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Himbeersirup

 

Nathan

 

Nathan stand vor dem Spiegel und starrte sich grimmig auf die Nase, wodurch er zwangsläufig schielte. Der Pickel auf seiner Nasenspitze, der über Nacht dort in der Größe des Mount Everest gewachsen war, störte sich an seinem finsteren Blick allerdings nicht im Geringsten. Warum ausgerechnet heute?

Seufzend wandte er sich ab. War es nicht so etwas wie unabänderliches Schicksal? Immer wenn er gut aussehen wollte, lagen entweder seine Haare nicht, seine Mutter hatte seine Lieblingsklamotten nicht gewaschen oder einer dieser lästigen Pickel wuchs über Nacht zu einem glühend roten Vulkan in seinem Gesicht.

Dabei würde Holger ihn heute zum Monster-and-Beast-Wochenende mitnehmen. Dem Rockfestival des Jahres oder – wenn man Holger glauben wollte – des Jahrzehnts.

Drei Tage lang, von Freitag bis Sonntag, würden sie auf dem Gelände rund um den Baggersee campen und sich die verschiedenen Bands ansehen und anhören. Nathan wusste nicht, ob es ihm gefallen würde, in einer Menschenmenge vor der Bühne eingequetscht zu werden. Bisher hatte er keine Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen.

Seit einem Monat war er siebzehn und eigentlich wollte ihre Mutter ihn gar nicht mitfahren lassen. Nur weil Holger ihr hoch und heilig versprochen hatte, auf ihn aufzupassen, ließ sie sich überreden.

Diese Entscheidung war zu einem großen Teil der Tatsache geschuldet, dass sie keine Ahnung davon hatte, wie es bei solch einem Festival zuging und wie gering die Chancen waren, dass Holger ihn die ganzen 72 Stunden im Auge behalten konnte. Oder wollte.

72 Stunden Freiheit! Die Vorstellung kribbelte in seinem Magen. Seine Mutter bewachte ihn normalerweise mit Argusaugen. Nicht nur, weil er das Nesthäkchen der Familie war, wäre er im Alter von drei Jahren fast an einer Lungenentzündung gestorben. Auch in den folgenden Jahren war er sehr anfällig und litt häufig unter grippalen Infekten. Das Trauma dieser Erfahrungen kompensierte sie mit einem Übermaß an Fürsorge und Ängstlichkeit.

Holger war mit 28 Jahren der älteste der Geschwister. Grete und Emilia waren 26 Jahre, Minna 23 Jahre alt und damit immerhin noch sechs Jahre älter als Nathan.

Seine Mutter war gerade vierzig geworden, als Nathan auf die Welt kam und sein Vater beschloss, dass fünf eindeutig einer zu viel war und drei Wochen nach seiner Geburt in einer Nacht-und–Nebel-Aktion die Familie verließ.

Aus all diesen Gründen wurde Nathan von seiner Mutter bewacht wie Rapunzel in ihrem Turm. Wenn Holger und Grete sich nicht ab und zu für ihn eingesetzt hätten, dann hätte er noch immer nicht gewusst, wie eine Disco von innen aussah oder wie ein Bier schmeckte.

Dass Nathan Holger begleiten durfte, ließ auf totale Unwissenheit seitens ihrer Mutter schließen.

 

Schnell noch das schwarze T-Shirt übergezogen und er war fertig. Besonders eitel war Nathan im reellen Leben nicht. Mit einer Größe von 173 cm und einem Gewicht von knapp 60 Kilo war er eher ein Leichtgewicht und an seinem Gesicht gefielen ihm eigentlich nur die dunkelgrauen Augen. Seine Nase fand er zu dick und seine Wangen hingegen zu schmal. Die Augenbrauen waren buschig und seine mittelbraunen Haare langweilig.

Mit etwas gutem Willen konnte man Nathan mit dem Adjektiv durchschnittlich beschreiben.

Aber eigentlich fuhr er nicht zum Monster-and-Beast-Festival, um gut auszusehen, sondern um ein wenig Freiheit zu genießen. Niemand, der ihn dauernd bemutterte, ihm Schal und Mütze hinterhertrug oder ihn alle drei Sekunden fragte, ob es ihm gut ginge.

Wenn es nach seiner Mutter ginge, würde er in einem Wattebausch aufwachsen. All das würde er die nächsten Tage hinter sich lassen!

Gutgelaunt trat er aus dem Bad.

 

„Dir ist schon klar, Zwerg, dass du dort kein Badezimmer hast, in das du dich eine Stunde lang zurückziehen kannst?“, fragte Holger, der mit einem Grinsen im Gesicht vor der Tür stand. Schnell streckte er ihm die Zunge raus. „Komm in die Hufe. Wir wollen los!“

Nathan nickte, zog seine Jeansjacke über und schulterte seinen kleinen Rucksack. Ihre Mutter stand neben der Tür und sah besorgt aus.

„Und pass gut auf Nathan auf, Holger. Du weißt, er ist nicht so stabil wie du.“

„Mach dir keine Sorgen, Mama“, entgegnete sein Bruder und drückte ihre Mutter an sich. „Dem Kleinen wird schon nichts passieren.“

Danach kam er an die Reihe. Zärtlich strich sie ihm durch die Haare. Verdammt, wie hasste er das. Konnte sie nicht ein bisschen Rücksicht auf seine Frisur nehmen?

„Und du hörst auf deinen Bruder, ist das klar?“

Ergeben nickte er.

„Und trink nicht so viel. Du bist Alkohol nicht gewöhnt. – Und nimm nicht irgendwelche Pillen.“ Ihre Finger zupften an seiner Jacke.

„Ja, Mama“, sagte er und hoffte, nicht so genervt zu klingen, wie er sich fühlte. Sie liebte ihn und konnte nicht anders.

„Wir müssen los. Bruno und Matze warten.“ Holger griff seinen Arm und zog ihn aus der letzten Umarmung ihrer Mutter. „Wir sind am Sonntag wieder da. Heil und unversehrt.“

In den Augen seiner Mutter konnte er den Zweifel und die Sorge lesen.

 

Bei brühender Hitze kamen sie am Nachmittag bei der riesigen Wiese neben dem Baggersee an. Menschenmengen, wohin man sah. Viele von ihnen in Leder gekleidet, mit Körpern voller Tattoos.

Der Zeltplatz wirkte auf Nathan jetzt schon überfüllt und er fühlte sich angesichts des herrschenden Chaos leicht überfordert.

Zielsicher steuerte Holger einen Halbkreis aus vier Zelten in der Nähe einer großen Eiche an. Freudig begrüßten er und seine beiden Freunde die dort schon Zeltenden.

„Das ist mein kleiner Bruder Nathan.“ Holger zog ihn in seinen Arm. „Es ist sein erstes Festival, also alle ein bisschen aufpassen, damit er uns nicht verloren geht.“

Nathan errötete unter den Blicken und dem Grinsen der anderen. Als ob er noch ein Baby wäre. Energisch löste er sich aus der Umarmung.

„Ich kann schon auf mich alleine aufpassen“, grummelte er und wandte sich ab.

 

Am Abend musste er zugeben, dass ihn die Menschenmenge beeindruckte und er froh war, dass Holger ihn überall mit hinnahm und für ihn darauf verzichtete, ganz dicht vor der Bühne zu stehen, da Nathan schnell gemerkt hatte, dass die Enge ihm zu viel war.

Nach zwei Bier überkam ihn gegen 23:00 Uhr die Müdigkeit. Im Gegensatz zu Holger und den anderen. Sie schienen erst jetzt richtig aufzudrehen. Nathan wollte sich ein wenig hinlegen. Seine Ohren dröhnten und ein leichtes Ziehen füllte seinen Kopf.

Verstohlen gähnte er und sah sich um. Menschen, so weit das Augen sehen konnte.

„Ich bring dich zum Zelt.“ Holger nahm ihn am Ellenbogen. „Schlaf einfach ein bisschen und wenn du dich besser fühlst, kommst du zurück. – Oder wir sehen uns morgen früh.“

Nathan nickte. Offensichtlich war er für eine solche Veranstaltung nicht geschaffen!

Holger brachte sie zu dem Zeltplatz. „Dahinten, unter der Eiche. Nur noch ein paar Schritte.“ Aufmunternd klopfte er ihm auf die Schulter.

„Wo genau?“

„Geradeaus. Hinter dem großen weißen Zelt, noch ein paar Schritte. Unter der großen Eiche. Du machst das schon, Kleiner.“ Und schon war er wieder weg.

Nathan war sich da gar nicht sicher. Langsam machte er sich auf den Weg. Hier und da brannten Lagerfeuer vor den Zelten, Gruppen saßen in dem flackernden Schein zusammen, lachten und tranken. Vor ihm war eine größere Gruppe, die lautstark diskutierte. Sie wirkten auf ihn alarmierend und er beschloss, sie zu umgehen.

