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Das verflixte siebte Jahr

Das Handy vibrierte auf dem Tisch. Geflissentlich ignorierte ich das leise Brummen. Noch eine letzte Mail und der Arbeitstag wäre vorbei. Ein schneller Blick auf die Uhr unten rechts: 17:25 Uhr. Meine Kollegen waren schon lange zu Hause, immerhin war der 23. Dezember, ein Tag vor Weihnachten. Ich schloss das E-Mail-Programm und fuhr den PC herunter. Die Akten legte ich in die Schränke und verschloss diese, anschließend sorgte ich mit wenigen Handgriffen für Ordnung auf meinem Schreibtisch. Als Letztes löschte ich das Licht. Kein Grund, die Heimfahrt länger aufzuschieben. Gemächlich verließ ich das Büro und schlenderte durch den sacht fallenden Regen zu meinem Auto. In meiner Manteltasche vibrierte erneut das Handy und wieder beachtete ich es nicht, sondern schloss den Wagen auf, öffnete jedoch nicht die Tür. Mit der linken Hand kramte ich eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, schüttelte eine heraus und zündete sie mir an. Leander hasst es, wenn ich nach Rauch roch …

Am nächsten Tag würden wir zu seinen Eltern fahren … nein, daran wollte ich nicht denken. Vielleicht lieber an die freien Tage, die vor mir lagen. Ausschlafen, gemütlich frühstücken, lesen und vom Bett aus Fernsehen schauen, das klang gut, leider befürchtete ich jedoch, dass daraus nicht viel werden würde – oder erst nach den Weihnachtsfeiertagen.

Seufzend trat ich die Zigarette aus, öffnete die Autotür und stieg ein. Auf zum Fest der Liebe …

 

Der Regen wurde stärker und die Sicht immer schlechter. Der Verkehr quälte sich durch die Straßen, aus dem Radio erklang die übliche, nervtötende Weihnachtsmusik und meine Laune sank. Statt zehn fauler und erholsamer Tage erwarteten mich Tage voll mit Leanders Vorstellung von einem harmonischen Weihnachtsfest. Familie, Freunde und eine Gratwanderung zwischen geheuchelter Freundlichkeit, versteckten Sticheleien und ernsthaftem Streit.

Leanders Familie mochte mich nicht, seinem besten Freund war ich zu spießig und Leander versuchte es uns allen recht zu machen.

Langsam schoben sich die Autos durch die Stadt, begleitet von einem Hupkonzert und wild gestikulierenden Fahrern. Alle wollten nach Hause – außer mir. Leander würde mit Vorwürfen auf mich warten, heute war unser Jahrestag und er hatte ihn vollständig verplant, genau wie er immer alles plante, organisierte und regelte. War es wichtig, heute essen zu gehen? Und anschließend in die Diskothek, in der wir uns vor sieben Jahren zum ersten Mal trafen?

Mir war nach allem, nur nicht nach einem Abend in einer Diskothek. Leider jedoch interessierte es Leander nicht, was ich wollte, er plante und wenn ich dagegen war, dann war ich der Spielverderber, der Langweiler und im Zweifel schmollte er. Ich hasste es! Bei allen Varianten war ich der Bösewicht.

Wieder ging es ein paar Meter vorwärts. Seit wann freute ich mich nicht mehr darauf, nach Hause zu kommen? Es gab keine bestimmte Stunde, nicht einen Tag oder ein Ereignis. Langsam, tröpfelnd wurde aus dem Wunsch, zu Leander zu kommen, die Abneigung, nach Hause zu fahren. Und Leander merkte nichts von meinem Unbehagen, meinen Überstunden und meiner Lustlosigkeit. – Wie sollte ihm das auch auffallen? Leander interessierte sich für alles Mögliche, jedoch nicht für mich oder unsere Beziehung. Manchmal kam ich mir vor wie der kleine, grüne Hase, den ich ihm in unserem ersten Jahr auf dem Schützenfest geschossen hatte, der immer im Regal saß und nie beachtet wurde.

Vielleicht sollte ich auf Leander hören und nicht immer so negativ an die Dinge herangehen … nicht immer nur sehen, was mir nicht gefiel …

Aber was sollte ich denn sehen? Unser aufregendes Liebesleben? Dabei konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal Sex miteinander hatte. – Oder doch, es war bestimmt vier – nein, fünf Wochen her. Angetrunken holten wir uns gegenseitig unter der Dusche einen runter.

Ansonsten war im wahrsten Sinne des Wortes tote Hose bei uns. Nach langen Arbeitstagen schlief ich schon auf dem Sofa ein, trotz Leanders schlechter Laune, seiner schnippischen Bemerkungen oder seiner Pläne. Und am Wochenende? Wir gingen weg, machten, was Leander wollte, und kamen meist spät und betrunken wieder nach Hause. Oder nüchtern und stritten uns. Leider endeten unsere Streitereien nicht mehr im Bett, sondern in getrennten Zimmern.

Seit wann versöhnten wir uns nicht mehr mit wildem Sex? Von der ersten Begegnung an waren wir unterschiedlich wie Tag und Nacht, stritten und versöhnten uns. Damals waren unsere Versöhnungen exzessiv, heute wortlos. Nach einem Streit gingen wir meist einfach wieder alltäglich miteinander um.

Alltäglich … war das nicht ein anderes Wort für belanglos, langweilig, uninteressiert und gleichgültig? Was verband Leander und mich eigentlich noch?

Hinter mir erklang ein Hupkonzert und mir wurde bewusst, dass die Ampel grün geworden war. Mit einer entschuldigenden Geste nach hinten fuhr ich los.

Wie viel von dem, was ich tat, störte Leander? Und wie viel von dem, was er tat, nervte mich? Schon immer war Leander völlig anders als ich. Auffällig mit seinen langen Haaren, seinem hübschen Gesicht mit den geschminkten Augen und seiner körperbetonten Kleidung. Bunt und schillernd wie ein exotischer Schmetterling.

Charakterlich unterschieden wir uns ebenso wie äußerlich. Ich war introvertiert, Leander extrovertiert. Gegensätze, die sich anzogen. Ich erdete Leander und er holte mich aus meinem Schneckenhaus. Wann waren wir aus dem Gleichgewicht geraten?

Die Scheibenwischer kamen kaum gegen den Regen an. Die Lichter der entgegenkommenden Autos blendeten mich. Schmerzen nisteten sich in meinem Kopf ein. Der Gedanke an Leander und den bevorstehenden Streit verstärkten den Schmerz. Ich wollte zehn freie Tage und nicht den bevorstehenden Weihnachtsstress …

Die Ampel vor mir drohte auf Rot zu schalten und ich beschleunigte. Grelles Licht und ein metallisches Krachen, dann wurde es dunkel …

 

 

 

Verdammt! Wütend stapfte ich durch die Wohnung, starrte erneut auf das Handy und wählte Marks Nummer an. Nichts. Wieder nur die Ansage der netten Computerstimme, dass der Teilnehmer zurzeit nicht zu erreichen sei. Ihr war es völlig egal, dass ich einen Schwall Beschimpfungen brüllte. Ihre kühle Gelassenheit reizte mich noch mehr. Konnte sie nicht wenigstens bedauernd klingen?

War ich wütend? – Nein, Wut war viel zu wenig, lodernder Zorn pulsierte mit jedem Herzschlag durch meine Adern. Warum, zum Teufel, veranstaltete ich dieses Theater? Warum nahm ich nicht einfach zur Kenntnis, dass Mark keine Lust auf gemeinsame Abende mehr hatte.

Doch nichts zu tun wäre einer Kapitulation gleichgekommen und aufgeben würde ich nicht. Niemals!

Mark war – und würde es immer bleiben – meine große Liebe. Schon bei dem ersten Blick in seine blauen Augen verliebte ich mich in ihn. Dabei war er überhaupt nicht mein Typ, zu langweilig, normal, uninteressant. Das dachte ich zumindest aus der Ferne, als ich mir jedoch einen Gin Tonic an der Theke bestellte und sich unsere Blicke begegneten, war es um mich geschehen.

Wir waren grundverschieden, unsere Kleidung, unsere Interessen, unsere Welten. Und doch spannte sich an jenem Abend eine Brücke über diesen Abgrund. Liebe fragt nicht, dessen war ich mir nach diesem Tag völlig sicher. Wenn sie mich gefragt hätte, wäre ich nicht mit Mark zusammengekommen und starrte nicht einen Tag vor Weihnachten wütend auf die Zeiger, die sich unbeeindruckt weiterbewegten.

Selbst wenn er keine Lust auf diesen Abend hatte, konnte er nicht wenigstens versuchen, sich darauf einzulassen? Mir bedeutete es viel, weil dieser Tag für immer zu den wichtigsten in meinem Leben zählte.

