sich dabei um ein sehr altes Adelsgeschlecht handelte. Die jüngere Schwester der Baronin, Elenora, war mit König Farold verheiratet.
Einflussreiche Menschen, doch das interessierte ihn nicht. Er war durch die Beute des letzten Tages der Wahrheit einen Schritt nähergekommen. Die beiden Wölfe waren genau das, was er suchte. Sie waren Wandler. Todbringende Monster, die aus ihren Opfern dieselben blutrünstigen Ungeheuer machten, die sie selbst waren.
In dem düsteren, feuchten Kellergewölbe waren die Wölfe in einen größeren Käfig gesperrt worden. Dicht aneinandergedrängt lagen sie in der hintersten Ecke. Ein Paar, genau wie Helgard es gesagte hatte. Jedes Monster suchte sich einen Gefährten, zwang ihn zu einem Leben an seiner Seite. Mit der Zeit akzeptierte der ehemalige Mensch sein Schicksal und wurde zu ebensolch einer Bestie wie das Tier an seiner Seite.
Langsam ging er um die Gitterstäbe herum, näherte sich den Wölfen. Sofort begann der größere der beiden zu knurren und sie bewegten sich fort von den Gitterstäben.
„Ganz ruhig“, sagte Corvin und ging in die Hocke. „Ich weiß, was ihr seid! Einfacher für euch, mir gleich eure wahren Gestalten zu zeigen.“
Eisblaue Augen funkelten ihn an. Der kleinere Wolf hob den Kopf nicht, der auf den Pfoten seines Gefährten lag.
„Ich werde einen Weg finden, euch dazu zu bringen, egal, was es kostet!“ Corvin legte seine Hand an eine Gitterstrebe, das Metall war kalt unter seinen Fingern. „Ich verspreche euch, das monströses Geheimnis, das ihr verbergt, zu lüften und der Welt zu zeigen, warum sie den Wolf hassen muss. Warum ihr alle sterben müsst!“
Der hellgraue Wolf knurrte und zeigte seine beeindruckenden Zähne.
„Ja, ich sehe schon, du möchtest kämpfen, doch dazu wird es nicht kommen. Ihr werdet keine Menschen mehr verderben und ins Unglück stürzen!“
Das Knurren wurde lauter, das Nackenhaar des Tieres sträubte sich. Corvin spürte, wie sein Körper darauf reagierte, seine Schultern zogen sich hoch und wenn er ein Fell hätte, würden sich seine Nackenhaare ebenfalls aufstellen. Tief atmete er ein und stand auf.
„Wie viel du auch knurrst und deine Zähne zeigst, du kannst deinen Gefährten nicht schützen. Wenn ihr nicht vernünftig seid, wird er es büßen müssen.“
Der Wolf schien sich erheben zu wollen, doch der kleinere leckte beruhigend seine Lefzen, nur die funkelnden Augen blieben unverwandt auf Corvin gerichtet.
Mit einem letzten Blick auf die Wölfe verließ Corvin den Keller.
Draußen war es angenehm warm. Die Sonne schien und ließ die durch die vielen Gärtner des Grafen mit weiß und lila blühenden Blumen bepflanzten Beete hell leuchten. Der Sommer hatte seinen Zenit schon lange überschritten, doch dank der guten Pflege durch fleißige Hände sah man dem Garten den bevorstehenden Herbst, der sich langsam mit morgendlicher Kälte, Wind und heftigen Regenschauern in den Vordergrund drängte, noch nicht an. Kein Laub lag auf den Wegen und verblühte Blumen waren nicht zu sehen. Nur die ersten kahlen Zweige machten deutlich, dass die Zeit des Sommers vorbei war.
Corvin ging ein paar Schritte, versuchte sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Die Jäger waren trotz des Erfolges unterwegs auf der Hatz nach weiteren Wölfen. Die beiden dort im Keller waren auch nur zwei von Hunderten, da war er sich sicher.
„Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Corvin Venatoris.“
Erschrocken fuhr er herum und sah in die bernsteinfarbenen Augen von Matthis von Lupatus. Wie war der Mann, ohne dass er es bemerkte, nur so dicht an ihn herangekommen?
„Viel hört man von Euch.“
Ausgeprägte, männliche Gesichtszüge, einen kantigen Kiefer und eine gerade Nase. Er sah gut aus und die Frauen bei Hofe waren bestimmt hinter ihm her wie der Teufel hinter der Seele.
„Ich hoffe, nur Gutes“, entgegnete er etwas verspätet.
„Interessantes.“ Ein Lächeln auf dem Mund, der vielleicht ein wenig zu groß für das Gesicht war. „Von Eurer Leidenschaft, Wölfe zu jagen.“
„Im Auftrag seiner Majestät.“ Corvin wollte sich abwenden, doch der Blick des Mannes bannte ihn.
„Ja, genau da scheiden sich die Geister. Die einen meinen, Ihr handelt aus eigenem Antrieb, habt eine persönliche Rechnung mit den Wölfen offen. Die anderen sagen, Ihr erfüllt nur Eure Pflicht. – Welche Seite hat recht?“
„Seine Majestät hat mich beauftragt und ich erfülle meine Aufgabe. Reicht das nicht?“ Bestimmt würde er nicht mit diesem Mann über die Wölfe und ihr wahres Wesen reden. Wahrscheinlich würde er ihn wie die meisten seiner Zeitgenossen für einen Spinner halten. Nur wenige wussten von der wahren Natur der Wölfe, die er jagte, und glaubten an die Gestaltwandler.
„Oh, doch natürlich.“ Matthis von Lupatus lächelte ihn an. Das Gesicht erhellte sich, die Lippen öffneten sich leicht und entblößten ein strahlend weißes Gebiss mit ausgeprägten Eckzähnen. „Wenn der König befiehlt, dann müssen seine Untertanen gehorchen. Ein Jäger ebenso wie ein Soldat.“
Corvin nickte nur.
„Wie viele Wölfe habt Ihr schon erlegt?“
„Noch nicht genügend, um der Plage Herr zu werden“, erwiderte er. „Ihr werdet mich entschuldigen, Graf von Lupatus, ich habe noch zu tun.“ Elegant verneigte er sich und wollte gehen.
„Darf ich Euch begleiten?“ Matthis trat näher, so dass Corvin ihn riechen konnte. Seine Nase war von jeher ein sehr ausgeprägter Sinn. Zedernholz. Eine sehr angenehme Note, die sich mit einem warmen Eigengeruch des Mannes zu einem Duft verband, den er gerne länger eingeatmet hätte.
Verwirrt schüttelte er innerlich den Kopf. „Ich inspiziere Fallen, eine nicht sehr aufregende Tätigkeit.“
„Oh, das macht nichts. Ich würde mich gerne ein wenig bewegen nach der langen Fahrt in der Kutsche.“
Ergeben nickte Corvin, dem durchaus bewusst war, dass er den Wunsch eines Grafen nicht einfach ablehnen konnte.
Mit einem inneren Schmunzeln nahm er die widerwillige Zustimmung Corvins zur Kenntnis. Matthis folgte dem Mann, der mit gestrecktem Rücken vor ihm her zu den Stallungen ging. Die schwarzen Haare waren der Mode entsprechend im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst und mit einem schwarzen Band umwickelt. Corvin war bestimmt einen halben Kopf kleiner als er selbst, doch aufgrund seiner Haltung wirkte er größer.
Sie hatten die Stallung noch nicht erreicht, da führten ihnen zwei junge Stallburschen gesattelte, rotbraune Pferde mit fast schwarzen Mähnen entgegen.
„Ich brauche Euch wohl nicht zu fragen, ob Ihr reiten könnt?“ Spöttisch sah Corvin ihn über die Schulter an.
„Oh, Reiten wird uns quasi in die Wiege gelegt“, erwiderte Matthis und schenkte Corvin ein strahlendes Lächeln, das mit einer hochgezogenen Augenbraue erwidert wurde.