Er schlug einen Bogen, wich Zelten und Menschen aus, die einfach davor lagen, einige schnarchten. Immerhin lebten die noch. Bei einem anderen war er sich nicht ganz sicher.

Ein Mädchen torkelte gegen ihn, blies ihm ihren Atem ins Gesicht und Nathan fragte sich, ob man von dem Atem anderer Leute besoffen werden konnte.

„Wo is’n das Klo?“, fragte sie undeutlich und Nathan zeigte vage hinter sich. Irgendwo da im Dunkel standen ein paar Dixie-Klos.

„Danke“, flüsterte sie und rülpste herzhaft, bevor sie in die angegebene Richtung schwankte.

 

Wo war nur dieses verdammte Zelt geblieben? Nathan versuchte sich zu orientieren, doch es gab sowohl links als auch rechts von ihm einen großen Baum. Welcher war die Eiche, die er suchte? Überall um ihn herum waren die dunklen Silhouetten von unbeleuchteten Zelten zu erahnen. Wie sollte er ohne Licht ihr Zelt finden?

 

Kurzentschlossen entschied er sich für die linke Seite und ging weiter in die Richtung. Und wenn er sich irrte? Dann würde er aller Voraussicht nach die ganze Nacht hier herumirren. Mit einem Seufzen tastete er sich vorsichtig weiter.



Krister

 

„Du willst mit diesem Fuß auf ein Rockfestival gehen? Krister, du hast einen Knall!“ Seine Mutter starrte ihn an.

„Das ganze Jahr habe ich mich darauf gefreut, dann lasse ich mir den Spaß doch nicht verderben“, antwortete er und zog seine Weste über. „Das wird schon irgendwie gehen!“

Vorsichtig humpelte er unter dem spöttisch-kritischen Blick seiner Mutter zur Tür.

„Na ja, du bist alt genug.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wenn es nicht geht, wirst du halt das ganze Wochenende in eurem Zelt sitzen.“

Statt einer Antwort schnaubte er nur.

„Ich hab dich auch lieb, mein Großer.“ Mit einem Lachen durchwühlte sie seine blonden Haare und sprang schnell einen Schritt zurück, bevor er sie erreichen konnte.

Der Ton der Türglocke, die die Ankunft seiner beiden Freunde Sönke und Piet ankündigte, enthob ihn einer Antwort.

 

Ein paar Stunden später konnte er zugeben, dass es eine Scheißidee gewesen war, mit dem geprellten Fuß hierherzukommen! Gestern beim Einräumen der Regale im Supermarkt war ihm ein Karton mit Raviolidosen auf den Spann gefallen. Seine Mutter bekäme einen Lachflash, wenn er ihr erzählte, dass er nicht eine Band gesehen hatte, weil es ihm unmöglich war, längere Zeit zu stehen. Nur mühsam unterdrückte er den wütenden Fluch, der ihm auf den Lippen brannte.

Da arbeitete er drei Tage die Woche in diesem blöden Supermarkt, um sich ein paar Dinge, wie zum Beispiel dieses Wochenende, leisten zu können und nun war der doofe Job schuld daran, dass er nichts davon hatte.

Krister saß mit einer Gruppe von zugedröhnten Motorradfahrern zusammen und starrte missmutig in die Flammen. Untätigkeit hasste er schon immer. Länger als fünf Minuten konnte er auch als Kind nicht stillsitzen. Schon frühzeitig erkannte seine Mutter, dass es keine andere Möglichkeit gab, ihn ruhigzustellen, als ihn mit Sport zu beschäftigen. Nach ersten Versuchen beim Turnen, Fuß- und Handball stellte er bald fest, dass Laufen seine Sportart war – und Weitsprung.

Das würde für einige Zeit wohl ausfallen. Seufzend sah er sich um. Piet und Sönke waren natürlich zur Bühne gegangen und er saß hier mit diesen Idioten, die er gar nicht kannte.

Schwerfällig stand er auf und humpelte ein paar Schritte. Vielleicht war es wenigstens möglich, angenehmere Gesellschaft zu finden.

Krister trat zwischen zwei Zelten vor und ein kleiner, dunkler Schatten rannte in ihn hinein. Aufgrund seiner mangelnden Standfestigkeit hatte er keine Chance, den Aufprall abzufangen, und sie stürzten auf den Boden.

„Oh, Entschuldigung“, hauchte das Wesen und rappelte sich auf. Für einen Augenblick befürchtete Krister, dass der Junge – er nahm an, dass es einer war – weglaufen würde, doch er blieb stehen und hielt ihm die Hand hin.

Mit einem Schmunzeln griff er danach und stemmte sich mit Hilfe des Fremden hoch. Das zierliche Wesen brach dabei fast zusammen.

„Alles okay?“, fragte der andere. Er war ungefähr einen halben Kopf kleiner als Krister und ganz dunkel gekleidet, mit dunklen Haaren, die in sein schmales Gesicht fielen. Mehr war nicht zu erkennen.

„Geht schon“, antwortete Krister, bevor er den Fuß belastete und einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken konnte. Verdammt, wahrscheinlich hatte er den blöden Fuß jetzt auch noch verdreht.

Mit einem Satz war der Junge neben ihm und stützte ihn. Der Geruch von Zitrusfrüchten gemischt mit einem angenehmen Eigengeruch stieg ihm in die Nase.

„Oh, Mist, war ich das? Das tut mir so schrecklich leid!“, murmelte der Kleine und schlang seinen Arm um Kristers Taille. „Ich habe nicht aufgepasst, weil ich das dämliche Zelt nicht finden kann.“

„Du findest dein Zelt nicht?“, fragte Krister belustigt.

„Sehr witzig!“, seufzte der Junge. „Ich habe keinen guten Orientierungssinn und musste so einer Gruppe Idioten ausweichen. Es ist irgendwo bei den Eichen.“ Mit der freien Hand zeigte er auf die Bäume vor ihnen.

„Welche Farbe? Irgendwelche Besonderheiten? Hast du überhaupt eine Taschenlampe?“

„Taschenlampe – nein. Farbe – dunkelgrün. Und es steht mit vier anderen im Halbkreis um diesen doofen Baum.“

„Hilf mir mal kurz da rüber, zu dem großen Zelt.“ Krister deutete auf ein Zelt ein paar Meter weiter. Ohne zu fragen, ging der Junge neben ihn und stützte ihn.

„Wie heißt du?“

„Nathan. – Und du?“

„Krister. – Und bevor du fragst, das ist ein schwedischer Vorname. Mein Großvater ist Schwede.“

Sie waren bei dem Zelt angekommen und Krister krabbelte hinein. Zum Glück hatte er die Taschenlampe gleich neben dem Eingang abgestellt. Rückwärts schob er sich wieder hinaus und stemmte sich hoch. Sofort war Nathan da und legte seinen Arm um ihn. Das fühlte sich irgendwie gut an. Der Kleinere passte genau unter seinen Arm.

„Dann wollen wir mal sehen, ob wir dein Zelt nicht finden können.“

 

Die Suche war mühsam. Zum einen, weil Krister das Laufen schwerfiel, zum anderen, weil der Platz völlig überfüllt war. Von den Bühnen schallte dumpf die Musik herüber. Der Großteil der Menschen, die ihnen begegneten, schien auf irgendeine Art betäubt zu sein.

Endlich fanden sie den richtigen Baum und das richtige Zelt. Innerhalb des kleinen Kreises war es völlig still. Alle waren noch unterwegs.

„Danke.“ Nathan löste sich von Krister.

„Kein Problem. – Kann ich meinen Fuß noch einen Moment ausruhen, bevor ich wieder zurückhumple?“

„Oh, klar. Setz dich.“

Krister hätte gewettet, dass Nathan rot geworden war. Gerne hätte er den anderen, der so gut roch, gesehen.

Dass er auf Männer stand, wusste er seit er vierzehn war. Ob Nathan schwul war, konnte er nicht sagen. Überhaupt hatte er kein ausgeprägtes Radar für andere Schwule. Was aber vielleicht auch an seiner mangelnden Erfahrung lag.

Auch wenn seine Familie wusste, dass er schwul war, war es in dem kleinen Dorf, in dem sie lebten, schwer, Gleichgesinnte zu finden. Bis auf ein kurzes Intermezzo mit einem Freund seines Bruders verfügte Krister über keinerlei Erfahrungen.

Nathan hatte einen kleinen Klappstuhl aus dem Zelt gekramt.

„Nee, die Erde reicht.“ Krister ließ sich auf den Boden plumpsen. Einen Moment zögerte Nathan, dann setzte er sich neben ihn. Um sie herum waren die verschiedensten Geräusche zu hören.

„Magst du etwas trinken?“, durchbrach Nathan die Stille.

„Gerne.“

„Bier? Oder Cola? Oder Cola mit Rum?“

„Cola wäre gut.“

Nathan kroch in das Zelt und kam mit zwei Pappbechern und einer Flasche Cola wieder zurück.

