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713

 

In meiner Welt gibt es keinen Tag und keine Nacht, keinen Himmel, keine Sonne und keinen Mond, nur ewige Finsternis, willkürlich unterbrochen durch das künstliche Licht, das unser klägliches Dasein phasenweise erhellt. Den Rhythmus des Lebens bestimmen die Sirenen, die uns zur Arbeit rufen, ankündigen, wenn es Essen gibt und wann die Dunkelheit zurückkehrt.

Nur in meinen Träumen tauchen manchmal Erinnerungen an eine andere Zeit auf. Fragmente, die ich nicht einordnen kann, die eine tiefe Sehnsucht in mir hinterlassen … weicher Boden unter meinen Füßen statt des harten Steins, angenehme Wärme, die mich zu streicheln scheint, Arme, die mich umfangen und eine Stimme, die leise eine Melodie summt – oder meinen Namen ruft. Ich weiß, dass es mein Name ist, doch ich kann ihn nicht verstehen, nicht festhalten, wenn die Sirenen uns aus dem Schlaf reißen.

Tiefe Trauer erfüllt mich, ich habe meinen Namen vergessen, bin zu der Nummer geworden, mit der die Wärter mich rufen: 713.

Irgendwo außerhalb dieser Berge, in denen wir zu Hunderten arbeiten, gibt es eine andere Welt, doch mit jedem Tag in der Finsternis verliere ich die Erinnerung – verliere ich mich ein Stückchen mehr.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon hier bin. Sind unsere Tage genauso lang wie die Tage über der Erde? Aus dem Kind, das mit sechs Jahren hierherkam, ist ein Mann geworden. – Nein, kein Mann, ein Sklave des Königs, von seinem Dorf zur Tilgung der Steuerschuld an die Eintreiber des Königs übergeben.

Wussten sie, wohin sie mich schickten? Ich bezweifele es. Keiner kehrt aus den Minen zurück, wer unter der Erde verschwindet, stirbt auch unter der Erde.

Die Sirene schrillt dreimal durch die Tunnel, Zeit für die wöchentliche Dusche. Müde nach der langen Arbeit schleppen wir uns in schier endlosen Reihen zu den Stationen. Duschen, Haarentfernung, Injektion und frische Arbeitskleidung.

Ein gutes Gefühl, wenn der Schmutz aus den Poren gewaschen wird, auch wenn die Seife furchtbar stinkt. In Haaren können sich Ungeziefer einnisten, darum wird penibel darauf geachtet, dass unsere Körper einmal pro Woche vollkommen enthaart werden.

Die Spritzen sollen unsere Gesundheit erhalten, sagen zumindest die Gerüchte. Genauso wie sich erzählt wird, dass ein Sklave im Durchschnitt fünfzehn bis zwanzig Jahre durchhält, dann ist seine Kraft verbraucht, seine Leistung lässt nach und er wird aussortiert.

Woher in dieser zeitlosen Welt diese Angaben kommen, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal, Leben unter dieser Erde unterscheidet sich nur unwesentlich vom Tod. Manchmal hoffe ich, dass meine Zeit bald vorbei ist, dass ich endlich zur Ruhe kommen darf und die Reste meines früheren Lebens endgültig vergesse, die schmerzhaft in meiner Brust lauern.

 

Nach der wöchentlichen Hygiene folgt die Ansprache des Leiters der Mine. Ob er denkt, dass nur einer von uns ihm zuhört? Uns ist gleichgültig, was mit dem Gestein passiert, dass wir bis zur Erschöpfung schlagen. Ebenso wenig interessieren uns der König und seine Erfolge. Wir sind hungrig und müde.

Erst als er die gefürchteten Worte ausspricht, horcht die Menge auf. Freiwillige für die Geistermine. Leises Murmeln geht durch die Menge, Blicke werden gesenkt und Schuhspitzen interessiert betrachtet. Dabei ist es egal, Freiwillige gibt es nicht, schon bevor er überhaupt seine Rede beginnt, stehen diejenigen fest, die in die Geistermine gehen müssen.

„Die Nummern 659, 591, 713 und 802 haben die Ehre, ihren Dienst für den König in der Geistermine zu leisten.“

Ich schließe die Augen. Die Gerüchte sind vielfältig, da jedoch keiner von der gefürchteten Freiwilligenarbeit zurückkehrt, völlig ohne Belang. Nicht zurückkehren heißt sterben. Ein Gedanke, der sehr verlockend klingt.

Statt mit den anderen zur Essensausgabe zu gehen, werden wir vier von den Wachen isoliert. Kahlköpfig mit eingefallenen Wangen und blasser Haut sehen wir in dem künstlichen Licht fast gleich aus. Die grauen Overalls, die alle Sklaven tragen, tun das ihre dazu. Nur die großen Ziffern auf unseren Rücken unterscheiden uns. Keiner von uns kann lesen, schreiben oder rechnen. Wir kennen unsere Zahl, mehr nicht. Mehr ist nicht notwendig in den Minen.

Der Minenleiter tritt zu uns, er ist groß, hat volles, dunkles Haar und riecht gut. Nicht nach der stinkenden Seife. Lächelnd baut er sich vor uns auf.

„Ihr geht an die Oberfläche, dort erhaltet ihr Essen und könnt ein paar Stunden schlafen. Anschließend werdet ihr in die Geistermine gebracht. Keine Angst, es gibt dort nicht wirklich Geister, die Einfältigen, die an Märchen glauben, gaben ihr in der Zeit der Legenden diesen Namen.“ Er lacht unangenehm und gibt den Wärtern, die bei uns stehen, ein Zeichen, uns fortzubringen.

Ein ratternder und ächzender Lastenaufzug bringt uns aus den Minen. Die Fahrt dauert scheinbar ewig. Bevor wir hinaustreten, gibt uns einer der Wärter getönte Schutzbrillen für unsere Augen. Trotzdem ist das Licht, in das wir treten, viel zu grell und brennt in meinen Augen.

Überwältigt bleibe ich stehen. Wind streicht über mein Gesicht, trägt fremde Gerüche zu mir. Auch wenn wir in einer Art Felskessel stehen, ist es berauschend, sich über der Erde zu befinden. Erst ein Stoß in den Rücken erinnert mich daran, wo ich bin. Bei jedem Schritt, mit dem ich den anderen folge, sehe ich nach oben in den Himmel, der sich blau über uns erstreckt. Nie sah ich etwas Schöneres.

In einer kleinen Blechhütte füllt ein fetter Koch uns undefinierbaren Brei in hölzerne Schalen. Über der Erde scheint das Essen genauso schlecht zu sein wie unter ihr. Obwohl mein Magen vor Hunger knurrt, muss ich bei jedem Bissen hinaussehen, mich überzeugen, oberhalb des Gesteins zu sein. Mir ist bewusst, dass dieser Zustand nicht lange dauern wird, darum will ich jeden kostbaren Moment in mich aufsaugen.

Statt in einer Hütte sollen wir unter einer Plane auf dem Boden schlafen. Egal wie müde ich bin, hier kann ich nicht schlafen, zu wunderbar sind die Eindrücke, die Empfindungen und die Gerüche. Ganz am Rand liegend kann ich an der Plane vorbei den Himmel sehen. Ein paar weiße Wolken ziehen über das perfekte Blau. Ein Vogel gleitet durch die Luft, weckt in mir den Wunsch, es ihm gleichzutun. Dort oben schweben, weit über den Bergen, den Menschen und meinem jämmerlichen Sein. Frei sein. Irgendwann mitten in diesen berauschenden Gedanken überwältigt mich die Erschöpfung. Erst ein unsanfter Fußtritt in meine Seite weckt mich auf. Es ist dunkel, die Schutzbrillen brauchen wir nicht mehr.

Jeder von uns bekommt neben einer dünnen Jacke eine Flasche Wasser, die er an den Schlaufen des Overalls befestigen kann, dann marschieren wir los. Die Fußfesseln habe die Wärter entfernt, dafür Eisen um unsere Handgelenke gelegt. Über einen steilen Pfad geht es aufwärts, bis wir aus dem Kessel hinaustreten. Es ist dunkel und unzählige Sterne stehen am Nachthimmel, eisiger Wind streicht über den Berg, der sich rau und kantig vor uns ausstreckt. Der Anblick – der Augenblick ist überwältigend, für immer möchte ich hier stehen bleiben und staunen. Erinnerungsfetzen blitzen in meinem Kopf auf, ich höre Lachen und Musik …

„Nicht stehen bleiben! Geh!“ Ein weiteres Mal treibt mich ein Stoß in meinen Rücken vorwärts. Mühsam steigen wir aus der Senke, dann führt uns ein schmaler Weg hinunter. Mehr als einmal strauchelt einer von uns, fällt und reißt sich die Haut am Berg auf. Abstützen können wir uns mit den gebundenen Händen nur unzureichend. Doch das interessiert die Wärter nicht, sie zerren uns auf die Beine und schubsen uns weiter.

Wie lange gehen wir? Ich weiß es nicht, irgendwann weicht die Dunkelheit und ein zarter rosa Streifen erscheint am Horizont. Zu gern würde ich verharren und das Erscheinen der Sonne bestaunen, doch die Wärter zwingen uns weiter.

Als die Sonne gerade die Linie in der Ferne überschritten hat und in voller Größe am Himmel leuchtet, legen die Wärter eine Pause ein, um zu essen. Wir bekommen nichts. Ich nutze die Rast, trinke einen kleinen Schluck und setze mich auf den Boden. Meine Beine schmerzen von der ungewohnten Belastung. Sonst stehe und knie ich den ganzen Tag, heute muss ich laufen.

Als wir weitergehen, folgen wir nicht mehr dem Weg bergab, sondern einem Pfad, der sich am Gestein vorbeiwindet. Die Sonne scheint nun unerbittlich auf uns herab und ich bin froh, dass man uns die Brillen überlassen hat. Schweiß läuft zwischen meinen Schulterblättern mein Rückgrat hinab. Für ein bisschen Schatten wäre jeder von uns dankbar. Mir schwirrt der Kopf und ich taumele, nur der harte Griff eines Wärters hält mich auf dem Weg.

„Pause! 713 muss trinken“, brüllt er nach vorn. Die Kolonne hält, ich trinke und versuche ruhig zu atmen. Kaum schließe ich den Karabinerhaken wieder an meinem Overall, geht es weiter. Erst als die Sonne hinter dem Berg verschwindet, erreichen wir eine Höhle, in der wir übernachten. Eine Handvoll Körner und Beeren ist unser Essen, während sich die Wärter Brot, Käse und Wurst gönnen. Doch das stört mich nicht mehr, längst bin ich über den Punkt hinweg, Ungerechtigkeit zu verfluchen. Ich rolle mich auf dem harten Boden zusammen und versuche zu schlafen. Die wichtigste Regel: seinem Körper ausreichend Erholung zukommen zu lassen.

Ungewohnte Geräusche wecken mich auf. Stöhnen, Keuchen und leises Weinen. Ich brauche meine Augen nicht aufschlagen, um zu wissen, was dort passiert. 591 ist eine Sklavin und die Wärter bedienen sich ihres Körpers. Das gehört zum Alltag, mal sind es die Frauen, manchmal die Männer, die sich die Wärter holen.

Ich fühle mit 591, doch ich kann ihr Schicksal nicht ändern. Wenn sich einer von uns einmischt, wird er brutal zusammengeschlagen und dient den Wärtern als das nächste Objekt ihrer Begierde. Alle Emotionen versuche ich hinunterzuschlucken und mich nur auf mich selbst zu konzentrieren. Trotzdem ich schon lange in den Minen arbeite, fällt es mir immer noch schwer, gegen das Leid anderer immun zu sein.

Erst als sie von 591 ablassen, gelingt es mir wieder einzuschlafen.

 

Viel zu früh treiben uns die Wärter wieder auf den Berg. 591 geht vor mir und ich sehe den Riss im Overall und ihren gebückten Gang. Sie ist jung, fast noch ein Kind, vielleicht war dies das erste Mal, dass sie von den Wärtern missbraucht wurde. Gern würde ich ihr Trost spenden, doch Reden ist untersagt. Als die Sonne wieder erbarmungslos auf uns hinabscheint, machen wir eine kurze Rast. Danach folgen wir einem Pfad, der den Berg wieder hinaufführt. Ist es der gleiche Berg oder ein anderer? Wie weit sind wir gelaufen? Das spielt alles keine Rolle. Am liebsten würde ich immer weiterlaufen, denn solange wir laufen, müssen wir nicht zurück in den Berg. Trotz Hitze und Anstrengung genieße ich jeden Moment an der Luft, sauge die verschiedenen Gerüche in meine Nase und begrüße jede Erinnerung, die mir einfällt. Leider sind sie nie klar und deutlich, immer nur verschwommen und nicht greifbar. Aber ich hatte ein Leben außerhalb des Berges, es gab dort Menschen, zu denen ich gehörte, und ich trug einen Namen statt einer Nummer, auch wenn ich mich nicht mehr an ihn erinnere.

 

Kurz vor dem Bergkamm legen wir eine längere Pause ein. Auf dem Rücken liegend starre ich in den Sternenhimmel und versuche die Augen aufzuhalten. Irgendwann siegt die Müdigkeit und ich falle in einen tiefen Schlaf.

Gleich nach dem Wecken geht es weiter. Der Himmel ist bedeckt mit grauen Wolken, die ein stürmischer Wind eilig darüber jagt. Hier auf dem Berg zerrt der Sturm erbarmungslos an uns. Mit gefesselten Händen können wir nur ungenügend den Böen widerstehen, sodass die Wärter sich nach langer Diskussion entschließen, uns die Ketten abzunehmen. Zum Weglaufen fehlt uns eh die Kraft – und wohin auch? Das ganze Land wird vom König regiert, seine Soldaten sind überall, uns bliebe kein Ausweg.

Mit einem Mal ergießen die Wolken ihre schwere, nasse Ladung auf uns. Kalte Tropfen schlagen uns ins Gesicht und durchdringen unsere Kleidung. Grelle Blitze erhellen das Grau, Donner folgt augenblicklich, bringt den Berg zum Beben.

Würde ich es bedauern, wenn eine der gelblich zuckenden Entladungen mich treffen würde? Nein, dies wäre ein Tod außerhalb der Minen, inmitten tosender Naturgewalten, viel besser, als sich weiter zu quälen.