„Nehmt Ihr keinen Eurer Jäger mit? Und wenn Ihr tatsächlich einen Wolf gefangen habt?“ Matthis bewunderte die elegante Bewegung, mit der Corvin sich auf das Pferd schwang.
„Nein, sollte sich einer in eine der Fallen verirrt haben, holen sie ihn später“, sagte Corvin und sah ihm beim Aufsitzen zu. „Aber bisher haben wir auf diese Weise noch keinen Wolf gefangen.“
„Hm, man sagt, dass Wölfe sehr intelligente Geschöpfe sind, vielleicht sind sie zu klug für Eure Fallen“, sagte Matthis.
„Ja, das wäre durchaus möglich“, sagte Corvin mit ernstem Gesicht und trieb sein Pferd an.
Die Fallen standen an strategisch ungünstigen Stellen und Matthis fragte sich, wer diese aufgestellt hatte. Derjenige konnte keinerlei Ahnung von den Gewohnheiten der Tiere haben. Trotzdem saß in einer ein kleiner Wolf. Er konnte nicht sehr alt sein, gerade der mütterlichen Fürsorge entwachsen. Mit eingezogenem Schwanz hockte er in der Ecke des Käfigs und knurrte die beiden Männer an.
„Hm, ich hoffe, dies sind nicht die wilden Bestien, die Ihr jagt.“ Matthis stieg vom Pferd und ging zu dem Käfig.
„Nein, gewiss nicht!“ Corvin saß ebenfalls ab.
„Dann kann ich ihn herauslassen.“ Matthis öffnete den Käfig, bevor Corvin etwas einwenden konnte.
„Nun, vorsichtig, denn auch die kleinen Exemplare sind schon aggressiv und bissig.“
Der kleine Wolf verstummte und betrachtete mit schräg gelegtem Kopf den Mann, der sich vor den Käfig kniete. Vorsichtig näherte er sich der Öffnung mit zurückgelegten Ohren, gesenktem Kopf und geschlossenem Maul. In geduckter Haltung schlich er an Matthis vorbei. Dieser konnte nicht widerstehen, griff in das weiche, graue Fell und ließ seine Hand hindurchgleiten.
Als er die Hand wegzog, sah ihm das Tier ein letztes Mal in die Augen, ehe es in Richtung Wald verschwand.
Matthis drehte sich um und sah Corvins ungläubigen Blick, der auf ihm ruhte. Langsam erhob er sich, klopfte Staub von seiner Hose.
„Wie habt Ihr das gemacht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Schon immer habe ich eine besondere Beziehung zu Hunden, offensichtlich auch zu ihren Vorfahren. – Nicht dass ich es mir wünsche, aber hättet Ihr den kleinen Wolf nicht töten müssen? Aus einem kleinen Wolf wird ein großer.“
„Nein, an diesem Tier hatte ich kein Interesse“, sagte Corvin mit abschätziger Handbewegung. „Ihr habt dieses Talent schon immer? Hunde vertrauen Euch? Folgen Euch?“
Wieder ein Schulterzucken. „Meist ja. Ein Jäger erklärte mir einmal, es könne an einem Geruch liegen, den ich absondere, den nur die Hunde wahrnehmen.“ Matthis lachte. „Gut zu wissen, dass dies auch bei Wölfen wirkt.“
Immer noch musterte ihn Corvin. Ihre Blicke begegneten sich und Matthis spürte ein seltsames Ziehen in seiner Brust, wie der Stich einer feinen Nadel durch sein Herz. Er wandte sich ab und saß wieder auf.
„Was für Wölfe jagt Ihr denn, Corvin Venatoris? Wodurch unterscheiden sie sich von dem kleinen Exemplar, dem Ihr das Leben geschenkt habt?“
„Das ist nicht einfach zu erklären. – Lasst uns weiterreiten, wir haben bis zum Mittag noch fünf Käfige zu kontrollieren.“
Nachdenklich sah Matthis ihm hinterher. Es schien, als seien die Dinge komplizierter als angenommen.