Das Sitzen auf dem harten Boden war nicht wirklich bequem. Krister hatte sich nach hinten gelehnt und stützte sich mit dem Ellenbogen auf. Nathan kam auf seinem Weg aus dem Zelt dicht an ihm vorbei und er genoss den Duft, der den anderen umgab. Alle seine Sinne sprachen auf den Duft an und er hätte gerne ausgiebig an Nathan gerochen.

Der setzte sich im Schneidersitz neben ihn und schenkte die beiden Becher voll.

„Warum bist du hier?“, fragte er Nathan. „Ich meine, alle, die nicht voll gedröhnt sind, sind bei der Musik.“

„Ich bin mit meinem Bruder hier.“

Das erklärte nichts. Krister wartete.

„Ich hatte Kopfschmerzen und wollte mich ein wenig hinlegen.“

„Dann störe ich dich?“

„Nein!“ Die Antwort kam sofort und wieder hatte Krister das Gefühl, Nathan würde erröten.

„Was machst du, wenn du nicht hier bist?“ Während er sich weiter zurücklehnte, versuchte er möglichst viel von Nathan zu erkennen. Sein Profil sah auf jeden Fall vielversprechend aus.

 

Im Laufe der Unterhaltung taute Nathan immer weiter auf. Sie gingen beide noch zur Schule. Nathan musste noch zwei Jahre, Krister eins. Hinterher wollten sie beide studieren, waren sich aber noch nicht sicher, was es letztlich sein sollte. Über Musik, Filme und Bücher redeten sie, Computerspiele und den Geschmack von Himbeersirup.

„Du kannst das klebrige Zeug doch nicht pur trinken!“ Krister schüttelte sich bei dem Gedanken.

„Über Vanilleeis. Das schmeckt gut“, entgegnete Nathan.

„Das ist eklig.“

„Nee, lecker.“

„Glaub ich nicht! – He, was ist das?“

Dicke Regentropfen fielen ihnen auf den Kopf. Ringsum hörten sie die Leute fluchen und bevor sie überhaupt reagieren konnten, öffnete der Himmel seine Schleusen.

„Ins Zelt!“, rief Nathan und sie krabbelten so schnell wie möglich hinein.

Nathan teilte sich ein kleines Zweimannzelt mit seinem Bruder. Viel Platz gab es nicht. Krister schaltete die Taschenlampe an, damit sie überhaupt etwas sahen.

Nebeneinander lagen sie und hörten auf das Prasseln des Regens. Irgendwo krachte ein Donner.

„Scheiße, das klingt nicht gut!“ Krister hasste Gewitter!

„Ist noch weit weg. Vielleicht erreicht es uns gar nicht.“ Beruhigend legte Nathan ihm die Hand auf den Arm.

Im Licht der Taschenlampe sah er in dem engen Zelt zum ersten Mal mehr von Nathan. Feucht lockten sich die langen Haare um das sehr schmale Gesicht. Eine Stupsnase und volle Lippen. Die Beleuchtung reichte nicht, um die Farbe seiner Augen zu erkennen. Kein helles Blau auf jeden Fall. Es gefiel Krister, was er sah.

„Hoffen wir es. Ich hasse Gewitter, seit einmal der Blitz bei meinen Großeltern eingeschlagen und zwei Kühe getötet hat. Ich war gerade bei ihnen in Schweden“, versuchte er sein Unbehagen zu erklären.

Nathan sagte nichts, nur der Druck seiner Hand nahm zu. Auf einmal war nichts mehr wichtig. Nur der Blick in die dunklen Augen. War Nathan ihm näher gekommen? Und wie gut er roch! Seine Lippen sahen wunderschön aus. Geschaffen, um geküsst zu werden …

Was für Gedanken schossen durch seinen Kopf? War das wichtig? Nein. Er wollte etwas sagen und wusste nicht was. Ein Kloß saß in seinem Hals und er musste schwer schlucken.

Wie von selbst hob sich seine Hand und schob sich unter Nathans Locken, berührte die Haut. Ein Schauer überlief Nathan, er konnte ihn unter seiner Hand spüren. Sanft zog er den Kopf, das wunderschöne Gesicht näher. Kein Widerstand. Die Lippen hatten in dem Licht die Farbe von Himbeeren. Ob sie auch so süß waren? Er musste es wissen.

Ganz langsam überbrückte er die Distanz, gab Nathan die Chance zurückzuweichen, doch der sah ihm nur mit großen Augen entgegen. Sein Atem kam in kurzen Stößen, streifte Kristers Lippen. Dann endlich spürte er ihn. Weich, süß und unvergleichlich lecker.

Es war ein unschuldiger, zarter Kuss und doch war er süßer als jeder andere Kuss, den er bisher bekommen hatte.

Für einen Blick in Nathans Augen löste er sich von ihm. Hunger, Verlangen und Zärtlichkeit las er in dem dunklen Blick und senkte seinen Kopf wieder. Mehr, er wollte viel mehr von diesen himbeersüßen Lippen.

 

 

Nathan

 

Noch nie war er geküsst worden. Geträumt hatte er davon schon tausendmal; er hatte darüber gelesen und versucht es sich vorzustellen, doch nichts hatte ihn auf dieses Gefühl vorbereitet. Von der zarten Begegnung ihrer Lippen breitete es sich wie ein Flächenbrand über – in – seinem ganzen Körper aus. Einem Fieber gleich, das in einem Wimpernschlag von ihm Besitz nahm.

Vom ersten Moment an hatte ihn Krister fasziniert. Warum, konnte er nicht genau sagen, nur, dass der große und muskulöse junge Mann ihn ansprach. Seine Art zu reden, die Selbstsicherheit und Ruhe, die er ausstrahlte. Er selbst hatte sich schon ein wenig panisch gefühlt, als er dieses doofe Zelt nicht finden konnte. Doch dann war er glücklicherweise in Krister gerannt.

Und dieser Geruch, der auch jetzt in seine Nase stieg. Leder und … Krister.

Kristers Zungenspitze stieß sacht an seine Lippen, sofort ließ er sie herein. Zaghaft fragend tastete sie sich vor und er kam ihr zögernd, unsicher entgegen. Jeder einzelne Nerv führte von seiner Zungenspitze direkt in seinen Unterleib und löste auf dem Weg dahin jeden anderen Nerv aus. Das Gefühl überrollte ihn, sein Körper folgte nur noch seinem Instinkt und rutschte dichter an Krister heran. Er wollte Kontakt, brauchte Kontakt. So viel wie möglich.

Eine Hand legte sich in seinen Rücken und er wurde an Krister herangezogen. Seine Hände suchten Halt an Krister, klammerten sich an sein T-Shirt und seinen Nacken.

Sein trommelndes Herz pumpte das Blut in Hochgeschwindigkeit durch seinen Körper und es sammelte sich in seiner Mitte. Unruhig rieb er sich an Krister, spürte, dass es diesem nicht besser erging.

Eine warme Hand schob sich unter sein T-Shirt, berührte seine Haut, sandte weitere Impulse durch seinen Körper.

Krister löste den Lippenkontakt, nahm den Kopf zurück und ihre Blicke begegneten sich im matten Schein der Taschenlampe.

„Mehr“, flüsterte Nathan und zog ihn wieder heran. Er wollte nicht nachdenken oder reden, er wollte dieses unglaubliche Gefühl spüren. In der Begegnung ihrer Lippen glaubte er ein Lächeln auf Kristers Mund zu spüren. Dann war da nur noch der Kuss. Am liebsten wäre er hineingekrochen in diesen Kuss. Oder in Krister.

Die Hand von seinem Rücken wanderte auf seinen Bauch, streichelte ihn, fuhr höher und erreichte seine Brustwarzen. Aus Selbstversuchen wusste er, dass sein Körper durchaus auf diese Art der Berührung reagierte. Mit dem, was dieses vorsichtige Streicheln allerdings in ihm auslöste, hatte das nichts zu tun gehabt.

In seinem Inneren ballte sich die Energie und zog sein Rückgrat hinunter. Lange würde er nicht mehr brauchen, bis sie sich entladen würde.

Unter Anstrengung löste er seinen Mund von Kristers. „Ich … gleich …“, versuchte er schwer atmend zu formulieren.

„Okay“, kam die genauso keuchend klingende Antwort.

Okay? Doch schon hatte die Hand ihren Weg zu seiner Jeans gefunden und öffnete ungeschickt die Knöpfe.

Allein bei der Vorstellung, was gleich passieren würde, spannte sich sein Körper erwartungsvoll. Krister würde ihn tatsächlich …

Der Bund der Jeans wurde zur Seite geschoben, die Hand schob sich unter das Gummi seiner Pants und berührte seinen steinharten Schwanz.