Die Wärter fluchen wütend. Sie drängen uns zusammen, quetschen uns alle in eine winzige Höhle, bis der Sturm sein Wüten einstellt. Kaum schwächt der Regen ab, schicken sie uns wieder hinaus. Das Unwetter hatte die Luft deutlich abgekühlt, wir frieren in den nassen Kleidern. Ein Umstand, der für die Wärter ohne Bedeutung ist, sie treiben uns einfach weiter, eingehüllt in ihre dicken, wasserdichten Mäntel.

Die Felsen sind feucht und rutschig, das Gehen wird immer schwieriger. Andauernd stolpere ich, meine Hände sind an mehreren Stellen aufgeschlagen. Endlich halten wir vor einer großen Höhle. Unsere Nahrung besteht wieder aus einer Handvoll Körner und Beeren, anschießend rolle ich mich zusammen und versuche zu schlafen, verdränge die Stimmen der Wärter, die sich lautstark unterhalten.

Diese Nacht holen sie sich 802.

 

Der Wind hat nachgelassen, die Wolken sind abgezogen und die Sonne geht auf. Wieder sind wir auf dem Weg, immer noch bergauf. Es ist kalt. Mir fehlt die Kraft mich zu orientieren, ich folge einfach nur dem vorgegebenen Pfad. Die Wärter, eingehüllt in ihre warmen Mäntel, lachen und scherzen miteinander.

Warum gehe ich weiter? Warum kämpfe ich um mein jämmerliches Leben? Um wieder in eine Mine eingesperrt zu werden, so lange bis ich sterbe? Warum gebe ich nicht einfach auf? Links neben mir ist ein steiler Abgrund, nur ein kleiner Schritt …

Was treibt mich weiter? Ich weiß es nicht, doch statt aufzugeben, setze ich weiterhin einen Fuß vor den anderen.

 

Am Mittag überschreiten wir einen Bergkamm, jetzt geht es wieder bergab. Am Abend zieht erneut ein Sturm auf, eisiger Wind raubt mir jedes Gefühl im Gesicht. Meine Füße kann ich kaum noch spüren. Endlich dirigieren uns die Wärter in eine Höhle.

Erstarrt bleibe ich stehen, ein Feuer erhellt die Umgebung. Männer und Frauen sitzen darum und sehen überrascht auf.

Bevor ich begreife, was geschieht, haben sie Waffen in den Händen und richten diese auf unsere Gruppe. Einer der Wärter will ebenfalls sein Gewehr heben und der erste Schuss fällt. Instinktiv packe ich 591 neben mir und reiße sie mit mir zu Boden.

Es dauert nicht lang und die Waffen schweigen. 591 neben mir weint. Vorsichtig hebe ich den Blick.

„Verdammt, was ist das denn?“, fragt eine Stimme.

„Ein Sklaventransport“, erwidert eine andere.

„Was machen wir jetzt?“, fragt eine Frau.

„Wir warten auf Dagur und Tomaz“, entgegnet die zweite. „Schmeißt die Leichen den Berg hinab.“

Als Schritte näherkommen, senke ich schnell den Kopf. Jemand legt mir eine Hand auf die Schulter. „Keine Angst, wir tun euch nichts.“

Ich sehe auf und über mir hockt ein älterer Mann mit grau melierten Haaren. Er lächelt mich beruhigend an. „Ich bin Egill.“

„713“, antworte ich leise. Ein Schatten huscht über das freundliche Gesicht, doch schnell kehrt das Lächeln zurück.

„Ihr müsst frieren, kommt an das Feuer.“ Über die Schulter gewandt ruft er zu den Männern, die sich an den Wärtern zu schaffen machen: „Zieht ihnen die warmen Mäntel und Schuhe aus. Behaltet die Decken, Lebensmittel und Waffen.“

„Hältst du uns für vollkommen verblödet?“, fragt ein Mann scharf.

„Nein, aber wenn ich es gesagt habe, ist es nicht meine Schuld, wenn du es vergisst, Brynjar.“

Der Angesprochene flucht lautstark und Egill lacht, ehe er sich wieder mir zuwendet. „Kommt, wir haben bestimmt auch etwas zu essen für euch. Der lange Marsch muss euch hungrig gemacht haben.“ Mit einem leichten Klopfen auf meine Schulter steht er auf.

Vorsichtig erhebe ich mich und sehe mich um. Keine Ahnung, wer die Menschen sind, was sie wollen und wie ich die Situation einschätzen soll. Sind sie jetzt unsere Herren? Beanspruchten sie uns als Sklaven? Zögernd folgte ich Egill zum Feuer, die anderen wiederum folgen mir.

Kaum sitzen wir in der Nähe der Flammen, legt uns jemand Decken um die Schultern und reicht uns einen Becher mit warmer Milch. Die Erschöpfung des Tages macht sich bemerkbar und meine Muskeln beginnen zu zittern.

„Wo kommt ihr her?“, fragte uns eine der Frauen, während sie uns aus dem großen Topf Suppe in flache Schalen füllt.

Alle drei sehen mich an und ich zucke mit den Schultern. „Aus einer der Minen …“, antworte ich vage. Genauer kann ich es nicht benennen.

„Lass sie in Ruhe, Katla.“ Egill legt der Frau eine Hand auf die Schulter. Als sie etwas zu ihm sagen will, schüttelt er den Kopf und sie schweigt.

Verstohlen betrachte ich die Menschen, die um das Feuer sitzen. Männer und Frauen, unterschiedlich alt, mit blonden, braunen und grauen Haaren, heller und dunkler Haut.

Sie tragen alle derbe Hosen, die in hohen Stiefeln stecken, Hemden mit langen Westen darüber. Jene, die hinausgegangen sind, um die Leichen der Wärter zu … entsorgen, zogen fellgefütterte Jacken über. Alle sehen sich ähnlich, aber nicht gleich aus. Offensichtlich tragen sie im Gegensatz zu den Wärtern keine Uniformen.

„Iss, die Suppe ist gut!“, fordert Katla mich auf. Gehorsam greife ich zum Löffel und tauche ihn ein. Staunend betrachte ich, wie Fleisch- und Gemüsestückchen aufgewirbelt werden. Ein intensiver Geruch steigt aus der Schüssel auf. Mein Magen knurrt und ich probiere. Niemals vorher habe ich etwas gegessen, das so gut schmeckt. Am liebsten würde ich das Essen in mich hineinschlingen, doch ich zwinge mich, es langsam zu genießen. Wer weiß, wann ich wieder etwas Derartiges bekomme.

„Kaum zu glauben, Katla, ihnen scheint dein Fraß zu schmecken“, sagt ein junger Mann neckend.

„Wenn du weiterredest, Hakon, dann darfst du nächstens hungern“, antwortet die junge Frau mit einem gespielt finsteren Blick.

Erneut frage ich mich, was für Menschen dies sind. Offenbar gehören sie nicht zum König, denn sie töteten seine Wärter und stehlen seine Sklaven. Sie sind unterschiedlich, das spricht gegen eine Familie oder Sippe.

Tumult am Eingang der Höhle reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende den Kopf. Zwei Männer werde von den anderen stürmisch willkommen geheißen. Nachdem sie alle ausgiebig begrüßt haben, treten sie ans Feuer.

Der erste ist grauhaarig, ein fast weißer, kurz gehaltener Bart ziert sein Gesicht. Dunkle Augen sehen uns vier der Reihe nach an. Der Mann hinter ihm ist groß, schwarze Haare umspielen sein bartloses, schmales Gesicht. Eisblaue Augen begegnen meinem Blick und verwirrt senke ich die Augen. Eine Erinnerung huscht unfassbar durch meinen Geist, verschwindet wieder in ihrem Mauseloch.

„Ich bin Dagur, das Oberhaupt unserer kleinen Gemeinschaft, und begrüße euch in unserer Mitte“, sagt der ältere Mann und lächelt uns offen an. „Wenn ihr wollt, könnt ihr uns begleiten, ihr müsst aber nicht. Ihr seid frei und wer gehen möchte, bekommt Kleidung, Schuhe, eine Waffe und Nahrung. Wer sich uns anschließen möchte, bekommt dasselbe, dazu eine Unterkunft und Verpflegung sowie die Sicherheit der Gemeinschaft.“

„Wer seid ihr?“, höre ich mich fragen, während mein Blick wieder zu dem jüngeren Mann huscht. Erschrocken stelle ich fest, dass er mich fixiert. Können diese Augen auf den Grund meiner Seele sehen?

„Oh, wir sind alles Menschen, die nicht mit dem König zurechtkommen“, sagt Dagur mit einem Lächeln. „Ehemalige Sklaven, desertierte Soldaten, verurteilte Landesverräter und einfache Bauern, die vor dem Hunger geflohen sind.“ Er wendet sich an seine Begleiter, der mich immer noch ansieht. „Oder habe ich etwas vergessen, Tomaz?“

Widerwillig löst er den Blick von mir und sieht Dagur an. „Nein, ich denke nicht.“

Kurz ziehen sich die buschigen, grauen Augenbrauen zusammen, dann lächelt Dagur wieder. „Wie ich sehe, seid ihr gut versorgt. Bis wir morgen früh weiterziehen, habt ihr Zeit euch zu überlegen, ob ihr uns begleiten wollt.“

Bevor wir etwas erwidern können, nimmt er Tomaz’ Hand und zieht ihn von uns fort. Ein letzter eisblauer Blick trifft mich und wieder zuckt eine Erinnerung durch meinen Kopf, doch sie ist tief in mir verschüttet und lässt sich nicht hervorlocken.

Während ich die Schüssel leere, sehe ich Dagur und Tomaz nach, die sich mit drei anderen Männern und einer Frau etwas abseits unterhalten. Tomaz’ Hand liegt noch immer in der Dagurs. Sie stehen dicht nebeneinander, vertraut und …

„An deiner Stelle würde ich Tomaz nicht zu lange anstarren, das mag Dagur überhaupt nicht.“ Katla zwinkert mir über das Feuer zu. „Er ist ein großzügiger Mann und ein gutes Oberhaupt, aber bezüglich Tomaz ziemlich … eigen.“

Sofort senke ich meinen Blick. Ganz bestimmt wollte ich Tomaz nicht ungebührlich anstarren, sondern nur dem Gefühl der Erinnerung nachspüren. Warum kratzt bei seinem Anblick etwas tief Verborgenes an der Oberfläche? Waren es die ungewöhnlich blauen Augen? Kannte ich jemand mit solchen Augen in meiner Vergangenheit?

Ich schiebe die Gedanken fort und leere meine Schüssel. Hier bietet sich die Gelegenheit, den Minen zu entkommen und ich gedenke diese zu nutzen.

„Noch ein wenig Suppe?“, fragt Katla. Nickend halte ich ihr die Schüssel entgegen, die sie wohlwollend lächelnd erneut füllt.

 

 

 

 

Der Sturm treibt Dagur und mich an. Wir wollen vor seinem Höhepunkt die Höhle erreichen, in der wir die anderen zurückgelassen haben. Als wir in Sichtweite kommen, sehen wir, wie einige der Männer etwas den Berg hinabwerfen. Beim Näherkommen erkennen wir, dass es sich um Körper handelt. Der Uniform nach Wärter aus den Minen.

Baldur kommt uns entgegen. „Wir haben in der Höhle auf euch gewartet, da kamen auf einmal die Wärter mit vier Sklaven herein. – Wir waren schneller.“ Er grinste uns breit an.

„Die Sklaven?“, frage ich. Es ist noch nicht so lange her, dass ich einer von ihnen war.

„Denen geht es gut. Keine Verletzten“, antwortet Baldur. „Katla kümmert sich um sie.“

Ich nicke und folge Dagur in die Höhle. Sofort werden wir mit Fragen überfallen, doch Dagur winkt ab, geht zu dem Feuer, an dem vier in Decken gehüllte Gestalten sitzen.

Während Dagur sich vorstellt, betrachte ich die vier. Der vorderste hebt den Kopf und unsere Blicke begegnen sich. Mir stockt der Atem. Seine Augen sind grün, leuchtend grün. Ich kann mich nicht abwenden, obwohl ich spüre, dass ich starre.

„Wer seid ihr?“, fragt er mit rauer Stimme. Dagur antwortet und wendet sich an mich. Ich habe kaum zugehört und erwidere, was er von mir erwartet. Zeitgleich spüre ich, dass Dagur verärgert ist. Energisch nimmt er meine Hand und zieht mich fort.

Dagur redet mit Egill, Hakon, Jokull und Hekla über den Aufbruch am nächsten Tag und die vier befreiten Sklaven. Ich kann mich nicht auf die Worte konzentrieren, die grünen Augen gehen mir nicht aus dem Sinn. Sie schlagen eine Glocke in mir an, ein feiner Hall, den ich höre, aber nicht erkennen kann.

 

Später, als Ruhe in der Höhle eingetreten ist, liege ich neben Dagur. Besitzergreifend hat er seinen Arm über meine Brust gelegt und schläft, während ich keine Ruhe finde.

Vor fünf Jahren wurde ich durch Zufall von der Gemeinschaft gerettet. Ich war ein Minensklave, mit sieben Jahren dem Steuereintreiber des Königs übergeben.

An das Dorf, meine Eltern, mein Zuhause kann ich mich nicht mehr erinnern, an die erste Nacht in der Mine jedoch noch gut. Die Angst, als sie uns in die Tiefe brachten, mich und vier andere Kinder, die erste Reinigung, das Entfernen der Haare und die erste von unzähligen Spritzen.

Janusch, der Heiler der Gemeinschaft, hat mir erklärt, dass die Spritze uns mit allem versorgte, was unsere Körper zum Überleben brauchten. Später, als wir zu Männer und Frauen heranwuchsen, dämpfte sie zeitgleich den Sexualtrieb. Der König wollte keine Kinder von seinen Sklaven, die holte er sich aus den armen Dörfern. Mein Leben bestand aus arbeiten, essen und schlafen. Ich vergaß im Laufe der Zeit meinen Namen, wurde zu einer Nummer: 317.

Wie viele Jahre ich unter der Erde war, kann ich nicht sagen; der Rhythmus ist ein anderer, orientiert sich nicht an Tag und Nacht. Er dient allein der Optimierung der Arbeitsleistung. Die begrenzte Zeit, in der Sklaven ihre volle Leistung erbringen, muss bestmöglich genutzt werden.