Mark war im gleichen Maß introvertiert wie ich extrovertiert. Ein Wunder, dass wir es an jenem ersten Abend überhaupt schafften, uns näherzukommen. Eigentlich verdankten wir das nur meiner Hartnäckigkeit.

 

Ein Klingeln riss mich aus den Gedanken und ich sah mich um, warf einen Blick auf die Uhr. Konnte das Mark sein? Ich versuchte einen Grund zu finden, warum er klingeln sollte, während ich zur Tür ging.

Oder kam jemand anderes? Freund? Verwandte?

Vor der Tür standen zwei Polizisten und mir wurde schlecht. Hundert, nein, tausend Mal sah ich diese Szene im Fernsehen und nun standen dort zwei Beamte vor meiner Tür. Meine Hand umklammerte den Griff.

„Leander Semerow?“, fragte der Jüngere von beiden.

Ich nickte, während Angst meinen Hals zuschnürte.

„Leben Sie hier mit einem Mark Lohmann zusammen?“

Wieder konnte ich nur nicken, während meine Gedanken Amok liefen.

„Dürfen wir hereinkommen?“

Ein Stück zur Seite tretend gab ich den Weg frei und die beiden traten in unseren Flur.

„Was ist passiert? Ist er …“ Die Worte konnte ich nicht aussprechen, mir war kalt und ich zitterte.

„Nein, er hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Es hätte schlimmer kommen können, aber wie es aussieht, passte sein Schutzengel gut auf ihn auf.“ Beruhigend lächelte mich der Mann an, der andere verzog den Mund leicht, doch ich ignorierte ihn.

„Wo ist er?“ Unfall, dieses Wort füllte mein Kopf, während ich hier saß und über ihn schimpfte, lag Mark schon längst im Krankenhaus.

Der Polizist nannte den Namen des Krankenhauses und ich sprang auf, um meine Jacke anzuziehen.

„In dem Zustand sollten Sie nicht fahren.“

„Ich habe kein Auto, ich nehme ein Taxi“, erwiderte ich, während ich meine Schuhe anzog.

„Wir fahren Sie kurz vorbei.“

Am kurzen Schnaufen des Älteren konnte ich hören, dass ihm diese Idee nicht gefiel, doch das war mir egal. Hauptsache, ich kam schnell zu Mark.

Wenig später sprang ich vor dem Krankenhaus aus dem Streifenwagen, vergaß dabei ganz mich bei den beiden Polizisten zu bedanken.

Die Information war unbesetzt und es schien ewig zu dauern, bis jemand kam und noch länger, bis ich endlich wusste, wo Mark lag. Intensivstation. Mein Herz hämmerte und ich hatte das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein. Ich lief durch das Krankenhaus, der Weg dauerte ewig und als ich endlich vor der Intensivstation stand, wollte mich die Schwester nicht einlassen. Zutritt nur für Angehörige.

Ich versuchte mich zu beherrschen, sie nicht anzuschreien.

„Mein Partner hat eine Patientenverfügung, darin bin ich als Bevollmächtigter eingesetzt, muss ich sie erst herholen, bevor sie mich zu meinem Mann lassen?“

„Theresa, lass den Mann rein.“ Eine ältere Schwester erschien und öffnete die Tür, sodass ich eintreten konnte. „Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Mann.“ Sanft nahm sie meinen Arm und führte mich zu einem kleinen, mit Technik vollgepackten Raum, in dessen Mitte das Bett stand, in dem Mark lag. Seinen Kopf bedeckte ein riesiger Turban, der sein Gesicht schmal und blass aussehen ließ. Langsamen Schrittes ging ich zu ihm, berührte seine Hand.

„Setzten Sie sich, junger Mann. Herr Lohmann wurde vom Arzt in ein künstliches Koma versetzt, da er eine Schwellung im Gehirn hat und diese erst abklingen muss.“ Die Schwester, Margret stand auf ihrem Namensschild, schob mir einen Stuhl hin und drückte mich an den Schultern sanft auf den Sitz. „Bleiben Sie hier, ich hole Ihnen einen Kaffee. – Keine Sorge, der Arzt ist hervorragend und er sagt, Ihr Partner wird wieder gesund.“ Kurz drückte sie meine Schulter, ehe sie das Zimmer verließ.

„Mark“, flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. Vorsichtig nahm ich seine Hand in meine. „Du Idiot, um nicht mit mir zu meinen Eltern fahren zu müssen, musst du nicht gleich einen Unfall bauen.“ Sacht streichelte ich über seine Finger. Mark besaß kräftige Hände, ich liebte es, wenn er mich mit ihnen festhielt und streichelte. In letzter Zeit hatte er mich kaum angefasst. Was war mit uns geschehen?

 

„Hier, bitte, Ihr Kaffee.“ Schwester Margaret war neben mir erschienen und reichte mir einen Becher. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„Leander Semerow.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Semerow, es wird alles gut“, sagte sie mit einem sanften Lächeln.

Alles wird gut?

Konnte jemals wieder alles gut zwischen uns werden?

Den Kaffee stellte ich auf den Boden und rutschte mit dem Stuhl ganz nahe an das Bett heran. Mark sah so verdammt verletzlich aus, dass ich mich nicht traute, mehr als seine unverbundene Hand zu berühren.

Wir waren völlig verschieden. Ich konnte nie verleugnen, wer ich war. Mein ganzes Leben wusste ich, dass ich anders war und ich versteckte es nicht. Ich trug meine Haare lang, betonte meine Augen und lackierte mir die Fingernägel. Schon in meiner Jugend trug ich am liebsten hautenge Hosen, Stiefel und weite, weiße Hemden mit Rüschen. Keiner kam je auf die Idee, dass ich etwas anderes als schwul sei. Meine Eltern wuchsen in ihre Rolle schnell hinein, sie liebten mich einfach so, wie ich war. Mein großer Bruder beschützte mich in der Schule, verteidigte mich gegen alle Anfeindungen.

Sicher lernte ich auch Abneigung und Hass kennen, wurde das ein oder andere Mal beschimpft oder bespuckt, aber durch den Halt, den ich in meiner Familie hatte, überstand ich alles ohne schwerere Schäden.

Mark war anders, als wir uns kennenlernten, hatte er sich gerade für seine erste große Liebe geoutet. Seine Eltern kamen damit genauso wenig klar wie viele seiner Freunde.

Niemand von ihnen kam jemals auf die Idee, dass Mark schwul war. Er war unauffällig, angepasst. Normalerweise stand er nicht auf Männer wie mich. Sie mussten männlich sein, groß und stark, etwas zum Anlehnen.

Dann sahen wir uns in die Augen und die Welt veränderte sich. Da Mark zurückhaltend blieb, übernahm ich den ersten Schritt und zwang ihm ein Gespräch auf, ließ mich nicht durch seine Wortkargheit abschrecken. Zu meinem Glück war er schon leicht betrunken, als ich mich neben ihn setzte. Er versuchte seinen Liebeskummer in goldenem Whiskey zu ertränken. Ohne Aufforderung nahm ich den Barhocker neben ihm in Beschlag und quatschte ihn voll. Irgendwie schien ihm das zu gefallen und er sah sogar über die Dinge hinweg, die ihm an einem Mann sonst nicht unbedingt gefielen, wie zum Beispiel meine lackierten Nägel und die Ringe an meinen Fingern.

 

Innerhalb kürzester Zeit unterhielten wir uns angeregt und nach einem weiteren Whiskey taute er auf, erzählte mir von seinem Ex und seinem Kummer. Zwei Drinks später zerrte ich ihn widerstrebend auf die Tanzfläche. In der Enge der sich rhythmisch bewegenden Masse war es einfach ihm näherzukommen. Irgendwann legte er seine Arme um mich und ich schmiegte mich an ihn. Wir sahen uns tief in die Augen, dann küsste Mark mich. Bei der ersten Berührung unserer Lippen gab es für mich keinen Zweifel mehr, dieser Mann gehörte zu mir.

Gegen Morgen landeten wir in meinem Bett, in dem nicht viel mehr geschah, als zärtliche Küsse und sanfte Berührungen. Angekuschelt an seinen warmen Körper schlief ich mit dem Gedanken an heißen Sex am Morgen ein. Daraus wurde nichts, denn Mark war aus meiner Wohnung verschwunden, ehe ich aufwachte.

Außer seinem Vornamen wusste ich nichts von ihm. Keine Adresse, keine Handynummer, rein gar nichts. Abend für Abend saß ich im Circle und wartete, hoffte, flehte zu jedem erdenklichen Gott, dass er wiederkommen möge.