Als sie sich darumlegte, reichte diese Berührung, um die Explosion auszulösen. Er konnte gar nichts dagegen tun. Sein Körper reagierte von selbst und schickte ihn in einen Orgasmus, den er so noch nicht erlebt hatte. Jede Zelle seines Körpers war daran beteiligt. Sein Kopf fiel in den Nacken, leise stöhnende Laute verließen seinen Mund, gegen die er nichts machen konnte. Irgendwo mussten diese Gefühle hin.

Langsam kam er wieder herunter, löste sich die Spannung aus seinem Körper, ließ ihn leer und seltsam zufrieden zurück.

„Wow“, flüsterte Krister und küsste ihn. „Das war wunderschön!“

Erst jetzt wurde Nathan bewusst, dass er sich hatte gehen lassen, ohne Rücksicht auf Krister. Röte flutete sein Gesicht. „Es tut mir leid“, murmelte er und senkte den Blick.

„Untersteh dich!“ Krister rollte sich über ihn. „Das war so geil!“

Bevor Nathan antworten konnte, küsste Krister ihn ausgiebig. Diese Küsse setzten sein Gehirn augenblicklich außer Kraft, machten ihn willenlos und verlangend.

„Warte.“ Wieder hatte Krister den Kuss unterbrochen. „Du machst mich fertig.“ Ein schneller Kuss. „Ich will deine Haut spüren. Zieh dich aus. – Bitte.“

„Und du?“

Leises Lachen. „Wenn du willst, ich auch.“

„Gleiches Recht für alle.“

Es war nicht einfach, sich in dem engen Zelt aus den Klamotten zu schälen. Nebenbei prasselte der Regen immer noch auf die Plane. Sie hörten von draußen laute Stimmen und Füße, die durch schlammige Pfützen patschten. Jemand schrie und es klatschte laut in der Nähe des Zeltes. Dann lachten mehrere Stimmen los. Zeitgleich kicherten sie los.

Die ganze Situation kam Nathan unwirklich vor. Der Regen, das schwache Licht, der Mann neben ihm, die Geräusche, die von außen hereindrangen … alles war so unglaublich. Bisher hatte er noch nicht einmal einen anderen schwulen Jungen gefunden, um ihn zu küssen, und jetzt lag er mit einem im Zelt!

Aufkommender Wind zerrte an dem Zelt, drang ein und ließ Nathan schaudern.

„Lass uns in den Schlafsack schlüpfen“, sagte Krister und zog ihn an sich heran.

Er konnte nur nicken. Der Eindruck der fremden Haut an seiner, die Hände, die ihn anfassten, des ganzen Mannes neben ihm überwältigte ihn. Nebeneinander krochen sie nervös kichernd in den Schlafsack. Krister schob seinen Arm unter seinen Kopf und zog ihn wieder dicht an sich heran.

Kristers Erregung konnte er deutlich spüren. Was für ein Gefühl! Sein Herz schlug hektisch, seine Hände wanderten über den erhitzten Körper. Zögernd fasste er den fremden Schwanz an, erntete ein tiefes Stöhnen. Ein kurzer Schauer lief durch den Körper. Er versuchte Kristers Gesicht zu sehen, doch die Taschenlampe war weggerollt und warf ihr Licht jetzt in den anderen Schlafsack.

Seine Hand legte sich um die Erektion, vorsichtig bewegte er sie.

„Oh, bitte“, stöhnte Krister, bevor sein Mund Nathans fand und ihn in dem nächsten unglaublichen Kuss verschlang. Der Körper spannte sich an, dann löste sich Kristers Mund ein winziges Stück. Mit harten, keuchenden Lauten ergoss er sich in Nathans Hand.

Es war feucht und klebrig in seiner Hand. Und nun? So konnte er doch unmöglich Krister anfassen. Möglichst unauffällig schob er seine Hand aus dem Schlafsack und wischte sie an dem nächsten Stück Stoff ab, das er zu fassen bekam.

Krister hatte die Stirn an seine gelehnt und atmete noch schwer. Sanft streichelte er ihm über den Rücken.

Da war alles so … unglaublich! Das gerade Erlebte hatte ihn schon wieder hart werden lassen. Was erwartete Krister jetzt von ihm? Wie würde es weitergehen? Gab es Spielregeln für diese Situation?

„Du bist der Wahnsinn“, flüsterte Krister in sein Ohr und küsste ihn.

Scheiß was auf Spielregeln, dachte Nathan und schlang seine Arme um Krister und rutschte so nah wie möglich an ihn heran.

Wenn Krister genug hatte, würde er gehen, bis dahin wollte er alles so lang und ausgiebig wie möglich genießen.

 

 

Krister

 

Diesen Jungen in seinen Armen zu küssen war berauschend. Sein Geschmack, sein Geruch, seine Berührungen … neu und vertraut. Verrückt, doch genauso fühlte es sich an. Vertraut, richtig und … alles meins!

Lag es an seinen mangelnden Erfahrungen? Nathans Haut auf seiner, Nathans Mund auf seinem und Nathans Hände überall auf seinem Körper. Sein Blut jagte durch Venen und Adern. Ein Großteil blieb in seiner Mitte hängen.

Nathans Erektion, die sich an ihm rieb, brachte ihn schon wieder in Fahrt. Seine Hand fand den Weg zwischen sie und umfing beide harten Schwänze. Nicht ganz einfach! Doch möglich! Leises, wimmerndes Stöhnen, das sein Herz traf und den Rest Blut in die Tiefe pumpte.

„Ja, Baby, ich will dich hören“, raunte er gegen die Lippen. Wo kamen die Worte her? Nathan antwortete mit einem kehligen Laut und er wusste, dass er nicht mehr lange brauchen würde. Hände krallten sich an ihm fest.

„Bitte.“

Kaum zu hören.

„Komm, Nat, für mich.“

Der Donner über dem Zelt, die Explosion in seinen Armen, der Schrei, der nah genug war, damit er ihn unter dem Grollen hörte. Seinen Namen hatte Nathan geschrien und mit einer letzten Bewegung seiner Hand folgte er dem anderen.

 

Erschöpft hielt Krister Nathan in seinen Armen, der sich nah an ihn kuschelte. Mit sachten Bewegungen streichelte er ihn, genoss die Nähe und ließ sich langsam in den Schlaf gleiten.

 

„Natty?“

„Oh, Mist!“

Hektische Aktivität neben Krister ließ ihn die Augen öffnen. Es war Tag. Zumindest war es hell draußen.

„Bist du im Zelt, Zwerg?“

„Ja, ich schlafe noch!“ Halb sitzend starrte Nathan auf den Zelteingang. Krister musste lächeln. Himmel, war der Kerl süß! Seine dunklen Haare standen nach allen Seiten ab.

„Mach hinne, wenn du noch Frühstück willst.“

Nathan drehte den Kopf und sah Krister an. Ein süßes Lächeln umspielte den verführerischen Mund. Er streckte die Hand aus und Nathan beugte sich über ihn, gab ihm einen schnellen Kuss.

„Er weiß nicht, dass ich … schwul bin.“

Krister nickte und deutete mit einer Geste an, dass er still sein würde. Hoffentlich dauerte es nicht so lange, bis die Typen vor dem Zelt wieder zur Bühne gingen, er müsste mal dringend hinter der Eiche verschwinden.

„Kommst du gleich mit, Kleiner?“

„Nee, ich komme nach. Muss erst noch richtig wach werden“, antwortete Nathan und gähnte vernehmlich.

„Ist aber alles okay bei dir?“

„Mach dir keine Sorgen! Wir sehen uns später!“ Er fiel auf den Rücken und rollte sich wieder in Kristers Arm. Gemeinsam lauschten sie auf die Geräusche von draußen.

Klappern und Geplapper, dachte Krister und sah in Nats Augen, der sich auf seiner Brust aufstützte und ihn ansah. Nat passte viel besser als Nathan. Viel zu lang. In dem grünlichen Licht der Zeltwände sahen Nats Augen grau aus. Vielleicht auch ein Blauton. Intensiv betrachten sie sich, versuchten so viel wie möglich von dem anderen zu sehen.

Auf einmal drehte sich Nat weg und kramte in einem Rucksack. Mit zwei Kaugummis in der Hand drehte er sich wieder um und beugte sich vor. „Damit du nicht stirbst, wenn ich dich anhauche“, flüsterte er in Kristers Ohr. „Oder dich küsse.“

Schweigend kauten sie ihr Kaugummi. Gute Idee, musste Krister zu geben, da es momentan keine Alternative gab. Obwohl es schon warm in dem Zelt war, zog er Nat in seine Arme. Bereitwillig rutschte er ganz an ihn heran, legte den Kopf auf Kristers Arm. Wie wunderschön war er! Zart küsste er ihn zwischen die Augen, auf die Lider – was für lange Wimpern er hatte – und die Mundwinkel, die Nase, das Kinn.

„Hey, Alter, sieh dir die beiden Schwuchteln an!“

Erschrocken fuhren sie auseinander. Die Stimme war aus direkter Nähe gekommen, der Sprecher musste vor dem Zelt stehen. Krister spürte sein Herz hart schlagen.