Ich war zu einem Mann geworden, als ein Unglück die Mine überschwemmte. Unzählige Sklaven starben, ich und einige andere konnten sich retten. Bevor die Wärter wieder die Kontrolle über die Lage erlangten, war auf einmal Dagur mit seinen Leuten da und rettete uns. Wir folgten ihm, wurden ein Teil der Gemeinschaft.

Von Anfang an beobachtete er mich mit besonderem Interesse. Vor zwei Jahren dann holte er mich zu sich. Ich mochte ihn, vertraute ihm, Dagur gab mir ein neues Leben und einen neuen Namen. Als er mich in seine Arme nahm und küsste, gefiel mir auch das. Schon einige Zeit zuvor hatte ich festgestellt, dass mich Männer und nicht Frauen erregten. Dagur bot mir die Gelegenheit, dies auszuprobieren. Er ist ein zärtlicher und geduldiger Mann und ich blieb an seiner Seite.

Die Gemeinschaft ist eine große Familie, sie will ernährt werden und in Sicherheit leben. Dagur ist schon lange ihr Oberhaupt und sorgt gut für alle, die sich ihm anschließen.

Sein einziger Schwachpunkt bin ich, seine Eifersucht auf jeden Mann, der mir zu nahe kommt – oder für den ich mich scheinbar interessiere. Ihn quält die Angst, dass ich ihn eines Tages für einen jüngeren Mann verlasse. Doch ich kann mir nicht vorstellen, bei einem anderen Mann zu liegen. Dagur gibt mir die Sicherheit, die so lang in meinem Leben gefehlt hat.

Die Höhle ist gefüllt mit Geräuschen, unruhige Bewegungen, leises und lautes Schnarchen. Meine Gedanken kehren zu dem Jungen mit den grünen Augen zurück. Gerade aus den Minen kommend, sieht ein Sklave wie der andere aus. Alle sind blass, schmal und kahl rasiert. Die Spritze vermindert den Haarwuchs, es dauert lange, bis die Wirkung der letzten Dosis aus dem Körper verschwindet. Dann wachsen die Haare wieder richtig und Männer wie Frauen erkennen zum ersten Mal, wer sie sind.

Welche Farbe werden seine Haare haben? Rotbraun. Eigentlich habe ich keinen Zweifel daran. Grüne Augen und rotbraune Haare. Wie … doch der Gedanke zerfasert, lässt sich nicht halten. Janusch meint, das sei ebenfalls eine Nebenwirkung der Spritzen, sie beeinflussen unser Gehirn und löschen die ersten Erinnerungen dabei. Nur Schatten davon bleiben erhalten, denen wir nachjagen, die wir aber nicht festhalten können.

Seufzend schmiege ich mich in Dagurs Arm, sein vertrauter Geruch beruhigt mich und ich schließe die Augen. Brummend zieht er mich näher und das Gefühl der Geborgenheit vertreibt die Schatten, lässt mich endlich einschlafen.

 

Es ist ein weiter Weg zurück in unsere Heimat, den Ort, an dem wir in relativer Sicherheit leben. Noch ist es den Truppen des Königs nicht gelungen, uns aufzuspüren. Wenn sie es eines Tages schaffen, werden sie es schwer haben, uns zu besiegen.

Katla kümmert sich um das Frühstück und beim Aufwachen liegt schon der Duft des warmen Breis in der Höhle, lässt meinen Magen knurren. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich in Dagurs graue Augen, mit ernster Miene betrachtet er mich.

„Du bist wunderschön, Tomaz“, flüstert er und küsst mich sanft, ehe er die Decke zurückschlägt und aufsteht. Gähnend strecke ich mich und setze mich auf. Rings um mich herum regen sich die Menschen. Mein Blick fällt auf die vier ehemaligen Sklaven, die sich zusammen in eine Ecke gelegt haben. Noch gehören sie nicht zu uns, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie sich uns anschließen werden. Wohin sollten sie auch gehen? Ihre Erinnerungen wurden genauso getilgt wie meine. Darum holt der König sich seine Sklaven in einem jungen Alter, sie vergessen und fügen sich in ihr Schicksal.

Eine der Decken wird zurückgeschlagen und der Junge mit den grünen Augen sieht mich an. Diese Augen … an was erinnern sie mich?

Ich schüttele den Gedanken ab und stehe auf. Zu viel Aufmerksamkeit meinerseits wird ihm das Leben nur schwer machen. Dagur würde einen Konkurrenten in ihm vermuten und vielleicht sogar verhindern, dass er uns folgt. Also wende ich mich ab und lege die Decken zusammen.

Bewusst vermeide ich jeden Augenkontakt zu ihm, bis sie sich entschieden haben, uns zu folgen. Egill verteilt die Mäntel und Schuhe der Soldaten unter ihnen, damit sie auf dem Weg nicht frieren. Dorthin, wo wir gehen, ist es verdammt kalt.

 

 

 

 

Die erste Nacht, in der ich nicht gefroren habe. Unter der dicken Decke, die mir Egill gab, erreichte mich die Kälte nicht. Geschlafen habe ich trotzdem nicht viel. Immer wieder kreiste die Frage in meinem Kopf, wer diese Menschen sind und ob es klug ist, ihnen zu folgen. Doch wohin soll ich gehen, wenn nicht mit ihnen? Es gibt keinen Ort, den ich aufsuchen könnte, keine Familie, an die ich mich erinnere. Diese Menschen, die mich gerettet haben, sind meine Chance auf ein neues Leben. Außerhalb der Dunkelheit, außerhalb der Minen.

Gleich nach dem Aufwachen begegnete mein Blick wieder den eisblauen Augen. Sie beunruhigen mich und zeitgleich erinnern sie mich an etwas, das ich nicht festhalten kann. Schnell verdränge ich diesen Gedanken und widme mich dem Naheliegenden: aufstehen und meine Sachen zusammenlegen.

Egill kommt und gibt jedem von uns einen Mantel und einen Rucksack. Meiner ist etwas groß, doch das stört mich nicht. Dazu ein Paar Schuhe, warme Stiefel. Dass sie gestern noch einem Wärter gehörten, darüber denke ich lieber nicht nach.

Katla hat einen warmen, klebrigen Brei gekocht. Essen vor der Arbeit gab es in den Minen nicht. Jeder Sklave musste sich sein Essen verdienen. Wer schlecht arbeitete, bekam entsprechend weniger Essen.

„Das ist jetzt deine Schüssel, dein Löffel und dein Becher. Du musst sie selbst säubern und mitnehmen.“ Mit einem freundlichen Lächeln reicht Katla mir die Sachen. „Jetzt iss erst einmal, du bist so dünn, dass der Wind durch dich pfeifen kann.“ Mit einem Zwinkern füllt sie meine Schüssel. Es duftet verführerisch, ganz anders als der schlammgraue Matsch, den wir in den Minen bekamen.

Nach dem Essen kommt Dagur zu uns. „Wir werden gleich aufbrechen, habt ihr euch entschieden, ob ihr uns folgen wollt?“

Ich nicke nur. Wörter zu bilden, zu reden fällt mir schwer, zu lange musste ich schweigen. Doch Dagur versteht das offensichtlich, er schenkt mir ein freundliches Lächeln. „Uns erwartet ein langer Marsch. Füllt eure Flaschen und tragt sie am Körper, damit das Wasser nicht einfriert.“

Wenig später sind wir auf dem Weg. Der Wind hat etwas nachgelassen, trotzdem zerrt er an unseren Kleidern. Was für eine Wohltat, in dem fellgefütterten Mantel zu stecken. In einer Tasche habe ich Handschuhe und eine Mütze gefunden. Auch sie ist etwas zu groß, doch immer noch besser als zu frieren. Der geschlossene Kragen reicht bis zu meinen Augen, sodass auch mein Gesicht geschützt ist. Was für ein Unterschied zu gestern.

Wir folgen einem schmalen Pfad nach oben, immer höher den Berg hinauf, der sich lang vor uns ausstreckt. Fast an seiner Kuppe führt uns ein Weg auf die andere Seite, wo wir im Windschatten eine Rast einlegen. Katla und Egill verteilen Brot.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit geht es bergauf und -ab. Kurz bevor wir eine Höhle erreichen, beginnt es zu schneien. Die Höhle ist kleiner als die letzte und wir müssen zusammenrücken. Eine fröhliche Unterhaltung setzt ein, es wird gescherzt und gelacht. Alles für mich fremd und faszinierend. Zum ersten Mal seit dem Morgen sehe ich Dagur und Tomaz. Sein kalter Blick streift mich und ich senke die Augen, wage nicht, ihn anzusehen, zu sehr verwirrt er mich.

Wieder gibt es eine Suppe und Brot. Habe ich jemals an einem Tag drei Mahlzeiten gegessen? Daran kann ich mich gewöhnen. Wenig später wickeln sich die Ersten in ihre Decken und ich folge dem Beispiel. Der lange Weg hat mich müde gemacht und schnell falle ich in einen tiefen Schlaf.

 

Als ich aufwache, ist es dunkel. Der Widerschein des Feuers zeichnet zuckende Schattenbilder an die Wand. Neben mir schnarcht jemand schauerlich. Ich drehe mich um, sehe in die tanzenden Flammen.

Ein Stöhnen dringt an mein Ohr, ich lausche in die Höhle.

„Leise, Tomaz“, flüstert Dagurs Stimme rau.

Alle meine Sinne sind jetzt gespannt, ich halte den Atem an. Mühsam unterdrücktes Keuchen, geflüsterte Worte, die ich nicht verstehe. Vorsichtig stütze ich mich auf meinen Ellenbogen, lasse meinen Blick über die Schlafenden wandern. Etwa abseits liegen Dagur und – Tomaz. Die Decken bewegen sich leicht. Was tun sie?

Das folgende leise Stöhnen erinnert mich an die Wärter, an das, was sie 591 und 802 angetan hatten. Doch die Geräusche klingen nicht, als ob Dagur Tomaz Gewalt antut. Noch ein Stöhnen, dann liegen die beiden still, nur ihr schneller Atem ist zu hören. Verwirrt lasse ich mich zurücksinken. Was war das?

Es dauert eine ganze Weile, ehe es mir gelingt, wieder einzuschlafen.

Trotzdem bin ich morgens früh wach. Ich setze mich auf und betrachte das Erwachen rund um mich herum. Aus dem Augenwinkel behalte ich das Lager von Dagur und Tomaz im Blick. Endlich rührt sich etwas, die Decke wird fortgeschoben und Dagur steht auf. Lächelnd blickt er auf Tomaz und richtet seine Kleider, ehe er die Höhle verlässt.

Tomaz setzt sich auf und unsere Blicke begegnen sich. Seine Haare liegen ungeordnet um seinen Kopf und er sieht … zufrieden aus. Als er mich anlächelt, senke ich die Augen. Diese Menschen und ihr Verhalten verwirrt mich zutiefst.

 

Den ganzen Tag gehen wir bergauf. Der Schnee wird immer tiefer, der Wind immer eisiger. Ich bin dankbar für die warme Kleidung, die mich schützt. Spät am Tag sehe ich in der Ferne ein Plateau, um das sich eine hohe Mauer zieht. Darauf laufen wir zu. Mit Einbruch der Dunkelheit stehen wir vor dem riesigen Holztor, das uns den Zugang verwehrt. Dagur, der mit Tomaz immer ganz vorn geht, schlägt gegen das Holz. Wenig später öffnet sich eine kleine, kaum sichtbare Tür und ein alter Mann lässt uns ein.

Hinter den Mauern herrscht reges Treiben. Stürmisch werden wir begrüßt. Männer, Frauen und Kinder umringen uns, stellen Fragen und verteilen warmen Wein.

Meine kalten Finger umklammern den heißen Becher. Immer wieder begegne ich neugierigen Blicken.

Dagur hebt die Hand und bringt die Menge zum Schweigen. „Habt Dank für euer Willkommen. Unsere Reise war erfolgreich. Nicht nur, dass wir uns mit den Südländern einigen konnten, haben wir vier neue Mitglieder für unsere Gemeinschaft mitgebracht.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt er auf uns. „Ehemalige Minensklaven des Königs, die bei uns eine neue Heimat finden wollen.“

Die Leute klatschen und jubeln. Viele kommen zu uns und begrüßen uns freundlich. Die Aufmerksamkeit ist ungewohnt und am liebsten würde ich mich ihr entziehen. Egill befreit uns schließlich.

„Kommt, wir wollen einen Schlafplatz für euch suchen“, sagt er und führt uns aus der Menge. Erst jetzt komme ich dazu, mich umzusehen. Die hohen Mauern sind alt, dahinter befindet sich ein riesiger Platz, auf dem wir stehen. Am Ende, dicht vor einer hohen Felsmauer, die hinter dem Plateau in den Himmel ragt, steht ein riesiges Gebäude. Offenbar ebenso alt wie die Mauern.

„Alle wohnen zusammen im Haupthaus“, erklärt Egill. „Es gibt noch genügend Zimmer.“ Über die Schulter zwinkert er uns zu. „Dies war einst eine Festung. Sie gehörte vor langer Zeit einem Rittergeschlecht. Doch das Leben hier oben ist hart und so verließen sie irgendwann diesen Platz. Dagur fand ihn und beschloss, dass dies der rechte Ort für unsere Gemeinschaft sei. Weit weg vom König und gut zu verteidigen, falls er uns doch eines Tages einen Besuch abstattet.“ Er lachte. „Mal sehen, wie er uns über den schmalen Weg angreifen will.“

Das Hauptgebäude besteht aus einem großen Mittelteil und zwei Seitenteilen. Wir betreten es über eine breite Treppe.

„Zuerst ist es nicht ganz einfach, sich hier zu orientieren, aber mit der Zeit werdet ihr euch zurechtfinden. – Hier unten liegt der Speisesaal. Hier bekommt ihr zweimal am Tag eure Mahlzeiten, morgens und abends. Mittags kann sich jeder etwas aus der Küche holen. Alle Erwachsenen sind verpflichtet, sich an den täglichen Aufgaben zu beteiligen. Vom Essen kochen bis zur Minenarbeit.“ Unser Zusammenzucken entgeht ihm nicht. „Keine Angst, ihr müsst nicht in die Minen. Hier wird nur ein Teil des Tages in den Minen gearbeitet. Jeder, der hinabsteigt, tut dies freiwillig. Keiner arbeitet länger als eine Woche unter Tage.“

„Wovon lebt ihr?“, fragt 802 schüchtern.