Eine Woche lang geschah nichts und meine Hoffnung sank mit meiner Laune in den Keller. Offenbar erwiderte er meine Gefühle nicht. Wieder war es Samstag und ich beschloss, ein letztes Mal zu warten, käme er an diesem Abend nicht, würde ich den Laden nie wieder betreten. An der Theke sitzend starrte ich in meinen Gin Tonic, vermied jeden Blick zur Tür. Statt des stampfenden Rhythmus, der aus den Boxen quoll, schwang in mir leise Melancholie. Ich wusste, tief in meinem Herzen, dass dieser Mann zu mir gehörte, und so sehr meine Vernunft auch versuchte, logische Gründe dagegen zu finden, spürte ich, dass ich nie jemanden anders finden würde, der Gefühle in dieser Stärke in mir auslösen konnte.

Drei Gin Tonic später kämpfte ich mit geschlossenen Augen gegen die Tränen. Ich würde diesen verfluchten Laden erst verlassen, wenn sie mich rausschmissen. Solange würde ich mich an den Rest Hoffnung klammern.

Wie spät war es, als sich eine Hand auf meinen Rücken legte und ich spürte, dass manchmal Wunder wahr werden? Ich wusste es nicht, ich war mir ganz sicher, dass diese Berührung nur von Mark kommen konnte. Langsam öffnete ich die Augen und sah in den Spiegel hinter dem Tresen. Neben mir stand tatsächlich Mark. Mein Herz hüpfte aufgeregt und meine Hals fühlte sich rau an. Er sah beschissen aus, blass, unrasiert und nach viel zu wenig Schlaf. Unsere Blicke begegneten sich und sein Adamsapfel hüpfte, als er trocken schluckte.

„Leander.“ Ich hörte ihn nicht, las nur meinen Namen von seinen Lippen. Rasch drehte ich mich um und schlang meine Arme um ihn. Mit einem Seufzer lehnte er sich an mich, umklammerte mich.

„Ich bin ein verdammter Idiot“, murmelte er in mein Ohr. „Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass ich mich Hals über Kopf in den nächsten Typ verliebe – und dann noch in einen, der so gar nicht …“ Ich wusste, was er meinte, und unterbrach ihn mit einem Kuss. Es war völlig egal, wie unterschiedlich wir waren, solange unsere Herzen zusammengehörten.

 

Wenig später verließen wir das Circle und gingen zu mir. Nachdem wir in meiner Wohnung waren, fiel auf einmal jede Scheu von ihm ab. Aus dem ersten schüchternen Kuss wuchs ein Sturm, ein Orkan der Gefühle und brennendes Verlangen verwirbelte.

Mark war größer als ich und nach unserem ersten heißen Sex auf dem Flur hob er mich hoch und trug mich in mein Bett. Dort liebten wir uns langsam, gefühlvoll, zeitvergessen und sinnlich.

Mark liebte es, wenn ich auf ihm saß und meine Haare uns vor der Welt – oder die Welt vor uns verbargen. Ich liebte seine Hände in meinen Haaren, wenn er sie durchwühlte, sich darin festhielt, während er die Beherrschung verlor und auf den Wellen seines Orgasmus ritt.

Mit jeder Berührung, jedem Kuss nahm Mark mich in Besitz. Ich gehörte ihm und ich war mir sicher, dass sich das niemals ändern würde.

Mark studierte damals noch BWL, während ich gerade meine Lehre als Raumausstatter beendet hatte und von meinem Ausbildungsbetrieb übernommen worden war.

Nach nur zwei Wochen zog er in meine kleine Zweizimmerwohnung ein, die ich mithilfe meiner Eltern finanzierte.

Die ersten drei Jahre unserer Beziehung, während Mark noch studierte, waren ein Traum. Wir lebten unsere Liebe, konnten nicht genug voneinander bekommen und machten die verrücktesten Dinge. Ohne Geld in der Tasche fuhren wir mit Marks altem Golf kurzentschlossen über das Wochenende an die Ostsee. In einem geliehenen Zelt verbrachten wir sorglose Tage auf einem kleinen, sehr günstigen Campingplatz. Die anderen Camper akzeptierten uns ohne Vorbehalt.

Manches Mal fuhren wir mitten in der Nacht aus der Stadt, picknickten irgendwo im Mondschein und liebten uns auf freiem Feld – oder auf der hölzernen Badeinsel mitten im See. Wir frühstückten auf Hochhäusern, mit Blick über die Stadt, lagen auf einer Decke im Stadtpark und lasen uns aus unseren Lieblingsbüchern – oder zumindest die erotischen Passagen daraus – vor. Im Sommer tanzten wir im Regen, im Herbst tobten wir durch Blätterhaufen und im Winter lagen wir auf einem unechten Bärenfell vor einem künstlichen Kamin.

Dann beendete Mark sein Studium und bekam sofort einen Job in einem großen IT‑Unternehmen. Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich unser Leben. Marks Arbeitswochen hatten meist 60 bis 70 Stunden und die Wochenenden brauchte er zum Entspannen. Immer seltener gingen oder fuhren wir weg.

Ich liebte meine Arbeit, doch sie war nie der Mittelpunkt meines Lebens. Das war immer Mark und unser gemeinsames Leben. Leider sah Mark das für sich anderes, die Arbeit nahm immer mehr Raum ein, fraß unsere gemeinsame Zeit, veränderte seine Perspektive. Ganz allmählich merkte ich, dass ich ihn mit meinen Ideen nervte, dass er sich immer weiter von mir entfernte. Ich versuchte dagegen zu kämpfen, ihn an uns zu erinnern, doch je mehr ich mich anstrengte, desto weiter schien er sich zu distanzieren.

Das letzte Jahr war nur noch Krampf. Ich versuchte uns zusammenzuhalten und Mark wurde immer abweisender, kälter. War es an der Zeit, ihn gehen zu lassen?

Nicht kampflos. Auch wenn mir nichts mehr einfiel, was ich versuchen konnte, würde er gehen müssen, ich würde ihn nicht einfach fortschicken.

 

Ich hob meinen Kopf und sah Mark an. Ganz sacht strich ich über seine blasse Wange. Schmerzhaft fühlte ich meine Liebe für ihn in meiner Brust. „Ich liebe dich, du verdammter Idiot“, flüsterte ich leise. Dass ich weinte, sah ich erst an dem dunklen Fleck, der sich auf dem makellosen Weiß der Bettdecke bildete.

 

 

Intensives Piepen. Dumpfe Geräusche, die wie durch Watte zu mir drangen. Mein Kopf schien zu platzen. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Grelles Licht blendete mich und ich schloss die Lider gleich wieder. Wo war ich – und warum?

„Mark?“

Noch einmal versuchte ich die Augen zu öffnen. Ein Schatten schob sich vor das Licht. In meinem Kopf hämmerte der Schmerz und ich gab auf.

„Mark!“ Eine Hand legte sich auf meine. „Moony …“

Leander. Ich griff nach seiner Hand, hielt mich an ihm fest.

„Alles ist gut, Moony“, flüsterte Leander jetzt dicht an meinem Ohr.

„Was …“ Meine Stimme war rau und ich räusperte mich. „Was ist geschehen?“

„Du hattest einen Unfall.“ Eine Hand strich durch mein Gesicht.

Unfall? Es hatte geregnet … und dann waren da Lichter …

Der Schmerz in meinem Kopf wurde schlimmer und die Erinnerung an quietschende Bremsen und knirschendes Metall hallte darin.

„Oh, Moony, reg dich nicht auf.“ Zärtlich streichelte mich Leander. „Du brauchst Ruhe.“

„Was ist geschehen?“ Ich musste es wissen, musste wissen, was bei dem Unfall geschehen war.

„Du hast die rote Ampel übersehen, bist in einen anderen Wagen gefahren. – Aber keinem ist etwas Ernsthaftes passiert“, beruhigte er mich. „Alles wird wieder gut!“

Ich seufzte. Wenigstens das. Müdigkeit überfiel mich und ich ließ mich in den Schlaf gleiten. Immerhin hatte ich niemanden getötet.

 

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es dunkel, nur ein kleines Licht über meinem Kopf erhellte das Zimmer. Leander saß zusammengesunken auf einem der unbequemen Stühle neben dem Bett. Die langen Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen in sein Gesicht. Der Schmerz in meinem Kopf war abgeklungen, Durst klebte die Zunge an meinen Gaumen und ich griff nach dem Becher, der auf dem Nachttisch stand.

„Warte, ich helfe dir.“ Eine Bewegung neben mir, Leander nahm den Becher und reichte ihn mir. Ich versuchte mich aufzusetzen, ein leichter Schwindel zwang mich zurück auf das Kissen. Sofort beugte Leander sich vor und half mir ein paar Schlucke zu trinken. Ich sah in seine dunklen Augen und er schenkte mir ein schiefes Lächeln.