Das alte, stinkende Fleisch rührten sie nicht an, nur das Wasser tranken sie – mussten sie trinken. In dieser Gestalt fiel ihnen das Hungern nicht schwer und wandeln durften sie sich nicht. Darauf wartete der Bastard nur! Doch sie würden ihm keinen Beweis ihrer Existenz geben!
Cajus quälte die Angst vor dem, was der verdammte Jäger Andres antun würde, um an ihr Geheimnis zu kommen. Corvin Venatoris hatte augenblicklich erkannt, was der Weg an ihr Wissen – nein, ihre wahre Gestalt war.
Beide würden sie eher sterben, als dass sie ihre Brüder verrieten, doch wie lange würden sie durchhalten, wenn das Leben des Geliebten bedroht war?
Eigener Schmerz war erträglich, doch konnte er Andres’ Schmerz ertragen?
Sanft leckte er über die Schnauze des Gefährten, dieser hob müde den Kopf, in seinen Augen konnte Cajus die Erschöpfung erkennen.
Ihm war bewusst, dass er es nicht ertragen könnte, wenn Corvin Hand an Andres legen würde. Doch wie sollte er es verhindern?
Der kleinere Wolf legte seinen Kopf auf Cajus’ Pfoten. Erinnerungen überfielen Cajus, an die Zeit, als Andres sich weigerte zu erkennen, was er war, wer er war.
Sie waren in demselben Dorf aufgewachsen, er der Sohn des Schmieds, Andres der Sohn des Müllers. In seinem fünfzehnten Sommer überkam ihn die Unruhe, er konnte in den Nächten kaum schlafen und in den Vollmondnächten wurde es besonders schlimm. Ihm war, als würde ihn jemand rufen. Die Schlaflosigkeit machte ihm zu schaffen, sie hinterließ dunkle Ringe unter seinen Augen und er hatte wenig Kraft für seine Aufgaben in der Schmiede.
Eines Nachts, der Vollmond erhellte sein Zimmer, hörte er das Jaulen der Wölfe. In seiner Brust wuchs ein undefinierbares Verlangen. Wie rasend trieb es ihn aus dem Haus, er rannte in den Wald – und begegnete den Wölfen. Unter ihnen war Hildulf, ein großer, dunkelgrauer Wolf. Von ihm erfuhr Cajus, wer er wirklich war, was er war und wie er damit umging.
Seine Familie wollte Cajus nicht verlassen, also verbarg er vor ihnen seine zweite Gestalt. Auch wenn Hildulf ihm prophezeite, dass er dies auf Dauer nicht durchhalten könne.
Am Anfang fiel das Cajus nicht schwer. Tagsüber war er Cajus, der Sohn von Hardo, dem Schmied, nachts Cajus, der Wolf.
Bis er in Andres seinen Gefährten erkannte.
Sie kannten sich schon lange, auch wenn Andres drei Jahre jünger war als er, im Alter seiner Schwester. Im Dorf waren sie sich hundertmal begegnet, hatten den Gruß miteinander gewechselt, doch nie war etwas anderes zwischen ihnen als reine Freundlichkeit. Bis zu jenem Tag – oder jener Nacht der Sommersonnenwende. Die Feuer brannten, die Alten erzählten Geschichten und alle feierten.
Es war eine besondere Nacht, der Vollmond beleuchtete das bunte Treiben, die Musik und den Tanz. Die Männer tanzten wie seit ewigen Zeiten den Wolfstanz, um die Bestie von ihrem Dorf und ihrem Vieh fernzuhalten.