„Wir handeln mit dem, was wir aus dem Berg holen. Es gibt genügend Abnehmer außerhalb dieses Königreiches – und ein paar sogar darin.“ Wieder lacht er. „Keine Angst, es gibt genug zu tun hier. Ihr werdet etwas finden, wenn ihr zu Kräften gekommen seid.“

Während er erzählt, führt er uns in die zweite Etage, folgt einem langen Gang, bis er vor einer Tür stehen bleibt. „Dies ist das erste Zimmer, alle sind gleich ausgestattet. Ein Bett, ein Schrank, Tisch und Stuhl. Alles andere müsst ihr euch im Laufe der Zeit selbst besorgen.“ Schwungvoll stößt er die Tür auf. „Bitte schön.“

Der Raum ist nicht übermäßig groß, aber doch mehr, als jeder von uns bisher gehabt hat. Wir sehen uns an und schließlich betritt 802 das Zimmer.

„Eure Zimmer liegen alle hintereinander. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr zum Anfang versucht, euch gemeinsam zurechtzufinden.“

Nacheinander zeigt er jedem von uns ein Zimmer. Ich nehme das letzte in der Reihe. Es ist auch das letzte in diesem Flur und hat zwei Fenster.

„Ein Gong ruft euch zum Essen. Hinterher führe ich euch durch das Haus und zeige euch alles.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung schließt er die Tür und lässt mich allein. Unsicher stehe ich mitten in dem Zimmer und sehe mich um. Auf dem kleinen Tisch befindet sich eine Kerze, daneben liegen Streichhölzer. Künstliches Licht wie in den Minen scheint es hier nicht zu geben, also entzünde ich die Kerze. Das Bett ist schmal. Darauf liegen zwei Decken und ein Kissen. In einer Ecke steht ein kleiner Ofen, an seiner Seite steht ein gefüllter Kohleneimer. Der Schrank steht dem Bett gegenüber, zwischen den Fenstern der Tisch und der Stuhl. Noch nie hatte ich ein Zimmer für mich. In den Minen gab es nur Gemeinschaftsräume. Ich setze mich auf den Stuhl und sehe aus einem der Fenster. Das Gebäude schließt nicht direkt an den Felsen an. Eine tiefe Schlucht trennt beide. Von einem Fenster aus kann ich in die scheinbar endlose Tiefe sehen, von dem anderen blicke ich in Richtung der Mauer. Nur ganz langsam wird mir bewusst, dass ich den Minen tatsächlich lebend entkommen bin. Ich schließe meine Augen und genieße die Ruhe. Die Chance auf ein neues Leben, ein freies Leben. Ein wenig ängstigt mich der Gedanke, doch die Freude überwiegt. Was immer auf mich wartet, ich kann darüber entscheiden. Keine Ketten, keine Wärter und kein König können mich jetzt noch zu irgendetwas zwingen. Ich bin frei!

 

 

 

 

 

Kaum sind wir zurück, ruft mich die Pflicht. Seit einem Jahr bin ich für die Vorräte der Gemeinschaft zuständig. Zusammen mit Katla gehe ich in den Keller, in dem das Getreide lagert. Im nächsten Frühjahr soll ein Speicher auf dem Gelände entstehen, da die Keller nicht trocken genug sind. Immer wieder kommt es zu Schimmelbefall. Doch der kalte Winter sorgt selbst hier unten für trockene Luft.

Audur, die uns begleitet, räuspert sich leise. Sie ist sehr schüchtern, aber verlässlich und hat ein Auge auf die Vorräte, wenn Katla und ich nicht da sind.

„Es sind wieder Flaschen aus dem Weinkeller verschwunden“, sagt sie leise und senkt verschämt den Blick. Katla und ich sehen uns über ihren Kopf hinweg an.

„Das ist nicht deine Schuld, das ist in den letzten Wochen öfter vorgekommen. Ich werde Elvar bitten, uns ein neues Schloss anzufertigen.“ In der ganzen Zeit sind wir nicht dahintergekommen, wer sich von Zeit zu Zeit Flaschen und Lebensmittel aus dem Keller stiehlt.

Diebstahl ist ein schweres Vergehen in der Gemeinschaft. Wir müssen uns auf alle verlassen können, jedem vertrauen und die Vorräte gehören allen. Keiner hat das Recht, sich ungefragt etwas zu nehmen.

„Es sind auch Lebensmittel verschwunden. Ein ganzer Schinken hing vorgestern nicht mehr an seinem Haken.“ Unruhig knetet sie ihre Hände.

In der Umgebung, in der wir leben, ist das Anlegen und Bewirtschaften der Lebensmittelvorräte eine Notwendigkeit. Bis zum kommenden Frühjahr wird es uns nicht möglich sein, die Lager aufzustocken. Der Sturm, der draußen wütet, ist ein Vorbote auf die kommenden Monate. Der Standort ist sicher, aber auch mehrere Monate im Jahr von der Außenwelt abgeschnitten. Alles, was wir haben, muss für die lange Zeit reichen. Ein verschwundener Schinken ist daher ein unverzeihliches Verbrechen. Keiner in der Gemeinschaft muss Hunger leiden, jeder bekommt den gleichen Teil. Und wer sich in einer besonderen Situation befindet, sei es durch Krankheit oder Schwangerschaft, bekommt, was er braucht. In diesem Winter haben wir vier Menschen mehr zu versorgen und die Rationen müssen angepasst werden.

„Audur, hol am besten gleich Elvar“, weise ich das Mädchen an, das sich sichtlich erleichtert auf den Weg macht.

„Wer bestiehlt die Gemeinschaft?“ Katla sieht mich unglücklich an. „Wir sitzen alle in einem Boot, wir müssen alle mit den Vorräten auskommen.“

„Vielleicht ist jemand der Meinung, es wäre nicht verkehrt, sich einen eigenen Vorrat anzulegen“, antworte ich. „Wir könnten alle Unterkünfte durchsuchen, aber ich befürchte, der Dieb ist nicht dumm genug, die gestohlenen Sachen bei sich zu lagern.“

„Ich dachte, wir könnten uns aufeinander verlassen …“

„Je mehr wir werden, desto schwieriger wird das.“ Müde inspiziere ich die Säcke und Fässer. „Verdammt! Er hat auch nicht vor dem Getreide haltgemacht.“

Ich zeige Katla einen aufgeschlitzten Sack, aus dem fast ein Viertel fehlt.

„Wir müssen mit Dagur darüber reden.“

Ich nicke nur. Seine Wut, geboren aus Enttäuschung, mag ich nicht abzuschätzen.

Bevor ich noch etwas sagen kann, führt Audur Elvar in den Raum. Elvar ist ein desertierter Soldat des Königs. Ehe er zum Dienst eingezogen wurde, war er Schmied. Dieses Handwerk übt er jetzt für die Gemeinschaft aus. Kurz erkläre ich ihm, dass wir an sämtlichen Vorratsräumen neue Schlösser brauchen. Für jedes darf es nur zwei Schlüssel geben. In einer für ihn typischen Geste spitzt er kurz die Lippen und nickt.

„Ich werde mich gleich morgen an die Arbeit machen“, sagt er.

Während er sich die vorhandenen Vorrichtungen ansieht, kontrolliere ich die restlichen Vorräte. Weiter scheint nichts zu fehlen.

Gemeinsam mit Katla begebe ich mich in Dagurs Arbeitszimmer. Er sitzt über Karten gebeugt an seinem Schreibtisch. Sein Lächeln verblasst, als er unsere Mienen sieht.

„Was ist geschehen?“

Kurz schildere ich ihm die neuen Diebstähle. In seinen Augen kann ich die Wut sehen. Zornig schlägt er auf den Tisch. „Wir müssen den Schuldigen finden! Ein solches Verbrechen an der Gemeinschaft darf nicht ungesühnt bleiben.“

„Wie sollen wir den Dieb fassen?“, fragt Katla.

„Vielleicht lässt er sich herauslocken, wenn du heute verkündest, dass die Vorratsräume übermorgen, nach dem Sonnenwendefest, neue Schlösser bekommen. Unter Umständen ist er dumm genug, vorher noch einmal in die Kammern einzudringen“, schlage ich vor.

Dagur nickt. „Ein Versuch kann nicht schaden. – Irgendwer muss in den Kammern Wache halten.“

„Aber jemand, dessen Abwesenheit auf dem Fest nicht auffällt“, wirft Katla ein. „Also fallt ihr beide schon einmal aus.“

„Es muss aber jemand sein, dem wir vertrauen. Das trifft im Moment nicht auf viele zu.“ Dagur steht auf und geht zum Fenster. „Ich hasse das Gefühl, dass jemand aus unserer Gemeinschaft ein Verräter ist. Hier muss keiner Hunger leiden, jeder bekommt das, was ihm zusteht. Warum braucht jemand mehr?“

„Die Angst vor dem kommenden Winter. Vielleicht will sich jemand einen eigenen Vorrat anlegen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Die Gründe können vielfältig sein. Vielleicht auch jemand, der schon einmal gehungert hat.“

„Das haben wir alle! Ob in den Minen oder auf der Flucht. Ob für, wegen oder durch den König. Jeder von uns kennt die Entbehrungen.“ Dagur dreht sich zu uns um. „Wer soll in den Kammern auf den Verräter warten?“

„Ich werde mich frühzeitig von der Feier verabschieden, alle wissen, dass ich keinen Wert auf diese Feste lege“, schlug Katla vor.

Dagur sieht erst mich, dann Katla prüfend an. „Wir wissen nicht, wer der Dieb ist, vielleicht ist die Wache in den Vorratskammern nicht ungefährlich.“

„Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, Dagur. Wäre nicht das erste Mal, dass ich mein Leben verteidigen muss.“ Katla lächelt schmal. „Und wen willst du sonst fragen?“

Das gibt schließlich den Ausschlag, auch wenn mir der Gedanke nicht gefällt. Katla ist wie eine Schwester für mich. Vom ersten Tag in der Gemeinschaft kümmerte sie sich um mich, erleichterte mir die Eingewöhnung und brachte mir das Lesen und Schreiben bei.

„Also gut, ich werde heute Abend eine entsprechende Ankündigung machen und wir hoffen, dass sich der Dieb herauslocken lässt.“

Sollte der Plan Erfolg haben, dann würde die Gemeinschaft über das Schicksal des Diebes entscheiden. Jeder Erwachsene hatte das Recht, seine Stimme abzugeben, dabei war im Prinzip alles möglich, von der Verbannung bis zur Gnade.

Nachdem wir uns über das Vorgehen geeinigt haben, verlässt uns Katla. Dagur kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. Er ist ebenso groß wie ich und unsere Blicke begegnen sich.

„Endlich allein.“ Zärtlich zieht er mich an sich. „Viel zu lange hatten wir keine Zeit für uns.“ Sanft küsst er mich, liebkost meine Lippen. Ich mag die Zärtlichkeit, mit der er sich Zeit lässt, mich zu erobern. Meine Arme legen sich von selbst um ihn. Seine Hand wandert in meinen Nacken und er intensiviert den Kuss. Genüsslich erkundet er meinen Mund, während seine Hand unter mein Hemd gleitet. Sie ist warm, streichelt meine Haut, erzeugt eine Gänsehaut.

„Zieh dich aus“, flüstert Dagur, lässt mich los und lehnt sich gegen den Schreibtisch. Mit einem Lächeln knöpfe ich mein Hemd langsam auf und lasse es über meine Schultern gleiten. Dagurs Augen wandern über meinen Oberkörper, ich fühle seinen Blick wie ein Streicheln. Knopf für Knopf öffne ich die Hose, schiebe sie über meine Hüften und streife sie zusammen mit meinen Stiefeln ab.

„Dreh dich“, fordert Dagur. Ich strecke die Arme zur Seite und drehe mich langsam um mich selbst.

„Komm her.“

Schritt für Schritt gehe ich auf ihn zu, seine Augen verengen sich, ich kann seine Erregung in ihnen sehen. Dicht vor ihm bleibe ich stehen, hebe meine Hände und knöpfe sein Hemd auf. Jedes Stück Haut, das ich freilege, küsse ich, bis ich vor ihm knie. Ich mag seinen Körper, die grauen Brusthaare und die ausgeprägte Bauchmuskulatur.

Unter seinem brennenden Blick öffne ich seine Hose, schiebe sie zur Seite, bis ich sein hartes Glied sehe. Sanft hole ich es hervor und streiche seine Vorhaut zurück. Während ich ihn ansehe, schließen sich meine Lippen um seine Eichel.

Dagur stöhnt auf. Ganz genau weiß ich, was ihm gefällt. Mit meiner Zunge umspiele ich seine Spitze, stupse in den kleinen Spalt. Seine Hände klammern sich an den Schreibtisch und seine Bauchmuskeln bewegen sich hektisch. Immer tiefer nehme ich ihn auf, lege die Hand um die Wurzel und drücke leicht zu. Auch wenn Dagur glaubt die Kontrolle zu behalten, bin ich es, der in diesem Moment die Macht über ihn hat. Ein Gefühl, das mich berauscht. Langsam ziehe ich mich zurück, wiederhole das Ganze ein paarmal. Dann entlasse ich ihn aus meinem Mund und lecke über die samtige Länge. Dagurs Lippen sind leicht geöffnet, seine Augenlider halb geschlossen. Sanft knabbere ich an seinem Schaft, necke das Bändchen, ehe ich ihn wieder schnell und tief aufnehme. Sein Becken zuckt mir entgegen. Ich lege meine Hand auf seine Hüfte, halte ihn zurück. Hier bestimme ich das Tempo. Quälend langsam bewege ich meinen Kopf, spüre seine Ungeduld.

„Tomaz“, flüstert er heiser bittend. Doch ich will nicht, dass er in meinem Mund kommt, ich will ihn dabei tief in mir fühlen. Ich löse mich von ihm, sehe in seine Augen.

„Nimm mich“, sage ich leise und er stöhnt, zieht mich zu sich hoch. Seine Küsse sind brennend. Mit einer Hand wischt er ungeduldig den Schreibtisch frei, schiebt mich darauf. Bereitwillig lege ich mich hin, spreize meine Beine für ihn.

Dagur beugt sich über mich, nimmt mich mit seinem Mund in Besitz. Ich überlasse mich ihm, weiß, er wird mir geben, was ich brauche.

„Warte“, haucht er gegen meine Lippen und verlässt mich für einen Augenblick, um das Öl zu holen. Bald ist er wieder da, entschädigt mich für das Warten mit zärtlichen Liebkosungen. Ich weiß, er liebt es, mich zu hören, darum halte ich mich nicht zurück, stöhne und keuche unter seinen kundigen Händen, die mich geschickt vorbereiten.