Irgendwie sah er anders aus und es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass seine Augen ungeschminkt waren. Keine Wimperntusche, kein Lidstrich, dafür waren die Ränder gerötet. Natürlich kannte ich Leander so, doch das Haus verließ er normalerweise nicht ungeschminkt.

Leanders Augen waren graugrün, eingerahmt von dunklen, langen Wimpern. Eigentlich stand ich nicht auf geschminkte Typen, der erste Blick in Leanders Augen stahl mir jedoch das Herz. Damals … vor sieben Jahren.

„Wie fühlst du dich?“ Leander nahm meine Hand und sah mich an. Besser als du, war ich versucht zu sagen. Erschöpft sah er aus und traurig.

Schmale Hände mit langen Fingern, die Gelenke waren etwas breiter und die Nägel gepflegt, im Moment nicht lackiert, als wir uns begegneten, waren sie glänzend schwarz. Geradezu perfekt passte seine Hand in meine, schon beim allerersten Mal. Gut erinnerte ich mich an jenen Abend, als ich sie erstmals zögernd nahm …

„Mark?“

Besorgt sah Leander mich an. Mit einem Lächeln versuchte ich ihn zu beruhigen, doch der Schatten blieb. Ich hob meine Hand, wollte durch sein Gesicht streicheln, mir fehlte jedoch die Kraft und sie fiel zurück auf das Bett. Leander hob sie hoch, hielt sie zwischen seinen, strich leicht mit dem Daumen über die Knöchel.

„Sag etwas zu mir, Mark“, flüsterte er leise.

„Was soll ich sagen?“, krächzte ich.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Vielleicht, wie es dir geht …“

Wenn Leander lächelte, erschien ein kleines Grübchen auf seiner linken Wange. An jenem Abend vor sieben Jahren, als wir uns begegneten, dauerte es lange, bis ich es entdeckte. Als er damals zum ersten Mal lächelte, schien die Sonne mitten in der Nacht aufzugehen.

„Es geht mir besser.“

Zärtlich streichelte mir Leander durch das Gesicht. „Du kratzt.“ Er beugte sich vor und küsste mich leicht auf die Nase. Seine Locken fielen dabei nach vorne, kitzelten über meine Haut, lösten wieder Erinnerungen aus …

 

Vor sieben Jahren saß ich vor dem dritten Whisky auf einem Barhocker im Circle und versuchte meinen Kummer zu ertränken. Zwei Tage zuvor hatte mich André, meine erste große Liebe, verlassen. Der Mann, für den ich mich geoutet und das Zerwürfnis mit meinen Eltern in Kauf genommen hatte. Zwar schmissen sie mich nicht gleich raus, aber die Stimmung war im Keller.

Plötzlich tauchte Leander auf, setzte sich ohne zu fragen neben mich auf den Barhocker und begann eine Unterhaltung. Eigentlich wollte ich mich in aller Ruhe betrinken, der Blick in Leanders Augen veränderte jedoch alles. Ich tanzte sogar mit ihm, dabei war ich ein grottenschlechter Tänzer und benötigte einiges an enthemmendem Alkohol, bevor ich mich zwischen all die zuckenden Leiber traute.

Gerade die Enge auf der Tanzfläche bot mir jedoch die Möglichkeit, Leander zu berühren. Dort sah er mich mit diesem unvergleichlichen Lächeln an und eroberte mein Herz. Erst am Morgen, als ich neben ihm im Bett aufwachte, überkamen mich die Zweifel und ich floh. Leander war nicht mein Typ, wir waren wie Feuer und Wasser, wie Sommer und Winter, wobei Leander immer der Sommer und das Feuer war.

Eine Woche später kapitulierte ich vor meinen eigenen Gefühlen und ging ins Circle. Zum Glück saß Leander an der Bar. Von dem Moment an gab es kein Zurück mehr.

 

„Mark? Soll ich vielleicht deine Eltern anrufen?“

Ich schlug die Augen auf. „Warum? Meinst du, sie ändern ihre Meinung und kommen den verlorenen Sohn besuchen? Nur wegen eines Autounfalls? Sie bedauern höchstens, dass ich ihn überlebt habe.“ Die Bitternis meiner Worte brannte auf meiner Zunge.

„Es ist sieben Jahre her“, warf Leander ein.

„Wenn sie ihre Meinung geändert hätten, gab es genug Gelegenheiten, uns das zu sagen.“ An meine Familie wollte ich nicht denken. Am liebsten wollte ich gar nicht denken, also schloss ich meine Augen und drifte langsam zurück in die wohltuende Dunkelheit.

 

Stimmen weckten mich irgendwann wieder. Leise und unverständlich redete jemand, ein beständiges Murmeln. Vorsichtig blinzelte ich.

„Herr Lohmann, Sie sind wach.“ Ein tiefer Bariton. Neben mir stand ein grauhaariger, großer Mann mit sympathischem Lächeln. „Eine kleine Untersuchung und dann wird die Schwester Sie auf Station bringen.“ Grelles Licht in meinen Augen, Hände, die meinen Kopf abtasteten und ihn bewegten. „Zum Glück war die Schwellung nicht so dramatisch, wie wir befürchteten. Nachdem sie abgeklungen ist, besteht kein Grund, sie länger auf der Intensivstation zu behalten.“ Ich ließ die Augen geschlossen und nickte nur leicht. Wenn er das sagte, immerhin verdiente er sein Geld damit. „Und das nächste Mal fahren Sie etwas vorsichtiger, auch wenn ich verstehen kann, dass Sie schnell nach Hause kommen wollten.“

Sollte ich ihm sagen, dass ich es überhaupt nicht eilig hatte, nach Hause zu Leander zu kommen? Leander. Wo war er? Ich öffnete die Augen und sah eine Schwester, die sich über mich beugte.

„Ich entferne jetzt all die entbehrlichen Geräte und bringe Sie auf die Innere Station“, sagte sie mit professionell freundlichem Lächeln.

„Wo …“, begann ich und musste husten, mein Hals kratzte furchtbar.

„Ihr Partner? Der spricht mit dem Doktor. Keine Angst, er ist sichers gleich wieder bei Ihnen.“ Beruhigend tätschelte sie mir die Hand. „Er begleitet uns bestimmt hinunter. – Sie haben wirklich Glück, er saß die ganze Zeit an ihrem Bett. Wir mussten ihn fortscheuchen, damit er sich ein paar Stunden Ruhe und eine Dusche gönnte.“ Sie lachte leise. „Schwester Margret hat ihm mit Zimmerverbot gedroht, erst damit konnte sie ihn bewegen, seinen Platz zu verlassen. Keine fünf Stunden später saß er wieder auf dem Stuhl neben Ihrem Bett.“

Mit wenigen Handgriffen löste sie das Bett und rollte es auf die Tür zu. „Weihnachten haben Sie zwar verpasst, aber vielleicht lässt der Doktor Sie Silvester nach Hause.“ Schon waren wir auf dem Flur, die merkwürdige Perspektive machte mich schwindelig. Ich drehte den Kopf und sah Leander neben dem Arzt stehen. Unsere Blicke begegneten sich. Er sah erschöpft aus und die Geste, mit der er sich durch das Gesicht fuhr, bestätigte diesen Eindruck. Sein Kopf nickte langsam zu den Worten des Doktors, dann verabschiedeten sich beide mit einem Händedruck und Leander kam zu mir. Für einen Augenblick dachte ich, er würde meine Hand nehmen, stattdessen steckte er seine Hände in die Hosentaschen.

Die Schwester manövrierte das Bett in die Kabine und Leander folgte ihr. Sanft glitt der Fahrstuhl zwei Stockwerke tiefer, ehe sich die Türen wieder öffneten. Ich wollte etwas sagen, fand jedoch keine Worte und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später befand ich mich in einem Zweibettzimmer. Das andere Bett war belegt, der Patient aber nicht im Zimmer. Weiches Wintersonnenlicht fiel ins Zimmer, ließ die mattgelben Wände freundlich erscheinen.

„So, Ihre Sachen hat Herr Semerow schon in den Schrank gestellt. Wenn Sie noch etwas benötigen, klingeln sie einfach.“ Mit einem Lächeln verschwand die Schwester.

Leander stand stumm vor dem Bett und knetete seine Hände. Eine Strähne hatte sich aus dem lockeren Pferdeschwanz gelöst. Er sah schrecklich erschöpft aus und ich fühlte mich schuldig. Nicht wegen des Unfalls, sondern weil ich mich eben nicht beeilt hatte zu ihm zu kommen.

„Du solltest nach Hause gehen und dich ausschlafen“, sagte ich sanft. Leanders Blick zuckte hoch.