„Süß“, sagte eine andere Stimme gekünstelt hoch und lang gezogen. „So richtig niedlich.“

„Bäh, wie eklig, die Zunge eines anderen Kerls im Mund!“ Jemand spuckte aus.

„Ach komm, mein Süßer, lass uns das auch probieren“, quakte eine nasale Stimme albern hinaus.

„Geh weg! Lieber falle ich tot um!“

Herbes Gelächter entfernte sich.

 

Krister sah Nat an, bemerkte, wie blass dieser geworden war. Vorsichtig zog er ihn wieder näher, hoffte, nicht abgewiesen zu werden. Doch Nat schlang seine Arme um ihn, versteckte sein Gesicht an seiner Schulter.

„Das war mein Bruder“, flüsterte er leise.

„He, nimm das nicht zu ernst! Das war in einer Gruppe, da benehmen sich manche einfach blöd!“ Zärtlich küsste er die kleine steile Falte zwischen Nats Augen. „Sind sie jetzt weg? Ich müsste mal eben …“

„Ich sehe nach.“ Nat löste sich und krabbelte aus dem Zelt.

Krister war ohne jeden Vorbehalt von seiner Familie akzeptiert worden. Diese Reaktion vom eigenen Bruder war sicher nicht hilfreich bei der Frage, ob man sich outete oder nicht.

„Luft ist rein“, sagte Nat mit einem kleinen, schiefen Lächeln.

„Bin gleich wieder da. Lauf nicht weg!“ Im Vorbeikrabbeln küsste er Nat sanft. „Außer du willst, dass ich gehe.“

„Nein!“ Entschieden schüttelte Nat den Kopf. „Nein, bestimmt nicht!“

 

In dem kleinen Zelt war es brütend heiß. Nach dem Gewitter war es schwülwarm geworden. Dumpf drangen die treibenden Beats der Musik zu ihnen. Der Zeltplatz war fast völlig leer. Nur wenige ließen sich das Konzert entgehen, weil sie besoffen und zugedröhnt nicht in der Lage waren, die Bühne zu finden.

Die Zeltplane am Eingang hatten sie so weit wie möglich zurückgeschlagen und lagen nebeneinander auf den Schlafsäcken. Von ihren kurzen Ausflügen hatten sie noch ihre Shorts an. Einander zugewandt verbrachten sie ihre Zeit mit sanften Küssen und zärtlichen Berührungen. Eine merkwürdig unwirkliche und wunderschöne Stimmung hatte sie ergriffen und hielt sie wie in einer Luftblase gefangen. Vergingen Sekunden? Minuten? Stunden? Eine Ewigkeit? – Egal, die Zeit könnte ihnen keinen größeren Gefallen tun, als stehen zu bleiben. Krister fühlte sich glücklich. Vollkommen und rundum.

Mit seiner Hand zog er Nat näher, intensivierte den Kuss und mit einem Mal standen ihre Körper in Flammen. Haut verglühte an Haut. Seine Hand glitt über Nats Rücken, die Fingerspitzen strichen unter den Rand der Shorts.

„Warte“, keuchte Nat in seinen Mund und krabbelte nach vorne, um den Eingang zu schließen. Auf dem Weg zurück streifte er seine Shorts ab. Bei dem Anblick, den sein erregter Schwanz bot, leckte sich Krister über die Lippen.

Nat blieb auf der Hälfte des Weges auf seinen Fersen hocken und schob auch Kristers Shorts hinab. Seine Hand streichelte sanft über die Innenseite seiner Beine wieder nach oben. Bereitwillig öffnete Krister seine Schenkel, ließ die Hand weiter streicheln, bis sie ihr Ziel erreichte.

Nats Augen waren grau, wie ein stürmischer Himmel, das hatte er vorhin im Sonnenlicht gesehen. Jetzt betrachteten diese Augen ihn, verfolgten jede Reaktion, die das hauchzarte Streicheln seiner Hoden auslöste. Nur mit seinen Fingerspitzen erkundete Nat ihn. Als sich die Hand endlich um seinen harten Schwanz legte, fielen ihm die Augen zu und er stöhnte leise.

Etwas Feuchtes, Warmes berührte ihn und schlagartig waren seine Augen wieder offen. Nat hatte tatsächlich seine Lippen um seine Eichel gelegt. Fasziniert sah er zu, wie sich der Mund ein Stück senkte. Alles Blut, das nicht zum Erhalt der lebensnotwendigen Funktionen gebraucht wurde, floss in seinen Schwanz. Himmel, war das geil!

Nats Zungenspitze konnte er spüren, die ihn zaghaft erforschte und fast in den Wahn trieb.

„Oh, Baby“, hauchte er und klammerte sich an dem Schlafsack fest. Mit jedem Strich seiner Zunge wurde Nat mutiger und Krister konnte ihm nur mit großen Augen zusehen. Gerne hätte er Nat ebenfalls angefasst, doch damit war er irgendwie überfordert. Schweiß lag als dünner Film auf seiner Haut, die Luft im Zelt war zäh und ließ sich nur keuchend in seine Lungen ziehen.

Rasend schnell verdichtete sich alle Energie in seinen Lenden. „Nat …“, keuchte er und versuchte die Kontrolle zu behalten. Die grauen Augen blitzten und Nat ließ ihn tief in den Mund gleiten. Das wiederholte er ein paarmal und Krister verlor jede Kontrolle über sich. Gnadenlos trieb ihn Nat in einen grandiosen Orgasmus. Die Energie entlud sich in einer gewaltigen Explosion und schleuderte ihn in ein unbekanntes Universum.

Nur am Rande spürte er, wie Nat ihn in seine Arme zog und sanft küsste.

„Du bist unglaublich“, flüsterte er, als er seine Stimme wiederfand. Mit neuer Energie rollte er sich über Nat. Ihre verschwitzte Haut klebte aneinander. Mit der Zungenspitze leckte er über Nats Hals, knabberte an seinem Ohr und küsste ihn, bevor er sich über seine Brust tiefer vorarbeitete. Nat schmeckte salzig und gut! Verrückt!

„Du musst das nicht tun.“

„Weiß ich, Baby. Ich will!“ Und er nahm die glänzende Spitze zwischen die Lippen. Auch salzig! Auch gut. Nicht eklig, nicht abstoßend, nein, heiß! Mit der Zunge erforschte er, probierte und schenkte Nat sichtbar Lust. Kleine, unterdrückte, wimmernde Töne waren die Belohnung. Vorsichtig versuchte er ihn tief aufzunehmen und wider Erwarten war das gar nicht so schwer. Seine Hand schloss sich um Nats Hoden und er massierte sie sachte.

„Kris … ich … bitte“, stammelte Nat. Die Lider verschlossen halb die Augen, schwer ruhte der Blick auf ihm. Jeder Muskel in dem Körper schien angespannt. Mit einigen schnellen Bewegungen ließ er ihn rein und raus gleiten.

Nat spannte sich an, krümmte sich leicht und mit einem unterdrückten Stöhnen entlud er sich pumpend in Kristers Mund. Es war merkwürdig und viel. Er musste schnell schlucken, um nicht die Hälfte wieder aus seinem Mund laufen zu lassen.

 

„Wow! Vor vierundzwanzig Stunden wusste ich nicht einmal, wie es ist, einen Mann zu küssen.“ Trotz Wärme und des Schweißfilmes auf ihrer Haut lagen sie aneinandergeklebt in dem geschlossenen Zelt.

Liebevoll strich er eine feuchte Locke aus Nats Gesicht. „Na ja, das war so ziemlich das Einzige, was ich wusste.“ Er küsste Nat. Davon konnte er definitiv nicht genug bekommen!

Nats knurrender Magen brachte beide zum Lachen.

„Lass uns etwas essen.“ Krister setzte sich auf. „Bei uns gibt es bestimmt noch Brot. Sönkes Mutter hat reichlich eingepackt.“

 

 

Nathan

 

Sie saßen vor dem großen Zelt, das Krister sich mit seinen beiden Freunden teilte. Die Brote hatten gut geschmeckt und Nathan fühlte sich träge.

„Haben die beiden dich nicht vermisst?“

„Hm, glaube ich nicht. Sie sind gewohnt, dass ich auf mich selber aufpassen kann.“ Krister lachte und Nathan konnte ihn nur anstarren. Wie gut er aussah, männlich und sexy.

Krister nahm einen Wasserkanister aus dem Zelt. „Was hältst du von einer kleinen Erfrischung?“

Irritiert sah er ihn an. Bevor er reagieren konnte, schüttete Krister einen Teil des Wassers über seinen Kopf.

Kurz schnappte er erschrocken nach Luft, dann stürzte er sich auf den anderen. Sie rangen um das Wasser, kippten es sich gegenseitig über den Kopf, bis sie beide durchnässt waren.