„Komm endlich“, knurre ich ungeduldig und er folgt meiner Bitte. Langsam schiebt er sich in mich. In seinem Gesicht kann ich erkennen, wie schwer es ihm fällt, sich zu beherrschen. Kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Seine ersten Stöße sind vorsichtige, gleitende Bewegungen, bis er spürt, dass ich bereit bin. Dann wird er schneller, zieht mich näher und legt sich meine Beine über die Schultern. Immer härter werden seine Stöße und ich lasse mich fallen, spüre meiner Lust nach, die sich in meinem Körper sammelt, sich zusammenzieht und darauf wartet, zu explodieren.

Als Dagur seine Hand um meinen Schaft legt und in dem Takt seiner Stöße fahrig massiert, ist es vorbei. In heißen Schüben ergieße ich mich auf meinen Bauch, während mein Höhepunkt durch meinen Körper jagt, mir diese wenigen Sekunden völliger Schwerelosigkeit gibt. In diesem Moment gibt es kein Gestern und kein Morgen, keine Zweifel, keine Sorgen, nur diesen reinen Moment. Am Rande spüre ich, dass auch Dagur seine Erlösung findet.

So lange wie möglich versuche ich diesen Augenblick festzuhalten. Dagur legt seinen Kopf auf meine Brust, ich spüre seinen Atem hektisch über meine Haut streichen. Ich bin noch nicht in der Lage, mich zu rühren. Langsam, aber unaufhaltsam kehrt die Zeit zurück und ich schließe meine Arme über Dagurs Rücken.

„Du bist fantastisch, Tomaz“, flüstert er. „Ich liebe dich.“

Das kann ich nicht zurückgeben. Was ist Liebe? Ist es das Gefühl, das ich für Dagur empfinde? Ich fühle mich wohl in seiner Nähe, er gibt mir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Oder gehört mehr dazu? Ich weiß es nicht und darum schweige ich.

Mit einem bedauernden Seufzer löst er sich von mir. „Die Arbeit ruft“, sagt er mit einem schiefen Lächeln. Ich weiß, dass er gern hören würde, dass ich ihn liebe, doch ich bin nicht dazu bereit, ehe ich mir sicher bin.

 

 

 

 

Ein Klopfen reißt mich aus den Gedanken. Ich öffne die Tür, Katla steht davor und lächelt mich an.

„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht. Ich dachte, du willst vielleicht die Kleider aus der Mine loswerden.“ Mit einem Lächeln reicht sie mir den Stapel, den sie auf dem Arm hält.

„Danke“, antworte ich überfordert.

„Wenn du dich waschen willst, ist gleich gegenüber das Bad. Es gibt leider nur kaltes Wasser. Zweimal die Woche gibt es die Möglichkeit, im Badehaus warm zu baden“, ergänzt sie mit einem Augenzwinkern. „Aber das wird euch Egill nachher alles erklären. Wir sehen uns später beim Essen.“ Mit einem Winken geht sie den Flur entlang Richtung Treppe.

In meinem Zimmer sehe ich mir die Sachen an, die sie mir gegeben hat. Eine dunkelbraune Hose, ein beiges Hemd und eine Lederweste. Ähnlich den Kleidern, die alle hier tragen. Ich nehme den Stapel und gehe in das Badezimmer, das man mit einem Haken verschließen kann. In einem Regal liegen Handtücher. Es gibt ein Becken unter einer Pumpe, die manuell bedient wird. Die Seife riecht gut, nicht wie das stinkende Zeug in der Mine.

Ein befreiendes Gefühl, die Arbeitskleider auszuziehen. Einen Moment betrachte ich die Nummer: 713. Erhalte ich hier einen Namen? Ich wage nicht zu hoffen, dass mir mein Name wieder einfällt. Die Hose ist ein wenig zu lang, ebenso wie die Ärmel des Hemdes. Ich muss sie umschlagen.

Der Gong ertönt. Was mache ich mit den alten Kleidern? Ich werde sie nie wieder freiwillig anziehen! Vielleicht kann ich sie in dem kleinen Ofen verbrennen …

Im Flur treffe ich auf die anderen und wir gehen zusammen hinunter. Am Fuß der Treppe sehen wir zum Glück Egill.

„Da seid ihr ja, folgt mir einfach in den Speisesaal“, sagt er mit einem Grinsen.

In dem großen Raum herrscht reges Leben, es wird geredet und gelacht. Kein Vergleich zu den stummen Mahlzeiten in der Mine. An einem langen Tisch wird das Essen ausgegeben. Es riecht gut und mein Magen knurrt vernehmlich.

Egill lacht und geht vor. Es gibt Suppe und warmes Brot. Wir folgen Egill an einen Tisch, von dem ich den Saal gut übersehen kann. Die fröhliche Stimmung ist ebenso ungewohnt wie das gute Essen.

Kurz nach uns betreten Dagur und Tomaz den Raum. Bevor sie sich etwas zu essen holen, wendet sich Dagur den Tischen zu und hebt die Hände. Sofort wird es still.

„Morgen ist das Fest der Sonnenwende, das wir wie jedes Jahr ausgiebig feiern werden. Die Tage werden endlich wieder länger, auch wenn uns noch harte Wintertage erwarten. Wir haben viel erreicht im vergangenen Jahr. Unsere kleine Gemeinschaft ist auf sechsundvierzig Erwachsene und zwölf Kinder angewachsen. Dafür, dass wir vor neun Jahren mit fünfzehn Erwachsenen, von denen nur elf den ersten Winter überstanden, angefangen haben, ein großer Erfolg. Wir haben ausreichend Vorräte und werden den Frühling ohne Verluste erreichen.“

Einige klatschen und johlen. Dagur lächelt, ehe er weiterspricht: „Wie in jedem Jahr gibt es viel zu tun. Da wir jetzt nicht viel draußen machen können, werden wir uns dem weiteren Ausbau dieses Hauses widmen. Nach der Sonnenwende werden die Vorratskeller geordnet und erhalten neue Schlösser, da die alten schwergängig und rostig sind. Wenn sie nicht richtig schließen, laufen wir Gefahr, dass sich auch ungebetene Gäste an unseren Vorräten bedienen. Unsere Katzen zum Beispiel würden ein Stück Schinken einer Maus gewiss vorziehen.“

Ich höre vereinzeltes Lachen.

„Auch müssen weitere Räume hergerichtet werden, Betten erneuert und Schränke gebaut werden. Ebenso brauchen wir mehr Waffen. Ihr seht, Arbeit gibt es auch in den kalten Tagen mehr als genug. – Doch erst werden wir morgen feiern und es uns gut gehen lassen.“

Jetzt trommeln fast alle zustimmend auf die Tische.

„Was bedeutet dieses Fest?“, fragt 591 schüchtern Egill.

„Oh, gutes Essen, Musik und Tanz“, antwortet dieser fröhlich.

„Musik?“

Egill sieht uns verdattert an, dann spitzt er seine Lippen und pfeift eine Melodie. „Lieder, Gesang, Gitarren“, versucht er zu erklären. „Ihr werdet es morgen sehen, es ist schön und macht Spaß.“

Ohne dass ich es gemerkt habe, ist Tomaz an unseren Tisch getreten und setzt sich mit seinem Teller uns gegenüber. Freundlich lächelt er uns an.

„Mein Name ist Tomaz. Vor fünf Jahren bin ich auch den Minen entkommen und weiß, wie ihr euch jetzt fühlt. In den Minen haben sie unser Leben beschränkt, es fehlen uns viele Erfahrungen, die andere Menschen gemacht haben. Doch Egill und Katla werden euch alles beibringen, was ihr wissen wollt. Sie sind gute Lehrmeister. Ihr werden Lesen und Schreiben lernen. Jedem in der Gemeinschaft könnt ihr Fragen stellen, alle werden euch helfen. Wenn ihr euch ein wenig eingelebt habt, sucht ihr euch einen Paten, der mit euch einen Namen aussucht, denn ich gehe davon aus, dass ihr nicht ewig mit der Nummer leben wollt, die euch die Wärter der Minen gegeben haben.“

Augenblicklich schüttele ich den Kopf. Nein, ich will einen Namen. Mein Blick begegnet Tomaz’ und wie immer irritieren mich seine eisblauen Augen. Sie stehen im Widerspruch zu seinen schwarzen Haaren, die ihm auf die Schulter fallen. Noch nie sah ich solche Augen und doch rührt sich bei ihrem Anblick etwas in meinem Herzen.

„Arbeitest du auch in den Minen?“, fragt 659 leise.

„Nein, ich gehe nie wieder hinunter in den Berg.“ Tomaz schüttelt den Kopf. „Keiner muss zurück unter die Erde.“

„Tomaz?“ Dagur war hinter ihm aufgetaucht und legte seine Hand auf dessen Schulter. „Kommst du?“

„Ja.“ Tomaz steht auf und nimmt seinen Teller. „Wenn einer von euch Fragen hat, dann kann er mich jederzeit ansprechen.“ Mit einem verabschiedenden Nicken zu uns folgt er Dagur.

„Der müsste doch sowieso nicht in die Minen“, sagte der Mann, der auf der anderen Seite neben Egill saß, mürrisch.

„Halt den Mund, Wlar“, sagte Egill, ohne den Mann anzusehen.

„Es ist doch wahr! Oder meinst du, dass sich jemand, der sich vom Chef in den Arsch ficken lässt, schwere Arbeiten verrichten muss?“

Ich sehe den Mann an, den Egill Wlar nennt. Er ist klein, untersetzt und hat kaum Haare auf dem Kopf. Aus kleinen, zusammengekniffenen Augen sieht er missmutig zu uns herüber.

„Tomaz erfüllt seine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft wie jeder andere. Hör auf schlecht über ihn zu reden!“

„Ach, komm schon, Egill, du willst mir doch nicht erzählen, dass Dagur und sein Liebchen es sich nicht gut gehen lassen.“ Wlar schnaufte abfällig.

„Genau das, Wlar, sie leben von denselben Dingen wie du, essen das Gleiche und leisten ihren Beitrag. Wenn dir etwas nicht gefällt, kannst du jederzeit gehen!“ Egill dreht sich zu ihm um. „Du weißt, dass keiner hierbleiben muss.“

„Das habe ich nicht gesagt …“, murrt Wlar und senkt den Blick.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, was Wlar meint. Auch mich hatten die Wärter schon zu sich geholt. Kann es sein, dass Tomaz sich freiwillig von Dagur benutzen lässt? Oder wird es erwartet, dass man sich …

Ich sehe mich um, doch die Menschen in diesem Raum sehen fröhlich und zufrieden aus.

Ich erinnere mich an den Morgen in der Höhle, an die Geräusche in der Nacht. Tomaz sah zufrieden aus, nicht wie jemand, dem man Gewalt angetan hatte. Nicht wie 591 und 802 kurz davor.

Gerne würde ich fragen, doch ich weiß nicht wen. Vielleicht ergibt sich in den nächsten Tagen eine Gelegenheit dazu.

 

Nach dem Essen zeigt uns Egill das Gebäude. Die große Küche, in der es wunderbar duftet und ein paar Männer und Frauen gerade dabei sind, das Geschirr abzuwaschen, das Bade- und das Waschhaus.

„Die Werkstätten und Ställe zeige ich euch morgen, wenn wir mit dem Unterricht beginnen“, sagt er mit einem Grinsen. „Oder vielleicht auch erst übermorgen, da wir morgen alle Hände voll damit zu tun haben werden, das Fest vorzubereiten.“

Katla tritt zu uns. „Wenn ihr etwas braucht, euch etwas fehlt oder ihr euch etwas wünscht, dann kommt zu mir. Solange es in unseren Möglichkeiten liegt, werden wir es erfüllen.“ Aufmunternd lächelt sie uns zu.

Ich kann nicht sagen, was mir fehlt. Alles ist neu und erschlagend. Noch vor Kurzem dachte ich, ich würde in den Minen sterben und jetzt …

„Ich meinte nicht heute.“ Sie lacht angesichts unserer Gesichter, die unsere Überforderung deutlich widerspiegeln. „Wann immer ihr etwas braucht – oder wissen wollt. Ich war selbst in den Minen, ich weiß, wie verwirrend die Welt hier draußen ist.“

Wenig später verabschieden sich Egill und Katla von uns und wir versuchen unsere Zimmer wiederzufinden. Nach einem Fehlversuch gelingt es uns.

Gerade als ich meine Tür öffnen will, erscheint eine große, schwarze Katze neben mir. Ihre Augen funkeln mich an.

„Na, du“, flüstere ich und gehe in die Hocke. „Wer bist du denn?“

Auch in den Unterkünften der Minen gab es Katzen, sie sollten die Mäuse und Ratten fangen, die ihren Weg in die Tiefe gefunden hatten und sich in rasendem Tempo vermehrten.

Einen Moment betrachtet sie mich mit schief gelegtem Kopf, dann kommt sie näher. Vorsichtig strecke ich ihr meine Hand entgegen. Sie schnuppert daran, dann stößt sie sanft mit ihrem Kopf dagegen. Ich streichele sie und werde mit einem leisen Schnurren belohnt. Eine ganze Zeit hocke ich auf dem Flur und kraule die Katze. Doch irgendwann wird es zu kalt. Mit einem letzten Strich über ihren Rücken verabschiede ich mich von ihr und öffne die Tür. Sofort huscht sie an mir vorbei in mein Zimmer, springt auf mein Bett und rollt sich zusammen. Soll ich sie lieber wieder vor die Tür setzen? Nein, es ist schön, noch ein wenig Gesellschaft zu haben.

Als ich wenig später ins Bett steige, krabbelt sie zu mir unter die Decke, rollt sich an meiner Seite erneut zusammen. In dieser Nacht werde ich auf jeden Fall nicht frieren.

Obwohl ich müde bin, kann ich nicht schlafen. Wlar und seine Worte gehen mir nicht aus dem Sinn. Lässt sich Tomaz wirklich von Dagur benutzen, wie die Wärter mich – und die anderen – benutzt haben? Ich erinnere mich gut an den Schmerz und die Demütigung. Wenn es wahr ist, warum tut er das? Für ein besseres Leben? Oder wird das von uns erwartet? Gehörte es dazu, wenn man hierbleiben will? Ich hoffe nicht.