„Wieso, willst du mich loswerden?“

Ich verdrehte die Augen, was zu einem Stich in meinem Kopf führte. „Nein, du siehst nur sehr erschöpft aus und es täte dir gut.“

„Meinst du?“ Mit einem Mal sah er schrecklich verloren aus, hilflos und traurig. Gab es einen Grund dafür? Hatte der Arzt mir etwas verschwiegen? Oder zeichneten sich in seinem Gesicht nur die Tage der Sorgen ab?

„Vielleicht hast du recht“, flüsterte er leise und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. Es war nicht echt, sein Grübchen erschien nicht. „Wenn du mich brauchst, rufst du an?“ Er deutete mit dem Kopf auf das Telefon neben dem Bett. „Ich habe es freischalten lassen.“

Gern hätte ich ihn in meine Arme gezogen, ihn festgehalten und getröstet, doch etwas in mir ließ mich nur stumm nicken. Ich bat ihn nicht, zu mir zu kommen, sondern sah nur zu, wie er mit hängenden Schultern das Zimmer verließ.

Kaum war ich allein, übermannte mich die Müdigkeit, ich wollte auch nicht nachdenken, nicht über Leander und nicht über unsere Beziehung. Schon gar nicht darüber, dass ich an seinem Unglück schuld war. Die Augen schließend ließ ich mich in den Schlaf gleiten. Schlaf ist immer noch die beste Therapie. Zumindest sagte das früher immer meine Mutter, wenn ich krank war.

 

 

 

Nach Hause. Ohne Mark waren die Räume kein Zuhause, außerdem war der zweite Weihnachtstag, wer wollte an diesem Tag schon allein in seinen vier Wänden hocken. Ich ging in die Cafeteria des Krankenhauses und holte mir einen Milchkaffee. Der Raum war mit Tannengrün und Kerzen geschmückt. Alles sehr lieblos dekoriert. Bei uns sah es anders aus, ich liebte es, den Zimmern einen Hauch von Weihnachten zu verpassen, ohne sie mit Kitsch zu überladen. Für Mark waren meine Dekorationen schon zu viel. Weihnachten war in den letzten Jahren zu einem Störfaktor seines Lebens geworden. Das war nicht immer so. Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest haben wir geradezu zelebriert. Mit Tannengrün, unzähligen Kerzen, bunten Kugeln und einem Weihnachtsbaum. Keiner von uns besaß zu dem Zeitpunkt übermäßig viel Geld und wir einigten uns darauf, es nicht für teure Geschenke auszugeben. Nur winzige Kleinigkeiten, damit wir etwas zum Auspacken hatten.

Ich bekam ein von Mark unter Anleitung einer Freundin selbst geflochtenes Lederarmband, eine einzelne meiner Lieblingspralinen und einen Gutschein für ein Frühstück im Bett. Das Armband und den Gutschein besaß ich noch.

Schon im nächsten Jahr wurden wir von meiner Familie zu Weihnachten eingeladen. Ich bin ein Familienmensch und habe mich gefreut, Mark war eher skeptisch. Für mich waren die Feiertage im Kreis meiner Familie wundervoll, er fühlte sich nicht angenommen von meiner Sippschaft. Zum Teil lag das auch an seiner Zurückhaltung, er wirkte oft, als umgäbe ihn ein Schutzwall, den man nicht einfach durchdringen kann.

Vielleicht hätte ich ihn nicht dazu überreden sollen, jedes Jahr mit mir nach Hause zu fahren … es gab in meinem Kopf viel zu viele Vielleicht.

Warum hatte er mich weggeschickt? Warum uns nicht einen Moment gegönnt? Konnte er nicht sagen oder zeigen, dass er froh war, dass ich hier war – oder war er es vielleicht einfach nicht?

Er war zu spät unterwegs an jenem Abend, ich glaubte jedoch nicht, dass er sich beeilen wollte. Sein Chef drückte, als ich anrief, um ihm von Marks Unfall und seinem wahrscheinlich länger als die 10 Tage Urlaub dauernden Ausfall zu erzählen, sein Unverständnis darüber aus, dass Mark immer länger als alle anderen im Büro blieb. Ob er denn kein Familienleben hatte? Ich schloss daraus, dass er nicht wusste, dass Mark schwul und mit mir zusammen war. Kein Wunder, Mark trennte sein Privatleben strikt von seinem Beruf. Vielleicht einfach aus Angst, dass ihm unsere Beziehung schaden könnte.

Noch ein Vielleicht. Mit ihm reden konnte ich darüber nicht, dann stritten wir sofort. Aus Marks Sicht nahm ich die Dinge immer zu leicht. Klar, bei mir wusste jeder, wie ich tickte, und in meinem Job war das wohl kein Problem, aber in seiner Firma …

Ich hasste Lügen, ich hasste das Versteckspiel und ich habe ihm manchmal deswegen zugesetzt. Vielleicht war das zu viel.

Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. – Vielleicht machte ich alles falsch, vielleicht konnten zwei Männer, die so unterschiedlich wie wir waren, nicht auf Dauer miteinander glücklich werden. Vielleicht war das Mark schon lange klar geworden und er wusste nur nicht, wie er mir das beibringen sollte. Vielleicht gab es wirklich keine gemeinsame Zukunft für uns.

Vielleicht wurde es Zeit, ihn gehen zu lassen …

Der Schmerz, der diesem Gedanken folgte, ließ mich die Augen schließen. Mark aufzugeben hieß, alle meine Träume aufzugeben. Meine Liebe aufzugeben.

„Geht es Ihnen gut?“

Ich blickte auf, eine junge Frau stand neben mir und sah mich besorgt an.

„Ja, danke, alles in Ordnung.“ Ich quälte mir ein Lächeln ab. Nicht wirklich beruhigt ließ sie mich allein.

Den Milchkaffee ließ ich unberührt, verließ die Cafeteria und blieb unentschlossen vor den Fahrstühlen stehen. Sollte ich wieder hochfahren und mit Mark reden? Nein, er hatte mich weggeschickt, ohne die kleinste Geste seiner Zuneigung, seiner Gefühle. Vielleicht, weil er nichts mehr für mich fühlte.

Ich wollte schreien, wollte kein Vielleicht mehr denken, wollte vergessen. Aktivismus überkam mich, ich rannte fast aus dem Krankenhaus, nahm das erste Taxi, das auf den Parkplätzen stand, und ließ mich nach Hause fahren.

Kaum angekommen verpackte ich alle Advents- und Weihnachtsdekoration. Ohne Rücksicht auf Verluste warf ich alles in die Kartons und brachte diese in den Keller. Ich putzte die Wohnung, wischte und saugte Staub, schrubbte die Küche und das Bad. Anschließend bezog ich das Bett. Immer noch trieb mich innere Unruhe und ich sortierte meine Hälfte des Kleiderschranks, schmiss alles raus, das länger als ein Jahr sein Dasein ohne Nutzung gefristet hatte. Die Sachen stopfte ich in mehrere Papiertüten und brachte sie zu den Altkleidercontainern.

Immer wieder zwischendurch sah ich auf mein Handy, hoffte, dass Mark mich anrufen und zu sich bestellen würde. Es war immer noch Weihnachten …

Innerlich schalt ich mich, ich wusste, dass Mark Weihnachten nichts bedeutete, dass ihm unser Zusammensein an diesen Tagen nichts mehr bedeutete.

Wieder zu Hause setzte ich mich mit einem Glas Wein auf das Sofa, vor mir auf dem Tisch mein Geschenk für Mark.

Die Dunkelheit breitete sich in dem Zimmer aus, verschluckte die Konturen der Möbel und hüllte mich ein.

Allein ohne Mark. Nicht nur heute, sondern den Rest meines Lebens. Ich versuchte den Gedanken zu ertragen. Er überwältigte mich und mit ihm die Trauer, bleiern legte sie sich auf meine Schultern, drückte mich herunter, zog mich unter die Oberfläche und ich glaubte, daran zu ersticken.

 

 

Der Mann, mit dem ich mir das Zimmer teilte, war so alt, dass die Jahre ein tiefes Netz aus Falten in sein Gesicht gegraben hatten. Einst war er sicher eine große und imposante Erscheinung, doch die Zeit beugte seinen Rücken und seine Schultern. Nur seine Augen waren helle, klar leuchtende Fenster zwischen all den Gräben.