Cajus verließ das Fest, ging ein paar Schritte in Richtung des Weihers, der silbern im strahlenden Mondlicht glänzte. Ein Mann stand am Ufer des Gewässers. Cajus trat neben ihn und erkannte Andres. Dieser hob den Blick, ihre Augen begegneten sich und Cajus fühlte etwas Neues, Großes in seiner Brust. Der Mond spiegelte sich in den dunklen Augen, lockte ihn, rief ihn. Wortlos trat er näher, hob das Gesicht, studierte jede Einzelheit. Verfiel dem, was er sah. Nie hatte er einen schöneren Mann gesehen, nie jemand sein Herz auf diese Weise berührt.
Ohne einen Gedanken zu verschwenden, küsste er die Lippen, die so verführerisch aussahen. Für einen Moment wurde sein Mund willkommen geheißen, ehe Andres ihn von sich stieß.
„Was tust du?“, fragte ihn Andres verstört. Mit einem Mal wusste er, dass der andere wie er selbst war. Ein Wolf, ein Gestaltwandler.
„Ich küsse dich“, erwiderte er so selbstverständlich, wie diese Geste für ihn gewesen war.
„Du bist verrückt!“ Mit einer Hand wischte sich Andres über den Mund.
„Du bist wie ich“, entgegnete Cajus mit absoluter Sicherheit in der Stimme.
„Nein.“ Andres wich zurück. „Was immer du bist, ich bin es nicht!“ Und schon rannte er, zurück zu den Feiernden, zurück ins Licht.
Cajus starrte ihm hinterher, fühlte einen irrationalen Verlust.
„Er weigert sich, zu sein, was er ist.“ Hildulf war neben ihn getreten. „Seit einiger Zeit kämpft er gegen den Wolf in sich.“
„Warum?“
„Weil er ein Mensch sein möchte. Weil er Angst hat vor dem Tier in sich. Er kann den Wolf spüren, er ruft in ihm.“ In seiner menschlichen Gestalt war Hildulf groß und schlank, sein Haar weiß, durchzogen von Resten des einstigen Schwarz. „Viele Männer kämpfen gegen den Wolf, verleugnen ihn, verdrängen ihn in die hinterste Ecke ihres Seins. Niemals werden sie glücklich, immer einsam und zerrissen.“ Der ältere Mann seufzte. „Ich sah viele zerbrechen bei dem Versuch, nicht ihrer Bestimmung zu folgen. – Wir können es uns nicht aussuchen, wir werden geboren, wie wir sind.“
„Wird er mich verraten?“
„Ich weiß es nicht.“ Hildulf zuckte mit den Schultern. „Wir haben ihn gerufen, doch er hat sich verweigert. Sein Wille ist stark, er wird ein prächtiger Wolf, wenn er den Widerstand aufgibt. – Doch vielleicht treibt ihn die Angst dazu, dich zu verraten. Du solltest darauf vorbereitet sein, zu fliehen.“
Andres verriet ihn nicht, doch er beobachtete ihn. Je öfter Cajus den jungen Mann sah, desto mehr zog es ihn zu ihm. Sein Wolf wurde unruhig, sobald er Andres nahe kam. Er konnte ihn in seiner Brust spüren. Bewusst versuchte er Andres aus dem Weg zu gehen. Doch in jeder Nacht schien ihn der andere zu rufen, unbewusst, aber für Cajus nicht zu überhören.
Jede Nacht lief er in den Wald, suchte die Wölfe, versuchte sich in ihrem Rudel abzulenken. In seiner menschlichen Gestalt gab er sich anderen Männern, die wie er waren, hin, versuchte für einen von ihnen das gleich starke Sehnen zu spüren, das Andres in ihm auslöste, doch die Begegnungen blieben schal und für seine Seele unbefriedigend.
„Der Wolf liebt nur einmal. Wir haben nur einen Gefährten, der für uns geschaffen ist, der uns ergänzt. Andres scheint dein Gefährte zu sein.“
Mit Hildulf saß er im Wald, betrachtete den zur Hälfte gefüllten Mond und lauschte den Worten, die bestätigten, was sein Herz längst wusste.
„Und wenn er sich für immer verweigert?“
„Dann bleibt dein Sehnen unerfüllt, dein Herz schwer und dein Leben einsam.“
Was für Aussichten!