Der Wind heult vor dem Fenster und ich ziehe die Decke eng um meine Schulter. Ich kann – will mir nicht vorstellen, dass Tomaz … das tut. Doch da waren die Geräusche in jener Nacht in der Höhle …

Seufzend drehe ich mich auf die Seite, streichele das weiche Fell. Es klang anders als die Gewalt, die die Wärter uns antaten. Vielleicht hatte er gelernt, den Schmerz zu unterdrücken. Dagegen sprach aber sein Gesichtsausdruck am nächsten Morgen. Er sah nicht aus, wie zum Beispiel 591 nach – ihrem Erlebnis.

Die Gedanken kreisen in meinem Kopf und irgendwann schlafe ich darüber ein.

 

Etwas schnurrt leise in mein Ohr und ich öffne die Augen, blicke direkt in die grünlichen Augen der Katze, die auf meiner Brust sitzt und mich interessiert beobachtet. Träge befreie ich meinen Arm aus den Decken und streichele sie. Wohlig schmiegt sie sich in meine Hand.

Es ist schon hell. Tageslicht, nicht das künstliche Orange, das in den Minen schien. Ich muss es sehen und springe aus dem Bett. Die Katze schnaubt missmutig, während ich an das Fenster trete. Die Sonne scheint, lässt den Schnee, der alles bedeckt, glitzern. Ich bin frei. Keine Wärter kommen, zwingen mich auf, treiben mich zur Arbeit.

Ich lausche, doch nichts ist zu hören. Schnell schnappe ich meine Sachen und betrete den Flur. Hier höre ich leise, weit entfernte Geräusche. Das Bad ist frei und ich wasche mich flugs mit dem kalten Wasser. Vorsichtig streiche ich über meinen Kopf, spüre erste Stoppeln, ebenso auf meinen Wangen. Ein leichter Schatten zeigt mir im Spiegel den schwachen Bewuchs. Hier haben alle Bewohner mehr oder weniger viele Haare auf dem Kopf. Tomaz eher viele, seine schwarzen Haare locken sich in seinem Nacken. Sie bilden einen scharfen Kontrast zu seinen hellen Augen. Einen Bart tragen die wenigsten. Viele Wärter trugen zottelige Bärte, die ihnen ein grimmiges Aussehen verliehen.

Wieder im Flur überlege ich, ob ich an die Türen der anderen klopfen soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Sollen sie schlafen, so lange sie wollen. Ein Privileg, das uns in den Minen niemals gestattet war. Den Weg hinunter finde ich auch allein.

Unten in der Halle herrscht eifriges Treiben. Der Speisesaal wird für das Frühstück vorbereitet. Fröhlich werde ich begrüßt.

„Guten Morgen. Magst du uns helfen?“ Katla steht plötzlich neben mir.

„Guten Morgen. Wenn ich kann“, antworte ich zurückhaltend.

Sie lacht. „Komm mit in die Köche, dann finden wir schon eine Aufgabe für dich.“

Lachen schallt uns entgegen, als wir eintreten. Es duftet wieder verführerisch. Die Wärme und gute Laune umfängt mich wie ein Mantel. Sofort werde ich freundlich begrüßt und ein junger Mann drückt mir eine große Schüssel in die Hand.

„Du kannst das Rührei schlagen“, sagt er und gibt mir ein merkwürdiges Gerät in die Hand. Verwirrt sehe ich ihn an. Mit einem Lächeln zeigt er mir, wie ich es verwende und aus den einzelnen Eiern die Masse fabriziere, aus der später das Rührei wird. Katla kommt und würzt das Ganze abschließend.

„Bring mir die Eier“, fordert eine ältere, sehr schlanke Frau vom Ofen und ich transportiere die Schüssel vorsichtig zu ihr. Eine riesige Pfanne steht vor ihr auf dem Herd, in die sie die Eier gießt. Fasziniert sehe ich zu, wie aus dem flüssigen Ei bald eine feste, hellere Masse wird. Dumpf erinnert mich das an etwas, doch ich kann es nicht benennen.

„Hier.“ Jemand drückt mir einen Stapel Teller in den Arm. „Bring die bitte hoch.“

Vorsichtig folge ich einem jungen Mädchen, das ebenfalls einen Stapel Teller trägt, in den Speisesaal. Wir stellen unsere zerbrechliche Last auf den großen Tisch, an dem schon gestern das Essen ausgeteilt wurde.

„Ich bin Unnur“, sagt sie und streckt mir die Hand hin.

„Ich …“ Es widerstrebt mir, mich mit meiner Nummer vorzustellen. Diese gehört hier nicht her.

„Ich weiß. Bald wirst du einen eigenen Namen haben, dann fühlt man sich gleich viel besser!“ Sie lächelt freundlich. „Hilfst du uns nachher bei den Girlanden für die Feier?“

Ich nicke, kann gerade nichts sagen. Die Freundlichkeit der Menschen erschlägt mich, berührt mich und ich traue meiner eigenen Stimme nicht. Zum Glück stört Unnur sich nicht an meiner Unfähigkeit. Fröhlich beginnt sie zu plaudern und mir von dem Fest zu berichten. Ausführlich erzählt sie von der Dekoration, den Blumen, die die Kinder für den Schmuck gebastelt haben. Ich brauche nur zuzuhören, eine Antwort erwartet sie nicht.

Langsam füllt sich der Raum. Auch 802, 659 und 591 kommen. Überwältigt und überfordert bleiben sie in der Tür stehen und sehen sich um, bis sie mich entdecken. Sichtlich erleichtert treten sie zu mir und Unnur, die sie begrüßt.

Kurz nach den dreien betritt Tomaz den Raum. Sein Anblick erinnert mich an meine gestrigen Gedanken. Er sieht ausgeruht und gut gelaunt aus, spricht mit Katla, die gerade eine Platte Aufschnitt auf den Tisch stellt. Beide lachen. Sein Blick streift durch den Raum, begegnet meinem, verharrt und ich fühle mich gebannt durch das klare Blau. Er lächelt und ich spüre, wie ich zurücklächele. Wieder ist da so ein Gefühl in meiner Brust, das an mir zieht. Vertrautheit. Erkennen. Doch das ist unmöglich.

Langsam schlendert er zu uns herüber, begrüßt jeden freundlich, der ihm auf dem Weg begegnet.

„Hallo.“ Einen Schritt vor uns bleibt er stehen, nickt uns zu. „Ich hoffe, ihr habt in der ersten Nacht in unserer kleinen Gemeinschaft gut geschlafen – und Unnur beschlagnahmt euch nicht sofort mit tausend Aufgaben für die Feier heute Abend.“ Er zwinkert der jungen Frau zu.

„Keiner von ihnen muss helfen, das weißt du doch“, entgegnet sie und eine leichte Röte steigt in ihre Wangen.

„Ja. Ich weiß aber auch, wie schlecht man dir etwas abschlagen kann.“ Sein neckender Tonfall treibt noch mehr Blut in ihre Wangen.

„Ich helfe gern“, sage ich leise. Der eisblaue Blick erfasst mich.

„Das Fest ist der letzte Höhepunkt des Jahres. Nach der ganzen Arbeit und Anstrengung eine Feier, die sich alle verdient haben.“ Immer noch ruhen seine Augen auf mir und ich senke den Kopf. Der Mann verwirrt mich.

„Kann ich dich kurz sprechen, Tomaz?“ Eine winzig kleine Frau drängt sich neben ihn und zupft an seinem Ärmel.

„Sicher. Ihr entschuldigt mich. Wir sehen uns bestimmt später beim Dekorieren.“

 

Nach dem Frühstück helfen 802 und ich in der Küche beim Abwasch. Eine Menge Geschirr stapelt sich neben dem Becken. Die Frau, die mit diesen Bergen kämpft, heißt Kolbrun. Sie spült das Geschirr, ab und an flucht sie leise über die hartnäckigen Flecken. Keine Aufgabe, die ihr Spaß macht. Während ich an einem Teller herumreibe, lasse ich meinen Blick und meine Gedanken schweifen. In einem Korb liegen kleine, rote Äpfel. Ich weiß, wie sie heißen, jedoch nicht, wie sie schmecken. Noch nie aß ich einen. Von den Kräutern, die als Sträuße gebunden verkehrt herum aufgehängt trocknen, kenne ich nicht einmal den Namen. Bei vielen Dingen fehlt mir der Name – und ihr Zweck. In den Minen sind uns nur wenige unterschiedliche Gegenstände begegnet.

Nachdem wir fertig sind, frage ich Katla, ob ich einen Apfel probieren dürfte.

„Sicher, sie sind für alle da. Jeder darf sich davon nehmen. Nur nicht übertreiben“, fügt sie hinzu. „Zum einen liegen sie dir sonst schwer im Magen, zum anderen sollen alle etwas davon bekommen.“

„Ich weiß gar nicht, ob ich sie mag. Noch nie habe ich einen gegessen“, antworte ich.

„Essen kann man alles von ihnen, außer dem Stiel.“

Vorsichtig beiße ich in die feste Frucht, ein wenig Flüssigkeit läuft in meinen Mund, tropft auf mein Kinn. Der Apfel ist leicht säuerlich, aber sehr lecker. Katla betrachtet mein Gesicht.

„Scheint dir zu schmecken.“

Ich nicke bloß.

„Wenn du Lust hast, kannst du mir beim Kuchen backen helfen“, sagt sie. „Heute Abend gibt es Apfelkuchen.“

„Kuchen?“, frage ich und fühle mich schrecklich dumm.

„Ja, sehr lecker“, entgegnet sie mit einem Lachen. „Hilf mir und probiere, das ist besser, als wenn ich versuche, es dir zu erklären.“

Mit Katla zusammen zu backen macht Spaß. Ich schlage die Eier auf, nachdem sie mir gezeigt hat, wie das geht. Wir sieben Mehl und wiegen Zucker ab. Während der ganzen Zeit redet sie, erklärt oder erzählt mir von der Gemeinschaft.

Der Teig, den sie mir zu kosten gibt, schmeckt schon köstlich. Wir schälen Äpfel, was bei ihr rasend schnell geht und wofür ich eine Ewigkeit brauche, schneiden sie in schmale Spalten und stecken sie in den Teig. Letztlich schiebt Katla den Kuchen in den Ofen. Drei große Bleche haben wir vorbereitet.

„Wenn du magst, kannst du Unnur und den anderen beim Schmücken des Saals helfen“, schlägt Katla vor.

„Danke, dass ich dir helfen durfte“, sage ich leise und laufe nach oben, ehe sie antworten kann.

In dem Speiseraum herrscht buntes Treiben. Lautes Lachen schlägt mir entgegen. Unnur und eine andere Frau versuchen eine Girlande zu befestigen. Obwohl Unnur auf einem Stuhl steht, erreicht sie nicht den Balken.

Ich stehe noch in der Tür, als Tomaz sie in der Taille packt und runterhebt.

„Das kann ja keiner mit ansehen.“ Er steigt selbst auf den Stuhl und erreicht das Holz problemlos. Während er von dem Stuhl springt, sieht Unnur zu mir und winkt mich herüber.

„Willst du uns helfen?“, fragt sie und strahlt mich an. Ich nicke.

„Das freut mich. Dahinten auf dem Tisch liegen kleine Laternen, kannst du uns die holen?“

Sämtliche Kinder der Gemeinschaft scheinen durch den Saal zu toben. Während ich die Laternen hole, betrachte ich sie. Fröhlich hüpfen sie durch den Raum, jagen und verstecken sich. Sie sehen glücklich aus und ich beneide sie. Meine ersten bewussten Erinnerungen sind die Mine, die Wärter, die Arbeit, der Hunger und eine tiefe Sehnsucht, die ich nicht genau benennen kann. Vielleicht nach glücklichen Momenten, in denen ich lachend vor meinen Freunden weggelaufen bin, damit sie versuchen mich zu fangen. Doch leider kann ich mich nicht wirklich an solche Augenblicke erinnern.

Mit einem Arm voller Laternen gehe ich zurück zu den anderen. Unnur reicht sie weiter an Tomaz, der sie an die Girlande hängt. Dabei scherzen die beiden vertraut miteinander.

In der folgenden Zeit spannen wir mehrere Girlanden und befestigen die Beleuchtung an ihnen. Die Kinder werden immer aufgedrehter, laufen schreiend und kreischend durch den Saal. Unnur hält sich die Ohren zu und stöhnt.

„Ich habe eine Idee“, sagt Tomaz. „Die Kinder brauchen ein wenig Bewegung – und ich auch. Wir gehen hinaus und befreien euch von dem Lärm.“

„Ja, bitte“, antwortet Unnur mit gespielt leidender Miene.

„Komm, ich zeige dir, dass Schnee nicht nur kalt und nass ist.“ Tomaz nimmt überraschend meine Hand und zieht mich mit. Ich werfe Unnur einen Blick über die Schulter zu, doch sie lacht nur.

An der Tür bleibt Tomaz stehen und pfeift laut auf zwei Fingern. Sofort drehen sich alle Kinder zu ihm um.

„Bei zwanzig stehen alle fertig angezogen vor der Tür, wir bauen einen Schneemann!“, ruft er und augenblicklich stürmen die Kinder los. An mich gewandt sagt er:“ Zieh dich warm an – und beeil dich.“ Seine Augen funkeln übermütig. Völlig überfahren komme ich seiner Aufforderung nach.

Wenig später stehen zehn dick eingepackte Kinder zusammen mit mir an der Tür. Tomaz kommt mit großen Sprüngen die Treppe hinunter. Kritisch begutachtet er die Kinder, zieht hier noch eine Mütze zurecht und richtet dort einen Schal. Erst als er zufrieden ist, öffnet er die Tür. Sofort stürmen die Kinder hinaus in den Schnee und die Sonne, die immer noch am Himmel steht. Tomaz nimmt erneut meine Hand und zieht mich hinaus. „Pass auf, die älteren von ihnen schmeißen gern mal einen Schneeball.“

Noch bevor er ausgesprochen hat, fliegt etwas an uns vorbei und klatscht an das Holz.

„Na dann, auf sie mit Gebrüll“, ruft Tomaz, bückt sich und formt aus dem Schnee eine Kugel, mit der er auf eine Gruppe Kinder wirft. Bevor ich überhaupt weiß, was hier vor sich geht, fliegen die nächsten Schneebälle auf uns.