Kristers Blick änderte sich und Nathan spürte, wie das Verlangen wieder in ihm erwachte.

„Komm“, sagte Krister und streckte die Hand aus. Ohne zu zögern, folgte er ihm ihn das Zelt.

 

Wie würde Holger reagieren, wenn er ihm sagen würde, dass er schwul war? Es war dunkel, sie hatten sich noch einmal gegenseitig befriedigt und waren nebeneinander eingeschlafen.

Was, wenn Holger ihn suchte und er nicht im Zelt war? Dann würden er sagen, dass er sich auf die Suche nach ihnen gemacht hatte. Es war so voll und unübersichtlich, dass er die anderen sowieso niemals finden würde.

Krister bewegte sich neben ihm im Schlaf und er beugte sich über ihn. Sehen konnte er ihn nicht. Vorsichtig ertastete er das Gesicht und streichelte ihn. Arme schlangen sich um ihn und er küsste den Mund, den er ertastet hatte.

Warum konnte er nicht genug bekommen von diesem Mund? Hände legten sich in sein Haar.

„Ich … bin noch nie jemandem wie dir begegnet. Jemand, der mich sofort umgehauen hat.“ Krister flüsterte leise gegen seine Mund. Die Worte vibrierten an seinen Lippen. „Verdammt, ich habe mich in dich verliebt, Nat!“ Wieder zog er ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. Das hier musste der Himmel sein!

 

Mit einem lauten Reißen wurde der Zelteingang geöffnet. Taschenlampenlicht blendete sie.

„Ich glaub es nicht! Haben die Idioten recht gehabt. Ich kann es nicht fassen! Spinnst du, Nathan?“ Holgers wütende Stimme ließ ihn zusammenzucken. „Komm sofort dort raus. Das ist ja widerlich!“

Sie hatten sich beide aufgesetzt und Krister hatte sich ein Stück vor ihn geschoben.

„He, was soll das?“

„Halt die Klappe, Kleiner, sonst wird dir das leidtun. Finger weg von meinem kleinen Bruder!“ Holgers bullige Gestalt schob sich in das Zelt.

„Dein Bruder ist freiwillig hier. Lass uns in Ruhe!“

Nathan musste Kristers Mut bewundern. Wenn Holger in dieser Stimmung war, widersprach man ihm lieber nicht. Bevor die Situation eskalieren konnte, schob er sich an Krister vorbei, griff seine Shorts und zog sich an.

„Nat?“, flüsterte Krister neben ihm.

Er drehte sich um und küsste ihn. „Ich liebe dich!“

„Raus!“ Hart griff Holger seinen Arm und zog ihn aus dem Zelt. Einen letzten verzweifelten Blick warf er auf Krister, ehe er weggezogen wurde.

„Hör auf, Holger“, sagte er und versuchte den harten Griff zu lösen.

„Hör auf? Du spinnst doch! Glaubst du, ich dulde, dass die Schwuchtel dich anfasst? Wir fahren sofort nach Hause!“

„Nein! Holger, hör mir zu!“ Sie konnten nicht fahren, er konnte Krister nicht einfach so verlassen!

„Halt die Klappe, Nathan, sonst vergesse ich mich. Mein kleiner Bruder ist keine Schwuchtel!“ Morgen früh würde er einen blauen Fleck an der Stelle haben, die Holger immer noch fest umklammerte.

 

„Nat!“ Krister kam hinter ihnen hinterhergehetzt, so gut dies mit seinem Fuß ging.

„Die letzte Warnung, Bürschchen, verpiss dich oder es wird dir leidtun!“

Irgendjemand lachte.

Ohne sichtbar auf die Drohung zu reagieren, kam Krister näher. Er konnte nicht genau sehen, was in dem Gesicht des anderen vorging, doch er ahnte, dass sich dort die gleiche Verzweiflung spiegelte, die er fühlte. Gerne hätte er etwas gesagt, doch er wusste, dass er damit Holgers Wut nur anstacheln würde.

„Ich würd’s nicht riskieren, Kleiner!“, sagte jemand von der Seite.

Doch das hielt Krister nicht ab.

Mit einem Mal ließ Holger ihn los. Er wollte reagieren, doch er war zu langsam. Die Faust flog durch die Dunkelheit, traf das geliebte Gesicht.

Sein eigener Schrei verhallte und Holger zerrte ihn weiter. Mit Händen und Füßen versuchte er sich dem Stärkeren zu widersetzen, doch er hatte keine Chance. Holger war sowieso schon kräftiger als er und seine Wut gab ihm noch mehr Kraft.

„Wenn du jetzt nicht spurst, dann schlag ich dich auch nieder!“ Finster starrte Holger ihn an und Nathan wusste, er würde es tun. Mit Tränen in den Augen fügte er sich in sein Schicksal.



Krister

 

Fremde Menschen sahen auf ihn nieder, als er sich wieder aufrappelte. Suchend sah er sich um, doch von Nat und seinem bescheuerten Bruder war nichts mehr zu sehen.

Das konnte doch nicht wahr sein! Nat konnte nicht einfach so verschwinden. Nicht nach den zwei Tagen. Nicht, nachdem er ihm “Ich liebe dich“ ins Ohr geflüstert hatte.

Verzweifelt lief er über den Platz, zum Ausgang, doch von Nat war nichts zu sehen. Wie sollte er ihn finden? Sie hatten weder ihre Handynummern noch ihre Adressen getauscht. Er wusste nicht einmal, wie der andere mit Nachnamen hieß …

 

 

 

 

 

Nathan

 

Zwei Jahre später

 

Endlich war er bei der letzten Aufgabe angekommen, die Klamotten einpacken, die er mitnehmen wollte. Dabei sortiere er, seiner Mutter zuliebe, gleich alles aus, was nicht mehr passte.

Jeans nach unten in den Karton, darauf Pullover und T-Shirt. Ganz unten im Schrank lag eine Jeans, die ihm nicht passte. Sie war zu groß, rutschte über seine Hüften. Immer noch. Seit zwei Jahren lag sie dort im Schrank. An dem Tag, als sein Bruder ihn und Krister getrennt hatte.

Vor Hektik und Aufregung hatte er im Zelt die falsche Hose gegriffen.

Seine Finger strichen über den rauen Stoff. Wo war Krister jetzt? Dachte er noch manchmal an diese zwei Tage?

Nathan griff in die linke Hosentasche der Jeans, zog einen kleinen Stein heraus. Er hatte eine glatte Oberfläche und lag perfekt in der Hand. Sanft streichelte er die Oberfläche mit seinem Daumen. Wie immer stellte er sich vor, dass Kristers Finger diesen Stein ebenso liebkost hatten wie seine, und dachte an diesen verhängnisvollen Morgen.

 

Ohne sich groß um die Zelte zu scheren, hatte Holger ihn in zu seinem Wagen geschleift und sie waren nach Hause gefahren. Wenn eine Verkehrskontrolle Holger aufgehalten hätte, wäre er seinen Führerschein auf jeden Fall los gewesen.

Den ganzen Weg sprach er kein Wort mit Nathan, strafte ihn mit kaltem Schweigen.

Nathan hatte die Beine angezogen und seinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Warum war Holger so ausgeflippt? War es für seinen Bruder so schrecklich, dass er schwul war? Auf Männer statt auf Mädchen stand?

Ein paar Mal wendete er den Kopf und versuchte in dem Gesicht seines Bruders etwas zu lesen, doch der starrte nur auf die Fahrbahn.

Vor der Haustür sprang Holger fast aus dem Wagen, kam herumgerannt und riss die Tür auf. „Raus aus meinem Auto!“ Als es ihm nicht schnell genug ging, zerrte er ihn hinaus, schubste ihn in Richtung Haustür. Wenn er ihn geschlagen hätte, hätte er ihn nicht mehr verletzen können.

 

Holger klingelte Sturm. Als seine Mutter ihnen endlich die Wohnungstür öffnete, stieß er Nathan in die Wohnung.

„Der“, er zeigte auf Nathan, „ist ’ne Schwuchtel!“

Seine Mutter hatte ihn aufgefangen und ihren Arm um ihn gelegt. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihren älteren Sohn an. „Und das schockiert dich?“

„Ja! Er hat auf dem Zeltplatz mit irgend so einem Kerl rumgefummelt. Eklig!“

„Spinnst du, Holger?“ Die Stimme seiner Mutter klang ehrlich empört. „Deshalb machst du so einen Aufstand? Wenn es ein Mädchen gewesen wäre, dann wäre es okay gewesen?“ Nathan wagte einen Blick auf ihr Gesicht. Seine Mutter hatte klare blaue Augen, die jetzt gefährlich funkelten.

„Er steht auf Männerärsche! Er ist ein Schwanzlutscher, ein Arschficker! Ich will mit ihm nichts …“

Weiter kam er nicht, bevor ihn die Hand seiner Mutter traf. Es war kein harter Schlag, doch verfehlte er seine Wirkung nicht. Stumm sah Holger seine Mutter mit aufgerissenen Augen an.