„Hallo, mein Name ist Werner“, sagte er mit einer tiefen Stimme und ließ sich schwer auf sein Bett fallen. „Was hat dich über Weihnachten hierher verschlagen?“

„Hallo, mein Name ist Mark und ich verdanke einem ziemlich blöden Unfall mein Hiersein.“

„Autounfall?“

„Ja.“

„Dafür siehst du aber noch gut aus.“ Er grinste breit und vertiefte damit die Falten in seinem Gesicht. „Ich muss dich vorwarnen, mein letzter Bettnachbar behauptete, ich schnarche. Mich hat’s bis jetzt nicht gestört, aber vielleicht solltest du dir von der Schwester Ohrenstöpsel geben lassen oder du lässt dir welche von deiner Frau mitbringen. Ein hübscher Kerl wie du hat doch sicher eine Frau.“

„Nein, da muss ich dich enttäuschen, keine Frau, nur einen Partner“, entgegnete ich und wartete gespannt auf seine Reaktion. Wenn er sich bei der Schwester beschwerte, dann würde er sicher ein anderes Zimmer bekommen und das Thema Schnarchen hätte sich erledigt.

Werner lachte nur. „Dann bist du ja abgehärtet.“ Damit war das Thema für ihn erledigt, stattdessen unterhielten wir uns über Fußball, Politik und das Krankenhausessen. Obwohl ich dazu nicht viel sagen konnte, bisher war der Kelch an mir vorübergegangen.

Irgendwann schaltete Werner den Fernseher ein und wir sahen uns die Tagesschau an. Meine Gedanken wanderten zu Leander. Sollte ich ihn anrufen? Ich fühlte mich verdammt mies, doch was sollte ich ihm sagen? Es war zu spät, dass er herkam, und über das Telefon könnten wir nicht ungestört miteinander reden. Ich schloss die Augen, sollte Werner denken, dass ich eingeschlafen sei.

Leander. Ich erinnerte mich an unsere erste Zeit, als ich nicht genug von ihm bekommen konnte. Damals glaubte ich, nur glücklich zu sein, wenn er in meinen Armen lag und mich ansah, auf diese unvergleichliche Art lächelte. Mein Herz schlug wahrscheinlich die meiste Zeit viel zu schnell, sprang und hüpfte bei jeder Gelegenheit, bei seinem Anblick, seinen Berührungen und erst bei seinen Küssen. In dieser Zeit war ich besessen von ihm, jede Minute ohne ihn war zu viel. Morgens beim Aufwachen versüßte mir sein Anblick den Tag, egal, wie spät es war. Sicher gab es auch Streitigkeiten, wahre Stürme und Orkane in unserer Beziehung. Wir waren viel zu verschieden, um uns nicht dauernd in die Haare zu kriegen. Doch diese endeten immer im Bett – oder auf dem Küchentisch – oder dem Wohnzimmerboden – oder …

Wir stritten und versöhnten uns, genauso heiß und feurig, wie wir uns vorher die Argumente um die Ohren knallten. Leander war manchmal wie eine Diva und ich wie ein Elefant im Porzellanladen. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, ohne ihn zu sein, er gehörte zu mir, war ein Teil meines Lebens, war mein Leben.

Wann hörte das auf? Und warum?

Nach dem Studium wurde alles anders. Ich hatte Glück, bekam sofort eine Anstellung. Mein Chef setzte auf mich, protegierte mich und schnell übertrug er mir eigenständige Aufgaben. Ich arbeitete hart dafür, geregelte Zeiten spielten keine Rolle, ich wollte sein Vertrauen rechtfertigen.

Leander verstand das nicht, er begriff nicht, wie wichtig mir meine Arbeit war und dass ich – und er – dafür zurückstecken mussten. Erst wenn ich meine Stellung gefestigt, meinen Platz erobert hätte, wäre Zeit für ein Privatleben. Immerhin lebten wir gut von meinem Einkommen. Es ermöglichte uns einige Anschaffungen, wir konnten uns vieles leisten, von dem wir früher nur geträumt hatten.

Diese dauernden Diskussionen waren ermüdend. Leander spitzte die Dinge immer zu, verkürzte alles auf die Frage, ob ich ihn noch genauso liebte wie früher. Als ob das die Frage wäre, darüber wollte ich nicht streiten, natürlich war er wichtig, aber mein Job auch. Das war keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung. Sicher fraß sie viel von meiner Zeit, doch blieb nicht genug übrig? Zumindest wenn wir nicht dauernd gestritten hätten.

Diese ständigen Auseinandersetzungen, sie zermürbten mich. Ich wollte Ruhe und Frieden zu Hause, Stress gab es genug im Büro.

Wann hörten wir auf, uns zu versöhnen? Wann schliefen wir trotz eines offenen Streites einfach ein?

Mir wurde bewusst, dass wir uns auch an jenem Morgen im gärenden Streit des Vorabends getrennt hatten. Ohne ein freundliches Wort, ohne einen Kuss war ich ins Büro gefahren.

Machte Leander sich deswegen Vorwürfe? Wäre ich bei diesem dämlichen Unfall gestorben, wäre der hirnlose Streit seine letzte Erinnerung an uns gewesen.

An seiner Stelle fühlte ich mich beschissen – an meiner auch. Wieder einmal stritten wir über die Weihnachtstage, die wir bei Leanders Eltern verbringen wollten – oder sollten. Ich war ätzend, erst im Nachhinein wurde mir das klar. Leander war bereit gewesen, am zweiten Weihnachtstag nach Hause zurückzukehren, doch mir reichte das nicht, ich wollte gar nicht fahren. Warum? Nur damit ich zwei Tage länger auf dem Sofa gammeln konnte. Dabei wusste ich genau, wie viel Leander diese Tage im Kreis seiner Familie bedeuteten. Warum benahm ich mich wie ein Arsch?

Fast war ich geneigt, das Denken in diesem Moment einzustellen. Ich ahnte, dass mir meine Erkenntnisse nicht gefallen würden. Vielleicht sollte ich noch eine Runde schlafen, das würde meinem Kopf bestimmt besser bekommen.

Der Gedankenkreisel, den ich angestoßen hatte, war nicht zu bremsen. Immer schneller drehte er sich in meinem Kopf.

Ich war ein Egoist! Alles sollte sich in den letzten Jahren nur um mich drehen. Und warum? Weil ich wichtig war, hart arbeitete und mir dadurch meine Anerkennung in Form von Ruhe verdiente. Immerhin brachte ich mehr Geld mit nach Hause, ermöglichte uns – ja, was eigentlich?

Sicher wohnten wir in einer schicken Wohnung, ein Wasserbett stand in unserem Schlafzimmer, wurde jedoch kaum zu mehr als zum Schlafen genutzt. Der neue SUV in der Garage dient auch nur mir zur täglichen Fahrt ins Büro, Leander nahm nur öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad. Eigentlich wollten wir öfter gemeinsam in den Urlaub fahren, die Welt bereisen und Neues entdecken, doch die Realität hielt uns im Alltag gefangen. – Nein, sie hielt mich gefangen.

Und wenn ich bei dem Autounfall gestorben wäre …

Dann wäre alles umsonst gewesen und hätte ich meine Zeit mit einem Leben für die Arbeit verschwendet. Der Gedanke wog Zentner, legte sich schwer auf meine Brust und nahm mir den Atem. Wog der Erfolg ein glückliches Leben auf? Oder machte mich die Arbeit glücklich? Wann war ich zum letzten Mal glücklich?

Ich versuchte mich zu erinnern und musste mich durch Bilder von Streit, Stress und Frust wühlen. Wann hatte ich das letzte Mal gelacht, von Herzen gelacht? Kein gequältes Lächeln, kein Schmunzeln, sondern lauthals und unbeschwert. Keine Ahnung. Genauso wenig wusste ich, wann ich mich befriedigt und zufrieden gefühlt hatte. Dieses federleichte und zeitgleich schwere Gefühl nach gutem Sex mit dem Mann, den ich liebte. Eigentlich war es nie reiner Sex, es war Liebe, die sich in dem Sex manifestierte.

Von langer Zeit war das anders, da schwebte ich dauernd auf Wolken, fühlte mich glücklich und lachte mehrmals täglich. – Dank Leander, der dabei immer an meiner Seite war, den ich liebte und der mich glücklich machte.

Liebte ich Leander nicht mehr?

Waren meine Gefühle für ihn in den letzten Jahren verloren gegangen?

Ich wollte nicht weiterdenken, nicht an diesem Abend, nicht in einem Krankenhausbett, während der Fernseher im Hintergrund lief und mein Bettnachbar zu schnarchen begann.

Doch mein Kopf gehorchte mir nicht, drehte die Frage herum, biss sich in ihr fest. Was war Liebe? Woran ließ sie sich festmachen, wie bestimmen?

Hinter meinen geschlossenen Lidern beschwor ich Leanders Bild. Wie er vorhin vor mir stand, müde, erschöpft und traurig. Bei unserem letzten Streit wütend bis in die Haarspitzen, voller Energie, nicht bereit nachzugeben – und zeitgleich unglücklich. Ein Aspekt, der mir in unserem wütenden Wortgefecht gar nicht bewusst geworden war. Leander war unglücklich, ich machte ihn unglücklich und trotzdem blieb er bei mir. Warum?