In der folgenden Nacht schlich er sich zu der Mühle, die Andres’ Vater Ubald gehörte. Lautlos umschlich er das Haus, wartete auf den Augenblick, mit Andres reden zu können. Er musste ihm sagen, was er fühlte.
Zwei Wochen lang stand er jeden Abend versteckt im Gestrüpp und starrte auf das Gebäude, hörte das Mühlrad gleichmäßig im Lauf des Baches plätschern. Sein Wolf rief mit jeder Nacht lauter nach dem Gefährten. In seiner Kehle konnte er den Ruf spüren.
Als der Mond erneut rund und gelb am Himmel stand, konnte er ihn nicht zurückhalten. Der Wolf rief laut durch die Dunkelheit nach seinem Gefährten, nach Andres.
Ubald kam mit einem Knüppel bewaffnet heraus, schrie laut durch die Nacht: „Verschwindet, räudiges Pack!“
Cajus konnte sich im ersten Moment nicht rühren; im Licht der Tür, hinter der Gestalt des Müllers, sah er Andres. Der Wolf übernahm sein Denken, verließ die Schatten, bewegte sich auf den jungen Mann zu, als ihn ein Schlag mit dem Knüppel traf. Jaulend wich er einem zweiten Hieb aus, kam nicht auf die Idee, den wütenden Mann anzugreifen, denn nur Andres, sein Geruch, den er wahrnehmen konnte, füllte sein Verstand. Vielleicht sollte er sich erschlagen lassen, anstatt dieses reißende Sehnen zu spüren.
Der nächste Schlag erwischte ihn wieder, doch er kroch weiter auf den jungen Mann zu, der ihn anstarrte. Sein Kopf wich dem folgenden Hieb aus, doch seine Schulter wurde getroffen, er sackte zur Seite. Triumphierend hob der Müller den Knüppel weit über den Kopf und wollte das Leben aus dem räudigen Wolf prügeln, als sich Andres dazwischenwarf.
„Nein, Vater, nicht.“ Schützend breitete er seinen Körper über dem Wolf aus. „Tu ihm nichts.“
„Bist du verrückt, Andres? Das ist die Bestie, die im Dorf die Lämmer reißt. Es ist meine Pflicht, ihn zu töten.“ Grob griff der Mann nach Andres.
Cajus knurrte, er zog die Lefzen zurück, zeigte dem Müller sein Gebiss. Niemand rührte seinen Gefährten an.
„Nein, er ist nicht …“ Andres warf sich in den Arm des Vaters, als dieser erneut zuschlagen wollte. „Verdammt, Wolf, lauf!“
Cajus verharrte, gefangen zwischen weglaufen und Andres schützen.
„Lauf, er tut mir nichts“, versicherte der junge Mann. „Bitte.“
Ehe der Müller sich aus dem Griff seines Sohnes befreit hatte, drehte sich Cajus um und verschwand im Wald.
Doch er blieb in der Nähe, betrachtete das Haus. Ubald hatte Andres mit in das Haus gezerrt und Cajus hörte ihn fluchen. Gerne hätte er sich genähert, doch er traute sich nicht, wollte den Mann nicht provozieren.
Erst als die Dämmerung begann den Himmel rosig zu färben, öffnete sich die Tür und Andres kam heraus. Ohne zu zögern, lief er auf Cajus zu.
„Verdammter Wolf, was willst du hier? Ich bin nicht wie du! Verschwinde!“ Wütend sah ihn Andres an, doch Cajus spürte, dass sich etwas dahinter verbarg. Unsicherheit … und tief verborgene Sehnsucht.
Cajus wandelte sich, zeigte dem jungen Mann seine menschliche Gestalt. Andres erschrak nicht, rannte nicht weg, sondern sah ihn nur an.
„Du gehörst zu mir!“, sagte Cajus.