„Nicht rumstehen, mitmachen“, sagt Tomaz und gehorsam bücke ich mich und versuche es ihm gleichzutun. Der Schnee ist kalt und nass, lässt sich gut zu einer Kugel formen. Ohne nachzudenken, werfe ich diese auf einen größeren Jungen – und treffe. Ich muss über sein Gesicht lachen, doch schon fliegen die nächsten Bälle auf uns. Plötzlich befinde ich mich mitten in einer Schneeballschlacht.

Irgendwann unterbricht Tomaz das Spiel mit einem erneuten Pfiff. Alle Kinder rennen zu ihm, sehen ihn mit geröteten, strahlenden Gesichtern an.

„Jetzt bauen wir den größten Schneemann, den diese Burg jemals gesehen hat“, verkündet er laut und stapft los in einen Teil des Hofes, auf dem der hohe Schnee noch unberührt ist. Was ist ein Schneemann?

Schnell erhalte ich die Lösung. Da nicht alle an einem bauen könne, steht bald fest, dass es mindestens zwei sein müssen. Die größeren Kinder bauen einen und Tomaz hilft zusammen mit mir den kleineren. Wir rollen aus dem Schnee Kugeln, die immer größer werden. Die unterste ist die größte, die oberste die kleinste. Die beiden ersten sind so groß, dass Tomaz nur mit Mühe die letzte Kugel obendrauf setzen kann.

„Sie brauchen noch Gesichter“, ruft ein Mädchen.

„Und einen Hut“, sagt ein Junge.

„Einen Helm und ein Schwert“, schreit ein Junge. „Es sind Schneeritter.“

Das begeistert alle Kinder. Ich sehe Tomaz an. In der Meute wirkt er selbst wie ein großer Junge. Ohne ein Wort zu verstehen, sehe ich wie er redet, dabei mit den Händen die Worte begleitet. Wieder ist dieses Gefühl da, irgendwo in einem Nebel versteckt höre ich in meinem Kopf Lachen. Kinderlachen. Ich schließe die Augen, versuche durch den Nebel zu sehen, zu erkennen, was sich dort verbirgt, doch wie immer verschwindet alles in dem Moment, in dem ich versuche, es festzuhalten.

„Alles in Ordnung?“, fragt Tomaz und reißt mich aus meinen Gedanken.

Schnell nicke ich. „Ja, ich dachte nur, mir wäre etwas eingefallen.“

„Das kennen alle aus den Minen. Janusch meint, das hängt mit den Spritzen zusammen, sie lassen uns vergessen, tilgen unsere Erinnerungen.“ Ein bitteres Lachen entkommt ihm. „Nur Schatten bleiben, werden nicht klar und quälen einen mit dem Wissen, dass es dort irgendwo eine Erinnerung an früher gibt.“ Er schüttelt den Kopf, als wollte er diese Gedanken abschütteln. „Es hat leider keinen Sinn zu versuchen, sie zu fassen bekommen, mehr als diese Schatten von ihnen sind nicht geblieben. – Komm, wir sind beauftragt, Schwerter für die Schneeritter zu finden.“

Ich bin also nicht allein mit meinen verschwundenen Erinnerungen. Nicht dass mir dieses Wissen hilft, beruhigt es mich doch.

Zielstrebig geht Tomaz zu einem Schuppen und ich folge ihm. Dort wird Holz gelagert. Auf dem Weg erklärt er mir, dass es schwierig ist, Holz hierherauf zu schaffen. Wälder gibt es nicht und der Weg, den die Karren zurücklegen müssen, ist mühselig für die Pferde. Außerdem können sie die Festung nicht erreichen, da ein Steinschlag die Zufahrt teilweise verschüttet hat. Dies ist einerseits ärgerlich, weil es viel Arbeit macht, alles per Handkarren nach oben zu befördern, schützt andererseits aber vor Entdeckung.

Der Weg der Kohle, die zum Heizen genommen wird, ist zwar genauso schwierig, aber es reichen weniger Fuhren für eine ausreichende Menge.

„Die Lage ist strategisch zwar hervorragend, doch um überleben zu können, ist der Aufwand hoch.“ Er öffnet die Tür, hinter der sich die Holzvorräte befinden. Schnell werden wir fündig. Zwei lange und zwei kurze Latten verbinden wir mit Hilfe einer Schnur zu provisorischen Schwertern. Während wir zurückgehen, frage ich mich, woher ich weiß, was ein Schwert ist. Es ist wie mit dem Apfel und eine Antwort finde ich nicht.

Die Kinder haben Katla einen alten Topf und einen kaputten Eimer als Helme abgeschwatzt. Die Augen der Schneeritter sind große, die Münder kleine Steine. Fertig sind die beiden.

„Jetzt fehlen nur noch Namen“, sagt Tomaz. „Die könnt ihr euch beim Essen überlegen.“ Die Sonne hat gerade ihren Zenit überschritten und er treibt die ganze Bande ins Haus. Nur widerwillig folgen die Kinder.

In der Halle nimmt Katla sie in Empfang und führt sie in die Küche.

„Hast du auch Hunger?“, fragt Tomaz mich. Ich horche in mich hinein. Nein, um diese Zeit ist mein Körper nicht gewohnt, Essen zu bekommen. Also schüttele ich den Kopf.

„Wenn du Lust hast, dann kannst du mir helfen, die Getränke für heute Abend aus dem Keller zu holen.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, geht er los. Schnell folge ich ihm.

 

 

 

 

 

Die Sonne nähert sich schon dem Horizont, als ich Dagurs Zimmer betrete. Egill und Jokull sind bei ihm. Ein undefinierbarer Blick von Dagur trifft mich, ehe er sich wieder den beiden zuwendet. Sie diskutieren über den kommenden Frühling und den geplanten Handel. Normalerweise würde ich mich beteiligen, doch heute fehlt mir die Ruhe, um mich mit kommenden Problemen auseinanderzusetzen. Außerdem hat Dagur mich nicht gerufen, um an dieser Besprechung teilzunehmen. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und gehe in das nebenan liegende Schlafzimmer.

Vom Fenster aus kann ich die beiden Schneeritter sehen. Den Kindern hat es Spaß gemacht – und – ich will an ihn nicht als Zahl denken, er braucht dringend einen Namen – auch.

Welcher Name würde zu ihm passen? Ich sehe sein lachendes Gesicht während der Schneeballschlacht vor mir, sein Interesse, während wir im Keller waren und er mich nach meiner Aufgabe befragt hat. Auch wenn ihm die Jahre in der Mine viel vorenthalten haben, einiges von ihm gefordert haben, scheint er neugierig. Bestimmt wird er schnell lernen und mehr wissen wollen als viele andere, denen die Mine nicht nur Lebenszeit, sondern auch Energie geraubt hat.

Seine schönen, grünen Augen betrachten die Welt neugierig und intensiv.

Wieder kratzt eine Erinnerung mit ihren scharfen Krallen durch meinen Gedanken, wie immer nicht greifbar, lockt sie mich hinter ihrem Schleier. Ich versuche sie zu erreichen, festzuhalten und zu erkennen, was sich im Nebel verbirgt, doch kaum konzentriere ich mich darauf, verschwindet sie, zerfließt zu grauem Nichts.

Elion. Kein Zweifel, der Name passt zu dem Jungen.

„Du hast dich mit 713 gut amüsiert.“ Eifersucht lässt Dagurs Stimme ätzend klingen. Ich hasse diese Diskussionen.

„Wir alle haben uns gut amüsiert. Die Kinder, 713 und ich“, entgegne ich ruhiger, als ich mich fühle. Dagurs ungerechtfertigte Verdächtigungen gehen mir an die Substanz.

„Er gefällt dir.“

„Ich mag ihn – genau wie Katla, Egill, Unnur oder Elvar.“ Vorsichtshalber drehe ich mich nicht um. Ich will nicht streiten.

„Die kennst du schon lange, den Kleinen erst wenige Tage. Mit ihnen arbeitest du zusammen, den Jungen brauchst du nicht zu beschäftigen.“ Dagur ist näher gekommen.

„Hör endlich auf!“, sage ich bestimmt. „Es gibt keinen Grund für deine verdammte Eifersucht. Wir haben mit den Kindern eine Schneeballschlacht gemacht, zwei Schneeritter gebaut und die Getränke aus dem Keller getragen.“

„Ich sehe doch, wie du ihn ansiehst“, zischt er in mein Ohr. „Du willst ihn.“

„Nein, ich will ihn nicht. Er ist nett und klug. Aber das heißt nicht, dass ich ihn in meinem Bett haben möchte. Mein Bett teile ich mit dir.“ Immer noch versuche ich ruhig zu bleiben, meinen Ärger herunterzuschlucken.

„Aber wie lange noch? Ich bin alt und er ist jung.“

Empört fahre ich herum. „Du hältst mich für oberflächlich, berechnend und notgeil. Ich denke, für heute hat es keinen Zweck, mit dir zu reden.“ Energisch schiebe ich mich an ihm vorbei. „Du behauptest mich zu lieben und denkst nur das Schlechteste von mir. Darauf kann ich wirklich verzichten!“ Mit schnellen Schritten gehe ich zur Tür. Wut kocht in meinen Adern. Niemals habe ich mit einem Mann geflirtet, geschweige denn mehr gemacht. Ich bin treu und ehrlich. Wenn ich ein geborener Lügner wäre, wie Dagur mir das vorwirft, dann hätte ich ihm schon längst meine Liebe gestanden. Doch ich weiß genau, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich für meine Argumentation ist.

„Tomaz!“

Ich drehe mich um und sehe ihn an. „Ich ziehe mich um und gehe zu dem Fest. Wir sehen uns später.“ Ohne ihn weiter zu beachten verlasse ich sein Zimmer. Zum Glück habe ich auch ein eigenes Zimmer im Haus. Zwar sind die meisten meiner Sachen bei Dagur, aber für heute wird es reichen.

Kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, lasse ich mich auf das Bett fallen. Hier ist es kalt und die Luft abgestanden. Viele Nächte habe ich nicht mehr hier geschlafen. Dieses permanente Misstrauen zermürbt mich, treibt mich von Dagur fort. Doch das will er nicht sehen. Seufzend stehe ich auf und öffne das Fenster. Es hat wieder begonnen zu schneien. Dicke Flocken segeln langsam zu Boden, vereinen sich und weben einen Teppich, unter dem alles verschwindet. Noch gut drei Monate werden hier Schnee und Kälte regieren. Ich sehne mich schon jetzt nach Sonne und Wärme. Eisiger Wind strömt ins Zimmer, lässt mich schaudern. Wann war mir das letzte Mal wirklich warm? Wahrscheinlich in Dagurs Bett.

Schnell schließe ich das Fenster wieder, nehme ein frisches weißes Hemd aus dem Schrank und gehe zu dem kleinen Bad. Wlar kommt gerade heraus, mustert mich von oben bis unten. Ich weiß, er kann mich nicht leiden, also gönne ich ihm nicht mehr als ein Nicken, das er genauso knapp beantwortet.

In der Gemeinschaft gibt es einige, die unsere Verbindung ablehnen, jede gleichgeschlechtliche Verbindung. Nur Dagurs Stellung lässt sie schweigen. Sie wissen, dass sie die Gemeinschaft verlassen müssen, wenn sie offen ihre Meinung kundtun. Aber im Geheimen tuscheln und lästern sie über uns.

Vielleicht hätte ich ins Badehaus gehen sollen. Dort wäre es warm, gäbe heißes Wasser und duftende Öle. Allerdings auch viele Menschen, auf die ich noch keine Lust habe, also wasche ich mich mit dem kalten Wasser, das meine Sinne auf jeden Fall effektiv weckt. Einen Moment betrachte ich mein Spiegelbild. Die schwarzen Haare und die hellen Augen. Ich sollte mich rasieren, doch ich verzichte darauf. Die dunklen Schatten betonen meine hohen Wangenknochen.

Vor fünf Jahren war ich kahl geschoren wie Elion und ebenso abgemagert. Gerade genug zu essen, um Energie für die harte Arbeit zu haben, erhalten die Minenarbeiter. Arbeiten, essen und schlafen, für mehr darf ihre Kraft nicht reichen. Es sind zu viele, wenn sie beschließen würden sich gegen die Wärter aufzulehnen, hätten diese trotz ihrer Waffen kaum eine Chance.

An die Zeit vor der Mine kann ich mich nicht erinnern, an die Zeit in ihr zu gut. Oft schrecke ich nachts hoch und spüre die vertraute Angst. Furcht ist ein ständiger Begleiter unter der Erde. Die Wärter dürfen fast alles, außer einen Minensklaven grundlos töten. Aber was ist schon grundlos? Sie sind die Herren in den Stollen, dort unten mächtiger als der König, und gnadenloser.

Mühsam verbanne ich die Erinnerungen aus meinem Kopf, ziehe mich an und verlasse den Raum. Vor der Tür warten schon die Nächsten.

 

Bevor ich in den Saal gehen, suche ich Katla und finde sie in der Küche, wo sie die letzten Anweisungen gibt. Ganz in ihrem Element mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Von allen in der Gemeinschaft steht mir Katla am nächsten. Als sie mich sieht, strahlt sie und kommt herüber.

„Gut siehst du aus. Verwegen mit den Stoppeln im Gesicht.“ Sanft streichelt sie meine Wange.

„Bist du dir sicher, dass du allein in den Keller gehen willst? Soll ich nicht lieber mit dir gehen? Da ich mich mit Dagur gestritten habe, fällt es vielleicht gar nicht auf, wenn ich heute früher gehe.“

„Wegen des kleinen Grünauges?“ Katla kennt Dagur und seine Eifersucht. „Du weißt, dass seine Wut bald wieder verfliegt und er sich mit dir vertragen wird.“

„Ich weiß nicht, ob ich das will. Seine Eifersucht ist unerträglich. Er würde mich beschuldigen, selbst wenn ich mit Wlar reden würde.“

Katla lacht. „Nein, so weit geht nicht einmal Dagur. – Ich komme schon zurecht. Du bleibst schön auf dem Fest, damit unser Dieb keinen Verdacht schöpft.“

Gefallen muss mir diese Lösung nicht, aber ich nicke, wie sie es erwartet. „Versprich mir, auf dich aufzupassen.“

„Immer, mein Großer.“

 

Der Gedanke, dass Katla allein im Keller auf den Dieb wartet, gefällt mir nicht. Wenn es nun nicht ein, sondern zwei Diebe sind? Ich weiß, dass Katla sich verteidigen kann, aber in meinem Kopf spielen sich Szenarien ab, in denen sie überrumpelt und getötet wird.