Eine uralte Erinnerung tauchte aus meinem Unterbewusstsein auf, verblichen wie ein altes Polaroid-Foto. Wir lagen nackt in unserem kleinen Zelt, nachdem wir uns die Seele aus dem Leib gevögelt hatten. Leander lag auf meiner Brust, zeichnete Achten in das Gemisch aus Schweiß und Sperma und lächelte mich versonnen an.

„Weißt du eigentlich, worauf du dich eingelassen hast?“, fragte er und seine Stimme war rau. „Schon beim ersten Blick in deine Augen wusste ich, dass wir zusammengehören und ich dich niemals verlasse. Du bist die Liebe meines Lebens, Mark Lohmann. – Wenn du mich loswerden willst, wirst du gehen müssen.“

„Warum sollte ich gehen? Du bist die Liebe meines Lebens und ich werde immer bei dir bleiben, bis wir beide alt und grau sind“, erwiderte ich und zog ihn noch dichter an mich heran. „Bis dahin werde ich dich lieben, dich glücklich machen und dich auf Händen tragen, mein wundervoller Paradiesvogel.“

Zu der Zeit studierte ich noch, nahm das Leben leicht und uns beide kümmerte nicht, dass wir nicht viel Geld zur Verfügung hatten. Es reichte für unsere kleine Wohnung, das tägliche Leben, mehr brauchten wir nicht – nur unsere Liebe. Unser Bett war eine große Matratze auf dem Boden und ich fuhr einen alten, klapprigen Golf.

In jenen Tagen war ich glücklich, vollkommen zufrieden und dachte, es würde immer so bleiben.

Verdammte Scheiße, ich hatte es vermasselt. Ich veränderte mich, vergaß, übersah und beachtete nicht, was vorher von Bedeutung war. Redete ich mir wirklich ein, das für uns zu tun? Erwartete ich Dank von Leander, der nie mehr wollte, als mit mir glücklich zu sein?

Sicher hatte auch er sich verändert, Arbeit spielte auch in seinem Leben eine Rolle und er genoss es, wenn wir uns ein richtiges Bett oder ein feudales Essen leisten konnten. Allerdings arbeitete Leander, um zu leben, er machte die Arbeit nie zu seinem Lebenszweck, während ich genau auf diesem Trip war. Nichts war wichtiger als der Job, ich wollte angesehen sein, eine gute Stellung bekleiden – und verleugnete, oder besser gesagt, verschwieg dafür sogar Leander vor meinem Chef und den Kollegen. Nicht nur dass ich einen Mann liebte, erfüllte dieser eine Menge Klischees. Ich redete mir ein, dass ich ihr Urteil nicht brauchte, dass meine Sexualität keine Rolle für meine Arbeit spielte und rechtfertigte damit, dass ich ihn nicht mitnahm, wenn ich eingeladen wurde.

In diesem Moment mochte ich den Mann, zu dem ich in den letzten Jahren geworden war, nicht mehr. Blieb Leander tatsächlich bei mir, weil ich die Liebe seines Lebens war? Obwohl ich zu einem egoistischen Idioten mutierte?

Das führte mich auch zu meiner Ausgangsfrage zurück, liebte ich Leander noch?

An diesem Punkt meiner deprimierenden Selbsterkennungsreise unterbrach mich die Schwester, die zum Blutdruckmessen kam und mir Tabletten mitbrachte.

Nur zu gern ließ ich mich hinterher durch Werner ablenken, der mir von seinem Leben erzählte, und ich schlief tatsächlich irgendwann darüber ein.

 

Krude Träume durchzogen meinen Schlaf, die mich mitten in der Nacht schweißnass aufweckten, ohne dass ich mich an ihren Inhalt erinnerte. Werner schnarchte und es klang, als sägte er dabei einen ganzen Wald ab.

Vorsichtig schob ich mich aus dem Bett. Am Abend begleitete mich noch ein Pfleger ohne Zwischenfälle zur Toilette, dann sollte ich das auch allein schaffen. In dem matten Licht der Spiegelbeleuchtung sah ich mich zum ersten Mal genauer an. Der Turban auf meinem Kopf wirkte bedrohlich, ich war blass wie eine Wasserleiche, mein linkes Auge blutunterlaufen und meine Lippen spröde. Kein erbaulicher Anblick.

Während ich mich betrachtete, erwachte in meiner Brust schmerzlich die Sehnsucht nach Leander. Ich wollte ihn an meiner Seite, er sollte mich anlächeln und mir sagen, dass alles nicht so schlimm war. Seine positive Einstellung, sein Optimismus würden mich aufbauen. Seine Arme um meinen Bauch, sein Kopf auf meiner Schulter und ein freches Grinsen im Gesicht. Ich wollte ihn spüren, riechen, mich an ihn lehnen und mich von ihm auffangen lassen. – Himmel, ich war wahrscheinlich der größte Egoist auf der Welt! Wenn es mir schlecht ging, erinnerte ich mich seiner Liebe, die ich sonst nicht beachtete.

Aber auch diese Selbstvorwürfe milderten nicht den Wunsch, ihn bei mir zu haben. Ich musste mit ihm sprechen. Unbedingt und sofort. Nur seine Stimme hören und wissen, dass er noch da war.

Leise schlich ich mich ins Bett, nahm den Hörer ab, fragte mich kurz, wo mein Handy abgeblieben war, und wählte seine Nummer. Die einzige Handynummer, die ich auswendig konnte.

Normalerweise war Leander ein Telefonjunkie, er reagierte immer, außer beim Sex, dann konnte es passieren, dass das Handy fliegen lernte, wenn es klingelte. Ich musste bei der Erinnerung grinsen. Er saß auf mir, ritt mich mit dieser herrlichen, gefühlvollen Langsamkeit, als dieses verdammte Handy klingelte. Zu seinem – des Handys – Unglück lag es in Griffweite und Leander schnappte es nach dem vierten Klingeln und warf es aus dem Zimmer in den Flur. Leider landete es unglücklich und überlebte diese Behandlung nicht.

Doch in dieser Nacht ging er nicht dran. Da seine Mailbox ausgeschaltet war, konnte ich ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. Wo war er?

Schlief er zu fest und hörte das Klingeln nicht? Hatte er das Handy ausgeschaltet? War er nicht zu Hause? Ich dachte an seinen traurigen Blick. Wenn er sich nun Trost suchte? Es fiele ihm bestimmt nicht schwer, eine geeignete Schulter und mehr zu finden. Leander war ein ausnehmend schöner Mann, auch wenn ich ihm das bestimmt ewig nicht gesagt hatte. Viele Männer standen auf ihn, gut erinnerte ich mich an all die begehrlichen Blicke, wenn wir zusammen unterwegs waren. Damals dachte ich immer, guckt nur, er gehört allein mir. Vielleicht war das seit heute anders …

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Mehrmals versuchte ich ihn zu erreichen, doch der Ruf ging immer ins Leere. Angst, Wut, Frust und Panik wechselten sich ab. Mal verwünschte ich ihn, sehnte mich nach ihm und wollte ihn im nächsten Augenblick nie wieder sehen.

Erst gegen Morgen, als das erste Grau sich ins Zimmer schlich, schlief ich wieder ein.

 

Nicht lange und der alltägliche Trubel begann, die Putzfrau, das Frühstück, die Schwester mit Blutdruckmessgerät und Tabletten. Alles glitt im Halbschlaf an mir vorbei. Erst die Visite weckte mich vollständig auf.

„Wie spät ist es?“, fragte ich den Arzt und er antwortete mit einem Lächeln: „Gerade 10:00 Uhr.“

Kaum war der Pulk aus meinem Zimmer, griff ich zum Telefon. Nach dem vierten Klingeln meldete sich Leander mit einem verschlafenen „Hm“.

Ich wusste genau, wie er jetzt aussah, die Haare verwuschelt, die Augen halb geschlossen, mit einem Kissenabdruck im Gesicht. „Verdammt, wo warst du? Ich habe die halbe Nacht versucht, dich zu erreichen.“

„Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Mark. Ich habe geschlafen.“ Er war verärgert, jetzt würden sich seine Augenbrauen zusammenziehen.

„Geschlafen? Ich habe bestimmt zwanzig Mal angerufen, hast du dein Telefon ausgestellt?“ Das tat Leander nie, außer … früher, wenn wir uns bewusst eine Auszeit genommen haben, dann stellten wir beide unsere Handys aus. Konnte es sein, dass er mit jemand anders …

„Ich habe es nicht gehört“, brummte Leander und klang tatsächlich noch sehr verschlafen.

„Du hörst dein Handy nicht? Warum? Warst du zu beschäftigt?“ Ich klang zickig, dagegen konnte ich nichts tun.