„Ich schäme mich für dich! Habe ich dich so erzogen?“ Ihre Stimme war traurig und wütend zugleich. Eine merkwürdige Mischung. „Ganz egal, wen dein Bruder liebt, in erster Linie ist er dein Bruder! Der gleiche Bruder, mit dem du vorgestern losgefahren bist! Den du – nach eigener Aussage – liebst! Wenn sich das für dich ändert, weil er vielleicht lieber Jungs als du Mädchen fickt, dann brauchst du nicht mehr hierherkommen!“

„Mama …“ Holger sah sie ziemlich perplex an.

„Nein, Holger. Mein ganzes Leben versuche ich euch Toleranz und Respekt beizubringen. Ich habe dich und deine Rockerfreunde genauso toleriert wie Minnas Gothic-Clique. Ich habe deine verschiedenen, dauernd wechselnden Freundinnen genauso akzeptiert wie deine Tattoos. Oder Gretes Piercings. Jeder eurer Freunde war hier willkommen, ob sie sich benehmen konnten oder nicht, ob sie unsere Sprache sprachen oder nicht. Hautfarbe und Hygienestand habe ich respektiert. Und jetzt willst du mir sagen, dass du nicht damit leben kannst, dass dein Bruder schwul ist? – Dann will ich dich hier nicht mehr sehen!“ Einen Moment hatte sie Holger mit ihrem Eisblick angesehen, dann hatte sie die Tür geschlossen.

Ihn hatte sie in die Küche geschoben. „Ich mache uns jetzt einen Kaffee, dann reden wir.“

Als sie nebeneinander am Küchentisch saßen, erzählte er und sie hatte zugehört. Alles hatte er ihr erzählt – na ja, nicht die kleinen Details – aber doch alles Wichtige. Seine Gefühle für den eigentlich Fremden.

„Und ich weiß nicht einmal seinen Namen …“ Wie sollte er Krister wiederfinden?

„Wenn mein Auto nicht kaputt wäre, könnten wir heute noch zurückfahren …“ Seine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm. „Der Vorname Krister ist nicht so häufig, vielleicht finden wir ihn.“ Auch wenn er den Verdacht hatte, dass sie nicht an die Tiefe seiner Gefühle glaubte, so war er ihr für ihren Zuspruch dankbar.

 

Leider hatten sie ihn nicht gefunden. Ohne Nachnamen, ohne Wohnort oder auch nur einen Hinweis auf die Region, in der er lebte, war es unmöglich.

Und er war erfinderisch gewesen, hatte es mit einer eigens für die Suche eingerichteten Seite bei Facebook versucht, doch nichts hatte gefruchtet. Irgendwann hatte er einsehen müssen, dass das Schicksal gegen ihn war.

Jetzt hatte er sein Abitur in der Tasche und würde anfangen zu studieren. Mit einem leisen Seufzen rollte er die Jeans zusammen und wollte sie in den Beutel der aussortierten Kleider stecken. Nein, das konnte er nicht. Sie kam in die Kiste, der Stein in seine Hosentasche. Ein Jahr lang hatte er ihn fast überall mit sich herumgetragen, dann hatte er ihn zurück in die Jeans gelegt. Vielleicht sollte er ihn jetzt wieder als Glücksbringer tragen. Ein wenig Glück konnte nicht schaden, da er ein bisschen aufgeregt war. Er würde dieses Dorf verlassen und in die große weite Stadt ziehen. Über eine Kleinanzeige hatte er ein Zimmer in einer Dreier-WG gefunden. Die beiden anderen Jungs schienen nett zu sein. Dass er schwul war, hatte er ihnen nicht auf die Nase gebunden. Erst einmal sehen, wie sie so drauf waren.

Die schlechten Erfahrungen der letzten Jahre ließen ihn vorsichtig werden. Seine Familie hatte sich an der Frage gespalten. Während seine Mutter, Grete und Emilia zu ihm standen, wollten Holger und Minna nichts mit ihm zu tun haben. Auch in der Schule hatte es einige gegeben, die ihn schief angeguckt hatten. Zum Glück nicht alle. In Suse und Lukas hatte er gute Freunde gefunden.

Jetzt würde sein Leben sich entscheidend verändern. Studium, neue Wohnung, neue Leute … vorher noch ein Urlaub auf Mallorca mit Emilia. Sie hatte ihm diese zwei Wochen Sonne, Sand und Strand zum Abi geschenkt und er freute sich riesig darauf.

„Was ist los, Natty, können wir zum Flughafen fahren?“

Emilia wusste genau, wie sehr er es hasste, Natty genannt zu werden. Nat war okay, auch wenn es keiner so sagte wie Krister.

Mit einem abschließenden Seufzen stand er auf und schnappte seine Reisetasche. Den letzten Karton schloss er und schob ihn an die Wand. Nach dem Urlaub würde seine Mutter ihn mit dem ganzen Kram nach Hannover fahren.



Krister

 

In zwei Stunden würde das Flugzeug landen. Nach elf Monaten sozialem Dienst in einem speziellen Wohnheim für Behinderte im Süden Frankreichs war er auf dem Weg nach Hause. Ein Monat Urlaub und dann würde er sein Studium aufnehmen. Er blickte aus dem Fenster, doch viel mehr als Wolken gab es nicht zu sehen.

Zu Hause …

Sicher freute er sich auf seine Familie. Seine Eltern, seinen Bruder Gerd, der bestimmt mit seiner neusten Freundin da war. Vielleicht waren auch Sönke und Piet da …

Krister holte sein Portemonnaie raus und zog ein leicht zerknicktes Foto heraus. Vor zwei Jahren hatte er es in dem Zelt von Nat aufgenommen. Es war zwar etwas zu dunkel und Nat schlief, doch es nur zu betrachten, gab ihm ein gutes Gefühl.

Verrückt! Zeitgleich zog es ihn in einen tiefen Sog der Sehnsucht. Warum konnte er den Jungen nicht vergessen? Elf Monate Frankreich waren nicht genug. Immer wieder landeten seine Gedanken bei Nat. Im Gegenteil, in der fremden Umgebung war es sogar noch schlimmer geworden. Dabei wusste er, dass es keine Chance gab, dass sie sich wiedersahen.

Konnte man sein Herz in zwei Tagen verlieren und zwei Jahre lang nicht wiederfinden? War er besonders sentimental? Oder nur ein Idiot? Ob wohl Nat noch ab und zu an ihn dachte?

 

Das Flugzeug landete sanft. Er ließ die Hektik um sich herum an sich vorbeifließen. Ging als einer der Letzten durch die Tür. Seine Familie war nicht zu übersehen. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er ging auf sie zu. Auf einmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich suchend um und begegnete dem Blick eines anderen Mannes quer durch die Halle. Sein Herz blieb stehen. Jeder Gedanke verließ sein Gehirn. Nat! Sein Koffer und seine Tasche fielen aus seinen Händen und er lief durch die Halle. Nat stand neben einer jungen Frau, die ihm leicht irritiert entgegensah. Kurz vor den beiden stoppte er, unsicher, was er machen sollte. Doch bevor er sich lange Gedanken darüber machen konnte, trat Nat auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Seine eigenen schloss sich um den schmalen Körper. Ja! Das war das Gefühl, das er vermisst hatte. Das ihm kein anderer vermitteln konnte.

„Oh, Gott, ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“, flüsterte Nat und sah ihn an. Statt zu antworten, küsste er ihn. Genau das Gefühl, an das er sich zwei Jahre lang erinnert hatte. – Oder nein, es war besser.

„Das habe ich auch gedacht“, erwiderte er, nachdem sich ihre Lippen trennten.

 

„Ich störe das Wiedersehen nur ungern, aber wir müssen einen Flieger erreichen. Wie wäre es, wenn ihr beiden eure Handynummern diesmal austauscht?“

Krister sah die junge Frau an. Hatte sie die geringste Ahnung, was er fühlte? Nach zwei Jahren hatte er den Mann, den er liebte, im Arm und sie wollte, dass er ihn wieder losließ?

„Sie hat recht. Wir haben einen Urlaub auf Mallorca gebucht. – Das ist meine Schwester Emilia.“ In Nathans Augen konnte er lesen, dass dieser auf den Urlaub gerne verzichten würde.

„Hallo! Du musst Krister sein.“ Mit einem freundlichen Lächeln gab sie ihm die Hand. „Ich habe meinem kleinen Bruder diese Reise zum Abi geschenkt.“

„Ja“, sagte er nur, überfordert von der Situation.

„Es gibt so viel, was ich dir sagen, dich fragen und wissen möchte“, raunte er in die dunklen Haare, die etwas länger geworden waren.

„In vierzehn Tagen sind wir wieder hier. Dann können wir reden.“ Nat reckte sich und küsste ihn wieder. Diese Küsse waren noch immer in der Lage, sein Gehirn auszuschalten. Jede seiner Zellen flüsterte: “Iich liebe dich.“ Er konnte nicht loslassen.