„Nein!“ Wild schüttelte der junge Mann den Kopf. „Niemals!“
„Warum willst du nicht auf dein Herz hören?“
„Ich höre, aber es sagt nichts!“
Cajus überwand die Distanz zwischen ihnen, zog Andres in seine Arme und küsste ihn. Überrascht ließ dieser ihn gewähren.
Die Verbindung ihrer Lippen war eine Explosion in Cajus. Gefühle durchströmten ihn, fluteten jede Ecke seines Körpers, erzählten von Andres, verankerten ihn unlösbar in seiner Seele. Hungrig legten sich seine Arme um den schlanken Körper, vergrub sich eine Hand in den vollen, dunklen Haaren. Dies war sein Mann, sein Gegenstück, die Ergänzung seiner Seele, seines Lebens.
Wie mit einem Eimer Wasser übergossen fühlte er sich, als Andres ihn von sich stieß. Keuchend, mit geröteten Wangen, völlig aufgelöst sah der junge Mann auf Cajus.
„Ich …“ Andres’ Stimme krächzte, er räusperte sich. „Ich bin nicht wie du! Ich will es nicht sein! Ich werde es niemals freiwillig sein!“
Der Geruch, den er verströmte, sagte Cajus etwas anderes. Mit einem Schritt war er wieder bei Andres. „Egal was du sagst oder tust, du gehörst zu mir!“
Ein letzter Kuss, Cajus drehte sich um, wandelte sich in der Bewegung und lief in den Wald.
Im Dorf mied ihn Andres in den folgenden Tagen, Wochen. Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, spürte Cajus seinen Blick. Der Wolf in ihm lief Amok, wollte den Mann unbedingt, doch er hielt ihn zurück, wachte jede Nacht über den Schlaf des Gefährten.
Der nächste Vollmond kam und Cajus hatte das Gefühl, seinen Wolf nicht mehr lange unter Kontrolle halten zu können. Er wollte unbedingt zu Andres. Er jaulte und wand sich in seinem Inneren. Nur schwer konnte er ihn beherrschen.
In dieser Nacht hielt er sich von Andres’ Haus fern, schlich durch die Wälder, mied alle Wölfe. Er lief, rannte, jagte, nur um nicht zur Ruhe zu kommen.
Der Schrei, der die scheinbare Stille des Waldes durchbrach, traf ihn mitten ins Herz. Andres!
Cajus rannte los, flog förmlich über den unebenen Boden. Schon bald roch er die Angst seines Gefährten. Ein letzter Satz über einem kleinen Bachlauf, durch dorniges Gestrüpp auf eine Lichtung.
Ins Mondlicht getaucht stand der Mann, dem sein Herz gehörte, einem Wolf gegenüber. Kein Wandler. Mit einem Sprung landete er vor Andres. Knurrend wandte er sich dem Wolf zu. Sein Fell sträubte sich, er bleckte die Zähne.
Das Tier war kleiner als der Wandler und nicht hungrig genug, sich mit ihm anzulegen. Nach einigen Momenten des Starrens senkte sich seine Schnauze und er verschwand im Wald.
Einen Moment noch verharrte Cajus, dann wandelte er seine Gestalt.
„Bist du verrückt?“ Wütend drehte er sich zu Andres um, der blass und schwer atmend vor ihm stand.
„Ich …“ Andres sah ihn an. Auf einmal bedurfte es keiner Worte mehr. Cajus zog ihn in seine Arme, küsste ihn und Andres ließ sich hineinfallen. Seine Kapitulation war komplett. Er öffnete sich und seine Seele Cajus.
Seit diesem Moment waren sie nie wieder getrennt gewesen.
Und nun lagen sie in diesem Käfig, eingesperrt von einem Mann, der sie letztlich töten würde. Angst füllte Cajus’ Herz, nicht um sich, sondern um den geliebten Gefährten.
Texte: © Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: © Coverbild by Bonnyb. Bendix und © Pixabay
Cover: © Samjira
Lektorat: Mimi Guth / Monika Schmid / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2018
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