Ein Schnauben war die Antwort. „Ich habe die letzten vier Tage nicht gerade viel geschlafen. Gestern brauchte ich meinen Schlaf und habe zwei statt einer Schlaftablette genommen. Mit dem Glas Wein hat es offenbar perfekt gewirkt.“

„Seit wann nimmst du Schlaftabletten?“ Leander griff selten bis nie zu pharmazeutischen Produkten. Bestimmt nicht, weil er mal eben nicht einschlafen konnte, und nach einfachen Baldriantabletten klang das nicht.

„Willst du das wirklich jetzt mit mir ausdiskutieren?“ Leander gähnte herzhaft.

„Ja, verdammt! Ich habe mir Sorgen gemacht!“

Ein Moment Schweigen. „Das brauchst du ja jetzt nicht mehr. Mir geht es … gut.“

Das kurze Zögern nahm ich wahr, doch ich ignorierte es. Ich war selbst müde, immer noch verärgert und wusste Leanders Verhalten nicht einzuordnen. Warum nahm er Tabletten … Nein, ich wusste, dass es etwas mit mir zu tun hatte, und das belastete mich. Doch statt zu versuchen, mit ihm zu sprechen, benahm ich mich mal wieder wie ein Idiot. „Dann geht es ja wenigstens einem von uns gut.“

Das Nächste, was ich hörte, war nichts, da Leander aufgelegt hatte.

„Das war taktisch nicht besonders klug“, sagte Werner und sah mich an. „Die halbe Nacht versuchst du ihn zu erreichen und dann machst du ihm Vorwürfe.“

„Ich weiß“, seufzte ich und wählte erneut Leanders Nummer, jetzt war das Handy ausgeschaltet. Frustriert legte ich auf.

Werner sagte nach einem Blick in mein Gesicht nichts und ich schmiss mich auf das Kissen. Sofort pochte mein Kopf. Verdammt! Ich schämte mich, ich hatte aus dem fröhlichen, unbeschwerten Leander einen traurigen, Schlaftabletten nehmenden, unglücklichen Leander gemacht – und schaffte es nicht einmal, ein vernünftiges Wort mit ihm zu wechseln. Ich musste mit ihm sprechen, wir mussten über all die Dinge reden, die schiefgelaufen waren.

Im zehn Minuten Takt rief ich bei hm an, doch sein Handy schwieg hartnäckig.

„Vielleicht interessiert es dich nicht, aber ich bin ein alter Knochen und darf jungen Leuten ein Ohr abquatschen.“ Werner lächelte mich schief an. „Als ich jung war, so ungefähr in der Steinzeit, verliebte ich mich in Erika. Sie war meine große Liebe. Vom ersten Tag an wussten wir, dass wir zusammengehörten. Als wir uns trafen, waren wir verdammt jung. Ich neunzehn und Erika sechzehn Jahre alt. Trotzdem gab es für uns beide nie den Hauch eines Zweifels.“ Er lächelte versonnen. „Unsere Eltern durften nichts ahnen, darum trafen wir uns heimlich an einer Bank im Wald. Wenn es die Bank noch gibt, dann bestimmt auch das Herz, das ich mit einem Messer hineinschnitt. E + W. – Als Erika achtzehn war, hielt ich um ihre Hand an, widerwillig stimmten ihre Eltern zu und wir heirateten. Mein Gott, waren wir glücklich. Es war eine kleine Trauung, nur wir, unsere Trauzeugen und unsere Eltern, doch das war völlig egal, wir liebten uns. – In den ersten Jahre war bei uns immer das Geld knapp. Wir lebten in einer winzigen Wohnung und waren glücklich. Als Thomas, unser erster Sohn, geboren wurde, war ich der glücklichste Mann auf Erden. Zu der Zeit bekam ich das Angebot von meiner Firma, für einige Zeit nach Brasilien zu gehen. Für mehrere Monate wäre ich zwar nicht bei meiner Familie, aber dafür würde ich gut – sehr gut verdienen. Natürlich willigte ich ein. Ich wollte Erika und Thomas etwas bieten und das war der Weg dazu. Dabei ignorierte ich, dass meine Frau dagegen war. Dass sie mich lieber bei sich als in Brasilien gewusst hätte, egal, wie viel Geld ich dabei verdiente.“ Werner schwieg einen Moment. „Ich Narr dachte, dass Geld vieles aufwiegen würde. Dem Job folgte der nächste, ich war nur noch unterwegs. Ich konnte meiner Familie ein Haus bauen, wir bekamen noch eine Tochter, Judith, die ich erst sah, als sie drei Monate alt war, da ich zum Zeitpunkt ihrer Geburt in Chile war. Uns ging es finanziell gut, doch meine Ehe löste sich in nichts auf. Meine Frau begann zu trinken und starb nach zehn qualvollen Jahren an Leberzirrhose. Mein Sohn verließ anschließend das Haus und hat bis heute nicht mehr mit mir geredet und Judith … sprechen wir nicht davon.“ Werner wendete den Kopf und sah aus dem Fenster. „Wenn du deinen Mann liebst, dann hör gut auf das, was er will. Wenn er nicht die gleichen Ziele wie du hat, dann musst du deinen Weg vielleicht überdenken – oder dich von ihm trennen.“

Von Leander trennen? Ich horchte in mich. In der jüngsten Vergangenheit habe ich manchmal gedacht, dass … eine Auszeit uns beiden guttun würde, dass das Leben ohne ihn ruhiger und einfacher wäre.

„Weißt du, Mark,“, unterbrach Werners Stimme meine Gedanken, „ich musste auf die harte Tour lernen, dass es wichtigere Dinge gibt als Geld und Erfolg. Vielleicht reicht manchen Menschen beides zum Glücklichsein, doch wenn ich an die ersten Jahre mit Erika denke, in denen ich gelebt habe, wirklich gelebt, so heftig gelebt, dass ich es in jeder Faser meines Herzen, meines Körper und meiner Seele spüren konnte, dann weiß ich, dass ich mich für den falschen Weg entschieden habe.“ Er sieht mich an und ein Schatten verfinsterte seine Miene. „Glücklich war ich schon lange nicht mehr.“

Mir fiel keine Antwort darauf ein und Werner schien auch keine erwartet zu haben, mit einem kleinen, schiefen Lächeln nahm er sich ein Buch von dem Nachttisch.

War ich glücklich? Nein, darüber brauchte ich nicht einmal nachdenken. Ich wusste genau, wie sich Glück anfühlte, aber ich hatte vergessen, wie man glücklich war.

Mein Gefühl von Glück hing bisher immer an Leander. Mit ihm zusammen konnte ich es fühlen. In tausend kleinen und großen Dingen. Manchmal reichte es, wenn er mich anlächelte, dann schwoll mein Herz an und pumpte mit jedem Schlag dieses wunderbare Gefühl durch meinen Körper.

In wie vielen stillen, kleinen Momenten fühlte ich es. In einigen großen wollte es meinen Brustkorb sprengen.

Ich – Wir verlernten es im Laufe der Zeit. Wunderbare Augenblicke verstrichen und wir nahmen sie nicht mehr wahr.

Wollte Leander darum oft zurück an Orte, an denen wir glücklich waren? Wollte er mich an diese Dinge, diese Momente und unsere Gefühle erinnern? War ich vielleicht zu verbohrt, um das zu merken?

Vielleicht? Bestimmt, ich war nur fixiert auf meine Karriere, den nächsten Schritt vorwärts. Keine Zeit für diese Art der Nostalgie.

Ich nahm das Telefon und rief Leander an, noch immer war das Handy aus.

  

 

Was bildete sich dieser Blödmann eigentlich ein? Dass ich mich mit irgendeinem Typen getröstet hatte? Das würde bedeuten, dass er eifersüchtig war … lachhaft. Eifersucht war schon lange kein Thema mehr für Mark.

Noch immer nicht ganz wach rollte ich mich aus dem Bett. Mit halb geschlossenen Augen ging ich in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Ohne an etwas zu denken, lehnte ich den Kopf an den Küchenschrank und wartete auf den Lebensgeister weckenden Duft frischen Kaffees. Diese Tabletten hatten mich vollständig ausgeknockt. Zwei und Alkohol waren wahrscheinlich nicht sehr schlau von mir gewesen. Aber ich brauchte den Schlaf. Nicht dass ich mich danach viel erholter fühlte. Eins nach dem anderen, erst Kaffee, dann Dusche und dann Gehirn wieder anschalten. Bis dahin nicht denken – und nicht fühlen.

Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Bildmaterial: InnervisionArt / Shutterstock bearbeitet durch Samjira
Lektorat: Bernd Frielingsdorf / C. Rathke
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2016

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