Ein Seufzen ließ sie beide aufsehen. „Hast du deinen Ausweis, Krister?“ Emilia sah ihn an und er nickte nur. „Dann hol deinen Koffer und wir versuchen, ob wir das Ticket geändert bekommen.“ Und Emilia wandte sich dem Schalter zu.

„Emilia?“, fragte Nat ungläubig.

„He, Brüderchen, meinst du, ich sitze neben dir, sehe mir deine unglückliche Miene an und höre dazu dein Gejammer? Nix, ihr macht zusammen Urlaub und könnt dann gleich mal feststellen, ob es für mehr als zwei Tage reicht.“ Mit einem Grinsen sah sie über ihre Schulter.

 

Stunden später standen sie auf dem kleinen Balkon, der zu ihrem Zimmer gehörte, und genossen den unglaublichen Blick über Strand und Meer. Ihre Koffer lagen ungeöffnet auf dem Bett.

Krister lehnte sich an Nat, die Hände rechts und links neben ihm auf der Brüstung. „Ich kann es gar nicht fassen!“ Mit der Nase wühlte er durch die dunklen Haare, sog den leicht fruchtigen Duft, vermischt mit der vollen Ladung Nat und den daran hängenden Erinnerungen ein. „Zwei Jahre habe ich von dir geträumt. Jeden Tag gewünscht, dich wiederzusehen, und dann stehst du auf einmal auf dem Flughafen vor mir. – Und fünf Stunden später bin ich mit dir hier auf diesem Balkon und sehe auf das Mittelmeer.“

„Emilia sei Dank.“ Nat drehte sich und sie sahen sich in die Augen. „Alles hätte ich Holger verzeihen können, doch niemals, dass ich keine Chance hatte, zu erfahren, wie ich dich erreichen kann.“

Auf dem Flug hatten sie sich gegenseitig einen ersten Eindruck vermittelt, was nach jener verhängnisvollen Nacht geschehen war.

„Ganz ehrlich? Er ist ein Vollidiot!“ Krister beugte sich vor und küsste Nat sanft. Mehr als diese zarten, fast unschuldigen Küsse hatten sie bisher noch nicht getauscht. Jetzt jedoch schlang Nat seine Arme um ihn und zog ihn dicht an sich heran, ließ seinen Unterleib kreisen, Krister entkam ein Stöhnen. Auf diesen Mann reagierte jeder seiner Sinne und lief auf Hochtouren. Er wollte ihn! Er liebte ihn.

Ein Stück löste er sich von Nat. „Ich bin schon lange unterwegs und dusche schnell, okay?“

Ein Lächeln, das seine Knie weich werden ließ, war die Antwort. „Beeil dich“, schnurrte Nat gegen seine Lippen. „Ich warte schon viel zu lange auf dich.“

„Dann komm doch einfach mit“, entgegnete Krister, nahm Nats Hand und zog ihn ins Zimmer. Lachend folgte er.

 

Die Dusche war erstaunlich geräumig, bot ihnen genügend Platz, sich ausgiebig zu erkunden. Im Gegensatz zu der schummrigen Beleuchtung im Zelt gab es ausreichend Licht, dass sie sich ansehen, entdecken – wiederentdecken konnten. Zärtlich verteilte Krister das Duschgel auf Nats Körper, ließ keinen Millimeter aus, betrachtete die helle Haut unter seinen Fingern. Hier ein Leberfleck, dort eine winzige Narbe, der Schwung der Rippenbögen, der flache Bauch, die Spur dunkler Haare, die ihn tiefer lockte … doch er wollte Nat nicht hier, auf die Schnelle unter der Dusche. Er wollte ihn im Bett, langsam, mit unendlich viel Zeit. Wenn es nach ihm ging, dann brauchten sie das Zimmer die nächsten Tage nicht verlassen.

 

 

Nathan

 

Krister. Konnte das wahr sein? Ganz konnte Nathan das nicht glauben. Nach zwei Jahren standen sie auf einmal gemeinsam unter der Dusche – in einem Hotel auf Mallorca – mit einem großen Doppelbett ein Zimmer weiter. Vielleicht träumte er nur? Doch Kris’ Hände auf seinem Körper fühlten sich sehr real an. Er hielt es nicht aus, musste ihn berühren und zog Krister in seine Arme, schmiegte sich an ihn. Ja, das war der Mann, nach dem er sich verzehrte, den er gesucht und endlich wiedergefunden hatte.

„Lass uns ins Bett gehen“, flüsterte er leise und biss Kris sanft in die Unterlippe. „Ich will dich spüren, mit dir reden, dich streicheln, dich lieben, dich einfach nur anstarren, dich anfassen …“

Krister schmunzelte. „In der Reihenfolge?“, fragte er und küsste Nathan auf die Nase.

„Nein – ja – egal“, flüsterte Nathan und öffnete die Tür der Duschkabine. „Alles auf einmal, nacheinander, ich weiß nicht … komm.“

Oberflächlich trockneten sie sich gegenseitig ab, ehe Nathan Kristers Hand nahm und ihn hinter sich herzog. Vor dem Bett verpasste er ihm einen leichten Stoß, damit er auf die weiche Matratze fiel, und warf sich neben ihn.

Unglaublich viele Gefühle, Wünsche, Fragen vermischten sich in seinem Kopf, entwirrten und fokussierten sich erst, als Krister ihn küsste.

Eins nach dem anderen und jetzt brauchte er Kris, körperlich, verlangend, mit allen Sinnen.

Jeder Kuss erinnerte ihn an das, was vor zwei Jahren gewesen war, und an die Zeit ohne Krister. An seine Träume, die Sehnsucht und die Hoffnungslosigkeit. Jetzt hielt er den Mann, der sein Denken und Fühlen beherrscht hatte, in seinen Armen, berührte ihn und durfte ihn lieben.

Langsam, genießend erkundete er Kristers Körper. Nahm alles in sich auf, den Geschmack, den Geruch, das Gefühl der Haut unter seinen Fingern, seinen Mund. Bis Kris sich auf einmal über ihn rollte.

„Du machst mich verrückt. Will dich“, knurrte er und eroberte Nathans Mund stürmisch.

„Will dich auch …“, keuchte Nathan.

Krister rollte sie beide auf die Seite. „Gern würde ich“, er zögerte kurz, „mit dir schlafen, doch das erste Mal sollten wir nicht … so unter Druck stehen. – Hast du schon einmal mit jemandem …“

Sofort schüttelte Nathan den Kopf. „Nein, es gab niemanden – außer dir.“ Er spürte, wie die Wärme in seine Wangen kroch und sie sicherlich rot färbte.

„Für mich gab es auch niemanden.“ Krister zog ihn dicht an sich heran und küsste ihn. Erst zärtlich, dann immer stürmischer. Nathan hielt sich an ihm fest, der Wirbel drohte ihn sofort zu verschlingen.

Kris schob seine Hand zwischen sie beide und umfasste ihre Erektionen, verrieb die zähen Tropfen, die ersten Vorboten ihrer Lust. Nathan wusste, dass er ihm nicht lange widerstehen konnte. Viel zu lange war es her, dass Kris ihn in seinen Armen gehalten und berührt hatte.

„Komm, Nat“, flüsterte Kris heiser und er gab sich dem Orgasmus hin, der ihn packte, für einen wunderbaren Moment alles andere verdrängte.

Keuchend, verschwitzt, aber glücklich lagen sie Stirn an Stirn in dem Hotelzimmer. Von irgendwo drang leise Musik zu ihnen.

„Manchmal habe ich gedacht, die Tage mit dir auf dem Zeltplatz waren nur ein Traum. Eine wundervolle Illusion, die ich vergessen müsste.“ Kristers Stimmer war ganz leise. Sein Atem streifte sacht Nathans Gesicht. „Dann habe ich an Himbeersirup gedacht und mir war klar, dass es dich wirklich gab und du irgendwo da draußen sein musst.“ Er lachte heiser. „Ich habe angefangen, mein Eis mit Himbeersirup zu essen, kaufte Himbeermarmelade, Himbeerjoghurt und lutschte Himbeerbonbons. Weil mich der Duft an dich erinnerte, mir immer wieder bewusst machte, dass irgendwo der perfekte Mann rumläuft.“

„Du bist verrückt“, nuschelte Nathan.

„Du nicht? Warum hast du dir keinen Freund gesucht?“

Nathan nahm den Kopf ein kleines Stück zurück und sah Krister an. „Weil ich genauso verrückt bin wie du.“

„Siehst du, meine kleine Himbeere, wir passen perfekt zusammen.“ Der folgende Kuss enthob Nathan einer Antwort – obwohl dies sowieso nur eine Zustimmung wäre.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Covergestaltung: Caro Sodar / Bildmaterial: unsplash.com
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2017

Alle Rechte vorbehalten

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