Unruhig streife ich durch den Festsaal, der sich langsam füllt, unterhalte mich mit dem einen oder anderen und lasse meinen Blick über die Gesichter gleiten. Wer fehlt, wer wirkt nervös?

Das Grünauge, ich muss über Katlas treffende Bezeichnung lächeln, als er zusammen mit den drei anderen den Raum betritt. Seine grünen Augen scheinen in dem schmalen Gesicht zu leuchten. Ein wenig wie bei einer Katze. Elion, ich weiß, dass der Name zu ihm gehört.

Durch den inzwischen gut gefüllten Saal gehe ich auf die vier zu, stoppe nur kurz, als Dagur hinter ihnen in der Tür erscheint, straffe meine Schultern und gehe weiter. Ich werde mich von seiner verfluchten Eifersucht nicht davon abhalten lassen, mit Elion zu sprechen.

Unnur hat die vier vor mir erreicht und begrüßt sie fröhlich. Ich habe Unnur noch nie schlecht gelaunt oder mürrisch erlebt. Die vier sehen sie überfordert an.

Die Musiker haben angefangen zu spielen und laute Stimmen schwirren durch die Luft. Wissen sie, was Musik ist? Als ich sie das erste Mal hörte, tauchten Erinnerungen auf; Bänder, die im Wind tanzten, Lachen und das Gefühl von warmen Wind in meinem Gesicht. Doch wie alle Schatten der Vergangenheit ließen sie sich nicht halten.

 

 

 

 

 

Der Saal ist voll und laut. Alle reden und lachen, umspielt von einer lustigen Melodie. Musik. Wieder einmal weiß ich, was es ist, doch nicht woher. Bewusst habe ich noch nie das Spiel der Instrumente gehört und doch kann ich es benennen.
Hinter dem Schleier tanzen Menschen dazu. Frauen in schwingenden Röcken, Männer in ihren besten Anzügen. Ich kann es fast sehen, doch es liegt ein dicker Schleier darüber, den ich nicht lüften kann.

Unnur tritt zu uns, begrüßt uns fröhlich. Ihr herzförmiges Gesicht strahlt regelrecht. Hinter ihr sehe ich Tomaz, der ebenfalls auf uns zukommt. Die dunklen Schatten in seinem Gesicht lassen die eisblauen Augen noch mehr leuchten. Kurz stoppt er, sieht etwas hinter uns, dann geht er weiter, stellt sich neben Unnur. Ich senke den Blick, er verunsichert mich, seine Präsenz, seine Augen, die beunruhigend intensiv sind. Leise erwidere ich seine freundlichen Worte, vermeide ihn anzusehen und konzentriere mich auf Unnur. Sie hakt sich bei mir und 591 unter, zieht uns zum Büffet. Sprachlos bestaune ich das Essen, das den Tisch vollständig bedeckt. Mein Magen knurrt von dem verlockenden Duft. Unnur lacht, reicht mir einen Teller und beginnt ihn zu füllen. Als wir alle volle Teller in der Hand halten, schiebt sie uns zu den seitlich stehenden Tischen. Von hier kann ich den Saal überblicken. Dagur steht bei Tomaz, scheint auf ihn einzureden, seine Augenbrauen zusammengezogen. Ist er wütend auf Tomaz? Den scheint das nicht weiter zu kümmern. Nur seine blitzenden Augen zeigen seine Verärgerung, während sein Mund lächelt.

„Die Sonnenwende ist das letzte Fest des Zyklus“, sagt Unnur und ich wende mich ihr zu. „In den nächsten Monaten müssen wir von dem leben, was wir als Vorräte angelegt haben. Bis uns die ersten Händler erreichen, wird es Frühling. Der Schnee in den Bergen hält sich lange. In dieser Zeit sind wir abgeschnitten von der Welt. Der Weg durch den hohen Schnee ist beschwerlich und gefährlich. Eine schwierige Zeit und ich hoffe, dass wir genügend in den Kammern haben, um Hunger und den ihm folgenden Streit zu vermeiden. Es ist schon schwer genug, in der Enge der Burg friedlich miteinander zu leben.“ Für einen Moment verschwindet ihr Lächeln. „Letztes Jahr dauerte die Kälte sehr lange und ein Streit forderte zwei Tote.“

„Immerhin seid ihr hier über der Erde und seht den Himmel“, sagt 591 leise.

„Ja, doch leider vergessen viele, wie es war, bevor sie hierhergekommen sind. Hunger, Leid, die Bedrohung durch einen ungerechten König entschwinden ihren Köpfen und sie werden neidisch und missgünstig.“ Unnur seufzt, schüttelt den Kopf und zeigt uns wieder ihr strahlendes Lächeln. „Aber heute feiern wir, singen und teilen das Brot. Ein Tag, um fröhlich und ausgelassen zu sein.“

Mein Blick wandert zu Dagur und Tomaz, fröhlich sehen beide gerade nicht aus. Tomaz’ Lippen sind zusammengepresst und Dagur funkelt ihn wütend an. Erst als Katla zu ihnen tritt, erhellen sich ihre Mienen.

Der Saal füllt sich immer mehr. Die Laternen in den Girlanden erleuchten den Raum wie Sterne die Nacht. Das Essen ist gut, auch wenn ich nicht weiß, was es ist. Egill kommt und schenkt uns Wein aus einem Krug in die Becher, die auf dem Tisch stehen. Vorsichtig nippe ich daran. Bisher habe ich nur Wasser getrunken. Schwer und samtig gleitet der Wein über meine Zunge. Ich mag den Geschmack und nehme noch einen Schluck.

„Nicht zu hastig“, sagt Unnur und hält meinen Arm fest. „Der Wein steigt einem in den Kopf und lässt die Welt kopfstehen.“

Wäre das wirklich schlimm? Meine Welt steht schon kopf, seit wir bei der Gemeinschaft sind. Ich nippe an dem Becher, lasse den Wein in meinem Mund und spüre seinem Geschmack nach.

Mit einem Mal verändert sich die Musik. Bisher begleitete sie die Gespräche, umspielte sie und blieb im Hintergrund, jetzt wird sie laut und fordernd. Die Fläche in der Mitte des Raumes leert sich. Einige Frauen bilden einen Kreis, beginnen zu tanzen, Männer stellen sich in einem größeren Kreis um sie herum auf und tanzen in die entgegengesetzte Richtung. Plötzlich bleiben alle stehen, die Frauen drehen sich um, legen dem vor ihnen stehenden Mann die Arme um den Nacken und sie tanzen als Paare weiter. Ihre stampfenden Schritte folgen dem schnellen Rhythmus der Musik.

Ich trinke noch ein wenig von dem Wein, spüre, wie er meinen Kopf leichter macht. Mein Fuß wippt im Takt der immer schneller werdenden Musik. Jemand setzt sich neben mich und ich brauche einen Augenblick, ehe ich ihm meinen Kopf zudrehe. Tomaz.

„Ich weiß, dass gehört sich nicht unbedingt, ihr sollt euch erst eingewöhnen und dann einen Menschen, der euch sympathisch ist, fragen, ob er euch bei der Namensfindung hilft, aber wenn ich dich ansehe, weiß ich, dass es nur einen Namen für dich gibt: Elion.“

Verblüfft starre ich ihn an. Elion?

Tomaz lächelt etwas unsicher. „Vielleicht hätte ich dich damit nicht überfallen sollen.“

Elion. Ich schließe meine Augen. Elion. Schmecke, wiege und taste den Namen in meinen Kopf ab. E L I O N. Ohne zu begreifen, warum, weiß ich, er passt. Elion. Ja, er gefällt mir.

„Wenn er dir nicht gefällt, dann suchen wir einen anderen“, sagt Tomaz leise in meine Gedanken. „Oder du fragst jemanden anderes.“

„Nein! Er gefällt mir.“ Ich öffne die Augen und sehe Tomaz an. „Er fühlt sich gut an, richtig.“

Tomaz strahlt mich an. „Schön, dann gehört er dir.“

Erst jetzt sehe ich Unnurs beunruhigten Blick und folge ihm. Dagur betrachtet uns und seine Augen scheinen Blitze in meine Richtung zu schießen. Ein Schauer überläuft mich, der Tomaz nicht entgeht. Er sieht Dagur an und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Energisch steht er vom Tisch auf.

„Es ist dein Name, ab heute werde ich dich nur noch Elion nennen.“ Mit einem kurzen Lächeln zu mir dreht er sich um und geht zu Dagur.

„Ein guter Rat, halt dich erst einmal von Tomaz fern. Dagur duldet keine Rivalen.“

Erstaunt blicke ich Unnur an.

„Na ja, er betrachtet Tomaz als sein Eigentum und mag es nicht, wenn andere sich daran vergreifen“, erklärt sie mit einem bedauernden Schulterzucken. „Ich weiß, Tomaz sieht das anders, aber versuch lieber nicht bei Dagur in Ungnade zu fallen.“

„Aber … ich …“ Das überforderte mich. Warum sollte Dagur sich von mir unbedeutenden ehemaligen Minensklaven bedroht fühlen?

Wieder sehe ich zu Dagur und begegne unvermutet seinem Blick. Der eisige Ausdruck seiner Augen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Vielleicht hat Unnur recht. Ich senke den Blick und sehe in mein Weinglas.

Elion. Egal wie böse Dagur mich ansieht, ich habe von Tomaz einen Namen bekommen und bin keine Nummer mehr. Nie wieder 713, nur noch Elion. Ein Hochgefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Elion. Der Name gehört ab jetzt mir allein.

 

Je später es wird, desto lauter wird die Musik. Die Menschen um mich herum lachen und feiern. Ich fühle mich fremd, nicht dazugehörig. Dagur scheint sich wieder mit Tomaz versöhnt zu haben, er hat seinen Arm um ihn gelegt und flüstert ihm leise ins Ohr. Tomaz lacht und ich weiß nicht, warum mir das auf den Magen schlägt. Mein Kopf brummt und ich brauche ein wenig frische Luft.

In der Halle hört man den Lärm etwas gedämpfter und ich atme tief ein. Ein Moment im Hof wird mir guttun. Langsam schlendere ich durch die Halle, betrachte einen alten, zerschlissenen Wandteppich. Verschnörkelte Muster winden sich über das Gewebe. Auf einmal geht ein paar Schritte vor mir die Kellertür auf und ein Mann stürzt heraus. Instinktiv weiche ich in den Schatten einer Nische zurück. Hektisch blickt er sich um und in der schwachen Beleuchtung der Öllampen sehe ich, dass er ein Messer in den Händen hält. Mühsam unterdrücke ich ein Geräusch, presse mich tiefer ins Dunkel. Mit einem Blick über seine Schulter drückt er die Tür zu und rennt die Treppe nach oben. Seine Schritte verhallen und ich bleibe mit klopfendem Herzen zurück.

Nach einer Weile löse ich mich aus der Nische und gehe zu der Kellertür. Was wollte der Mann dort und warum hatte er ein Messer in der Hand? Mit zitternden Fingern drücke ich die Klinke und steige die steile Stufen hinab. Eine Kerze liegt umgekippt auf dem Boden, in ihrem Schein sehe ich jemand danebenliegen. Schnell laufe ich hin und beuge mich über den Körper. Katla! Ich drehe sie auf den Rücken und spüre eine warme Flüssigkeit zwischen meinen Fingern. Schnell richte ich die Kerze auf und betrachte die Frau. Ihr Gesicht ist erschreckend blass, sie scheint nicht bei Bewusstsein und an meiner Hand sehe ich Blut.

„Katla“, flüstere ich leise, doch bekomme keine Reaktion. Sie braucht Hilfe, einen Arzt. Ich ziehe meine Weste aus, lege sie ihr unter den Kopf, damit sie nicht auf dem kalten Boden liegt und laufe schnell nach oben in den Saal.

Tomaz steht neben Dagur und ich renne zu ihnen, schubse die im Wege Stehenden zur Seite.

„Katla“, keuche ich, als ich sie erreiche. „Im Keller … da ist überall Blut.“

Dagur schaut mich überrascht an, doch Tomaz reagiert sofort, schiebt mich zur Seite und läuft los.

„Wir brauchen einen Arzt“, sage ich zu Dagur und jetzt kommt auch Leben in ihn. Er drängt sich an mir vorbei und packt einen Mann an den Schultern. Nach ein paar geflüsterten Worten zieht er ihn mit sich. Ich laufe ihnen nach.

Unten kniet Tomaz neben Katla, hält ihren Kopf auf seinem Schoss. Der Mann, den ich bisher nicht kenne, hockt neben ihr und öffnet ihre Kleider.

„Ich brauche meine Tasche“, sagt er bestimmt und Tomaz sieht Dagur an.

„Ich hole sie“, entgegnet dieser rau und läuft an mir vorbei.

„Wer war das?“, fragt Tomaz leise und es dauert einen Moment, ehe ich begreife, dass die Frage mir gilt.

„Ich weiß es nicht. Ein Mann kam aus dem Keller und hatte ein Messer in der Hand. Er ist die Treppe hinaufgelaufen.“ Hilflos sehe ich auf die drei.

„Hast du sein Gesicht gesehen?“

Ich nicke nur.

Katla stöhnt leise und Tomaz beugt sich tiefer über sie. „Alles wird gut. Bleib einfach still liegen, kleine Schwester. Janusch ist hier, er wird sich um dich kümmern.“ Seine Stimme klingt sanft und zärtlich. Behutsam streicht er eine Strähne aus ihrem Gesicht.

Dagur kommt wieder und reicht dem Arzt, Janusch, eine Tasche. Sofort öffnet dieser sie und sucht zusammen, was er braucht.

„Wir müssen sie in mein Zimmer bringen. Ich verbinde die Wunde provisorisch und dann tragen wir sie vorsichtig hoch.“ Seine Stimme wirkt beruhigend selbstsicher.

Wenig später hebt Tomaz Katla auf seine Arme. Ihr Kopf fällt gegen seine Schulter. Vorsichtig, als wäre sie eine zerbrechliche Last, trägt er sie an mir vorbei. Dagur und Janusch folgen ihm. Ich fühle mich ein wenig überflüssig. Auf dem Boden glänzt das Blut in einer großen Pfütze. Was ist hier bloß geschehen?

 

 

 

Wer wissen möchte, wie es weiter geht …

 

 

 

 

Gabriele Oscuro

 

713

 

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Impressum

Texte: Gabriele Oscuro
Bildmaterialien: Shutterstock / Bildbearbeitung Samjia
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2016

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